Als Angela Merkel zu Jahresanfang 2006 nach
Washington aufbrach, um ihren Antrittsbesuch als deutsche Kanzlerin im Weißen
Haus zu absolvieren, nahm sie nicht nur die Glückwünsche der deutschen
Bourgeoisie mit auf den Weg, sondern auch einen festen Auftrag. Sie sollte die
Kritik "der Heimat" am amerikanischen Vorgehen im "Krieg gegen
den Terrorismus" öffentlich vortragen. Wohl wissend, dass Frau Merkel zur
Zeit des Irakkriegs eine nachgiebigere Haltung gegenüber den Vereinigten
Staaten an den Tag gelegt hatte als der "Mainstream" der deutschen
Bourgeoisie mit dem damaligen Bundeskanzler Schröder, erhoben die führenden
Kreise in Berlin die bekannte amerikanische Praxis der Entführung und Folter
von Gegnern des US Imperialismus zum öffentlichen Skandal, sobald Merkel als
neue Chefin des deutschen Staates über die Schwelle des Kanzleramtes trat. So
sollte sicher gestellt werden, dass sich in der "harten" Haltung des
deutschen Imperialismus gegenüber seinem amerikanischen Rivalen nichts
Wesentliches ändert. Über den Regierungswechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Rot
hinweg soll eine Kontinuität in der deutschen Außenpolitik sichergestellt
werden: Die Herausforderung der einzigen verbleibenden Supermacht durch die
Bundesrepublik.
Merkel tat, was von ihr verlangt wurde. In
den heiligen Hallen des Weißen Hauses äußerte sie höflich, aber entschieden,
dass die Einsperrung Terrorverdächtiger
ohne Anklage und ohne Prozess "auf Dauer" nicht "haltbar"
sei. Die Antwort aus Washington kam postwendend. Während die
Bush-Administration sich ahnungslos gab, plauderte die CIA vor der
Weltöffentlichkeit aus, dass die "deutschen Freunde" vom
Bundesnachrichtendienst der US- Army während des Irakkriegs geholfen haben sollen,
Bombenziele ausfindig zu machen.
Mit diesem Vorgehen hofft die amerikanische
Bourgeoisie, sich eine Tatsache zu nutze zu machen, welche zur Zeit des letzten
deutschen Wahlkampfs zu Tage getreten ist: außenpolitische Differenzen zwischen
den beiden um das Kanzleramt kämpfenden Spitzenkandidaten Schröder und Merkel.
Angesichts einer immer chaotischer werdenden Weltpolitik sind selbst innerhalb
der seit dem Fall der Mauer in diesen Dingen so einheitlichen deutschen
Bourgeoisie außenpolitische Nuancen aufgetreten.
Washington beabsichtigt, Berlin vor der
Weltöffentlichkeit bloßzustellen, nachdem der ehemalige Juniorpartner in Europa
aus der Zeit des Kalten Krieges seit Wochen wieder damit begonnen hat, das zu
tun, was er bereits zur Zeit des Irakkrieges unablässig tat: Amerika an den
Pranger zu stellen. Darüber hinaus hofft die Bush-Administration, die
Meinungsverschiedenheiten und Interessenabweichungen innerhalb der deutschen
Bourgeoisie zu vertiefen. Eins soll klar gestellt werden: Dass weder Deutschland
noch andere imperialistische Herausforderer unbestraft Amerika kritisieren
können. So ist es kein Zufall, dass gerade der Vertreter der außenpolitischen
Linie Schröders innerhalb der neuen
Regierungskoalition - der ehemalige Geheimdienstkoordinator und jetzige
Außenminister Steinmeier - die Hauptzielscheibe der Vorwürfe aus Amerika
abgibt.
Jedoch: Angesichts des Gegenschlags aus
Washington zeigt sich die deutsche Bourgeoisie demonstrativ um
Schadensbegrenzung und um Einheitlichkeit bemüht. Zwar können die
Oppositionsparteien es natürlich nicht lassen, sich durch das Einsetzen einer
Untersuchungskommission in Sachen BND zu profilieren. Dennoch haben die FDP,
die Grünen und die PDS sich zusammengetan, um die Interessen des
kapitalistischen Vaterlands zu verteidigen. Sie kündigten gemeinsam das
Vorhaben an, aus dieser Untersuchungskommission ein Instrument der Anklage
gegen die USA zu machen, indem die Frage der CIA-Gefangenenflüge in Europa
sowie die Verschleppung deutscher
Staatsbürger mit thematisiert werden.
Tatsächlich ist die deutsche Bourgeoisie
derzeit bemüht, außenpolitisch von der Bildung der großen Koalition aus Union
und SPD zu profitieren, um wieder eine einheitlichere Sicht der Interessen des
deutschen Imperialismus zu erreichen. Bereits nach den Antrittsbesuchen Merkels
in Washington und in Moskau lässt sich feststellen, dass es gegenüber diesen
beiden Ländern höchstens zu Stilkorrekturen kommen wird. So wird die
"strategische Partnerschaft" mit Russland vielleicht etwas weniger demonstrativ
gefeiert werden, die Herausforderung der amerikanischen Supermacht noch etwas
hinterhältiger zu gestalten sein. Der Hauptvorteil der Amtsablösung Schröders
durch Merkel im außenpolitischen Bereich liegt wohl eher in der Möglichkeit der
Akzentverschiebung gegenüber der EU. Angesichts des gerade für Deutschland
besorgniserregenden aktuellen Ausmaßes der Krise der Europäischen Union wird es
als Vorteil angesehen, den von Schröder überbetonten Schulterschluss mit
Frankreich zugunsten einer mehr "vermittelnden" Haltung
abzuschwächen.
Eins jedenfalls steht fest: das
diplomatische und propagandistische Ringen zwischen Deutschland und den USA
wird sich in den kommenden Monaten - nicht zuletzt angesichts des schwelenden
Konflikts um das Atomprogramm Irans, sowie angesichts der Verärgerung der USA
und deren derzeitigen osteuropäischen Verbündeten wegen des deutsch-russischen
Erdgasgeschäfts - weiter verschärfen.
M. 19.01.06
Die IKS hält da, wo sie kann,
Diskussionsveranstaltungen ab, die für all jene offen sind, die aufrichtig die
Welt verändern wollen. Wir wollen, dass unsere Diskussionsveranstaltungen ein
Ort brüderlicher Debatte sind, wo jeder Teilnehmer seine Fragen, Argumente und
Analysen einbringen kann.
So hat die IKS in Frankreich letzten
Oktober und November in Tours, Marseille, Nantes, Toulouse, Paris und Lyon
Veranstaltungen zum Thema "Nur die proletarische Revolution kann der
Menschheit eine Perspektive anbieten" durchgeführt. Selbstverständlich
sind wir auf die aktuelle Lage der Aufstände, die ein zentrales und immer
wiederkehrendes Anliegen aller Beteiligten war, auf jeder dieser Diskussionsveranstaltungen zu
sprechen gekommen: Wie soll man die verzweifelte Gewalt der jungen Vorstadtbewohner
beurteilen?
Die Diskussion in Toulouse spiegelte sehr
gut die Fragen innerhalb der Arbeiterklasse zu diesen Aufständen wider. So kam
zur Gefühlslage als Ausdruck der Solidarität gegenüber ihrer eigenen Kindern die Wut hinzu, mit ansehen zu müssen, wie der
Nachbar angegriffen, sein Auto angezündet oder die Schule im Stadtviertel
zerstört wurde.
Auf der Diskussionsveranstaltung am 19.
November in Toulouse haben wir wie immer die Debatte mit einer kurzen
Einleitung durch die Organisation eröffnet. In dieser Einleitung zeigten wir
auf, weshalb die Arbeiterklasse die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die
die Welt umwälzen und den Kapitalismus
weltweit überwinden kann. Wir waren
dabei auf die Frage der Aufstände eingegangen und hatten dabei mit Nachdruck
unterstrichen, welche Verzweiflung hinter diesen Gewaltausbrüchen steckte.
Autos, Schulen, Busse, Sporthallen
anzuzünden, all das ist reine Selbstzerstörung. Aus solchen Taten entstehen
keine Perspektiven, keine Hoffnungen. In Unkenntnis darüber, wie sie kämpfen
können, haben diese verzweifelten Jugendlichen ihre Eltern, ihre Nachbarn
angegriffen. Diese Arbeiterkinder haben ungewollt ihre Wut gegen ihre eigene
Klasse gerichtet.
<<>>Die Teilnehmer reagierten sofort und
heftig. Zahlreiche Teilnehmer kritisierten unsere Stellungnahme, die wir im
Internet veröffentlicht hatten (diese wurde auch auf unserer deutschen Webseite
und in der letzten Ausgabe von Weltrevolution veröffentlicht), und auf die sich
unsere Einleitung stützte.>
Schon im ersten Redebeitrag äußerte ein
Teilnehmer, dass er mit uns nicht einverstanden sei: "Der Text der IKS
wirft für mich Probleme auf. Die Aufstände werden als eine Revolte für sich
dargestellt. Der Text zeigt nicht genügend die Zusammenstöße zwischen den
Klassen auf. Die Stellungnahme der IKS ist nicht ausreichend kämpferisch. Es
fehlt an Solidarität gegenüber den
Jugendlichen. Man hätte die Absurdität des Kapitalismus aufzeigen müssen und
nicht von den Jugendlichen der benachteiligten Viertel sprechen müssen [...]
Die Stellungnahme sagt nichts zur Frage der Klassenidentität. Wie die IKP/Le
Prolétaire in ihrem Flugblatt schreibt, gehören diese Jugendlichen - ob sie
sich dessen bewusst sind oder nicht - der Arbeiterklasse an. Wo steht die
Arbeiterklasse gegenüber dieser Revolte der Jugendlichen? Gegenüber dieser sozialen Ausgrenzung muss man den Kampf der
Jugendlichen mit dem Proletariat verbinden." Anknüpfend an diesen
Redebeitrag, meinte ein Jugendlicher, der in Kontakt mit unserer Organisation
steht und in einem Diskussionszirkel in der "ville rose" (rosa
Stadt), als die Toulouse bekannt ist, mitwirkt, "Ich wohne in einem
Vorort; aus meiner Sicht haben diese Jugendlichen sicherlich kein
Klassenbewusstsein, sie haben nicht mal eine Ahnung davon, was eine Klasse ist.
Dennoch sind diese Gewalthandlungen sind gegen den Kapitalismus gerichtet. Sie
sind eine Revolte gegen das System (...)." Und ein dritter Teilnehmer
brachte die gleiche Idee in dieser ersten Runde von Wortmeldungen zum Ausdruck:
"Im Stadtviertel Mirail sind mindestens 50% der Jugendlichen arbeitslos.
Sie finden keine Arbeit oder zumindest nur kleine Jobs. (...) Man hätte nicht
so sehr die Schwächen dieser Auseinandersetzungen hervorheben, sondern die
Perspektive des Proletariats hervorheben müssen(...)."
Diese Reaktionen überraschen uns nicht. Im
Gegenteil. Das von den Kindern unserer Klasse erlittene Unrecht und die
zynische Ausschlachtung durch die Bourgeoisie liefern zum Teil eine Erklärung
für diese deutliche Tendenz unter den Teilnehmern, zunächst einmal Solidarität gegenüber den
"Ausgegrenzten" zu üben. Die spektakulären Gewaltausbrüche in den
Städten haben die unerträglichen Lebensbedingungen eines Großteils der
Arbeiterjugend ans Licht gebracht. Im
Gegensatz zur Kritik an unserer Stellungnahme, derzufolge es an
"Solidarität gegenüber den Lebensbedingungen dieser Jugendliche"
fehlte, hatten wir in dieser Stellungnahme klar unterstrichen: "
"Wenn die Jugendlichen aus den
Vorstädten mit völlig absurden Methoden rebellieren, so liegt dies daran, dass
sie sich in einer tiefen Verzweiflung befinden. Sie fühlen es jeden Tag in
ihren Bäuchen, wegen der Arbeitslosigkeit, wegen der Diskriminierung und
Geringschätzung, mit der sie behandelt werden."
Kann man aber so weit gehen, wie es diese
Teilnehmer taten, und behaupten, dass diese "Gewalthandlungen sich gegen
den Kapitalismus richten" und "es sich um eine Revolte gegen das
System" handelt? Was musste man den Arbeitern sagen? Hätte man die totale Absurdität des Zerstörens um
des Zerstörens willen verschweigen sollen? Die Augen davor verschließen sollen,
wer die ersten Opfer dieser Gewalttaten sind?
Natürlich nicht. Die Arbeiter haben am
eigenen Leib die Folgen dieser Aufstände
zu spüren bekommen. Wie es ein Teilnehmer deutlich formulierte: "(...)
Einige Teilnehmer haben hier das Zerstören von Autos in ihren Redebeiträgen heruntergespielt.
Ich aber möchte betonen, dass ich hoffe, mein Auto wird nicht angesteckt, weil
ich wie all die anderen Arbeiter mein Auto brauche, um zur Arbeit zu
fahren." Die Unterstützung für die Aufständischen, aber auch die
Unterschätzung des nihilistischen Aspektes dieser Ereignisse blieben also
durchaus nicht ohne Widerspruch. Die Diskussionsteilnehmer antworteten sich
gegenseitig, und die Debatte nahm einen sehr dynamischen Verlauf. "Ich bin
nicht damit einverstanden, was einige Teilnehmer zu den Aufständen gesagt
haben. Es handelt sich sicher um eine Revolte gegen den bürgerlichen Staat,
aber sie bietet keine Zukunft. Man kann sich nicht gegenüber denjenigen, die
die Autos der Nachbarn, der Arbeiter verbrennen, solidarisch zeigen. Man kann
sie verstehen, da sie ausgegrenzt sind; die kapitalistische Gesellschaft hat
ihnen nichts mehr zu bieten. Es gibt eine allgemeine Unzufriedenheit. Aber
deshalb darf man noch lange nicht mit dieser Gewalt einverstanden sein. Sie
kämpfen schon seit Jahren mit Arbeitslosigkeit und der Armut. Dieser Teil der
Klasse ist sehr heftig angegriffen worden. Das stimmt. Aber diese
Gewalthandlungen sind kein Grund, sich auf ihre Seite zu stellen. All das hat
nichts mit dem Arbeiterkampf gemeinsam."
Diese Gewaltausbrüche richten sich in der
Tat gegen die Interessen der Arbeiterklasse. Sie verbreiten Angst, führen zum
Rückzug und zu Spaltungen in ihren Reihen. Die Bourgeoisie hatte das sehr wohl
verstanden. Sie hat gekonnt eine Angstpropaganda verbreitet, um die Verstärkung
ihres Unterdrückungsapparates zu rechtfertigen. Diese Aufstände haben das
Bewusstsein der Arbeiter nicht vorangetrieben. Sie haben im Gegenteil einen
fruchtbaren Boden für die bürgerliche Ideologie geschaffen. Die herrschende
Klasse hat diesen verzweifelten Teil der Jugendlichen instrumentalisiert, um
ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken und die polizeiliche Überwachung dieser
Viertel zu intensivieren. Vor allem konnte sie so vorübergehend den Bankrott
ihres Systems vertuschen, indem sie den "Abschaum" und die
Einwanderer als die Ursache allen Übels bezeichnete. Wenn die Arbeiterklasse
sich mit den Opfern des Kapitalismus solidarisch zeigt und somit auf der Seite
der verzweifelten Jugendlichen steht, heißt dies keineswegs, dass wir diese Art
von Revolte begrüßen, denn sie stehen in völligem Gegensatz zu den Bedürfnissen
des Proletariats. Diese Krawalle sind nicht im mindesten Bestandteil des
Arbeiterkampfes.
