Konferenz von Zimmerwald: Die zentristischen Strömungen innerhalb der Organisationen des Proletariats

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Der Artikel, den wir hier veröffentlichen, war ein Beitrag des Genossen MC für die interne Debatte der IKS in den 1980er Jahren, mit dem er die zentristischen Positionen in Richtung Rätismus bekämpfte, die in der IKS auftauchten. MC war das Kürzel für Marc Chirik (1907-1990), ein ehemaliger Mitstreiter der kommunistischen Linken und Hauptbegründer der IKS (siehe dazu Internationale Revue Nr. 65 und 66, engl., franz., span. Ausgabe)

Es mag erstaunen, dass ein Text, der sich auf die Konferenz von Zimmerwald im September 1915 gegen den imperialistischen Krieg bezieht, im Rahmen einer internen Debatte in der IKS über die Frage des Rätismus geschrieben wurde. In Wirklichkeit erweiterte sich, wie man bei der Lektüre erkennen kann, diese Debatte auf generellere Fragen, die sich schon vor hundert Jahren stellten, doch auch heute nichts an Aktualität eingebüßt haben.

Eine Zusammenfassung dieser Debatte über den Zentrismus, der sich in Richtung Rätismus bewegt, hatten wir in den Nummern 40 bis 44 (1985/86, engl., franz., span. Ausgabe) der Internationalen Revue veröffentlicht. Wir empfehlen dem Leser vor allem die Nummer 42, in dem der Artikel „Das zentristische Abgleiten in den Rätismus“ die Ursprünge und Entwicklung dieser Debatte präsentiert. Wir fassen diese Präsentation der Debatte hier kurz zusammen, damit gewisse Aspekte in der Polemik von MC verständlicher werden.

Während des 5. Kongresses der IKS, vor allem aber danach machte sich in der Organisation eine Reihe von Konfusionen in der Analyse der internationalen Situation breit, im Besonderen aber eine Position, die bezüglich der Frage der Entwicklung des Klassenbewusstseins des Proletariats einen rätistischen Standpunkt einnahm. Diese Position wurde vor allem durch die Genossen der Sektion in Spanien vertreten (von MC in diesem Text als AP bezeichnet, nach dem Namen der Publikation dieser Sektion: Accion Proletaria):

„Die Genossen, die sich mit dieser Analyse identifizierten, meinten, sie befänden bezüglich des Kassenbewusstseins in Übereinkunft mit der klassischen Konzeption des Marxismus (und auch der IKS). Insbesondere lehnten sie nie explizit die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation für die Entwicklung des Bewusstseins ab. Doch faktisch endeten sie bei einer rätistischen Sichtweise. Dies:

  • indem sie das Bewusstsein als bestimmten und niemals als bestimmenden Faktor im Klassenkampf darstellt;
  • indem sie behauptet, dass ‚alleiniger Schmelztiegel des Klassenbewusstseins der massive und offene Kampf‘ sei, was den revolutionären Organisationen keinen Platz lässt;
  • indem sie jegliche Möglichkeit für die revolutionären Organisationen verneint, das Werk der Weiterentwicklung und Vertiefung des Klassenbewusstseins in Zeiten des Rückgangs des Kampfes auszuführen.

Der einzige entscheidende Unterschied zwischen dieser Sichtweise und dem Rätismus ist, dass Letzterer bis zur letzten Konsequenz geht und ausdrücklich die Notwendigkeit kommunistischer Organisationen verwirft, während unsere Genossen nicht so weit gehen.“

Ein zentraler Punkt war die Ablehnung des Begriffs einer „unterirdischen Reifung des Bewusstseins“, was faktisch bedeutete, die Möglichkeit für revolutionäre Organisationen auszuschließen, das kommunistische Bewusstsein außerhalb offener Kämpfe der Arbeiterklasse weiterzuentwickeln und zu vertiefen.

Sobald der Genosse MC Kenntnis von den Dokumenten bekommen hatte, die eine solche Sichtweise ausdrückten, schrieb er einen Beitrag, um gegen sie anzugehen. Im Januar 1984 nahm die Vollversammlung des Zentralorgans der IKS eine Resolution an, in der Stellung zu den falschen Positionen bezogen wurde, vor allem zu den involvierten rätistischen Konzepten:

 „Als diese Resolution angenommen wurde, erkannten die IKS-Genossen, die zuvor die These der ‚Unmöglichkeit einer unterirdischen Reifung‘ mit all ihren rätistischen Konsequenzen entwickelt hatten, ihren Fehler. So sprachen sie sich nachdrücklich für diese Resolution aus, vor allem für den Punkt 7, der die spezielle Funktion hatte, die Analysen, die sie zuvor entwickelt hatten, zurückzuweisen. Doch nun erhoben andere Genossen Einspruch gegen Punkt 7, die ihn entweder in Bausch und Bogen ablehnten oder nur ‚unter Vorbehalt‘ für ihn stimmten, weil sie einige Formulierungen ablehnten. Man konnte in der Organisation das Umsichgreifen einer Vorgehensweise beobachten, die, ohne offen rätistische Ansichten zu unterstützen, als ein Schild oder Schirm für diese Thesen diente, indem sie deren klare Verurteilung durch die Organisation ablehnte und ihre Bedeutung herunterspielte. Angesichts dieses Vorgehens sah sich das Zentralorgan der IKS im März 1984 veranlasst, eine Resolution zu verabschieden, die an die Merkmale:

