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Die Partei von Le Pen hatte ihren Triumph bei den Europawahlen noch nicht ‚verdaut‘, als Präsident Macron die Auflösung der Nationalversammlung und vorgezogene Parlamentswahlen ankündigte. Gerüchte über eine mögliche Auflösung der Nationalversammlung kursierten bereits seit mehreren Wochen, doch die Nachricht beunruhigte die europäischen Regierungen vor dem Hintergrund des zunehmenden Populismus in Europa und der ganzen Welt. Nach Orbán in Ungarn und Meloni in Italien, den Populisten auf einem Höhenflug in Deutschland und dem Clown Farage, der die Konservative Partei in Großbritannien torpedieren will, hat Macron wie ein Pokerspieler seine Karten auf den Tisch gelegt und dem Rassemblement National (RN) eine Chance eröffnet, in Frankreich an die Macht zu kommen.
Das Rassemblement National, ein reines Produkt der Krise des Kapitalismus
Angesichts der Aussicht auf eine populistische Regierung hat das RN seine "soziale" Rhetorik und seine radikalsten Positionen zu Europa schnell zurückgenommen, um den Staatsapparat, die Arbeitgeber und die "europäischen Partner" zu beruhigen. Aber eine mögliche Regierung unter Bardella (als Premierminister des RN gehandelt) wird in ihren Angriffen auf unsere Lebensbedingungen nicht nachlassen!
Doch das wird nicht ausreichen, um den groben Dilettantismus der RN-Kader, die rassistischen und ultrareaktionären Ausschreitungen dieser vom Abschaum der extremen Rechten gegründeten Partei, die Gefahr von Gewaltausbrüchen nach Bekanntwerden des Ergebnisses[1] und die politische Instabilität, die das Land für lange Zeit erfassen wird, abzuwehren. Dies umso mehr, als die populistischen Fraktionen der Bourgeoisie sich nicht nur wiederholt als unfähig erwiesen haben, das nationale Kapital wirksam zu verteidigen (wie Trump in den Vereinigten Staaten oder die Brexit-Befürworter in Großbritannien), sondern auch besonders ungeeignet sind, "Reformen" geschickt gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen. Für die Bourgeoisie bedeutet das RN an der Macht eine erhebliche Verschärfung des gesellschaftlichen Chaos und eine Schockwelle, die Frankreich und damit auch Europa international schwächt.
Das Erstarken des Populismus auf der ganzen Welt ist also nicht das Ergebnis gut organisierter Manöver der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse,[2] auch wenn die linken Parteien immer wieder behaupten, der "bürgerliche Block" würde sich lieber in die Arme der extremen Rechten stürzen, als die Linke an die Macht kommen zu lassen. In Wirklichkeit ist der Populismus in den Vereinigten Staaten wie in Europa vor allem ein reines Produkt des tiefgreifenden Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft.
Die Widersprüche des Systems haben einen so unentwirrbaren Punkt erreicht, dass die Bourgeoisie nicht mehr in der Lage ist, die Krise und das wachsende Chaos zu bewältigen: weit verbreitete Unsicherheit und Massenarbeitslosigkeit, Kriege auf allen Kontinenten, wiederholte Umwelt- und Industriekatastrophen, Millionen von MigrantInnen, die auf die Straße geworfen werden, der Zusammenbruch der Gesundheits- und Bildungssysteme, die ständige Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Verzweiflung, Angst vor der Zukunft ... In den Augen aller hat die herrschende Klasse der Gesellschaft nicht mehr das Geringste zu bieten, abgesehen von dem Versuch, von Tag zu Tag das Schlimmste zu verhindern. In diesem Kontext der Krise und des "Rette, was zu retten ist" gedeiht der Populismus, der seine ekelerregende und irrationale Ideologie verbreitet, Sündenböcke auswählt und den Rückzug in nationale und rassische "Identitäten" fördert.[3]
Die "radikale" oder "gemäßigte" Linke ist immer noch die Bourgeoisie
Es stellt sich also die Frage: Sollen wir wählen gehen, um dem schamlosen Rassismus des Rassemblement National, seinem unverhohlenen Autoritarismus und den Versprechen, die Arbeiterklasse und insbesondere ProletarierInnen mit Migrationshintergrund anzugreifen, den Weg zu versperren? Ob Macron mit seinem Spiel Erfolg hat, ob das RN oder die "Neue Volksfront" (NFP) die Wahlen gewinnt oder ob sich keine Mehrheit ergibt, die Krise des Kapitalismus wird nicht verschwinden. Welche bürgerliche Clique auch immer an der Macht ist, ob links oder rechts, radikal oder gemäßigt, sie wird die Angriffe auf unsere Lebensbedingungen nur verschärfen. Das Proletariat hat nichts zu verteidigen und nichts zu gewinnen, wenn es sich an dem Wahlzirkus beteiligt!