Entgegen der Auffassung der IKP/Prolétaire dürfen wir nicht zu solchen Gewaltausbrüchen
ermuntern. Die Äußerungen dieser
"Partei" waren zweideutig und falsch. So veröffentlichte die
IKP/Prolétaire ein Flugblatt mit dem reißerischen Titel: "Die Revolte der
Vorstädte kündigt die Wiederaufnahme des revolutionären proletarischen Kampfes
an": Und die Unterstützung solcher Revolten wird am Ende des Textes noch
deutlicher: "Es lebe die Revolte der jungen Arbeiter der Vorstädte gegen
ihr Elend, gegen den Rassismus und die Unterdrückung". Wie kann man
behaupten, dass solche, auch gegen Arbeiter gerichtete Gewaltausbrüche
"die Wiederaufnahme des Klassenkampfes" ankündigen? Hier lässt sich
die IKP ganz einfach durch den spektakulären Charakter der Revolte irreführen
und verliert aus den Augen, was der Klassenkampf wirklich ist und was den
Inhalt und die Form des Arbeiterkampfes ausmacht. In ihren Kämpfen strebt die Arbeiterklasse
stets zur Vereinigung und zum Zusammenschluss. Die Arbeiterklasse kämpft um
ihre Einheit und ihre Solidarität. Die Revolten stellen jedoch das Gegenteil
dar. Sie bieten keine andere Perspektive als Zerstörung und Selbstzerstörung.
Der IKP zufolge setzen diese Jugendlichen
eine neue Dynamik in der Arbeiterklasse, die zur Zeit eine amorphe Masse sei,
in Gang. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Proletariat hat längst begonnen,
den Weg des Klassenkampfes wieder einzuschlagen. Seit den Streiks im Frühjahr
2003 in Frankreich hat die Arbeiterklasse in etlichen Kämpfen ihre
Kampfbereitschaft und ihre Tendenz zur Solidarität unter Beweis gestellt. Diese
Krawalle jedoch sind keine Kraft, die
diese Tendenz beschleunigen, sondern
stellen eine Fessel für die Weiterentwicklung des Klassenkampfes dar.
Ja, diese jugendlichen Aufständischen sind
Opfer des kapitalistischen Systems. Ja, sie sind ein Teil der Arbeiterklasse,
der besonders unter dem System leidet. Aber wie können wir unsere Solidarität
gegenüber den Arbeiterkindern zum Ausdruck bringen? Bestimmt nicht, indem wir
Illusionen verbreiten und vorbehaltlos
ihrem Aufschrei der Verzweiflung beipflichten. Die Arbeiterklasse darf
den Jugendlichen auf ihrem selbstzerstörerischen Weg nicht folgen; sie muss sie
im Gegenteil auf ihre Seite ziehen, sie hinter sich scharen. Sie hat die
Verantwortung und die Mittel dazu, um den Jugendlichen eine Perspektive zu
bieten. Wie wir in unserer Stellungnahme schrieben :
"Weil die Arbeiterklasse bis heute
nicht die Stärke hatte, diese Perspektive durch die Entwicklung und Ausweitung
ihrer Kämpfe zu bekräftigen, sind viele ihrer Kinder der Verzweiflung
anheimgefallen, drücken ihr Aufbegehren auf absurde Weise aus oder suchen
Zuflucht in den Wundern der Religion, die ihnen das Paradies nach dem Tod
verspricht. Die einzig wahre Lösung der "Krise der enterbten
Wohngegenden" ist die Weiterentwicklung des proletarischen Kampfes bis zur
Revolution. Allein dieser Kampf kann der ganzen Revolte der jungen Generation
eine Bedeutung und eine Perspektive verleihen."
Einer Tradition folgend schließen wir
unsere Diskussionsveranstaltungen mit einer Schlussrunde ab, in der jeder
Teilnehmer sich zum Verlauf und Inhalt der Diskussion äußern kann. Hier kann
man kundtun, ob man weiterhin mit bestimmten Punkten nicht einverstanden ist,
oder Fragen aufwerfen, die in der Diskussion
nicht beantwortet waren oder in
einer späteren Diskussion aufgegriffen werden sollten.
Allgemein äußerten sich die Teilnehmer
zufrieden über diese Diskussion; es war ein wirkliches Interesse an diesem
Thema zu spüren.
Auch die Teilnehmer, die ihre Differenzen
geäußert hatten, begrüßten die Debatte.
Zwei dieser Teilnehmer bedauerten jedoch, dass die IKS in den Stadtteilen und
im Rest der Arbeiterklasse nicht mit einem Flugblatt interveniert sei. Diese
letzte Bemerkung zeigte, dass gewisse Differenzen auch über das Ende der
Diskussion hinaus weiter bestehen blieben.
Wir verfolgen mit unseren Diskussionsveranstaltungen nicht
unbedingt das Ziel, unsere Positionen erschöpfend zu behandeln, könnte dies
doch zu einem Ende der Debatten führen. Im Gegenteil, die reiche und dynamische
Debatte in Toulouse hat mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert. So
haben wir den grundlegenden Unterschied zwischen der zerstörerischen Gewalt
dieser Aufstände und der schöpferischen Gewalt der Arbeiterklasse, die für die
Überwindung des kapitalistischen Systems unabdingbar ist, nur am Rande
gestreift. Das Thema ist also bei weitem nicht erschöpfend behandelt worden.
Wir wollen hier mit einem Auszug aus einem
Brief abschließen, den uns ein junger Kontakt geschickt hat, der zum ersten Mal
zu einer Diskussionsveranstaltung der IKS gekommen war und den brüderlichen
Geist der Debatte begrüßte. "Ich schätze ganz besonders die Art und Weise
der Durchführung der Debatte (ich hatte vorher kaum Gelegenheit dazu gehabt, so
etwas in meinem Berufs- oder Privatleben zu erleben), denn so wurde ermöglicht,
dass man zuhörte und herauszufinden versuchte, was jeder meinte. Man war
bestrebt, auf die Anliegen der Teilnehmer einzugehen, wobei man gleichzeitig
nicht die im Raum stehenden Fragen und die Notwendigkeit vergaß, diese zu
klären und darauf zu antworten. Diese Ereignisse (die Gewaltausbrüche in den
Städten) erscheinen wegen ihrer fehlenden Ziele und ihrer Mittel absurd; sie
sind kein Teil einer Logik des Klassenkampfes, aber die Ereignisse haben viele Fragen
unter den Teilnehmern aufgeworfen, mit denen man sich befassen musste. Die IKS
hat da richtig gehandelt. Diese Ereignisse sind kein Teil einer revolutionären
Logik (und selbst auf der Ebene einer Revolte sind diese Ereignisse in
Anbetracht der Zielobjekte der Gewaltausbrüche kaum nachzuvollziehen), aber es
war nötig sie zu analysieren, um sie einzuordnen und die Beteiligten an den
Ereignissen einzuschätzen, um dann die Frage der proletarischen Organisation
mit einer revolutionären Perspektive zu stellen, die gegenwärtigen ‚Indizien'
des Klassenkampfes zu sehen, die
notwendige Vorbedingungen für die Revolution sind."
Pawel, 15.12.05
Das Jahr 2005 ist als das Jahr mit dem höchsten Stand der Arbeitslosigkeit seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland eingegangen. Ob im Handwerk, im Dienstleistungsbereich oder in der Industrie - in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft kam es, vornehm ausgedrückt, zu einem stellenweise massiven Einbruch in der Beschäftigungsquote. Kaum eine Woche verging, ohne dass die Öffentlichkeit im Allgemeinen und die Arbeiterklasse im Besonderen mit neuen Hiobsbotschaften konfrontiert wurden. Die Deutsche Bank kündigt den Abbau von 2.000 Arbeitsplätzen an, die Telekom sogar mehr als 30.000. Bei Opel und VW ist die Streichung von 8.500 bzw. 10.000 Arbeitsplätzen längst beschlossene Sache, und Mercedes, einst Inbegriff des krisensicheren Arbeitsplatzes, plant bis 2008 sogar die Streichung von 16.000 Arbeitsplätzen. Diese Welle verschonte dabei keinen Bereich der Arbeiterklasse: Selbst so hochqualifizierte Arbeiter wie die Beschäftigten von Infineon mussten in das bittere Brot der Arbeitslosigkeit beißen. Niemand kann sich heute noch einbilden, ungeschoren davon zu kommen.
Die Arbeiterklasse: Totgesagte leben länger
Doch wie reagiert die Arbeiterklasse auf diese unerhörten, existenziellen Angriffe des Kapitals? Sie denkt nicht daran, sich widerstandslos der wahnsinnigen Logik ihres Klassenfeindes zu fügen. Langsam, fast unmerklich gerät unsere Klasse in Bewegung. Nachdem die Mercedes-Arbeiter von Untertürkheim und Bremen sowie die Opelaner in Bochum den Anfang gemacht hatten, folgten im Herbst und Winter etliche andere Bereiche der Arbeiterklasse ihrem Beispiel. In Nürnberg protestierten die AEG-Arbeiter gegen die beabsichtigte Schließung ihres Werks mit wilden Streiks und Demonstrationen. Gegen die Pläne des Telekom-Vorstandes gingen 25.000 Beschäftigte auf die Straße. In Hamburg nahmen Tausende von Hafenarbeiter an einer 24stündigen Marathondemonstration Teil, um gegen Pläne der EU zu demonstrieren, die ihre Arbeitsplätze gefährden.
Sicherlich wehrt sich die Arbeiterklasse noch völlig unspektakulär, voller Zaudern und Zaghaftigkeit gegen ihr Schicksal. Kein Zweifel, dass sich die Klasse noch nicht einmal im Ansatz aus der gewerkschaftlichen Umklammerung befreit hat. Und auch der Anlass dieser Kämpfe, die Frage der Massenentlassungen, ist nichts Neues. Man erinnere sich nur an den Kampf der von der Arbeitslosigkeit bedrohten Stahlarbeiter im französischen Denain und Longwy Ende der 70er Jahre, der eine ganze Region lahmlegte. Oder an den Kampf der Stahlarbeiter von Krupp/Rheinhausen gegen die Schließung ihres Stahlwerks im Herbst 1987, der damals die Schlagzeilen der bürgerlichen Medien in Deutschland beherrschte. Verglichen mit der Militanz und Entschlossenheit, die diese Arbeiterkämpfe auszeichneten, nehmen sich die aktuellen Widerstandsaktionen der Klasse in der Tat geradezu schüchtern aus.
Dennoch verbergen sich hinter den noch ziemlich verhaltenen Reaktionen mehr als nur bedeutungslose Geplänkel. Die Streiks, Demonstrationen und Betriebsbesetzungen, die in den letzten Monaten den Alltag in Deutschland bereicherten, sind ein Indiz dafür, dass die Arbeiterklasse am Beginn einer neuen Kampfperiode steht. Sie deuten den Beginn einer Entwicklung an, die weit über das Niveau von Denain, Longwy und Rheinhausen hinausgehen könnte. Wenn dieser Beginn dennoch auf solch leisen Sohlen daherkommt, dann liegt dies auch daran, dass, anders als beim ersten Anlauf, der im Mai 1968 mit dem Paukenschlag des Generalstreiks der Arbeiter in Frankreich begann und eine völlig ahnungslose Bourgeoisie überrumpelte, die Arbeiterklasse es mittlerweile mit einer herrschenden Klasse zu tun hat, die alles andere als unvorbereitet ist.
Es gibt noch einen weiteren Grund für die Schwierigkeiten des Proletariats bei der Wiederbelebung seines Kampfes: die Frage der Arbeitslosigkeit selbst. Im Gegensatz zur Periode zwischen 1968 und 1989 stehen heute ausnahmslos alle Angehörigen unserer Klasse unter dem Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit. Dies wirkt sich, wie wir bereits an anderer Stelle in unserer Presse festgestellt haben, zunächst lähmend auf den Arbeiterkampf aus. Denn - so stellt sich zumindest die Frage - was macht es für einen Sinn, einen Betrieb zu bestreiken, der sowieso geschlossen werden soll?
Doch gleichzeitig birgt die Massenarbeitslosigkeit auch gesellschaftlichen Sprengstoff in sich. Wie keine andere Erscheinung stellt sie die ideologische Legitimation des System in Frage und regt die Arbeiter zu einem vertieften Nachdenken über die Perspektiven innerhalb des Kapitalismus und über die Alternativen außerhalb desselben an. Die Massivität der Entlassungswelle, die die Arbeiter auch und besonders in Deutschland überflutete, sorgt zudem dafür, dass sich allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Arbeitslosigkeit weder selbstverschuldet oder der Unfähigkeit einzelner Kapitalisten geschuldet ist noch wie ein Naturereignis hingenommen werden muss. Es geht nun nicht mehr nur um die Verteidigung des erreichten Lebensstandards, sondern zunehmend um die nackte Existenz. Immer mehr Arbeiter begreifen, dass sie reagieren müssen. Und die jüngsten Kämpfe in Deutschland, so bescheiden sie sich ausnehmen, demonstrieren leise, aber nachdrücklich die ungebrochene Kampfbereitschaft der Klasse. Daran ändern auch die Niederlagen nichts, mit denen alle bisherigen Abwehrversuche der betroffenen Arbeiter, ob bei Mercedes-Untertürkheim oder anderswo, endeten. In der Tat ist die Arbeiterklasse, die in den 90er Jahren im Rahmen der "Der Kommunismus ist tot"-Kampagne bereits begraben worden war, wieder auferstanden und kehrt langsam auf ihr ureigenes Terrain zurück.
Die Strategie der Herrschenden: Gute Kapitalisten - böse Kapitalisten
Die deutsche Bourgeoisie hat mittlerweile begriffen, dass sich der Wind gedreht hat. Nachdem es ihr noch in den 90er Jahren gelungen war, die Massenarbeitslosigkeit gleichsam als ein Naturereignis darzustellen, als eine naturnotwendige Logik, aus der es kein Entkommen gibt, hat sie nun, angesichts des wachsenden Widerstands, notgedrungen ihre Strategie geändert. Denn wenn sich schon kämpferische Reaktionen seitens der Arbeiter nicht vermeiden lassen, so muss unter allen Umständen verhindert werden, dass all die Angriffe einen Denkprozess in der Klasse auslösen, an dessen Ende die offene Infragestellung des kapitalistischen Gesellschaftssystems durch das Proletariat stehen kann.
Es war der damalige SPD-Vorsitzende und jetzige Vizekanzler und Arbeitsminister Müntefering, der mit seiner berüchtigten "Heuschrecken"-Tirade im vergangenen Frühjahr den Anfang machte. Weit entfernt davon, nur eine Eintagsfliege zu sein, läutete er den Beginn einer Kampagne der Herrschenden ein, mit der sie, anders als in den 90er Jahren, den Klassenkampf nicht länger leugnen, dafür aber versuchen, ihn mit einer Art "guten" Kapitalismus zu versöhnen. Seither werden die bürgerlichen Moralapostel aus Politik, Gewerkschaften, Kirchen und andere nicht müde, zwischen den patriotischen Unternehmern sowie den internationalen Spitzenmanagern und Großbankern, zwischen dem bodenständigen Mittelstand und den globalen Investmentgesellschaften, kurz: zwischen den "guten" und den "bösen" Kapitalisten zu unterscheiden.