  1.  des Opportunismus als Manifestation der Penetrierung bürgerlicher Ideologie in die proletarischen Organisationen, der sich vor allem ausdrückt durch:
    • eine Ablehnung oder eine Verwischung der revolutionären Prinzipien und des generellen Rahmens der marxistischen Analyse;
    • einen Mangel an Entschlossenheit bei der Verteidigung dieser Prinzipien;
  2. und des Zentrismus als besondere Form des Opportunismus erinnert, die sich ausdrückt durch:
    • eine Phobie gegenüber klaren, genauen und kompromisslosen Positionen, welche sich vor ihren Konsequenzen nicht scheuen;
    • eine systematische Übernahme von vermittelnden Positionen zwischen antagonistischen Standpunkten;
    • eine Schlichtungshaltung zwischen diesen Positionen;
    • die Suche nach einer Schiedsrichterrolle;
    • die Suche nach der Einheit der Organisation um jeden Preis, auch zum Preis der Konfusion, des Mangels an Stringenz, Kohärenz und Kontinuität in den Analysen, sowie Konzessionen auf Kosten der Prinzipien.“

Und die Resolution kommt zum Schluss, „dass im Moment innerhalb der IKS eine Tendenz zum Zentrismus existiert – das heißt, zu einer Aussöhnung mit dem Rätismus und einem Mangel an Unnachgiebigkeit gegenüber dem Rätismus.“ (Internationale Revue, Nr. 42 [engl., franz., span. Ausgabe], „Zentristisches Abgleiten in den Rätismus“)

Angesichts dieser Analyse zog es eine Anzahl jener, die sich ihrer Stimme enthalten hatten, vor, statt ernsthaft und gründlich die Analysen der Organisation zu berücksichtigen, die wirklichen Fragen zu verschleiern, indem sie ebenso bedenkliche wie spektakuläre Verrenkungen vollzogen und damit eine klassische zentristische Richtung einschlugen. Der Text von McIntosh[1], auf den der Beitrag von MC, den wir hier veröffentlichen, antwortet, ist eine unverhohlene Demonstration dieser Winkelzüge, da er die simple (aber nie öffentlich geäußerte) These vertritt: Es kann keinen Zentrismus gegenüber dem Rätismus in der IKS geben, weil der Zentrismus in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz nicht existieren kann.

„Indem er sich in seinem Artikel mit der Frage des Zentrismus nur allgemein und im Rahmen der Geschichte der Arbeiterbewegung auseinandersetzt, ohne sich auch nur einen Moment lang darauf zu beziehen, wie sich die Frage für die IKS stellt, vermeidet er es, den/die LeserIn zu informieren, dass diese Entdeckung der Unmöglichkeit des Zentrismus in der Periode der Dekadenz (deren Entdecker er ist) den GenossInnen gerade recht kam, die sich in der Abstimmung über die Resolution vom Januar 1984 enthalten oder nur unter Vorbehalt zugestimmt hatten. Die These von McIntosh, an die sie sich seit der Formierung einer ‚Tendenz‘ anlehnen, liefert ihnen neue Munition gegen die Analyse der IKS über die zentristischen Abschweifungen zum Rätismus, denen sie zum Opfer gefallen waren – eine Analyse, die sie unermüdlich bekämpften, indem sie vergeblich(nacheinander oder gleichzeitig) versuchten zu beweisen, dass ‚der Zentrismus die Bourgeoisie sei‘, dass es ‚eine zentristische Gefahr in den revolutionären Organisationen gebe, aber nicht in der IKS‘, dass ‚eine zentristische Gefahr für die IKS existiert, aber nicht gegenüber dem Rätismus‘. (Internationale Revue, Nr. 43, engl., franz., span. Ausgabe: „Die Ablehnung des Begriffs des Zentrismus: Eine offene Tür für den Verzicht auf die Klassenpositionen“).

Wie bereits oben erwähnt, weitete sich die Debatte von 1985, auch wenn anfangs die Frage des Rätismus als Strömung und politische Vision im Mittelpunkt stand, auf die allgemeinere Frage des Zentrismus aus, der dafür steht, wie die Organisationen der Arbeiterklasse dem Einfluss der dominierenden Ideologie in der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt sind. Wie MC im folgenden Artikel zeigt, kann der Zentrismus als solcher nicht verschwinden, solange die Klassengesellschaft existiert.