Die NFP behauptet, ein Programm für einen "Bruch mit der Vergangenheit" zu haben, aber diese Koalition wird das tun, was die Linke seit einem Jahrhundert und in jedem Land immer getan hat: die Interessen des nationalen Kapitals verteidigen und die Ausgebeuteten für die Krise zahlen lassen. Die Linke, auch wenn sie behauptet, "radikal" zu sein, war schon immer der Flügel der Bourgeoisie mit der besonderen Aufgabe, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und zu vernebeln. In Griechenland haben Tsípras und seine "radikal linke" Regierung über drei Jahre lang die schlimmste Sparpolitik betrieben. Die spanische "radikale" Linke hat Hand in Hand mit der PSOE die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen, der Arbeitslosen, der RentnerInnen etc. unerbittlich angegriffen. Mélenchon, der ehemalige Apparatschik der Sozialistischen Partei, und seine Clique von reuigen Stalinisten bilden da keine Ausnahme. Außerdem hat die NFP bereits versprochen, sich an dem Massaker in der Ukraine zu beteiligen, indem sie Waffen und Munition im Wert von Milliarden von Euros liefern werde. Wie Macron oder der Front Populaire von Léon Blum werden sie morgen "Opfer" zur Finanzierung des Krieges und der schmutzigen imperialistischen Interessen Frankreichs fordern!
Man sollte sich auch keine Illusionen über das Schicksal der Flüchtlinge machen, wenn die Linke an der Macht ist: Sie wird gnadenlos Jagd auf Migranten machen und sie in Internierungslagern schmachten lassen oder zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken lassen, wie sie es schon immer getan hat! Wenn die griechische Marine heute an der Spitze der Schande steht, verdankt sie das vor allem dem Wirken des "radikalen" Tsípras (schon wieder er!), der nicht zögerte, verachtenswerte Migrationsabkommen mit der Türkei zu unterzeichnen, und ein eifriger Architekt des wahren "Todeslagers" Mória war. Müssen wir noch die Anti-Flüchtlings-Hysterie der Sozialistischen Partei in Frankreich oder die kaum verhüllte Fremdenfeindlichkeit der Französischen Kommunistischen Partei unter Marchais oder Roussel dokumentieren? Ist es notwendig, an die abscheuliche "Migrationspolitik" der spanischen Linken zu erinnern? Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Stacheldraht gegen MigrantInnen und Internierungslager sind bei weitem nicht nur ein Vorrecht der extremen Rechten!
"Antifaschismus", eine Kriegswaffe gegen die Arbeiterklasse
Wie in Deutschland bei den jüngsten Demonstrationen gegen die AfD haben die französische Linke und die Gewerkschaften versucht, die demokratischen Mobilisierungen von 2002 zu wiederholen, als der Front National in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen kam. Damals wurde uns auch gesagt, dass wir keine andere Wahl hätten, als uns zu mobilisieren, nicht als ArbeiterInnen im Kampf, sondern an der Wahlurne, als "Bürger", um die "Demokratie" zu verteidigen und den Weg zum "Faschismus" zu blockieren.[4]
Die weinerliche Beschwörung der "Volksfront" von 1936 steht ganz im Einklang mit dieser Propagandakampagne. Denn die Volksfront ist, heute wie damals, die Negation des Proletariats schlechthin. Nach der Niederlage der revolutionären Welle, die 1917 in Russland begann, wurde das Proletariat als Ganzes besiegt. In Deutschland wurde die Revolution von 1918-1919 blutig niedergeschlagen. Die stalinistische Konterrevolution mähte die Revolutionäre nieder und verwirrte die Arbeiterklasse völlig. Im Rahmen dieser Niederlage hat die französische Bourgeoisie Léon Blum und seine Koalition an die Macht gebracht, um einen Krieg vorzubereiten. Und im Namen der Verteidigung der Demokratie kettete die Volksfront (die bereits spanische Flüchtlinge in Konzentrationslager unter freiem Himmel sperrte) Millionen von ProletarierInnen an die Fahne des Antifaschismus, militarisierte die Fabriken und bereitete die Köpfe auf Massaker vor. Ihre Politik hat Millionen von ArbeiterInnen während des Zweiten Weltkriegs für eine Sache (die Verteidigung der Nation) in den Tod getrieben, die nicht ihre eigene war.[5]
Die historische Situation hat sich seither sehr verändert: Das Proletariat ist nicht besiegt und nicht bereit, sich für die Verteidigung der Nation verheizen zu lassen. Ganz im Gegenteil! Angesichts der "Opfer", die die Kriegswirtschaft und die internationale Konkurrenz fordern, erhebt das Proletariat seinen Kopf. Seit zwei Jahren häufen sich massive Kämpfe: im Vereinigten Königreich, in Frankreich, in den Vereinigten Staaten, in Deutschland, Kanada, Finnland ... Überall schlägt das Proletariat zurück und beginnt, seinen Kampfgeist, seine Solidarität und seine Klassenidentität wiederzuentdecken.