Es fällt jedoch auf, dass diese "kritische" Öffentlichkeit dabei auch sehr fein zwischen dem massiven Arbeitsplatzabbau in den einheimischen Automobilwerken (Daimler, VW) einerseits und den Schließungsplänen von oftmals ausländisch geführten Gesellschaften (wie im Falle der AEG in Nürnberg, Samsung in Berlin, der Hamburger Aluminiumwerke oder der Firma Grohe) andererseits zu differenzieren wissen. Das eine begrüßen sie als längst überfällige Maßnahme, um deutsche Unternehmen für die internationale Konkurrenz fit zu machen. Das andere prangern sie hingegen als Ausverkauf deutscher Traditionsfirmen durch ausländische Finanzhaie und Konzerne an. Dabei verweisen sie gern auf den Umstand, dass es sich bei den betroffenen Werken um wirtschaftlich gesunde, ja hochprofitable Unternehmen handle, um neben der Profitgier vor allem die "ökonomische Unvernunft" der Verantwortlichen zu geißeln.
Neben dem chauvinistischen Beigeschmack, den diese Kampagne besitzt, zeichnet sie sich also auch dadurch aus, dass sie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf den Kopf stellt. Ihre Urheber wollen uns mit ihrem Gewäsch von der "sozialen Verantwortung" des Unternehmers allen Ernstes weismachen, dass die Kapitalisten die Verpflichtung hätten, ihre Profite in den Dienst der Arbeitsplatzerhaltung zu stellen. Und nicht nur das: so forderten Wirtschaftsminister Glos und Bundespräsident Köhler angesichts der Ertragslage der Unternehmen höhere Tariflöhne in diesem Jahr bzw. eine bessere Beteiligung der Arbeiter an den Unternehmensvermögen. All diese Demagogen übersehen dabei geflissentlich, dass die Jagd des Kapitalisten nach Profiten und Extraprofiten in Zeiten schrumpfender Märkte eben nicht zur Sicherung von Arbeitsplätzen, sondern im Gegenteil zum Abbau derselben führt. Sie verschweigen wissentlich, dass die Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, ihre Beschäftigten nicht an den wachsenden Renditen teilhaben lassen können, würde dies doch bei ihren Großaktionären auf wenig Gegenliebe stoßen.
Kurzum: sie gaukeln uns einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz vor (den es selbst im Wohlfahrtsstaat der 60er und 70er Jahre nicht gegeben hat), um uns Sand in die Augen zu streuen und den Bewusstwerdungsprozess, der in unserer Klasse eingesetzt hat, bereits im Keim zu ersticken.
Die Gewerkschaften:Keine Bündnispartner der Arbeiterklasse, sondern Agenten des Staatskapitalismus
Noch ein Wort zu den Gewerkschaften und ihren "betrieblichen Bündnissen für Arbeit". Es verhält sich mit ihnen so wie mit der Braut, die sich zunächst noch ein bisschen vor dem Werben ihres Angebeteten ziert, weil sie um ihren guten Ruf fürchtet. Auch wenn die Gewerkschaftsspitzen anfangs noch so taten, als sträubten sie sich gegen betriebliche Bündnisse, so begleiteten sie stets augenzwinkernd die Bemühungen ihres verlängerten Arms in den Betrieben, den Betriebsräten, um die Schaffung eben solcher Bündnisse. Im Kern bestehen diese Bündnisse in einem Quid pro quo: Gibst du mir dieses, gebe ich dir jenes. Sorgen Gewerkschaften und Betriebsräte dafür, dass die Beschäftigten massive Einbußen wie z.B. die unentgeltliche Verlängerung der Arbeitszeiten hinnehmen, sichern die Unternehmen ihrerseits für einen vertraglich vereinbarten Zeitraum den Erhalt der Arbeitsplätze verbindlich zu.
Diese "Bündnisse für Arbeit" verbinden gleich zwei Vorteile für die Gewerkschaften. Zum einen sind sie ein vorzügliches Erpressungsmittel gegen die Beschäftigten, die vor die scheinheilige Wahl gestellt werden, die Kröte der Arbeitszeitverlängerung, des Lohnraubs u.ä. zu schlucken oder aber den Verlust des Arbeitsplatzes zu riskieren. Zum anderen haben sie sich bisher auch als wirksames Besänftigungsmittel gegenüber den besonders kämpferischen Teilen der Arbeiterklasse erwiesen. Dies wird besonders an den Kämpfen bei Mercedes und Opel deutlich, die erst dann eingedämmt werden konnten, als den Arbeitern entsprechende "Arbeitsplatzgarantien" zugesichert wurden.
Hinter dem heuchlerischen Vorwand, im Interesse der Arbeiterklasse zu handeln, verbirgt sich jedoch durchaus auch ein ernstes Anliegen der Gewerkschaftsfunktionäre. Mit den "Bündnissen für Arbeit" ist ihnen bisher recht erfolgreich der Spagat zwischen der Wahrung der Interessen des staatskapitalistischen Regimes (dessen treueste Vertreter die Gewerkschaften sind), dem schon aus Gründen der Selbsterhaltung und seiner imperialistischen Bedürfnisse nicht an einer Auszehrung der industriellen Substanz der deutschen Wirtschaft durch die Verlagerung von Industriewerken ins Ausland gelegen sein kann, und der Berücksichtigung der Bedürfnisse und Zwänge für die nationalen Konzerne und Unternehmen gelungen, die einem erheblichen Kostendruck durch die Billigwaren aus Fernost ausgesetzt sind.
Die Leidtragenden dieser Bündnisse sind, wen wundert's, die Arbeiter - und das gleich im doppelten Sinn. Nicht genug damit, dass sie es sind, die für diesen Kuhhandel ihren Rücken herhalten müssen. Es stellt sich darüber hinaus immer deutlicher heraus, dass die viel gerühmten Beschäftigungsgarantien nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen, wie der Fall Conti in Hannover beweist, wo die Konzernspitze den bis Ende 2007 datierten "Beschäftigungspakt" kurzerhand kündigte. Dass der Aufschrei der Gewerkschaften angesichts eines solchen Affronts groß ist, liegt auf der Hand. Neben dem Rückschlag, den ihr Bestreben erleidet, den deutschen Staat vor einer weiteren Aushöhlung seiner industriellen Basis zu bewahren, nimmt auch ihre Glaubwürdigkeit in der Arbeiterklasse Schaden.
Für Letztere kann es nur eine Konsequenz geben. Sie dürfen weder den "guten" Kapitalisten noch ihren Versprechungen trauen. Und schon gar nicht den Gewerkschaften, die noch immer die effektivsten Fallensteller des bürgerlichen Staates sind. Es gibt kein Bündnis zwischen Arbeit und Kapital, sondern vielmehr ein epochales und tagtägliches Ringen zweier historischer Klassen, Arbeiterklasse und Bourgeoisie, in dem allein das jeweilige Kräfteverhältnis über das Schicksal der Arbeiterklasse entscheidet - und nicht irgendwelche "Beschäftigungsgarantien". Mit anderen Worten: die Arbeiter müssen den Kampf aufnehmen, um den Kurs der Bourgeoisie in die Verelendung großer Teile der Menschheit aufzuhalten. Sie muss lernen, ihren Kampf selbständig und gegen die Gewerkschaften zu organisieren. Und sie muss vor allem ihre Fähigkeit entwickeln, aus den Niederlagen, die ihren Kampf begleiten, Lehren für den künftigen Sieg der sozialen Revolution zu ziehen. 15.1.2006
Wir veröffentlichen nachfolgend den zweiten Teil einer Antwort auf einen Leserbrief aus Süddeutschland, der sich in großen Teilen sehr kritisch, wenn nicht ablehnend mit einem Teil unserer Positionen auseinandersetzte. Aus Platzgründen veröffentlichten wir in Weltrevolution Nr. 133 nur den ersten Teil unserer Antwort. In diesem ersten Teil befassten wir uns mit der “Arbeit des alten Maulwurfs”, der durch die Suche von zahlreichen Leuten zum Ausdruck kommt, die sich mit linkskommunistischen Positionen befassen. Hinsichtlich der Frage des Antifaschismus und dem Wirken der Kommunistischen Linken hatte unser Leser gemeint, die “Fraktionen der kommunistischen Linken [sind] so sang- und klanglos in den 1930er Jahren ausgestorben. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.”
Das erste, was wir dazu anmerken wollen,
ist, dass weder die Fraktionen der Kommunistischen Linken in den 30er Jahren,
noch die IKS als die international wichtigste linkskommunistische Organisation
der Gegenwart, Leuten "die eine fortschrittliche Linie" verfolgt
haben, die Solidarität entzogen haben. Die italienische Fraktion, auf dessen
Verhaltenskodex und Organisationsverständnis die IKS sich beruft, nahm immer
eine solidarische Haltung allen proletarischen Strömungen gegenüber ein, nicht
nur gegenüber der deutsch-holländischen Linken (allen politischen Divergenzen
zum Trotz), sondern auch beispielsweise gegenüber den Trotzkisten, welche sogar
eine Zusammenarbeit mit der Konterrevolution, mit Stalinismus und
Sozialdemokratie befürwortet haben. Nicht zuletzt auf Grund dieser
solidarischen Haltung gelang es den Linkskommunisten, die besten Genossen im
Lager der Trotzkisten für ihre internationalistische Haltung gegenüber dem 2.
Weltkrieg zu gewinnen, während der Trotzkismus die Arbeiterklasse verraten hat.
Was allerdings wahr ist: Die Linkskommunisten zählten bürgerliche Demokraten,
Stalinisten, Sozialdemokraten (und auch nicht die CNT Anarchisten, welche 1937
in der Regierung saßen, welche auf kämpfende Arbeiter in Barcelona scharf
schießen ließ) nicht zu denjenigen, welche eine "fortschrittliche
Linie" verfolgten. Wir auch nicht. Was meinst du dazu?
Zweitens stimmt es nicht, dass die
Kommunistische Linke in den 30er Jahren "sang- und klanglos"
ausgestorben ist. Die Vertreter dieser Strömung in Italien und Frankreich, in
Belgien oder in den Niederlanden, haben ihr Leben riskiert, und oft auch
hingegeben, um den politischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg während
des zweiten Weltgemetzels weiterzuführen. Dabei taten sie im Prinzip nichts
anderes, als Lenin oder Rosa Luxemburg gegenüber dem Ersten Weltkrieg: in Wort
und Tat den proletarischen Internationalismus gegen alle kriegsführenden Seiten
hochzuhalten. Sie setzten sich dafür ein, dass der Klassenkampf gegen den Krieg
fortgeführt wird, dass die Proletarier in Uniform ihre Waffen, nicht gegen ihre
Klassenbrüder und Schwester, sondern gegen ihre eigenen Offiziere richten, dass
der imperialistische Krieg in einen Bürgerkrieg verwandelt wird. Du wirfst
unserer Strömung vor, "kurz vor Kriegsende ein zweites 1918
halluziniert" zu haben. Muss man im Nachhinein diese internationalistische
Politik als falsch oder unnütz betrachten, da es nicht zum gewünschten Erfolg
führte, da der Zweite, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nicht durch die
Revolution beendet werden konnte? Die Internationalisten im Ersten Weltkrieg
haben mehrere Jahre lang in großer Isolation gegen den Strom des Chauvinismus
ankämpfen müssen, bevor die Masse der Arbeiter von der Richtigkeit dieser
Politik überzeugt werden konnte. Die Internationalisten des Zweiten Weltkriegs
mussten Jahrzehnte bis 1968 darauf warten,
bis zumindest ein Teil der Politisierten einer neuen, ungeschlagenen Generation
der Arbeiterklasse von der Richtigkeit und der Unerlässlichkeit dieser
internationalistischen Haltung überzeugt wurde. Heute, ca. weitere 30 Jahre
später, beginnt sich der politisierteste Teil der jetzigen neuen Generation von
diesem Internationalismus zu überzeugen - wobei dieser Prozess, wenn auch
weniger spektakulär, so doch viel breiter und tiefer in der Klasse insgesamt
verwurzelt zu sein verspricht als nach 1968. Ist das etwa kein Beweis für die
Wirksamkeit proletarischer Politik? Wir meinen ja, es sei denn, man misst den
Erfolg ausschließlich an den unmittelbaren Auswirkungen.
Aber du behauptest, dass die
Internationalisten von damals "Schwätzer und Schreiber" waren, die
das Proletariat nicht brauchte. Diese Behauptung wird durch die geschichtlichen
Tatsachen selbst am besten widerlegt. Zwei Beispiele. Erstens: Während im
gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs der westlich-"sowjetische"
Block es systematisch unterließ, auch nur das Geringste zu unternehmen, um die
Juden vor der Vernichtung zu bewahren, trat das niederländische Proletariat
gegen die Deportationen in den Massenstreik, wobei die Internationalisten eine
aktive, vorantreibende Rolle gespielt haben. Zweitens: Eines der berühmtesten
politischen Manifeste des Zweiten Weltkrieges - Das Manifest von Buchenwald -
wurde im KZ Buchenwald kurz vor der dortigen Erhebung am Kriegsende von einem Genossen der
österreichische RKD verfasst, welche sich auf Grund des politischen Einflusses
der Französischen Kommunistischen Linken (die direkte Vorläuferin der IKS) von
dem die internationalistischen Klassenprinzipien verratenden Trotzkismus gelöst
hatten.
Wir finden, dass man die Hochhaltung des
proletarischen Internationalismus nicht als "Geschwätz" gering
schätzen sollte. Bereits Friedrich Engels stellte fest, dass der proletarische
Klassenkampf drei Hauptbestandteile hat. Neben dem ökonomischen und dem politischen
Kampf nannte Engels den theoretischen Kampf als dritte Säule der Befreiung der
Arbeit. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Revolutionäre sich entschlossen
an den ökonomischen und politischen Kämpfen ihrer Klasse zu beteiligen haben.
Ja, sie haben sich nach Möglichkeit an die Spitze dieser Kämpfe zu stellen.
Jedoch ist der theoretische Kampf nicht nur ebenso wichtig wie die beiden
anderen Dimensionen - es ist die Ebene
des theoretischen Kampfes, worin der spezifische Beitrag der Revolutionäre besteht
und ausschlaggebend ist.