Der Wert der heutigen Veröffentlichung dieses Diskussionsbeitrags als Artikels liegt vor allem darin, dass er auf der Geschichte des Ersten Weltkrieges (ein Thema, das wir seit 2014 unter verschiedenen Aspekten in der Internationalen Revue behandeln), und vor allem der Rolle der Revolutionäre und der Entwicklung des Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse sowie ihrer Avantgarde angesichts dieses Ereignisses basiert. Die Konferenz von Zimmerwald, die im September 1915, also vor 100 Jahren abgehalten wurde, ist Teil unserer Geschichte. Doch sie illustriert auch auf eindrückliche Weise die Schwierigkeiten und Zweifel der Teilnehmer, nicht nur mit den Verräterparteien der Zweiten Internationalen zu brechen, sondern auch mit der gesamten versöhnlerischen und pazifistischen Ideologie, die den Krieg zu beenden hoffte, ohne in den revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft, die diesen Krieg entfesselt hatte, treten zu müssen. Lenin stellte diese Situation 1917 folgendermaßen dar:

„Die internationale sozialistische Arbeiterbewegung hat in über zwei Kriegsjahren in allen Ländern drei Strömungen hervorgebracht (...) Die drei Strömungen sind folgende:

  1. Die Sozialchauvinisten, d.h., Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat (...). Diese Leute sind unsere Klassengegner. Sie sind auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen (...)
  2. Die zweite Strömung – das so genannte ‚Zentrum‘ - besteht aus Leuten, die zwischen den Sozialchauvinisten und den wirklichen Internationalisten schwanken. (...) Das ‚Zentrum‘ ist das Reich der gefälligen kleinbürgerlichen Phrase, des Internationalismus in Worten, des feigen Opportunismus und der Liebedienerei gegenüber den Sozialchauvinisten in der Tat. Der Kern der Sache ist, dass das ‚Zentrum‘ von der Notwendigkeit der Revolution gegen die eigenen Regierungen nicht überzeugt ist, sie nicht propagiert, dass es keinen rückhaltlosen revolutionären Kampf führt, dass es gegen ihn die aller plattesten – und ‚erz-marxistisch‘ klingenden – Ausflüchte erfindet (…) Der wichtigste Führer und Repräsentant des ‚Zentrums‘ ist Karl Kautsky, die bedeutendste Autorität der II. Internationale (1889 – 1914), das Musterbeispiel einer vollständigen Aufgabe des Marxismus, ein Musterbeispiel unerhörter Charakterlosigkeit, jämmerlichster Schwankungen und Verrätereien seit August 1914 (…)
  3. Die dritte Strömung sind die wirklichen Internationalisten, denen die ‚Zimmerwalder Linke‘ am nächsten kommt.“[2]

Im Zusammenhang mit der Zimmerwalder Konferenz ist es korrekter zu sagen, dass die Rechte nicht durch die „Sozialchauvinisten“ vertreten war, um den Ausdruck von Lenin zu gebrauchen, sondern durch Kautsky und Konsorten  – die später die Rechte in der USPD[3] bildeten –, dass sich die Linke aus den Bolschewiki und das Zentrum aus Trotzki und den Spartakusbund von Rosa Luxemburg zusammensetzte. Der Prozess, der zur Revolution in Russland und Deutschland führte, war ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass ein großer Teil des „Zentrums“ für die Positionen der Bolschewiki gewonnen werden konnte.

Später wurde der Begriff des Zentrismus nicht mehr von allen politischen Strömungen in gleicher Weise verwendet. Von den Bordigisten beispielsweise wurden Stalin und die Stalinisten der 1930er Jahre stets als „Zentristen“ bezeichnet, die Politik Stalins als das „Zentrum“ zwischen der Linken in der Internationalen (die wir heute als die kommunistische Linke vor allem rund um Bordiga und Pannekoek bezeichnen) und der Rechten Bucharins betrachtet. Bilan verwendete diesen Terminus bis zum Zweiten Weltkrieg. Für die IKS, die sich auf die Methode Lenins beruft, bedeutet der Begriff des Zentrismus das Schwanken zwischen der (revolutionären) Linken und der (opportunistischen, aber noch im Lager der Arbeiterklasse befindlichen) Rechten. Der Stalinismus jedoch mit seinem Programm des „Sozialismus in einem Land“ ist weder zentristisch noch opportunistisch, sondern Bestandteil des feindlichen Lagers – des Kapitalismus. Wie der folgende Artikel unterstreicht, ist der Zentrismus keine politische Strömung, die auf spezifischen Positionen basiert, sondern vielmehr eine permanente Tendenz innerhalb der politischen Organisationen der Arbeiterklasse, die auf der Suche nach dem „goldenen Mittelweg“ zwischen den kompromisslos revolutionären Positionen und jenen Positionen ist, die einen Konsens mit der herrschenden Klasse suchen.

Der Zentrismus aus der Sicht von McIntosh (MIC)

In meinem Artikel „Der Zentrismus und unsere informelle Tendenz“, der in der letzten Ausgabe unseres Internen Internationalen Bulletins erschienen ist, versuchte ich, die Inkonsequenz in den Behauptungen von McIntosh bezüglich der Definition des Zentrismus in der Zweiten Internationalen aufzuzeigen. Folgende Konfusionen von McIntosh konnten wir beobachten:

  • die Identifizierung des Zentrismus mit dem Reformismus;
  • die Reduzierung des Zentrismus auf eine „soziale Basis“, die von den „Funktionären und Offiziellen des sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsapparats“ (die Bürokratie) gebildet wird;
  • die Vorstellung, dass „ihre soziale Basis“ auf der Existenz eines „ausgearbeiteten Programms“ gründet;
  • die Behauptung, dass die Existenz des Zentrismus ausschließlich an eine bestimmte Periode des Kapitalismus gebunden ist, nämlich die aufsteigende Periode;
  • die absolute Negierung der Existenz von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideen und Mentalitäten innerhalb der Arbeiterklasse (die Unreife des Bewusstseins), von denen es sich nur mit größter Mühe lösen kann;
  • die Negierung des permanenten Eindringens der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie in die Reihen der Arbeiterklasse;
  • das totale Ausweichen vor dem Problem einer möglichen Degenerierung einer proletarischen Organisation.