Die Bedrohung, die dem Proletariat heute durch die antifaschistische Propaganda droht, ist nicht die Massenrekrutierung für den Krieg, sondern der Verlust seiner wiedergeborenen Klassenidentität, die die Voraussetzung für seine Einheit und seine Fähigkeit ist, den Weg zur Revolution, zur Zerstörung des bürgerlichen Staates, ob "demokratisch" oder "autoritär", wiederzuentdecken.
Aus diesem Grund hat sich die Bourgeoisie beeilt, "die Arbeiter" zu diskreditieren, die angeblich reaktionär und fremdenfeindlich sind und massenhaft für das RN gestimmt haben sollen.[6] Diese abscheuliche Lüge hat kein anderes Ziel, als das Proletariat zu spalten und die Vorstellung zu untermauern, dass die Arbeiterklasse keine Zukunft hat.
Aber die Bourgeoisie kann auch auf ihr neues Instrument der Mystifizierung, die Neue Volksfront, zählen, um Illusionen über "Demokratie" und Wahlen, über die "Umverteilung des Reichtums", über einen "ökologischeren", "integrativeren", "gerechteren" Kapitalismus zu säen ... Unter den Fenstern der Büros, in denen sich die Chefs der NFP trafen, um die Wahlkreise aufzuteilen, skandierten Demonstrierende, die diesen schönen Versprechungen noch ein wenig misstrauisch gegenüberstanden: "Verratet uns nicht!“ Das einzige, was diese so genannte Volksfront nicht verraten wird, ist ihre Klasse: die Bourgeoisie!
Die Zukunft der Gesellschaft wird nicht an den Wahlurnen entschieden, sondern durch den Kampf des Proletariats. Die einzige Möglichkeit, Populismus und Rechtsextremismus zu bekämpfen, ist der Kampf gegen den Kapitalismus, gegen den bürgerlichen Staat und seine Demokratie, gegen alle Regierungen. Rechts oder links, "autoritär" oder "demokratisch", "rückschrittlich" oder "humanistisch", die Bourgeoisie hat nur ein Programm: immer mehr Elend und Unsicherheit, Krieg und Barbarei!
EG, 21. Juni 2024
[1] Die Geheimdienste befürchten nicht nur Unruhen in den Vorstädten und Ausschreitungen bei "antifaschistischen" Demonstrationen, sondern auch rassistische Gewalt von rechtsextremen Gruppen, die sich mit der Machtübernahme Bardellas beflügelt fühlen könnten.
[2] Auch wenn sowohl rechte als auch linke Parteien den ehemaligen Front National eine Zeit lang ausnutzen konnten. Es sei daran erinnert, dass die Sozialistische Partei, ein Mitglied der "Neuen Volksfront", in den 1980er Jahren zum Entstehen des Front National beigetragen hat. Damals hatte Präsident Mitterrand die Medienberichterstattung über die Partei von Jean-Marie Le Pen inszeniert, um der Rechten Steine in den Weg zu legen (siehe Au RN, un autre anniversaire : celui du coup de pouce de Mitterrand, Libération, 5. Oktober 2022)
[3] Zu den Wurzeln des Aufstiegs des Populismus siehe How the bourgeoisie organises itself (Wie die Bourgeoisie sich organisiert), International Review 172 (engl./franz./span. Ausgabe)
[4] Der Aufstieg des Populismus ist nicht mit dem Aufstieg des Faschismus gleichzusetzen: Hitler und Mussolini kamen an die Macht, weil sie angesichts eines besiegten und zerschlagenen Proletariats für das deutsche und italienische Kapital die beste Möglichkeit darstellten, sich auf den Weltkrieg vorzubereiten, die einzige "Lösung" der Bourgeoisie für die Krise. Auch wenn die Illusionen über den demokratischen Staat heute zerbrochen sind, braucht die Bourgeoisie diese Mystifizierung, um der Arbeiterklasse gegenüberzutreten.
[5] Auch hier ist daran zu erinnern, dass es erstens die Demokratie war, die den Nährboden für den Faschismus bildete; und zweitens: Während Hitlers Regime eine entsetzliche und beispiellose Barbarei an den Tag legte, ließen sich die Alliierten nicht unterkriegen und zeigten während des Krieges eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden, die manchmal sogar in offene Komplizenschaft mit den Verbrechern umschlug.
[6] Es überrascht nicht, dass die ‚schlauen‘ Analysen der Bourgeoisie eine grobe Lüge sind. Zunächst einmal lässt sich die Arbeiterklasse nicht auf die sozio-professionelle Kategorie der Industriearbeiter reduzieren: Im Gegensatz zu einem "Angestellten" in einem Geschäft oder einer Hebamme gehört ein "Teamleiter" an einem Fließband nicht zur Arbeiterklasse. Und selbst wenn man nur die Kategorie der "Arbeiter" berücksichtigt, ist die Wahlenthaltung immer groß!