Die Arbeit der Revolutionäre besteht nicht
nur darin, die vorwärtsstürmenden Massen voranzutreiben. Da - um mit Marx zu
sprechen - die herrschende Ideologie in der Regel die Ideologie der
herrschenden Klasse ist, besteht sogar die Hauptaufgabe der Revolutionäre über
weite Strecken darin, gegen den Strom zu schwimmen. So nannten Lenin und
Sinoview ihre während des 1. Weltkriegs in der Schweiz herausgegebene
Zeitschrift "Gegen den Strom". Wir sprachen vorhin davon, wie die Internationalisten
im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskierten, um den Prinzipien ihrer Klasse treu
zu bleiben. Nun, nicht nur die Revolutionäre, sondern Millionen von Soldaten
haben damals, während des ersten wie des zweiten imperialistischen Gemetzels
ihr Leben aufs Spiel gesetzt bzw. setzen müssen. Worin bestand der besondere
Mut der Internationalisten? Er bestand darin, Risiken auf sich zu nehmen für
eine Sache, welche von der offiziellen Gesellschaft - und manchmal sogar,
zumindest vorübergehend, von einer Mehrheit der Bevölkerung - gehasst, verfolgt
und verleumdet wird. Marx spricht von Augenblicken in der Geschichte, wo große
umstürzlerische revolutionäre Ideen von der Masse Besitz ergreifen. Besteht die
vornehmste Aufgabe der Kommunisten nicht darin, sich und die Klasse auf diesen
Umsturz vorzubereiten, indem sie diese Ideen hochhalten und in der Klasse
verbreiten? Eine große Revolution kann nicht gemacht werden auf Grund von
reaktionären oder halbherzigen Prinzipien. Nur Ideen, welche zutiefst dem Wesen
und den Klasseninteressen des Proletariats entsprechen, können die
lohnabhängige Bevölkerung mit Macht ergreifen. Hierin liegt aus unserer Sicht
die große Gefahr des Aktivismus. Damit meinen wir eine Herangehensweise, welche
v.a. auf den unmittelbaren Erfolg bzw. die unmittelbare Einflussnahme abzielt
auf Kosten der langfristigen Ziele. Bereits Bernstein, der bekannteste Sprecher
des Opportunismus und "Revisionismus" innerhalb der deutschen
Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts erklärte: "Die Bewegung ist
alles. Das Ziel ist nichts." Für den revolutionären Marxismus hingegen
müssen Ziel und Mittel übereinstimmen. Deswegen erscheint es uns so gefährlich,
Genossen, welche inmitten der tiefsten Konterrevolution in der Geschichte des
Proletariats Klassenprinzipien verteidigt haben, als "Schwätzer" zu
bezeichnen.
Wir wissen, dass wir nicht alle Punkte
deines Briefes hiermit angesprochen und beantwortet haben (beispielsweise
unseren Umgang mit der so genannten "internen Fraktion der IKS). Andere
wichtige Aspekte, etwa die Dekadenztheorie, haben wir hier nur kurz
angeschnitten. Wir halten aber nichts davon, alles in einen Brief zu stopfen.
Wir hoffen vielmehr auf die Entwicklung einer lebhaften Korrespondenz mit dir.
Mit kommunistischen Grüßen die IKS. August 2005
Ohne einen aktiven Austausch von
Standpunkten, ohne Debatte ist eine Klärung kommunistischer Positionen
unmöglich. Deshalb versuchen wir
möglichst regelmäßig in unserer Zeitung Zuschriften von Leser/Innen zu veröffentlichen
und darauf so ernsthaft wie möglich zu antworten. Wir unsererseits sind nicht
nur erfreut, sondern auch dankbar für jede Zuschrift, die wir erhalten, weil
sie uns zu einer selbstkritischen
Auseinandersetzung mit unserer Arbeit und unseren Positionen zwingt.
Deshalb, wenn Euch an unserer Zeitung etwas besonders angesprochen oder auch
missfallen hat, schreibt uns, auch wenn es nur ein paar Zeilen sind.
Wir haben einen Leserbrief aus dem
Rhein-Neckar Raum erhalten, der sich mit Fragen des menschlichen Verhaltens
befasst. Es handelt sich um sehr grundlegende Fragen des Menschseins und des
gesellschaftlichen Lebens. Aus dem Brief wird aber rasch ersichtlich, dass der
Fragesteller nicht allein durch die Probleme des Allgemeinmenschlichen
motiviert wird, die Frage des Verhaltens zu thematisieren. Es geht insbesondere
um die Perspektiven des Klassenkampfes. Es geht nicht zuletzt um die Frage, ob
die Arbeiterklasse heute und in der Zukunft in der Lage sein wird, dem Druck
der Konkurrenz, den Denk- und Verhaltensweisen des Kapitalismus eine eigene
gesellschaftliche Perspektive entgegenzusetzen. Was sind die Voraussetzungen
dafür, dass die Arbeiterklasse eigene, klassenspezifische Verhaltensweisen
entwickelt, welche der Natur und dem geschichtlichen Endziel ihres Kampfes, dem
Kommunismus, entsprechen?
Aus welchem Zusammenhang und aus welchem
allgemeinem und spezifischem Kräfteverhältnis resultiert welche Art von
Verhalten? Welche Emotionen sind Ausdruck davon?
Der Brief macht deutlich, dass unser Leser
nicht nur wichtige Fragen aufgeworfen hat, sondern dazu übergegangen ist,
selbst erste Antworten auf diese Fragen zu geben. Wir halten die von dem
Genossen aufgeworfenen Fragen und Überlegungen für sehr wichtig und die gesamte
Arbeiterklasse betreffend. Im Anschluss an die Briefauszüge fügen wir einige
wenige Überlegungen und Anstöße unsererseits hinzu.
"Welchen Einfluss, welche Funktion und
welche Ursachen hat der Wille, das Vertrauen, die Solidarität, die Organisation,
das Verantwortungsbewusstsein und die Lebensgeschichte dabei? Was löst in
Wirklichkeit Verhalten aus (nicht Vorstellungen, sondern Verhältnisse sind die
Ursache) und wie kann man bewusst darauf Einfluss nehmen; wie beliebig ist
Verhalten?
Wie bezieht sich Verhalten auf allgemeine
gesellschaftliche Zusammenhänge, welchem allgemeinen Interesse dient es (dem
der Arbeiterklasse oder dem der Kapitalistenklasse)?
Wie kann das individualistische Bewusstsein
mit dem Ziel des kollektiven Bewusstseins bewusst und aufbauend angegangen
werden, ohne zwischen ständiger Aufgabe und imaginär überhöhten Vorstellungen
also Beliebigkeit zu pendeln?
Die Zusammenhänge der beschriebenen Fragen
müssen in der gesellschaftlichen Realität bewusst gemacht werden und finden
sich allgemein in bestimmten Formen. So gibt es, aufgrund des
gesellschaftlichen Zerfalls, die Gefahr, dass immer größere Teile der
Arbeiterklasse ins so genannte Lumpenproletariat übergehen, wenn es nicht
gelingt eine emanzipatorische kollektive lebendige Perspektive für die
Arbeiterklasse zu entwickeln.
So genannte prekäre Arbeitsbedingungen
(z.B. Hartz IV und zukünftige Verstärkung unter anderem Namen, aufgrund der
internationalen Konkurrenz ...), ermöglicht durch die drohende
Arbeitslosigkeit, die heute Menschen in die Verarmung und Aufgabe treibt,
hängen mit dieser Gefahr zusammen (eine allgemeine Form der Erpressbarkeit).
Die zunehmende Kriminalisierung als
"Überlebensnische", verbunden mit der systemimmanenten Haltung
"jeder für sich - jeder gegen jeden mit zweckgebundenen Bündnissen"
ist ebenso verbunden mit den gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen der
kapitalistischen Produktionsweise. Die damit verbundene Preisgabe des bewussten
Zusammenhalts innerhalb der Arbeiterklasse, des kollektiven Bewusstseins
(notwendigerweise verbunden mit Solidarität und Vertrauen durch das gemeinsame
Interesse der internationalen Arbeiterklasse), welches aus seiner momentanen
Schwäche im Kräfteverhältnis zur herrschenden Ideologie notwendigerweise
weiterentwickelt werden muss, zeigt eben die Gefahr der Verschiebung des
Kräfteverhältnisses in Richtung Zerfall und Aufgabe der kommunistischen
Perspektive auf. (...)
In einer Gesellschaftsform, in der das
"jeder für sich, jeder gegen jeden mit opportunistischen Bündnissen"
gilt, weil die Produktionsmittel besitzende Klasse in Konkurrenz zueinander
steht und dieses Konkurrenzverhältnis in Form der herrschenden Ideologie und
mit besonderem Interesse und in
besonderer Form gegenüber der Arbeiterklasse verbreitet, kann diese Ideologie
nicht das eigene Interesse der Arbeiterklasse sein. Die Kapitalistenklasse hat
als ganzes das gemeinsame Interesse an der Ausdehnung und Ausbeutung der
Arbeitskraft Mensch, deshalb der Arbeiterklasse, denn dies ist die
Existenznotwendigkeit dieser Klasse. Für die Arbeiterklasse gilt die Konkurrenz
als Klasse nicht, doch sind Angehörige der Arbeiterklasse gezwungen in
Konkurrenz zueinander zu treten, um
nicht ans Existenzminimum getrieben zu werden. Aufgrund des Mangels an
Absatzmärkten werden die Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse (bis
hin zu sklavenartigen Verhältnissen) aber immer mehr zunehmen, deshalb muss die
Arbeiterklasse sich als Ganzes dagegen wehren, indem Sie die Perspektive des
Kommunismus entwickelt (durch kollektive Bewusstwerdung zur Ermöglichung von
internationalen Massenstreiks mit Bildung von Arbeiterräten, die im ständigen
Austausch zueinander und zur notwendigerweise sich bildenden kommunistischen
Weltpartei stehen und die Perspektive des Kommunismus konsequent weiterentwickeln).
Der Standpunkt von dem die, oberflächlich
gleich erscheinende Frage nach der Bedeutung des Verhaltens auf das
gesellschaftliche Sein beantwortet wird, ist also notwendigerweise
klassenspezifisch. In dem, wie die "demokratische" Politik mit Hilfe der
gültigen Soziologie, Psychologie, Neurobiologie, Philosophie, die Frage des
Verhaltens beantwortet, ist kein genereller Unterschied zwischen den Klassen zu
finden, sondern nur weiblich und männlich, alt und jung, arm und reich, sozial
und unsozial, dumm und intelligent, anpassungsfähig und nicht anpassungsfähig
(flexibel und faul), "nostalgisch" und "der Zukunft
zugewandt", Verlierer und Gewinner, gute Gene und schlechte Gene, gut und
böse, krank und gesund (körperlich und geistig) ..., so dass alles Verhalten an
der Funktionsfähigkeit (Ausbeutungsfähigkeit der Arbeiter, die ihre
Arbeitskraft in Konkurrenz zu Markte tragen müssen) gemessen wird und diese
"Funktionsfähigkeit" gefördert und selektiert wird.
Indem alles nach den systemeigenen
Kriterien der Nutzbarkeit gewertet wird, das ja das Gesamtinteresse der
Kapitalistenklasse ausdrückt, bleibt kein Platz für das gemeinsame Interesse
aller Lohnabhängigen, darauf baut die Ideologie auf. (...)
Da die Bedingungen über die
Besitzverhältnisse und damit die herrschende Ideologie zu Gunsten der
herrschenden Klasse allgemeingültig sind, ist es notwendig, dem kollektiv
bewusst die Perspektive der Arbeiterklasse und letztendlich aller ausgebeuteten
Schichten entgegenzuhalten; und die Bedingungen dafür sind nicht die
Konkurrenz, wie sie für den Kapitalismus notwendig (immanent) ist, sondern die
Kollektivität innerhalb der Arbeiterklasse und die politische Organisation, um
die Lehren aus der Vergangenheit konkret im Interesse der gesamten
Arbeiterklasse anwenden zu können.
Die Emotionen wie Neid, Eifersucht, Geiz,
Ehrgeiz, sind Ausdruck der Besitzverhältnisse und sind damit Bestandteil
(Motivationsausdruck in Form der Machtkämpfe, Intrigen ... mit Verlierern und
Gewinnern) der bürgerlichen Gesellschaft und als herrschende Ideologie auch
innerhalb der Arbeiterklasse zu finden, da wo die Konkurrenzsituation dies
hervorbringt. Doch die Konkurrenz zwischen Angehörigen der Arbeiterklasse ist
nicht abstrakt allgemein (herrschende Ideologie), sondern konkret allgemein und
deshalb im gemeinsamen Interesse der internationalen Arbeiterklasse an der
Aufhebung ihrer Ausbeutung als Ideologie aufgehoben. Deshalb nimmt mit
wachsender kollektiver Bewusstwerdung der Arbeiterklasse die Ideologie der
abstrakt allgemeinen Konkurrenz, die die Entwicklung der kollektiven
Bewusstwerdung hemmt, ab.
Diese weitreichende Perspektive ist
notwendig, um sich heute die gegen die zunehmende Ausbeutung zur Wehr zu
setzen." (...)
Der Genosse wirft Fragen auf, welche sehr komplex und schwierig, jedenfalls sehr wichtig sind. Verhaltensfragen sind schon länger Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und Anlass zu gelehrten Kontroversen geworden. Wir fühlen uns als kommunistische Kampforganisation weder befähigt noch berufen, im Detail auf die Ursprünge und den geschichtlichen Werdegang der Vielzahl an Verhaltensweisen einzugehen, welche die Menschheit aufzuweisen hat. Wir werden uns darauf beschränken, einige Grundsätze zu benennen, welche die marxistische Arbeiterbewegung zu diesen Fragen von Anfang an erarbeitet hat. Diese wenigen Grundideen mögen dazu beitragen, einen Rahmen für die von unserem Leser angeregte Diskussion zu liefern.
Der Genosse schreibt, dass Emotionen wie
Neid, Eifersucht oder Ehrgeiz Ausdruck der Besitzverhältnisse sind, und damit
Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft. Dass diese Emotionen Bestandteile
des Kapitalismus, und in ihrer heutigen Form auch Ausdruck der
Besitzverhältnisse sind, damit stimmen wir überein. Allerdings haben marxistische
Autoren wie August Bebel oder Leo Trotzki wiederholt die Erwartung geäußert,
dass es in einer künftigen kommunistischen Gesellschaft beispielsweise
weiterhin Ehrgeiz geben wird. Sie waren davon überzeugt, dass diese Emotion
nicht mehr, wie im Kapitalismus, ein Motor der Konkurrenz jeder gegen jeden
sein wird, sondern eine Form des Ehrgeizes, die der Gemeinschaft bestmöglichst
dienen und daher eine außerordentlich positive Rolle spielen wird.
Man sieht also, dass nach Auffassung des
Marxismus die Geschichte der Menschheit nicht notwendigerweise so abläuft, dass
jede Gesellschaftsform eigene, völlig neue Gefühlsformen hervorbringt. Denn
wäre dies der Fall, gäbe es innerhalb der Geschichte keinerlei Kontinuität
mehr, sondern nur eine Serie von Brüchen und Neuanfängen. Jedoch lehrt uns die
dialektische Methode, dass jeder qualitative Sprung nicht nur einen Neuanfang
darstellt, sondern zugleich eine Aufbewahrung der bisher errungenen Ebene in einer höheren darstellt. Ein und dasselbe
Grundgefühl kann sich in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen
unterschiedlich äußern und auswirken. Eine Emotion, welche in einem gegebenen
Kontext eher Ausdruck der Feindseligkeit unter den Menschen sein kann, vermag
unter veränderten Umständen den sozialen Zusammenhalt zu verstärken.