Wir rufen diese Punkte nicht nur in Erinnerung, um den vorangegangenen Artikel zusammenzufassen; darüber hinaus halten wir viele dieser Punkte für relevant,  um die neue Theorie von McIntosh über die angebliche Unmöglichkeit des Zentrismus innerhalb der Arbeiterbewegung während der Periode der Dekadenz des Kapitalismus zu zerlegen…

Der Zentrismus in der Periode der Dekadenz

McIntosh stützt seine Behauptung, es könne keine zentristischen Strömungen in der Dekadenz des Kapitalismus geben, auf die Tatsache, dass durch den Epochenwechsel der Platz, der (in der Periode des aufsteigenden Kapitalismus) noch vom Zentrismus besetzt wurde, nun vom Kapitalismus vereinnahmt wird - vor allem vom Staatskapitalismus. Dies ist nur teilweise der Fall. Es trifft auf gewisse politische Positionen zu, die unter anderem durch den Zentrismus vertreten wurden, aber es trifft nicht hinsichtlich des „Platzes“ zu, der das kommunistische Programm des Proletariats von der bürgerlichen Ideologie trennt. Dieser Platz (der ein Terrain für den Zentrismus bildet) und der durch die Unreife (oder die Reife) des Klassenbewusstseins sowie durch die Kraft bestimmt wird, mit der die bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologie in die Reihen der Arbeiterklasse eindringt, neigt dazu, sich zu verkleinern, aber er verschwindet nicht, solange es soziale Klassen gibt, vor allem solange die Bourgeoisie die herrschende Klasse in der Gesellschaft bleibt. Dies bleibt auch nach einer erfolgreichen Revolution der Fall, denn wenn man vom Proletariat als eine Klasse spricht, so bedeutet dies, dass es auch andere Klassen in der Gesellschaft gibt, die folglich einen Einfluss auf die Arbeiterklasse ausüben und Letztere mit ihrer Ideologie penetrieren. Die ganze marxistische Theorie der Übergangsperiode beruht auf der Tatsache, dass anders als in anderen Revolutionen in der Geschichte die proletarische Revolution die Übergangsperiode nicht beendet, sondern eröffnet. Nur die Anarchisten (und ein Teil der Rätisten) nehmen an, man springe mit der Revolution direkt vom Kapitalismus in den Kommunismus. Für die Marxisten ist die Revolution lediglich die notwendige Vorbedingung, die die Möglichkeit zur Verwirklichung des kommunistischen Programms in einer Gesellschaft ohne Klassen bildet. Dieses kommunistische Programm wird von der als politische Partei organisierte revolutionäre Minderheit gegen die Positionen der anderen politischen Strömungen verteidigt, die sich innerhalb der Klasse befinden und auf ihrem Klassenterrain agieren, und dies vor, während und nach einer erfolgreichen Revolution.

Die Behauptung, dass die gesamte Arbeiterklasse schon ein kommunistisches Bewusstsein hat oder dies mit der Revolution erlangt, läuft darauf hinaus, die Existenz einer politischen Organisation innerhalb der Klasse für überflüssig, wenn nicht gar für schädlich zu halten (es sei denn, es handelt sich um einer Organisation mit rein pädagogischer Funktion, wie im Rätekommunismus von Pannekoek), oder zu dekretieren, dass die Klasse nur eine einzige Partei haben könne (wie es die engstirnigen Bordigisten sehen), während wir neben der Organisation der kommunistischen Partei die unvermeidliche Existenz von konfusen politischen Organisationen anerkennen, die kleinbürgerliche Ideen mit sich tragen und politische Konzessionen gegenüber den der Klasse fremden Ideologien machen.

Dies bedeutet die Anerkennung der Existenz von zentrischen Tendenzen innerhalb der Klasse in allen Perioden. Denn der Zentrismus ist nichts anderes als das Fortbestehen von politischen Strömungen in der Klasse mit konfusen, inkonsequenten und inkohärenten Programmen, die durchtränkt sind mit Positionen, die sich an die kleinbürgerliche Ideologie anlehnen, welche sie weitertragen, der gegenüber sie Zugeständnisse machen und die zwischen dieser Ideologie und dem historischen Bewusstsein der Klasse oszillieren, die sie unermüdlich zu versöhnen versuchen.

Eben weil der Zentrismus nicht als ein „definiertes Programm“ definiert werden kann, können wir seine Hartnäckigkeit begreifen, mit der er sich an jede spezifische Situation anpasst und die Position wechselt, wenn sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändert.