Wir sollten uns freilich davor hüten, uns
die Sache mit der Veränderbarkeit der Wirkung der Emotionen zu einfach zu
machen, nach dem Motto: in einer Konkurrenzgesellschaft wirken sich die
Emotionen konkurrenzfördernd aus, in einer Gesellschaft des Zusammenhalts haben
sie die umgekehrte Wirkung. Das kann allein schon deshalb nicht stimmen, weil
die Grundemotionen des Menschen nicht immer im Einklang miteinander stehen. Sie
können schon deshalb in Konflikt mit einander geraten, weil sie unterschiedlichen
Funktionen dienen. So kann der sog. Mutterinstinkt etwa in Widerspruch geraten
zum "Selbsterhaltungstrieb" - etwa, wenn eine Mutter ihr Leben
riskiert, um ihre Nachkommen zu schützen. Außerdem liegt es auf der Hand, dass
nicht alle Emotionen in gleicher Weise dem Zusammenhalt der Gemeinschaft dienen
können. So z.B. die von Dir erwähnte Eifersucht. Wie alt die Eifersucht ist,
wissen wir nicht genau. Engels hielt sie nicht für einen angeborenen Trieb der
Menschheit, sondern für ein Kulturprodukt. Wie auch immer, es hat den Anschein,
als ob dieses Gefühl recht alt ist. Da die Eifersucht sich nur schwer mit dem
Zusammenhalt der Gemeinschaft vereinbaren lässt, mussten die unterschiedlichen
Gesellschaften Mittel entwickeln, um sie in Schach zu halten. Falls eine
kommunistische Gesellschaft sich weiterhin mit diesem Problem konfrontiert
sehen sollte, ist davon auszugehen, dass sie wirkungsvollere und kulturell
höherstehende Mittel dazu finden wird.
Du fragst in deinem Brief nach den Ursachen
und der sozialen Bedingtheit von Verhaltensweisen. "Welchen Einfluss,
welche Funktion und welche Ursachen hat der Wille, das Vertrauen, die
Solidarität, die Organisation, das Verantwortungsbewusstsein und die
Lebensgeschichte dabei?" Es geht Dir um ein besseres Verständnis gerade
der Emotionen, welche im Kampf des Proletariats am dringendsten benötigt
werden. Dein Brief ist erfüllt von der Sorge, dass der Kapitalismus diese
positiven Eigenschaften entgültig zerstören könnte. Deine Sorge erscheint uns
vollauf gerechtfertigt. Dass die wahrscheinlich schlimmsten Grausamkeiten in
der Geschichte gerade in den letzten hundert Jahren begangen worden sind, hängt
direkt damit zusammen, dass der Kapitalismus wie keine andere Produktionsweise
den Zusammenhalt und das Mitgefühl unter den Menschen zerstört, indem diese
Produktionsweise die Menschen über den unpersönlichen Marktmechanismus zu
Konkurrenten macht. Der Zerfall dieser Gesellschaft beschleunigt in der Tat
diesen Prozess, wie Du in deinem Brief aufgezeigt hast.
Gibt es noch die Emotionen, welche zwei
Jahrhunderte lang ein unverwechselbares Kennzeichen des proletarischen Kampfes
waren? Wo liegen deren Wurzeln?
Nehmen wir als Beispiel das von Dir
genannte Verantwortungsbewusstsein. In ihrem im Gefängnis während des Ersten
Weltkrieges geschriebenen Artikel über den Schriftsteller Korolenko beschreibt
Rosa Luxemburg, wie das Verantwortungsbewusstsein ab den 1860er Jahren in
Russland entstand, welche mehrere Generationen heldenhafte Revolutionäre
hervorbrachten.
"Jene Stimmung der Gesellschaft, die,
frei von nagender Selbstanalyse und innerem Zwiespalt, die ‚gottgewollten
Abhängigkeiten' wie etwas Elementares empfindet und die Fügungen der Geschichte
als eine Art Himmelsschickung hinnimmt, für die man so wenig verantwortlich sei
wie dafür, dass der Blitz manchmal ein unschuldiges Kindlein erschlägt, kann
sich mit verschiedensten politischen und sozialen Systemen vertragen. (...)
In Russland fing dieses ‚unerschütterliche
Gleichgewicht der Gewissen' in breiten Kreisen der Intelligenz schon in den
60er Jahren zu bröckeln an. Korolenko schildert in anschaulicher Weise jenen
geistigen Umschwung der russischen Gesellschaft, wobei er zeigt, wie gerade
seine Generation die "leibeigene" Psychologie überwunden hatte und
von einer neuen Zeitströmung ergriffen wurde, deren vorherrschende Note der
‚zernagende, qualvolle, aber schöpferische Geist der sozialen
Verantwortlichkeit' war."
Hier wird deutlich, dass es die Stimme des
Gewissens war, welche die Menschen aufgerüttelte, und dass dieses Gewissen, wie
die Solidarität auch, Ausdruck des sozialen Wesens der Menschheit ist. Dass
gerade die Menschen mit dem Erlangen eines höheren Bewusstseins aus dem
Tierreich emporsteigen konnten, hängt unzertrennbar mit den besonders
ausgeprägten sozialen Anlagen unserer Gattung zusammen. Die Menschwerdung
selbst - die gemeinsame Arbeit, die Sprache usw. - hat diese gegenseitige
soziale Abhängigkeit nicht abgeschwächt, sondern unermesslich gesteigert.
Zwar stimmt es, dass der Kapitalismus die
sozialen Impulse untergräbt und ihre Auslebung ungemein erschwert. Zugleich
aber hat er eine Klasse hervorgebracht, welche durch ihre Stellung in der
Produktion wie keine andere in der Geschichte der Klassengesellschaften
imstande ist, durch und in ihrem Kampf die gemeinschaftlichen Gefühle nicht nur
wiederzuerwecken, sondern auf eine höhere Ebene zu stellen. Diese Klasse ist
das moderne Proletariat. Die Arbeiterklasse ist noch immer dazu befähigt, nicht
etwa, weil die Arbeiter als Personen die besseren Menschen seien, sondern weil
sie die erste Klasse ist, welche ohne Eigentum gemeinschaftlich produziert.
Zurecht hast Du in deinem Brief auf die
Gefahr hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeit, indem sie die Konkurrenz auf dem
Arbeitsmarkt verschärft, dem
Jeder-für-sich auch in den Reihen des Proletariats Tür und Tor öffnen
könnte.
Bereits in seinen "Elberfelder
Reden" aus den 1840er Jahren erklärte Friedrich Engels, dass die Arbeiter
sich erst dann als aktive Klasse äußern, indem sie der kapitalistischen
Konkurrenz ihre eigene Solidarität entgegenstellen. Mehr noch: erst dadurch
würden sie sich laut Engels ihre eigene Menschlichkeit wieder aneignen.
Gegenüber einer nicht geschlagenen Generation der Arbeiterklasse ist die
Arbeitslosigkeit besonders dazu geeignet, das revolutionäre Wesen des
Proletariats zum Vorschein zu bringen. Zum einem, weil die Arbeitslosigkeit die
Klassensolidarität immer mehr zu einer Frage des Überlebens macht. Zum anderen,
weil es den Bankrott des Kapitalismus, die Unvereinbarkeit des Lohnsystems mit
der menschlichen Würde offenbart.
Wie Rosa Luxemburg in ihrer
"Einführung in die Nationalökonomie" schrieb, ist der Kampf des
Proletariats gegen die Ersetzung der Arbeiter durch die Maschinerie bzw. gegen
die Folgen dieser dem Kapitalismus innewohnenden Tendenz - Senkung des
relativen Lohnanteils, Steigerung der Macht des Kapitals, Ausuferung der Armee
der Erwerbslosen ins Unermessliche - ein Kampf gegen das System selbst.
"Gegen die technischen Fortschritte der Produktion, gegen Erfindungen,
Maschineneinführung, gegen Dampf und Elektrizität, gegen Verbesserungen der
Verkehrsmittel können die Arbeiter nicht ankämpfen. Die Wirkung aller dieser
Fortschritte auf den relativen Lohn der Arbeiter ergibt sich aber ganz
mechanisch aus der Warenproduktion und aus dem Warencharakter der Arbeitskraft.
Deshalb sind die mächtigsten Gewerkschaften ganz ohnmächtig gegen diese Tendenz
des relativen Lohns zum rapiden Sinken. Der Kampf gegen das Sinken des
relativen Lohns bedeutet deshalb auch den Kampf gegen den Warencharakter der
Arbeitskraft, das heißt gegen die kapitalistische Produktion im Ganzen. Der
Kampf gegen den Fall des relativen Lohns ist also nicht mehr ein Kampf auf dem
Boden der Warenwirtschaft, sondern ein revolutionärer, umstürzlerischer Anlauf
gegen den Bestand dieser Wirtschaft, er ist die sozialistische Bewegung des
Proletariats." (Luxemburg Werke, Band 5, S. 761-762)
Sehr zu recht hast Du darauf hingewiesen,
dass das Proletariat, im Gegensatz zur Bourgeoisie, aufgrund seines
Klasseninteresses imstande ist, die Ideologie der bürgerlichen Klasse
abzuschütteln, welche die Realität so grausam entstellt.
Die gemeinschaftlichen Gefühle sowie die
Macht des menschlichen Bewusstseins sind mächtige Kräfte. Das Vertrauen der
Marxisten in die Arbeiterklasse ist auch ein Vertrauen in das menschliche
Wesen.
Wir veröffentlichen hiermit ein Einleitungsreferat, das Ende 2005 im Diskussionszirkel in Köln gehalten wurde. Nicht nur dieses Referat, sondern auch das darauf folgende, das die Frage der Geschlechterverhältnisse im Kommunismus thematisierte, sind von hoher Qualität und unbedingt lesenswert. Sämtliche im Zirkel gehaltenen Referate werden auf der Homepage des Zirkels (https://de.geocities.com/zirkelrunde [13]) veröffentlicht. Dies gilt ebenso für die Diskussionssynthesen, welche jeweils erstellt werden. Zwar nehmen auch Mitglieder der IKS an den Sitzungen des Zirkels teil, doch in der Regel werden die Diskussionsynthesen und die Einleitungen immer von anderen Teilnehmern des Zirkels angefertigt. Obwohl diese Genoss/Innen meist politisch unerfahren sind, zeugen das hohe Niveau der Referate und die Diskussionen von der Unerläßlichkeit solcher Diskussionszirkel, um die politische Klärung und die theoretische Bildung innerhalb der Arbeiterklasse voranzutreiben. IKS
Die Mutter ist das Haupt der Familie. Die Erblinie wird mütterlicherseits bestimmt. Die Anrechte der Familie oder des Clans (z.B. Sammel- oder Jagdrechte auf ein bestimmtes Gebiet) werden mütterlicherseits vererbt. Bei der Ehe werden die Männer im Haushalt bzw. in der Familie der Frau aufgenommen, nicht umgekehrt. Hohes Ansehen der Frau, Muttermord gilt als das schlimmste Verbrechen.
<<>>>
<<>>Der Vater ist Haupt der Familie.>
Die Erblinie wird väterlicherseits bestimmt. Die Anrechte, hier v.a. Eigentum, werden väterlicherseits vererbt. Bei der Ehe werden die Frauen in die Familie des Mannes aufgenommen. Hohes Ansehen des Mannes, Erniedrigung der Frau.
- Durch die Erforschung von Völkern auf niedrigeren Entwicklungsstufen.
- Durch das Ziehen von Rückschlüssen aus Verwandtschaftsregeln, welche bereits überlebt waren, aber in verkrusteter Form, Traditionen, Sitten weiter lebten.
- Durch das Studium alter Religionen, Mythologien.
- Durch die moderne Tiefenpsychologie.
- Durch Ausgrabungen.
- Durch die Linguistik, also den Ursprüngen von Wörtern und Begriffen.
- Durch das Studium von Volkskultur, Liedgut usw.
Es gibt zwei gängige Erklärungen dafür:
- Weil die Männer sowieso die Tollsten sind.
- Weil die Männer sowieso Schweine sind.
Beide Behauptungen können diesen Übergang nicht erklären, denn.... wenn die Männer die Tollsten sind, waren sie es schon immer, warum also diese Änderung? Wenn sie Schweine sind, dann waren sie es auch schon vorher... Beide Ansätze gehen davon aus, dass das, was heute sein soll, schon immer war, d.h. die Geschichte wird nicht in ihrer Entwicklung gesehen. Aber auch die Familie entwickelt sich mit der Geschichte weiter.
Die erste Familienform muss die Horde
gewesen sein, da der Mensch als Individuum oder als kleine Gruppe zum Überleben
körperlich zu schlecht ausgestattet ist, z.B. Klauen, starkes Gebiss usw.
Entweder kannte der Urmensch noch keine Eifersucht (die These von Engels) oder
er hatte bereits gelernt, diese Eifersucht in Schach zu halten (die These von
Freud), jedenfalls lebte der Urmensch in der Gruppen-Ehe (Polygamie/
Polyandrie). Diese ersten Ehen mussten Inzucht-Ehen gewesen sein aufgrund der
damals sehr geringen Anzahl von Menschen und ihrer räumlichen Isolation
voneinander. Die erste bekannte Fortentwicklung aus der Horde heraus war die
Blutverwandtschaftsfamilie. Dabei ist der Verkehr zwischen Eltern und Kindern
nicht mehr zugelassen, jedoch immer noch zwischen Geschwistern. Es galt als
Schande mit jemandem außerhalb der eigenen Familie zu verkehren. Die dritte
Stufe wird Punaluafamilie genannt. Es beginnt mit der Ausschließung der
leiblichen Geschwister mütterlicherseits, und in der Folge auch der Enkel und
Urenkel (laut Morgan). Die Ehen behalten zunächst Gruppencharakter. Die
Schwestern waren die gemeinsamen Frauen ihrer gemeinsamen Männer, die aber
nicht ihre Brüder sein durften.
Diese Gruppen-Ehe braucht man sich nicht
als eine Art Orgie vorzustellen, wo jeder mit jedem verkehrt, sondern es ist
mehr als wahrscheinlich, dass es so etwas wie Lieblingspartner gab, oder dass
was man heutzutage Lebensabschnittspartner nennt. Dies bereitete auch die
darauf folgende Stufe der Paarungsfamilie vor, zwischen einem Mann und einer
Frau (wobei Vielweiberei des Mannes gelegentlich sein Recht bleibt, während bei
der Frau die strengste Treue verlangt wurde), wobei diese Ehen noch jeder Zeit
von beiden Seiten löslich bleiben. Die Kinder gehören nach wie vor der Mutter.
Die letzte Stufe unserer Untersuchung,
womit der Übergang zum Vaterrecht besiegelt wird, ist die Monogamie. Vor allem
wird die Löslichkeit der Ehe gegenüber der Paarungs-Ehe sehr stark
eingeschränkt, vor allem auf Seiten der Frau, und zwar damit der Mann sein
Eigentum seinen Kindern vererben kann. Zur monogamen Familie gehören die
Prostitution sowie die gehörnten Ehemänner.
Die geschichtliche Entwicklung geht also
dahin, die Anzahl der an einer Ehe Beteiligten einzuschränken, bis nur noch
zwei übrigbleiben, das bis in unsere Tage hinein bekannte häusliche Glück zu
Zweit. Es stellt sich die Frage, ob die Verkleinerung der Familien damit seinen
Endpunkt erreicht hat oder, ob dieser Prozess noch weiter geht?
Die Geschichte der Familie ist natürlich
nicht nur ein passives Produkt beispielsweise der wirtschaftlichen Entwicklung,
sondern ist auch selbst ein aktiver Faktor dieser Entwicklung. Beispielsweise
sagt Engels, dass es den Menschen wahrscheinlich aufgefallen sein muss, dass
Stämme, welche Inzuchtverbote eingeführt hatten, besser gediehen, als solche,
die es nicht taten. Auch den Übergang von der Punaluafamilie zur
Paarungsfamilie erklärt er unter anderem damit, dass die Einschränkungen der
Ehe-Möglichkeiten zu kompliziert geworden waren.
Der wichtigste Aspekt der
Familienentwicklung ist aber die Änderung im Verhältnis zwischen Mann und Frau
innerhalb der Ehe aufgrund der Änderung der Wirtschaftsweise und insbesondere
der Arbeitsteilung.
Solange die Menschen bzw. die werdenden
Menschen noch hauptsächlich in den Bäumen lebten, existierte lediglich die
biologische Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in Bezug auf das
Kinderkriegen. Beide müssen gleichermaßen an dem Sammeln von Nahrung beteiligt
gewesen sein. Nun gibt es zwei Theorien darüber, weshalb die Menschen von den
Bäumen runter kamen und den Urwald verließen.
Die Erste besagt, dass ihr Lebensraum zu
klein wurde, da sie sich vermehrten. Und die Zweite, dass der Urwald sich durch
Klimaveränderungen verkleinerte.
Dieser Schritt, egal welche Theorie stimmt,
wäre ohne neue Entwicklungen von Technik und Kultur nicht möglich gewesen, da
die Bedingungen auf dem Boden ganz andere waren. Nahrungsquellen und die
Bedürfnisse sich vor Hitze und Kälte zu schützen sahen ganz anders aus. Die
wichtigsten Errungenschaften waren neue Waffen, die Beherrschung des Feuers,
das Bauen von Hütten und die Herstellung von Kleidung. Die Menschen wurden auch
zu Jägern, womit die erste Veränderung in der Arbeitsteilung von Mann und Frau
eintrat. Sprich: die Männer spezialisierten sich auf die Jagd, während die
Frauen für das Sammeln und das Hüten des Feuers verantwortlich waren. Dies
bedeutet nicht eine Erniedrigung der Stellung der Frau, wobei sie in späteren
Phasen viel höher steigen sollte. Der Grund für diese Arbeitsteilung war nicht,
dass die Männer körperlich oder in Schnelligkeit überlegen gewesen wären,
sondern, dass sich damals das Rumtreiben des Jagens nicht mit dem Kinderkriegen
vertrug. Es gab jedoch auch Gesellschaften, wo ein Teil der Frauen an der Jagd
beteiligt war. Nämlich die Gruppe der Jungfrauen. Aus dieser Phase des Jagens
und Sammelns entwickelten sich zwei höhere Entwicklungsstufen. Auf der einen
Seite der niedrige Ackerbau und auf der anderen Seite die Viehzucht. Anstatt
die Pflanzen einzusammeln und die Tiere zu jagen, ist man dazu übergegangen die
Nahrungsquellen selbst anzubauen bzw. zu züchten. Damit teilt sich die
Gesellschaft der Menschen in zwei Gruppen: Die der Sesshaften und die der
Nomaden. Wobei in Beiden weiterhin keine Unterdrückung der Frau stattfindet.
Aus diesen beiden Entwicklungsstufen geht
die Ackerbaugesellschaft als höchste Stufe der Urgesellschaft hervor. Diese
Stufe geht nicht einfach aus dem niedrigen Ackerbau hervor, sondern ist ein
Produkt beider Gesellschaften. Wobei der entscheidende Unterschied zum
niedrigen Ackerbau darin besteht, dass der Pflug nicht mehr von Menschen,
sondern von Tieren gezogen wird. Dadurch kann wesentlich tiefer gepflügt und
das Feld gedüngt werden. In dieser Phase befindet sich das Mutterrecht in
seiner höchsten Blüte. Durch die Durchsetzung der Sesshaftigkeit auf höherer
Stufe und das Wachstum der Bedeutung der häuslichen Arbeit, Beteiligung des
Haushalts an Viehzucht und Ackerbau und dem zunehmenden Gewicht der häuslichen
Arbeit, z.B. Kleidung etc., wird die Rolle der Frau viel zentraler als
beispielsweise in der Jäger- oder Nomadenkultur. Gleichzeitig beginnt auf dem Höhepunkt dieser
Blüte die Auflösung des Mutterrechts und die Abstufung der Stellung der Frau.
In der Urgesellschaft gab es keine
Ausbeutung, weil es keinen Überschuss an Nahrung gab, da man nicht in der Lage
war mehr als was man selber brauchte zu produzieren. Man konnte also nicht
Jemanden miternähren, ohne dass dieser selbst arbeitete. Grade die
wirtschaftlichen Erfolge der höheren Ackerbaugesellschaft machten mit der Zeit
zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Ausbeutung und damit Ungleichheit
zwischen den Menschen und so auch zwischen den Geschlechtern möglich.
Die erste Stufe der Ausbeutung bestand
darin, dass eine Urgesellschaft durch eine andere Urgesellschaft ausgebeutet
wurde. Die Inkaherrschaft in Südamerika vor dem Auftauchen der Spanier liefert
uns ein Beispiel hiervon. Die ausgebeuteten Völker mussten Abgaben an die Inkas
abliefern, sie behielten aber ihre urkommunistische Produktionsweise bei und
die Abgaben wurden gemeinsam von der Genossenschaft abgegeben. Nicht nur das,
sondern auch die Ausbeuter (Inkas) lebten weiterhin untereinander im
Urkommunismus. Die Abgaben wurden mehr oder weniger gleichmäßig innerhalb des
Klans aufgeteilt. Dies kam daher, dass der hergestellte Überschuss noch nicht
reichte, um die Ausbeuter selbst von der Arbeit zu befreien.
Wie aber kam es zu dieser Form der
Ausbeutung? Eine Ursache ist die Änderung der Rolle der Gewalt und des Krieges
in der Geschichte. Die Urmenschen, die in den Urwäldern wohnten, lebten
höchstwahrscheinlich genauso friedlich, wie beispielsweise die Affen, die höchstens
das Raufen, aber kaum das Töten untereinander kennen. Wir haben aber gesehen,
dass die Waffenentwicklung entscheidend dafür war, dass der Mensch den Urwald
verlassen konnte. Erst durch diese Kulturentwicklung entstand die Möglichkeit
für den Menschen, andere Menschen zu töten und die Menschen gewöhnten sich
durch die Jagd an das Blutvergießen. Ursprünglich waren sie Vegetarier gewesen.
In der Jägergesellschaft spielt der Krieg hauptsächlich die Rolle, andere
Stämme von bestimmten Jagdgründen zu vertreiben. Es sind also Verdrängungs- und
Vernichtungskriege. In dieser Phase entsteht auch der Kannibalismus, die
Verspeisung des Feindes. Die obere Ackerbaugesellschaft ist im Vergleich dazu
eine viel friedlichere Gesellschaft gewesen. Warum? Weil die Arbeit des Sähens
und Erntens sich nicht verträgt mit dem Herumtreiben und der Zerstörung des
Krieges. Aber neben der oberen Ackerbaugesellschaft bestehen, z.B. aus
geografischen Gründen, Jägergesellschaften weiterhin. Diese Jägergesellschaften
greifen die oberen Ackerbaugesellschaften an. Das Ziel dieses Krieges ist nicht
mehr Vertreibung und Vernichtung, sondern Raub, d.h. die Aneignung des
Überschusses einer höheren Gesellschaftsform. Für diesen Konflikt gibt es zwei
mögliche Ausgänge:
Entweder die Jäger- und Kriegerstämme
zwingen sich den Ackerbauern auf, wie es bei den Inkas der Fall war, oder aber
die Ackerbauer wehren sich erfolgreich dagegen, indem ein Teil der Mitglieder
dieser Gesellschaft abgestellt werden, um sich auf das Kriegswesen zu
spezialisieren, ohne den geregelten Gang des Sähens und Erntens zu gefährden.
Aber in beiden Fällen läuft es auf das Gleiche hinaus: Eine privilegierte
Kriegerkaste sondert sich ab. Und diese Kaste besteht aus Männern.
Aber es gab einen weiteren Grund, weshalb
die Inkas sich durchgesetzt haben. Die Einheit der Urgesellschaft war die der
im Kommunismus lebenden Gens: d.h. Gesellschaften ohne Privateigentum und ohne
Ausbeutung. Aber diese Gesellschaften waren winzige Einheiten, welche völlig
losgelöst voneinander lebten. Es kam ihnen nicht mal in dem Sinn, sich
gemeinsam gegen die Inkas zu wehren (genauso wenig wie später gegen die
Spanier). Mehr noch: Eine weitere Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrags
war damals in dieser Weltgegend nur noch möglich durch die Einführung von
komplizierten Bewässerungssystemen. Solche Systeme waren unter der Herrschaft
des Gens nicht mal denkbar aufgrund ihrer Abgeschiedenheit von einander. Ob in
Lateinamerika, in Ägypten oder in Indien, überall entstand eine ausbeutende
Priesterkaste aufgrund von dieser Notwendigkeit. Der Urkommunismus scheiterte
an seiner eigenen lokalen Beschränktheit.
Diese Entwicklungen schwächten das
Mutterrecht, wie sie auch den Urkommunismus schwächten. Aber sie schafften es
nicht ab. Beispielsweise hatten anfangs in vielen Weltgegenden die Frauen
Anteil an der Priesterkaste. Und während ganze Schmarotzerschichten an der
Spitze der Gesellschaft entstanden, blieb oft die urkommunistische
Dorfgemeinschaft unten Jahrtausende lang weiter bestehen, in vielen Teilen Asiens
bis zur Kolonialzeit. Damit blieben auch bedeutende Reste des Mutterrechts in
Kraft. Beispielsweise bei den Pharaonen in Ägypten, wo oft in Wahrheit nicht
der Pharao herrschte, sondern seine Mutter.
Was sowohl dem Mutterrecht als auch dem
Urkommunismus den Todesstoss gab, war eine andere, zusätzliche Entwicklung.
Dies war das Auftauchen von Handel, von Geldwirtschaft, d.h. von der
Warenproduktion.
Indem die Menschen nicht mehr für den
eigenen Bedarf, sondern für den Markt produzieren, werden sie zu Konkurrenten.
Damit werden auch die Geschlechter zu Konkurrenten. Es ist auch kein Zufall,
dass das Mutterrecht nirgendwo so radikal und brutal abgeschafft wurde wie im
Mittelmeerraum, von Griechenland ausgehend, weil dort die geographischen
Bedingungen für den Handel günstig waren. Mit dem Handel kam auch die höhere
Form der Sklaverei auf, wo die geraubten Menschen auf dem Markt verkauft
wurden. Aber auch die Monogamie und ihre Kehrseite verdankt der Warenwirtschaft
ihren Siegeszug.
Wichtig ist noch festzuhalten, dass sowohl
das Gemeineigentum am Grund und Boden als auch das Mutterrecht, wenn auch in
verkümmerter Form, in vielen Weltgegenden bis in die Neuzeit überlebten. Es gab
nur eins, was sie auf keinen Fall überleben konnten, nämlich die Begegnung mit dem
Kapitalismus.
Am 10. Dezember 2005 fand in Zürich eine Diskussionsveranstaltung der IKS statt. Solche Treffen, die wir in der Schweiz alle zwei Monate durchführen, sind öffentlich. Entsprechend rufen wir jeweils auch in der Zeitung, im Internet, über verschiedene Veranstaltungskalender usw. zur Teilnahme an der Diskussion auf. Das Ziel solcher Veranstaltungen ist, dass politisch interessierte Leute ihre Positionen darlegen und Fragen in der Diskussion klären können. Einerseits rufen wir zu Veranstaltungen mit einem bestimmten Thema auf, bei denen die IKS ein Einleitungsreferat hält, andererseits gibt es aber auch Diskussionen ohne festes Thema, wo die TeilnehmerInnen vorschlagen, was sie diskutieren wollen. Am 10. Dezember handelte es sich um eine Veranstaltung der zweiten Art.
Drei Wochen vor der Veranstaltung erschien auf einer rechtsextremen Webseite der folgende Aufruf von jemandem, der sich "Berserker" nannte: "Gemaess Indymedia wir am 10.12.05 in Zuerich eine Veranstaltung der Internationaler Kommunistischen Stroemung (IKS) stattfinden. Unter dem Vorwand ein ,,Disskussionstreffen ohne festes Thema'' zu organisieren, werden die Rotfaschisten ihre Propaganda verbreiten. Das dürfen und können wir nicht tolerieren. Es wird eine oeffentliche Veranstaltung sein.
Die Rotfaschisten wuerden sich sicherlich freuen ueber einen kleinen Besuch an dieser Veranstaltung. Die soll keineswegs ein Aufruf zur Gewalt sein, im Gegenteil, es sollten einige Nationalisten die Veranstaltung besuchen und ihre Argumente und Fragen dort einbringen. Die Devise lautet aber, dass man nicht unvorbereitet auftauchen soll, um eine Blamage zu vermeiden.
Wahrscheinlich wird man als national denkender Widerstandskaempfer nicht eingelassen, man kann aber dann die Zeit immer noch fuer eine Flugblattaktion beim Eingang nuetzen. Fuer entsprechende Flugblaetter koennt ihr gerne anfragen. (...) hoffen wir, dass einige nationalisten Zeit finden, um an diesem Anlass teilzunehmen."
Am 29. November 2005 doppelte derselbe "Berserker" mit einem zweiten Aufruf nach:
"Ich musste leider feststellen, dass mich noch niemand fuer ein Flugblatt angefragt hat....
Es waere eine Schande, wenn dieser Anlass ohne uns von statten gehen wuerde. Darum nochmals der Aufruf:
Wir muessen solche Anlaesse unterbinden!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Vom Nationalen Widerstand zum Nationalen Angriff!!!!!!!!!!
gruss euer Berserker
Ps: Ich wuerde kommen, bin aber nicht im Stande aufgrund meiner Abweseinheit wegen einer Studienreise"
Dieser Aufruf eines Rechtsextremen war offenbar als Drohung zu verstehen, unsere Veranstaltung verbal oder mit Gewalt zu stören. Wir antworteten auf ihn und allfällige weitere "Nationalisten" auf unserer Webseite mit folgender Mitteilung:
"1. Unsere öffentlichen Diskussionstreffen sind in der Tat offen für alle, die politisch interessiert sind und mit uns über Fragen, die für die Arbeiterklasse von Belang sind, diskutieren wollen. In diesem besonderen Fall sind wir aber sicher, dass es keinen Sinn hat, mit euch zu diskutieren. Es ist offensichtlich, dass wir uns gegenseitig nichts zu sagen haben. Wir werden uns nicht von eurem Stanpunkt überzeugen lassen, und ihr euch nicht von unserem.
2. Wir sind entschlossen, unser Treffen nicht sabotieren zu lassen. Es ist nicht das erste Mal, dass öffentliche Veranstaltungen der IKS Zielscheibe von Sabotageversuchen sind, und zwar nicht bloss von rechtsextremer, sondern in der Vergangenheit auch schon von anarchistischer oder stalinistischer Seite.
3. Wir haben deshalb auch keine "antifaschistischen" Beweggründe, wenn wir euch an jedem Sabotageversuch hindern werden. Vielmehr geht es uns schlicht darum, diesen Ort der Debatte für Fragen, die die Arbeiterbewegung beschäftigen, zu verteidigen."
Dies war denn auch eines der Anliegen bei der Vorbereitung der Veranstaltung: Eine revolutionäre Organisation muss sich die Mittel geben, um ihre Aktivitäten - sei es eine solche Veranstaltung, sei es eine andere Intervention in der Klasse - gegen Angriffe zu schützen und unter Berücksichtigung des bestehenden Kräfteverhältnisses auch durchzusetzen. Mit der Unterstützung auch von SympathisantInnen kehrten wir das Notwendige vor.