Es ist Unsinn, vom Zentrismus im Allgemeinen, im Abstrakten, in den Begriffen einer eigenen „sozialen Basis“ oder eines „spezifischen, präzisen Programms“ zu sprechen. Er muss vielmehr in ein Verhältnis zu anderen, stabileren politischen Strömungen gesetzt werden (in der aktuellen Debatte also zum Rätismus). Man kann jedoch von einer Konstante im politischen Verhalten sprechen, die den Zentrismus charakterisiert: hin und her schwanken, es vermeiden, eine klare und konsequente Position zu beziehen (…)

Nehmen wir (…) ein konkretes Beispiel (…) das Aufschluss gibt über zentristisches Verhalten: McIntosh bezieht sich in seinem Text mehrmals auf die Polemik zwischen Kautsky und Rosa Luxemburg im Jahr 1910. Wie begann diese Polemik? Sie begann mit einem Artikel von Rosa Luxemburg gegen die opportunistische Politik und Praxis der SPD-Führung und stellte dieser die revolutionäre Politik des Massenstreiks entgegen. Kautsky, als führender Redaktor der Neuen Zeit (dem theoretischen Organ der SPD), weigerte sich, diesen Artikel zu veröffentlichen, mit dem Argument, dass er die Grundidee des Massenstreiks zwar richtig finde, im Moment sie jedoch für unangebracht halte, da dies zwangsläufig eine Antwort seinerseits und somit eine Diskussion zwischen zwei Mitgliedern der radikal-marxistischen Tendenz zur Folge hätte, was aber angesichts der Rechten in der Partei bedauerlich wäre. Jedoch hatte Luxemburg bereits vor dieser Ablehnung ihren Artikel in der Dortmunder Arbeiterzeitung veröffentlicht, so dass Kautsky zu einer Antwort gezwungen wurde und sich an der Polemik beteiligte, die allen bekannt ist.

Als ich im September 1984 im Internationalen Sekretariat[4] meine Absicht erläuterte, einen Diskussionsbeitrag zu schreiben, in dem ein Licht auf die rätistische Ausrichtung der Artikel von Accion Proletaria (Zeitung der IKS-Sektion in Spanien) geworfen werden sollte, verlangte die Genossin JA[5] eine Erklärung des Inhalts und der Argumente dieses Artikels. Nachdem  diese Erklärung gegeben worden war, befand JA diesen Artikel als unangebracht und schlug vor zu warten, bis das Internationale Sekretariat sich geeinigt habe, das heißt, den Text vor der Veröffentlichung so zu „korrigieren“, dass das Sekretariat in seiner Gesamtheit ihm zustimmt. Entgegen einer solchen Art von Korrektur, mit der dem Text die Flügel gestutzt und Verwirrung gestiftet werden sollte, zog ich es vor, ihn in meinem eigenen Namen zu publizieren. Einmal publiziert, befand JA den Text als absolut bedauerlich, da er lediglich Unruhe in der Organisation verbreite. Glücklicherweise war JA nicht die Redakteurin (des Internen Bulletins), wie es Kautsky (für die Neue Zeit) gewesen war, und verfügte nicht über seine Autorität, denn dann hätte der Text nie das Licht der Welt erblickt. In den 75 Jahren, die zwischen beiden Vorkommnissen liegen, hat der Zentrismus trotz des Epochenwechsels (Aufstieg und Dekadenz) zwar sein Gesicht und seine Positionen verändert, aber seinen Geist und seine Vorgehensweise beibehalten: das Vermeiden von aufkommenden Debatten, um die Organisation nicht in „Unruhe“ zu versetzen.

In einem meiner ersten polemischen Artikel gegen jene GenossInnen, die unter Vorbehalt zugestimmt hatten, schrieb ich, dass die Dekadenzperiode das Zeitalter des manifesten Zentrismus par excellence ist. Ein simpler Blick auf die Geschichte der vergangenen 70 Jahre macht sofort deutlich, das sich in keiner anderen Periode der Geschichte der Arbeiterbewegung der Zentrismus mit so viel Kraft und in so vielen Varianten manifestiert und so viele Schäden angerichtet hat wie in der Periode des dekadenten Kapitalismus. Man kann der Definition von Bilan nur zustimmen, dass eine Internationale als solche nicht Verrat begeht, sondern stirbt, verschwindet, zu existieren aufhört und dass es ihre „national“ gewordenen Parteien sind, die eine nach der anderen ins Lager der nationalen Bourgeoisie überlaufen. So begannen sich einen Tag nach dem 4. August 1914, als die sozialistischen Parteien in den kriegführenden Ländern ihren Verrat mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten besiegelten, in jedem Land kleine Minderheiten in ihrem Schatten, eine immer größere Opposition in den sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften gegen den Krieg und die Politik der nationalen Verteidigung zu entwickeln, die treu am Internationalismus festhielten. Dies war in Russland der Fall mit den Internationalistischen Menschewiki von Martow und der Gruppe von Trotzki. Dies war der Fall in Deutschland mit der Herausbildung einer Opposition gegen den Krieg, die aus der SPD ausgeschlossen wurde und die USPD gründete, sowie in Frankreich mit der revolutionär-syndikalistischen Gruppe La Vie Ouvriere von Monatte, Rosmer und Merrheim, in Italien mit der Mehrheit der Sozialistischen Partei, in der Schweiz, usw. All das bildete eine inkonsequente, pazifistisch-zentristische Strömung verschiedenster Couleur, welche sich dem Krieg im Namen des Friedens, aber nicht im Namen des revolutionären Defätismus und der Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg widersetzte. Diese zentristische Strömung organisierte 1915 die sozialistische Konferenz von Zimmerwald gegen den Krieg (auf der die konsequente und kompromisslose revolutionäre Linke eine kleine Minderheit darstellte, die sich auf die russischen Bolschewiki, die holländischen Tribunisten und die Bremer Linke aus Deutschland beschränkte) sowie die Konferenz von Kienthal 1916, die auch noch vom Zentrismus dominiert war (und auf der die Spartakisten um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sich endlich der revolutionären Linken anschlossen). Diese zentristische Strömung warf keineswegs die Frage nach dem sofortigen Bruch mit den sozialistischen Parteien auf, die sozialchauvinistisch bis zum Gehtnichtmehr geworden waren, sondern plädierte für deren Stärkung in einer organisatorischen Einheit[6]. Die Revolution, die im Februar 1917 in Russland begann, fand eine bolschewistische Partei (und Arbeiter- und Soldatenräte, die fast einhellig die Kerenski-Miljukow-Regierung unterstützten) vor, die eine Politik der bedingten Unterstützung der bürgerlichen Kerenski-Regierung betrieb.