Nicht ganz überraschend erschienen keine Rechtsextreme - dafür zivile Polizisten, denen aber dann schliesslich der Vorwand doch fehlte, um den Saal zu betreten oder die TeilnehmerInnen zu behelligen.
Zu Beginn der Veranstaltung schlug die IKS vor, aus aktuellem Anlass das Thema Antifaschismus aufzugreifen. Im Laufe des Nachmittags wurden dann aber auch noch weitere Themen eingebracht, so namentlich die Krawalle vom November 2005 in Frankreich und deren Perspektivlosigkeit sowie die aktuelle Entwicklung der Klassenkämpfe[1].
Die IKS legte in einer kurzen Stellungnahme die Position der Linkskommunisten zum Antifaschismus dar. Die wichtigsten Aussagen daraus seien hier wiedergegeben:
Der Faschismus ist ein politischer Ausdruck des dekadenten Kapitalismus. Wir sind gegen jede Barbarei, die dieses System hervorbringt, sei es im Namen des Faschismus, der Demokratie oder des Stalinismus. Der Holocaust, Hiroshima und Nagasaki, der Gulag stehen für diese verschiedenen Formen der Barbarei. Jede dieser drei Formen der staatskapitalistischen Herrschaft ist totalitär, aber je mit anderen Mitteln. Der Faschismus zeichnet sich durch eine besonders brutale Disziplinierung der Arbeiterklasse im Hinblick auf den Krieg, namentlich den Weltkrieg aus. Die Italienische Kommunistische Linke hat bereits in den 1920er Jahren nachgewiesen, dass der Faschismus als Regierungsform nur möglich ist, wenn die Arbeiterklasse zuvor durch die Demokratie (z.B. die Sozialdemokratie in Italien und Deutschland) geschlagen worden ist. Der Faschismus kam nie gegen eine ungeschlagene Arbeiterklasse an die Macht.
Was ist Antifaschismus? - Er ist die Negierung des Faschismus - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der Antifaschismus ist weder vom Begriff her antikapitalistisch, noch war er es je in der geschichtlichen Realität[2]. Antifaschismus heisst Verteidigung der Demokratie, also Verteidigung einer anderen totalitären, bürgerlichen Herrschaftsform. Oder Verteidigung des vermeintlich geringeren Übels. Die Demokratie ist für die Bourgeoisie die perfekteste Herrschaftsform. Sie ist flexibel und taugt am besten, wenn es darum geht, dem Volk (also nicht bloss der Arbeiterklasse) vorzugaukeln, es würde selber über seine Geschicke entscheiden, es habe ja an der Urne die freie Wahl. In den 1970er Jahren beispielsweise, als die Arbeiterklasse in vielen Ländern auf der ganzen Welt erwachte und in zahlreiche Kämpfe trat, waren die faschistischen Regime von Franco und Salazar in Spanien und Portugal keine geeigneten Herrschaftsformen mehr, um die Situation im Sinne der Bourgeoisie zu kontrollieren. Der Faschismus musste der Demokratie weichen, die mit ihren Wahlen und Gewerkschaften der kämpfenden Arbeiterklasse viel wirksamer gegenüber treten konnte.
Ob die Bourgeoisie auf die Herrschaftsform des Faschismus zurückgreift, hängt wesentlich vom Kräfteverhältnis zwischen den beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat ab. Wenn das Proletariat geschlagen ist, hat die Bourgeoisie freie Hand und kann je nach den sonstigen Bedürfnissen ein sehr autoritäres Regime einrichten. Wenn umgekehrt das Proletariat auf seinem eigenen Terrain kämpft, d.h. für seine Ziele und mit seinen Mitteln, so wird sich die bürgerliche Klasse hüten, mit einem faschistischen Regime zu regieren versuchen.
Die Arbeiterklasse hat im Kapitalismus zwei Stärken: ihr Klassenbewusstsein und ihre Einheit. Nur mit diesen beiden Waffen kann sie das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschieben. Das Proletariat ist eine besondere Klasse mit besonderen Zielen. Es kann sich nicht mit anderen Klassen zusammenschliessen, um seine Ziele zu erreichen. Es kann sich nur auf seine eigenen Kräfte verlassen und muss ganz auf sie setzen - eben auf die Einheit und das Klassenbewusstsein.
Dies ist gerade beim Antifaschismus das zentrale Problem. Der Kampf gegen den Faschismus, d.h. eben für die Demokratie als das vermeintlich geringere Übel, ist typischerweise das Ziel von anderen als proletarischen Klassen: von Kleinbürgern und Teilen der Bourgeoisie selber. Wenn das Proletariat als Ganzes oder Teile von ihm beginnen, sich in einen solchen Kampf zu begeben, schliessen sie sich notwendigerweise mit fremden Klassen zusammen. Der antifaschistische Kampf ist klassenübergreifend. Die Arbeiter geben dabei ihre Klassenautonomie auf.
Es gibt verschiedene bekannte Beispiele aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die aufzeigen, dass eine solche Bündnispolitik und insbesondere der Antifaschismus nicht nur den Faschismus nicht aufhielten, sondern im Gegenteil durch die Entwaffnung des Proletariats im dargelegten Sinn den Boden vorbereiteten, damit der Faschismus effektiv siegen konnte. Die Einheitsfrontpolitik der KPD in den 20er Jahren ist ein Beispiel. Ein anderes ist der Antifaschismus, den in Spanien die Stalinisten und offiziellen Anarchisten nach dem proletarischen Aufstand vom Juli 1936 praktizierten.
Aus diesen Gründen ist es wichtig, immer nach dem Klassencharakter einer Bewegung zu fragen. Nur wenn die Arbeiterklasse auf ihrem Terrain, autonom, nicht in einem klassenübergreifenden Bündnis kämpft, kann sie sich verstärken und kommt sie ihrem Ziel näher.
Von denjenigen, die sich an der Diskussion beteiligten, vertrat niemand die Auffassung, dass die bestehende gesellschaftliche Ordnung gut sei und verteidigt werden sollte. Alle hatten offenbar das Anliegen, dass der Kapitalismus überwunden werden muss, wenn die Menschheit überhaupt noch eine Zukunft haben soll. Eine Mehrheit schien auch die Meinung zu vertreten, dass die Demokratie eine totalitäre Herrschaftsform der Bourgeoisie ist, um das Proletariat besser in Schach zu halten.
Einige Teilnehmer hatten aber dann doch die mehr oder weniger ausgesprochene Neigung zu sagen, dass die Faschisten noch schlimmer seien als die Demokraten. Einer sagte sinngemäss, im Notfall müsse man Bündnisse gegen die "Schlimmsten" eingehen; im Zweiten Weltkrieg sei dies nötig gewesen gegen Nazideutschland, heute sei es notwendig gegen die USA, die ebenso die ganze Welt unterwerfen wollten, wie seinerzeit die Nazis.
Gegen solche Argumente wandten sich diejenigen, welche die Perspektive der proletarischen Revolution verteidigten. Das Proletariat kann sich für seine Revolution auf niemanden verlassen ausser auf sich selber, auf seine eigenen Stärken. Wenn es um die Umwälzung der herrschenden Ordnung geht, wird kein Staat - auch wenn er noch so antiamerikanisch ist - dem Proletariat helfen, im Gegenteil. Die verschiedenen Nationalstaaten stehen zwar in ständiger Rivalität zueinander, aber sobald das Proletariat sich erhebt, sind sich plötzlich die Bourgeoisien aller Länder in dieser einen Frage einig: Die kapitalistische Ordnung muss gegen die proletarische Revolution verteidigt werden. Genau dies geschah im Herbst/Winter 1918, als sich in verschiedenen Ländern Arbeiterräte nach dem Vorbild der Sowjets zu bilden begannen, um die in Russland begonnene Revolution in Mittel- und Westeuropa fortzusetzen; sofort brachen die Herrschenden den Weltkrieg ab, damit die bedrohten Regierungen in Deutschland, Österreich und Ungarn die Waffen gegen das Proletariat richten konnten. Von Bündnissen mit anderen Klassen oder gar einem kapitalistischen Staat hat die Arbeiterklasse also nichts als die eigene Niederlage zu erwarten.
Ein weiterer Diskussionspunkt war die Frage, ob die Bourgeoisie heute überhaupt auf den Faschismus als Ideologie und Alternative zur Demokratie zurückgreift. Dies ist bei den massgebenden Teilen der herrschenden Klasse offensichtlich nicht der Fall. Trotzdem ist die Frage interessant, da sie es erlaubt, die Spielarten der demokratischen Ideologie genauer zu betrachten. Niemand bestreitet zwar die Tatsache, dass es Neonazis gibt und dass rechtsextreme Schlägerbanden Ausländer, Punks oder andere, die sie für Sündenböcke halten, terrorisieren. Ebenso klar ist, dass die Bourgeoisie, insbesondere ihre Polizei, die Naziszene unterwandert und für Zwecke zu manipulieren versucht, die schlecht zur vorherrschenden demokratischen Ideologie passen: Pogrome, Aufbau von Killerkommandos und Todesschwadronen. Aber eben - all dies muss unter dem demokratischen Deckmantel geschehen. Keine einzige Regierung auf der Welt schreibt in der heutigen Zeit den Faschismus auf ihre Fahnen, im Gegenteil: Jeder Staat will die anderen in der Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte übertrumpfen. Die USA führen ihre Kriege im Namen der Demokratie; ihre Gegner tun dasselbe und werfen den USA Demokratiedefizite und Verletzungen der Menschenrechte z.B. in Guantánamo vor. Die Linken (Sozialdemokraten, Menschenrechtsgruppen, Antirassismus-Kommissionen usw.) sind die Vorreiter dieser Ideologie, die Linksextremen (Antifa, Antiimps, Antideutsche) ihre Speerspitze: Sie sind das mehr oder weniger radikale Feigenblatt jeder Demokratie für ihre undemokratischen "Auswüchse". Sie geben alle vor, der kapitalistische Staat könne, wenn er nur wolle, seine Bürger vor menschenunwürdiger Behandlung schützen. Der Staat und seine Institutionen seien für das Wohl aller zuständig und auch fähig, es zu gewährleisten. Der Antifaschismus ist unersetzbarer Teil dieser Ideologie - egal, ob seine Protagonisten sich dessen bewusst sind oder nicht.
Zur Veranstaltung kamen verschiedene Leute, die sich offen für linkskommunistische Positionen interessierten. Auch in der Schweiz ist festzustellen, dass es vermehrt solche Interessierte gibt[3]. Wir schickten deshalb an verschiedene Leute und Gruppen, die wir kennen, eine Einladung zur Diskussion mit der Aufforderung, uns bei der Verteidigung der Veranstaltung zu unterstützen. Dabei verwiesen wir aber ausdrücklich auf unsere Ablehnung jeder antifaschistischen Bündnispolitik und präzisierten: "Wir können und werden uns nur auf unsere eigenen Kräfte, also auf diejenigen der InternationalistInnen, abstützen und werden uns davor hüten, unseren Schutz auf einer antifaschistischen Grundlage zu organisieren versuchen."
FK, 16.01.06
Fussnoten:
[1] Aus Platzgründen beschränken wir uns in diesem Artikel auf das Thema Faschismus und Antifaschismus. Was die anderen Themen betrifft, verweisen wir einerseits auf den Artikel "Ausschreitungen in den französischen Vorstädten" (book/print/590) und andererseits auf die aktuellen Artikel über den Klassenkampf in jeder Ausgabe der Weltrevolution.
[2] Vgl. dazu den Beitrag eines Lesers in Weltrevolution Nr. 131 und unsere Stellungnahme zu diesem Beitrag in Nr. 132
[3] Ein Indiz dafür ist, dass die Gruppe "Eiszeit" einen mehrmonatigen Diskussionszyklus über "kommunistische Dissidenz" organisiert, bei welchem bei reger Teilnahme bis jetzt mehrheitlich linkskommunistische Themen und Positionen diskutiert werden (Rosa Luxemburg, Deutsch-Holländische Kommunistische Linke, Italienische Kommunistische Linke), vgl. www.eiszeit.tk [16].
In der bedeutendsten Metropole der USA, New
York, streikten in den Tagen vor Weihnachten die U-Bahn-Beschäftigten. Drei
Tage lang ruhte der U-Bahn-Betrieb. Der New Yorker U-Bahnstreik war nicht nur
ein Ausdruck der Kampfbereitschaft, sich trotz der angedrohten finanziellen und
anderen Sanktionen zur Wehr zu setzen, sondern er zeigte auch, dass ungeachtet
all der Spaltungsversuche der Arbeiter durch das Kapital, die Beschäftigten
Solidarität über alle Generationen hinweg entwickeln können. Immer wieder
versucht die US-Bourgeoisie bei der
Verfolgung ihrer imperialistischen Ziele die Arbeiter für ein Bündnis mit dem
Staat zu gewinnen. Während die Stadt New York im September 2001 noch als
Zielscheibe terroristischer Angriffe auserkoren wurde und die US-Bourgeoisie
diesen Angriff als Vorwand für den Aufbau einer patriotischen Front zu nutzen
suchte, belegt nicht nur der Streik der New Yorker U-Bahnbeschäftigten, sondern
auch eine Vielzahl anderer Streiks in den USA (u.a. Boeing/Seattle letzten
Herbst), dass die Arbeiterklasse in den USA sich keinesfalls für eine
patriotische Front einspannen lässt, sondern für ihre Klasseninteressen
eintritt.
Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass
die Arbeiterklasse nicht von der Bühne der Geschichte verschwunden ist, sondern
weltweit langsam wieder in Erscheinung tritt.
Zum gleichen Zeitpunkt, als in New York die
U-Bahn-Beschäftigten streikten, legten bei Seat in Barcelona die Beschäftigten
nach der Ankündigung von Entlassungen die Arbeit nieder. Aus vielen Ländern
lassen sich gleichlautende Nachrichten verkünden. Auch wenn es bislang den
Herrschenden mit den Gewerkschaften an ihrer Seite gelungen ist, diese Kämpfe
einigermaßen einzudämmen und sie im Griff zu haben, belegen sie, dass die Arbeiterklasse
weltweit die Stirn erhebt gegen die Angriffe des Kapitals.
Die IKS intervenierte in diesen Kämpfen mit
verschiedenen Mitteln. Aus Platzgründen verweisen wir hier nur auf unsere
Webseite in verschiedenen Sprachen, wo wir ausführlicher darüber berichten.
(Auszug aus einem Artikel der Presse der IKS in den USA).
Der Versuch die Arbeiter zu spalten, stand
im Mittelpunkt der Kämpfe bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in New York
(MTA). Das MTA-Management [...]
versuchte das Renteneintrittsalter von gegenwärtig 55 auf 62 Jahre für neu
Einzustellende festzulegen. Gleichzeitig hätten die demnächst Neueingestellten
6% ihres Lohnes für den Rentenfond bezahlen sollen. Ein Rentenalter von 55
Jahren bestand schon lange in Anerkennung
der extrem harten Arbeitsbedingungen, unter denen die Transportarbeiter in den
100 Jahre alten U-Bahntunneln arbeiten: schlechte, stickige Luft, Rattenplage
und keine sanitären Anlagen. Der Vorstoß des Gouverneurs hätte keine Bedeutung
für das Rentenalter der jetzt Beschäftigten gehabt.
Aber die Transportarbeiter waren nicht
bereit, auf dieses Spaltungsmanöver einzugehen. Als Teil der Arbeiterklasse,
die sich konfrontiert sieht mit einem umfassenden Angriff auf ihre Renten,
verweigerten die Transportarbeiter kategorisch, irgendeine Änderung bei den
Renten zu akzeptieren. Sie streikten, um die Renten von Arbeitern zu
verteidigen, die noch gar nicht eingestellt worden sind. Sie nannten diese ihre
"zukünftigen, noch unbekannten Kollegen". Dieser Kampf drückt
glasklar aus, dass die Arbeiterklasse dabei ist, ihre Identität und ihr
solidarisches Verhalten wieder zu gewinnen. Das hat nicht nur eine Wirkung auf
die am Kampf beteiligten Arbeiter, sondern auch auf Arbeiter in anderen
Branchen. Die Transportarbeiter streikten aus Klassensolidarität mit der
zukünftigen Generation, die ja noch nicht einmal eingestellt ist. Das fand
Widerhall bei vielen Arbeitern. Sie konnten sehen, dass endlich jemand
aufgestanden ist und gesagt hat: An den Renten wird nicht gerüttelt!
Der Streik der 33.700 Transportarbeiter,
der New York für drei Tage lahm legte -
und das in der Vorweihnachtszeit -, war der bedeutendste Arbeiterkampf während
der letzten 15 Jahre in den USA. Seine Bedeutung liegt in einer Reihe von
zusammenhängenden Gründen: 1. Der internationale Kontext, in dem die Kämpfe
stattfanden. 2. Die Entwicklung des Klassenbewusstseins unter den Streikenden
selbst. 3. Die potenzielle Auswirkung des Streiks auf andere Arbeiter. Trotzdem
sollte seine Bedeutung nicht überschätzt werden. Er kann nicht verglichen
werden mit den Kämpfen in den 80er Jahren, bei denen die Autorität des
kapitalistischen Gewerkschaftsapparates - der der Kontrolle und Kanalisierung
der Arbeiterkämpfe dient - herausgefordert wurde, und bei denen die Frage der
Kampfausdehnung auf andere Branchen gestellt wurde. Jedoch trotz der
schwierigen Bedingungen, unter denen die Arbeiterklasse heute kämpfen muss,
müssen wir uns über die Bedeutung dieses Kampfes klar werden. Auf dem
Hintergrund der schwierigen Bedingungen des Arbeiterkampfes heute ist er von
besonderer Bedeutung.
Obgleich der Kampf noch ganz unter der
Kontrolle der örtlichen Gewerkschaftsführung blieb - beherrscht von den Linken
und den Basisgewerkschaftlern -, zeigte der Kampf nicht nur wachsende
Kampfbereitschaft, sondern auch, und das ist viel wichtiger, Schritte hin zur
Entwicklung eines wiederentdeckten Gefühls der Klassenidentität und des
Selbstvertrauens, eines Verständnisses der Klassensolidarität, die alle
Arbeiter über die Generationen und Branchen hinweg vereinigt.
Die Transportarbeiter streikten im
Bewusstsein, dass sie gegen das "New York States' Taylor" Gesetz verstießen, welches Streiks im öffentlichen
Dienst verbietet und als Strafe für jeden streikenden Arbeiter automatisch
einen Lohnabzug von zwei Tagen pro Streiktag vorsieht. Somit würde jeder
streikende Arbeiter drei Tage Löhne für jeden Streiktag verlieren. Die Stadt
New York drohte damit, zusätzlich noch jeden streikenden Arbeiter pro Streiktag
mit einer Geldbuße von 25.000$ zu belegen, wobei sich die Geldbuße mit jedem
weiteren Streiktag verdoppeln sollte, also 50.000$ für den zweiten und 100.000$
für den dritten Streiktag. Angesichts der angedrohten Strafen seitens der
Bourgeoisie fiel den Arbeitern die Entscheidung zu streiken nicht leicht. Dass
sie es dennoch taten, war ein großartiger Ausdruck kämpferischer
Unbeugsamkeit.
[...]
Diese Entwicklung aufkeimender
Kampfbereitschaft ist überall in den USA im Gange, wie die Beispiele der Kämpfe
in der Lebensmittelbranche in Kalifornien, bei Boeing, der
Northwest-Fluggesellschaft, der Streik der Transportarbeiter in Philadelphia
und der Streik der Lehrkräfte an der New York Universität zeigen. Dabei ist der
Streik der New Yorker Transportarbeiter nicht nur deshalb so bedeutsam, weil er
der größte und wirkungsvollste war, sondern auch wegen des
Fortschritts, den er auf der Ebene der Bewusstseinsentwicklung zum Ausdruck
brachte.
Wie wir gesagt haben, wurde der Streik
hauptsächlich zur Verteidigung der Renten geführt, die unglaublichen Angriffen
seitens der Bourgeoisie überall auf der Welt, aber besonders in den USA
ausgesetzt sind. In den USA zahlt der Staat nur kümmerliche Renten, daher sind
die Arbeiter auf Firmen- oder jobbezogene Renten angewiesen, um im Rentenalter über ein
Auskommen zu verfügen. Der Bestand dieser beiden Rentenarten ist zur Zeit in
Gefahr. Auf der einen Seite sollen die staatlichen Renten durch die angestrebte
Reform der Rentenversicherung gekürzt werden, auf der anderen Seite besteht die
Gefahr der Zahlungsunfähigkeit von Firmen, und schließlich die Bedrohung
allgemeiner Rentenkürzungen. Seit dem Bankrott des Enron Konzerns, bei dem
Tausende Beschäftigte ihre ganzen Renten verloren, haben zahllose amerikanische
Unternehmen ihre Rentenverpflichtungen nicht eingehalten. Erst kürzlich
sind große Firmen der Flugzeugindustrie
wegen zahlreicher Geschäftspleiten ihren Rentenauszahlungen nicht nachgekommen.
Die Bundesregierung, die im Falle der
Zahlungsunfähigkeit der Firmen einspringt, verbürgt sich nur für 50% der üblich
zustehenden Beträge. So sind viele Rentenfonds eingegangen. Die staatliche
Rentenkasse rechnet mit einem Fehlbetrag von 24 Mrd. $. Die Rentenfonds in der
Autoindustrie, bei denen General Motors und Ford mit großen Verlusten zu
kämpfen haben, sind ebenfalls bedroht.
Der Transportarbeiterkampf brachte auf
mehreren Ebenen zum Vorschein, dass die Arbeiter dabei sind, sich wieder als
Klasse zu entdecken. In der Hauptsache ging es eindeutig um die Verteidigung
der Renten der nachkommenden Arbeitergenerationen. Und das nicht nur auf
abstrakte Weise, vielmehr war dies konkret greifbar. So etwa bei einer
Streikpostenkette am Busdepot im Stadtteil Brooklyn, wo Dutzende Arbeiter
zusammenkamen und in kleinen Gruppen über den Streik diskutierten. Ein Arbeiter
sagte, dass er es nicht richtig findet für die Renten zukünftiger Generationen
zu kämpfen, für Leute also, die wir nicht einmal kennen. Seine Kollegen
entgegneten ihm, dass die davon betroffenen, zukünftigen Beschäftigten unsere
Kinder sein könnten. Ein anderer sagte, es sei wichtig die Einheit zwischen den
verschiedenen Generationen der Arbeiterschaft zu verteidigen. Er wies darauf
hin, dass die Regierung wahrscheinlich bald versuchen wird, die medizinische
Versorgung zu beschneiden oder die Renten zu kürzen, wenn wir alt und in Rente
sind. Und dann wird es nicht unwichtig sein, wenn die jüngere Generation, die
dann im Arbeitsleben steht, sich erinnern wird, dass wir für sie aufgestanden
sind. Dann werden sie für uns eintreten und das Kapital daran hindern, unsere
Renten zu beschneiden. Ähnliche Gespräche wurden überall in der ganzen Stadt
geführt. Offenkundig war die Tendenz der Arbeiter sich als Klasse zu erkennen, über ihre eigene
Generation hinauszublicken und zu sehen, dass die Bourgeoisie versucht, die
verschiedenen Generationen gegeneinander auszuspielen.
Andere Arbeiter, die an der
Streikpostenkette vorbeifuhren, haben aus Solidarität auf ihre Hupen gedrückt
und uns lautstark Beifall gespendet. In Brooklyn brachte eine Gruppe von
Lehrern der nahe am Busdepot gelegenen Schule ihre Solidarität dadurch zum
Ausdruck, dass sie mit ihren Schülern im Alter von 9 bis 12 Jahren über den
Streik diskutierten und mit ihren Klassen die Streikpostenkette besuchten. Die
Schüler überreichten den Streikenden Weihnachtskarten mit Grüßen wie: Wir
unterstützen Euch! Ihr kämpft für Respekt!
Der Streik im öffentlichen Verkehrswesen
wurde ein Bezugspunkt für Arbeiter in anderen Bereichen. Neben den oben
genannten Unterstützungs- und Solidaritätsbeweisen gab es noch zahlreiche
andere Beispiele. Arbeiter aus anderen Branchen waren willkommen bei den
Streikpostenketten. In einem Fall besuchte eine Gruppe von Lehrkräften eine
Streikpostenkette in Brooklyn und diskutierte mit den Streikposten über
Streikfragen, z.B. über die einzuschlagende
Strategie. Auf zahllosen Arbeitsstellen in der ganzen Stadt unterhielten
sich Arbeiter anderer Branchen über die Bedeutung der Solidarität, wie sie sich
beispielhaft zeigte in der Verteidigung der Renten. Viele der städtischen
Arbeiter sind seit drei oder mehr Jahren ohne neuen Arbeitsvertrag. Die
Transportarbeiter hielten sich an die Losung ‚ohne Arbeitsvertrag keine
Arbeit'.
Die Fernsehnachrichten konzentrierten sich
auf die Schwierigkeiten, die die Leute hatten, die Fahrgemeinschaften zu bilden
suchten oder die zu Fuß über die East River Brücken zur Arbeit gingen. Aber
auch nach dieser Medienkampagne wusste die Stadtverwaltung: Die
Arbeitersolidarität mit dem Streik blieb groß. Ein örtlicher Richter drohte
damit, Gewerkschaftsführer ins Gefängnis zu stecken und einzelne streikende
Arbeiter zu bestrafen, weil sie sich einer gerichtlichen Verfügung widersetzt
hatten, welche den Streik beenden und zur Wiederaufnahme der Arbeit zwingen
sollte. Aber Oberbürgermeister Bloomberg drängte darauf, die
Gewerkschaftsführer nicht einzusperren, sondern die Geldstrafen zu erhöhen,
weil man sonst Toussaint (einen Gewerkschaftsführer) zum Märtyrer machen würde,
und man dann Solidaritätsstreiks von anderen Beschäftigten des öffentlichen
Dienstes riskieren würde. Die Illegalität des Streiks löste beträchtliche
Diskussionen unter den Arbeitern der ganzen Stadt aus, und auch im ganzen Land.
“Wie kann das illegal sein, wenn Arbeiter protestieren, indem sie von der
Arbeit fernbleiben?”, fragten viele Arbeiter. Wie ein Arbeiter es bei einer
Diskussion an einer Schule in Manhattan ausdrückte: “Es scheint so, als ob
streiken nur erlaubt wäre, wenn es wirkungslos ist.”
Viele Arbeiter waren sich schmerzlich
bewusst, dass die neue, militante Gewerkschaftsführung vor drei Jahren
kapitulierte und einen Vertrag unterschrieben hatte, der 0% Lohnerhöhung für
das 1. Jahr und 3% für das 2. und 3. Jahr vorsah. Die Gewerkschaften standen
deshalb unter dem Druck der wachsenden Kampfbereitschaft und der Wut der
Arbeiter, jetzt entschlossener zu handeln. Während die Basisgewerkschafter und die
Linken der Transportarbeitergewerkschaft ‚Local 100' klar den Streik
kontrollierten, und dabei kämpferische Reden führten und viel von Solidarität
sprachen, um den Streik weiter fest in
der Hand zu haben, war es nichts desto trotz die Funktion der Gewerkschaft den
Kampf zu unterminieren und die Wirkung dieses bedeutenden Streiks zu
beschränken. Gleich zu Beginn des Streiks zogen die Gewerkschaften die
Forderung nach einer jährlichen Lohnerhöhung von 8 % in den nächsten drei
Jahren zurück und lenkten den Blick ausschließlich auf die Renten. Auf der
Gewerkschaftsversammlung, auf der der Streik bewilligt wurde, war keine
Diskussion oder Debatte erlaubt. Die Versammlung wurde als
Gewerkschaftsveranstaltung durchgeführt,
wobei noch eine demagogische Botschaft des Pfarrers Jesse Jackson
verlesen wurde.
Die Zusammenarbeit und die Absprachen
zwischen der Gewerkschaft und der Geschäftsleitung kamen in einem Artikel der
New York Times nach dem Streik zum Vorschein. Die ganzen gegenseitigen
Beschimpfungen zwischen der Gewerkschaft und den Regierungsvertretern waren nur
Schau. Während der Oberbürgermeister und der Gouverneur lautstark verkündeten,
eine Wiederaufnahme der Verhandlungen gäbe es nur, wenn die Arbeit wieder
aufgenommen ist, waren geheime
Verhandlungen im Helmsley Hotel im Gang, wo der Oberbürgermeister dem Vorschlag
des Gewerkschaftsbosses Toussaint zustimmte, man solle die Angriffe auf die
Renten zurückziehen und an Stelle dessen die Beiträge für die
Krankenversicherung erhöhen, um die Regierung für die Kosten zu entschädigen,
die daraus entstehen, dass die Renten auch für künftige Arbeiter gleich
bleiben.
Das von der Gewerkschaft und der Regierung
orchestrierte Ende des Kampfes ist natürlich nicht überraschend, sondern
einfach eine Bestätigung des arbeiterfeindlichen Wesens des
Gewerkschaftsapparats, und mindert keineswegs die Bedeutung der wichtigen Fortschritte, die in der
Entwicklung des Klassenbewusstseins gemacht wurden. Das ruft uns ins
Gedächtnis, welche bedeutenden Aufgaben noch vor uns liegen, um die Zwangsjacke
der Gewerkschaften abzustreifen und damit den Kampf in die eigenen Hände zu
nehmen.
aus Internationalism, Zeitung der Sektion
der IKS in den USA, Dezember 2005
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/3/43/imperialismus
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/frankreich
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/3/54/zerfall
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/11/151/nationale-lage-deutschland
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/deutschland
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/2/29/proletarischer-kampf
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/3/44/internationalismus
[10] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische
[11] https://de.internationalism.org/en/tag/3/45/kommunismus
[12] https://de.internationalism.org/en/tag/2/40/das-klassenbewusstsein
[13] https://de.geocities.com/zirkelrunde
[14] https://de.internationalism.org/en/tag/3/53/vorkapitalistische-gesellschaften
[15] https://de.internationalism.org/en/tag/2/24/marxismus-die-theorie-der-revolution
[16] http://www.eiszeit.tk
[17] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/schweiz
[18] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/antifaschismus-rassismus
[19] https://de.internationalism.org/en/tag/2/32/die-einheitsfront
[20] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/vereinigte-staaten