Die allgemeine Begeisterung in der Arbeiterklasse der gesamten Welt nach dem Triumph der Oktoberrevolution führte nicht weiter als zur Bildung einer enormen, grundlegend zentristischen Strömung. Die Parteien und Gruppen, die die Kommunistische Internationale bilden und ihr angehören sollten, waren in ihrer großen Mehrheit noch durch den Zentrismus geprägt. Seit 1920 spürte man die ersten Anzeichen der Erschöpfung der ersten revolutionären Welle, die immer schneller abebbte. All das spiegelte sich auf der politischen Ebene in einem zentristischen Abgleiten wider, das sich schon auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale durch zweideutige und falsche Positionen zu wichtigen Fragen wie den Syndikalismus, den Parlamentarismus, die nationale Unabhängigkeit und das Selbstbestimmungsrecht ausgedrückt hatte. Von Jahr zu Jahr zeigte sich die Kommunistische Internationale und ihre kommunistischen Parteien immer anfälliger gegenüber zentristischen Positionen und der Degeneration; die kompromisslos revolutionären Tendenzen, die in den kommunistischen Parteien schnell in die Minderheit gerieten, wurden nach und nach aus diesen Parteien ausgeschlossen oder fielen selbst dem zentristischen Geschwür zum Opfer, wie es bei verschiedenen oppositionellen Strömungen, die aus der Kommunistischen Internationalen hervorgingen, und besonders bei der Linksopposition um Trotzki der Fall war, die mit ihrem Engagement im spanischen Bürgerkrieg 1936-38 und im Zweiten Weltkrieg im Namen des Antifaschismus und der Verteidigung des degenerierten Arbeiterstaates Russland schlussendlich die Klassengrenze überschritt. Die winzige Minderheit, die fest auf dem Klassenterrain und auf kommunistischen Positionen verblieb, wie die italienische Kommunistische Linke und die holländische Linke, erlitt ebenfalls den Schock des Rückfalls in die dunkle Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die einen, die Bordigisten, verknöcherten und bildeten sich politisch in erheblichem Maße zurück, die Anderen, wie die Holländische Linke, zerfielen in einen völlig degenerierten Rätismus. Erst Ende der 1960er Jahre tauchten mit der sich ankündigenden offenen Krise und den ersten Anzeichen eines wiederauflebenden Klassenkampfes wieder kleine revolutionäre Gruppen auf, die sich von den enormen Konfusionen von `68 freizumachen versuchten und sich bemühten, wieder an den historischen revolutionär-marxistischen Faden anzuknüpfen.

(…) Man muss mit einer geradezu universellen Blindheit geschlagen sein, um diese Wirklichkeit nicht zu sehen. Es bedarf einer völligen Ignoranz gegenüber der Geschichte der Arbeiterbewegung in den letzten 70 Jahren seit 1914, um, wie McIntosh, kategorisch zu behaupten, dass der Zentrismus nicht existiert und in der Periode der Dekadenz nicht existieren kann. Der hochtrabende Verbalradikalismus, die empörten Finten sind kein Ersatz für seriöse Argumente.

Es ist sicher bequemer, eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben, also die Augen vor der Realität und ihren Gefahren zu verschließen, um sie besser negieren zu können. Es beruhigt und erspart das Nachdenken. Dies ist nicht die Methode von Marx, der sinngemäß sagte, dass die Kommunisten nicht da seien, um die Klasse zu trösten; ihre Funktion sei es vielmehr, alles noch schlimmer zu machen, um das Bewusstsein der Klasse über ihr Elend zu wecken. McIntosh geht den ersten Weg, indem er zu seiner Beruhigung und entgegen aller Tatsachen die Existenz des Zentrismus in der Periode der Dekadenz schlichtweg leugnet. Für uns, die wir Marxisten sein wollen, gibt es nur den anderen Weg: die Augen weit zu öffnen, um die Wirklichkeit zu erkennen, sie zu verstehen und sie in ihrer Bewegung und Komplexität zu begreifen. Es liegt also an uns, die Gründe für die unbestreitbare Tatsache zu erklären zu versuchen, dass gerade die Periode der Dekadenz eine Blütezeit des Zentrismus ist.

Die Periode der Dekadenz des Kapitalismus und das Proletariat

(…) Die Periode der Dekadenz ist der Eintritt in eine historische, permanente und objektive Krise des kapitalistischen Systems, das so vor dem historischen Dilemma steht: seine Selbstzerstörung, die die Zerstörung der gesamten Gesellschaft bedeutet, oder die Überwindung dieses Systems, um einer neuen Gesellschaft ohne Klassen, der kommunistischen Gesellschaft, Platz zu schaffen. Die einzige Klasse, die dieses grandiose Projekt zur Rettung der Menschheit verwirklichen kann, ist das Proletariat, dessen Interesse, sich von der Ausbeutung zu befreien, es in einen Kampf auf Messers Schneide gegen dieses kapitalistische System der Lohnsklaverei treibt und das sich zudem nicht emanzipieren kann, ohne die gesamte Menschheit zu emanzipieren.

Im Gegensatz zur:

  • Theorie, dass es der Kampf der Arbeiterklasse ist, der die ökonomische Krise des kapitalistischen Systems verursacht (GLAT = Groupe de Liaison et d`Action des Travailleurs);
  • Theorie, die die permanente historische Krise ignoriert und nur konjunkturelle und zyklische Krisen kennt, welche die Revolution ermöglichen, und die, wenn ihr Sieg ausbleibt, einen neuen Entwicklungszyklus des Kapitalismus erlaubt, und dies bis in alle Ewigkeit (Amadeo Bordiga);
  • pädagogischen Theorie, nach der die Revolution nicht an die Frage der Krise des Kapitalismus gebunden ist, sondern von der Intelligenz der Arbeiter abhängt, die sie im Verlaufe ihres Kampfes erwerben (Pannekoek),

stimmen wir Marx‘ Standpunkt zu, dass eine Gesellschaft nur dann von der Bildfläche verschwindet, wenn sie alle Möglichkeiten, die sie in sich birgt, ausgeschöpft hat. Wir stimmen mit Rosa Luxemburg darin überein, dass es die Reifung der inneren Widersprüche des Kapitals ist, die seine historische Krise bestimmt, eine objektive Bedingung für die Notwendigkeit der Revolution. Wir stimmen Lenin zu, wenn er sagt, dass es nicht ausreicht, wenn das Proletariat nicht mehr ausgebeutet werden möchte, sondern dass darüber hinaus der Kapitalismus nicht mehr wie zuvor weitermachen kann.

Die Dekadenz führt zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems unter dem Gewicht seiner eigenen inneren Widersprüche. Das Verständnis dieser Theorie ist unabdingbar, um die Bedingungen zu verstehen, unter denen sich die proletarische Revolution abspielt und abspielen wird.

Auf diesen Eintritt in die Dekadenz seines ökonomischen Systems, den die bürgerliche ökonomische Wissenschaft weder vorausgesehen noch verstanden hat, hat der Kapitalismus – ohne diese objektive Entwicklung je meistern zu können – mit einer enormen Konzentration seiner politischen, ökonomischen und militärischen Kräfte reagiert, d.h. mit dem Staatskapitalismus, um gleichzeitig der extremen Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und vor allem der Gefahr eines Ausbruchs der proletarischen Revolution die Stirn zu bieten, derer sich die Bourgeoisie mit dem Ausbruch der proletarischen Revolution in Russland 1917 gewahr geworden ist.

Wenn der Eintritt in die Dekadenz die objektive historische Reife für den Untergang des Kapitalismus bedeutet, so verhält es sich mit der Reifung der subjektiven Bedingung dafür (das Bewusstsein im Proletariat) anders. Diese Bedingung ist unverzichtbar, denn wie Marx und Engels schon schrieben: Die Geschichte unternimmt nichts von sich aus, es sind die Menschen (die gesellschaftlichen Klassen), die Geschichte schreiben.

Wir wissen, dass im Gegensatz zu allen vergangenen Revolutionen in der Geschichte, in denen das Bewusstsein der ausführenden Klassen eine zweitrangige Rolle spielte, weil es nur um den Übergang eines Ausbeutungssystems in ein anderes Ausbeutungssystem ging, die sozialistische Revolution, die das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und der Klassengesellschaften bedeutet, die bewusste Tat der revolutionären Klasse zur Grundlage hat. Und das Proletariat ist nicht nur die einzige Klasse, der von der Geschichte die größten Anforderungen abverlangt werden, die sich bis dahin weder einer Klasse noch der Menschheit an sich gestellt hatten, eine Aufgabe, die alle Aufgaben übertrifft, die sich bisher der Menschheit gestellt haben, der Sprung vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit; darüber hinaus sieht sie sich auch mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert. Als letzte ausgebeutete Klasse repräsentiert sie alle ausgebeuteten Klassen der Geschichte gegenüber den ausbeutenden Klassen, die durch den Kapitalismus repräsentiert werden.

Zum ersten Mal in der Geschichte sieht sich eine ausgebeutete Klasse dazu veranlasst, die gesellschaftliche Transformation zu übernehmen, eine Transformation dazu, an deren Gelingen das Schicksal und die Zukunft der gesamten Menschheit hängen. Angesichts dieser Herkulesaufgabe präsentiert sich das Proletariat zunächst in einem Zustand der Schwäche, der typischen Haltung aller ausgebeuteten Klassen, die sich durch das Gewicht der Schwächen all der vergangenen Generationen der ausgebeuteten Klassen, das auf ihr lastet, verschärft hat: ein Mangel an Bewusstsein, an Überzeugung, an Selbstvertrauen, von Angst gepeinigt vor dem, was sie zu denken und zu unternehmen wagen muss, die uralte Haltung der Unterwürfigkeit  gegenüber der Macht und der Ideologie der herrschenden Klassen. Deshalb ist im Gegenteil zu den anderen Klassen, die von Erfolg zu Erfolg eilten, der Kampf der Arbeiterklasse durch Erfolge und Niederlagen gekennzeichnet; sie erreicht ihren endgültigen Sieg erst nach einer langen Serie von Niederlagen.

(…) Diese Abfolge von Erfolgen und Niederlagen im Kampf der Arbeiterklasse, von der Marx bereits nach den revolutionären Ereignissen von 1848 gesprochen hatte, kann sich in der Dekadenzperiode nur beschleunigen, allein schon aufgrund der Barbarei dieser Periode, die dem Proletariat die Frage der Revolution viel konkreter, viel praktischer und viel dramatischer stellt, was sich auf der Ebene des Klassenbewusstseins des Proletariats in einer zunehmenden und turbulenten Bewegung wie die Brandung der Wellen eines wogenden Meeres ausdrückt.

Es sind diese Bedingungen (einer Realität von reifen objektiven und unreifen subjektiven Bedingungen), die diesen Wirbel in der Klasse verursachen und eine Vielzahl von verschiedenen und widersprüchlichen politischen Strömungen hervorbringen, mit Übereinstimmungen und Divergenzen, mit Fortschritten und Rückschlägen und vor allem mit den verschiedenen Variationen des Zentrismus.

Der Kampf gegen den Kapitalismus ist gleichzeitig Kampf und politischer Klärungsprozess, ein Mühen der Klasse, sich ein Klassenbewusstsein anzueignen. Dieser Prozess ist umso gewaltsamer und verschlungener, findet er doch unter dem Kugelhagel des Klassenfeindes statt.

Die einzigen Waffen, die die Arbeiterklasse in diesem Kampf bis aufs Messer gegen den Kapitalismus besitzt, und die sie zum Erfolg führen können, sind ihr Bewusstsein und ihre Organisation. Nur in diesem Sinne kann der folgenden Satz von Marx verstanden werden: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es seinem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (Die heilige Familie, MEW Bd. 2, S. 38)    

(…) die Rätisten interpretieren diesen Satz von Marx in dem Sinn, dass jeder Kampf der Arbeiterklasse automatisch Klassenbewusstsein kreieren würde, und leugnen die Notwendigkeit eines unablässigen theoretisch-politischen Kampfes innerhalb der Klasse (die Existenz einer politisch-revolutionären Organisation). Unsere nur unter Vorbehalt zustimmenden Genossen sind in den Debatten auf dem IB-Plenum im Januar 1984 und in der Abstimmung über Punkt 7 der Resolution auf dieselbe Weise ausgerutscht. Indem sie sich heute (um dieses erste Ausrutschen zu verstecken) der abwegigen These von McIntosh über die Unmöglichkeit der Existenz von zentristischen Strömungen innerhalb der Klasse im dekadenten Kapitalismus anschließen, begeben sie sich nur auf dasselbe Glatteis und begnügen sich damit, dieselbe Münze einfach nur umzudrehen.

Wenn man behauptet, es könne in dieser Periode (der Dekadenz des Kapitalismus) weder vor, während und nach der Revolution irgendeine Form des Zentrismus in der Klasse existieren, dann idealisiert man die Klasse als einheitlich bewusste, absolut homogene und völlig kommunistische Einheit (was die Existenz eine kommunistischen Partei überflüssig macht, wie es die konsequenten Rätisten tun), oder man verfügt, dass nur eine einheitliche Partei in der Klasse existieren kann, außerhalb derer jede Strömung per Definition konterrevolutionär und bürgerlich ist, womit man über auf einen seltsamen Umweg bei den schlimmsten Manifestationen des bordigistischen Größenwahns gelandet ist.

Die beiden Haupttendenzen der zentristischen Strömung

Wie wir bereits gesehen haben, präsentiert sich die zentristische Strömung nicht als eine homogene Strömung mit „einem spezifischen, präzisen Programm“. Es ist eine wenig stabile, inkohärente politische Strömung, die durch den Einfluss zerrissen wird, den der Einfluss des kommunistischen Programms einerseits und die kleinbürgerliche Ideologie andererseits auf sie ausüben. Dies ist zwei Wurzeln (gleichzeitig existierend und wachsend) geschuldet, die sie zum Leben verhelfen und nähren:

  1. die Unreife der Klasse in ihrer Bewusstwerdung;
  2. das konstante Eindringen der kleinbürgerlichen Ideologie in die Klasse.  

Diese Wurzeln lassen die zentristischen Strömungen in zwei diametral entgegengesetzte Richtungen wachsen.

Im Allgemeinen ist es das Kräfteverhältnis, das in den verschiedenen Perioden zwischen den Klassen herrscht, Flut und Ebbe des Klassenkampfes, das über Vormarsch oder Rückzug der zentristischen Organisationen bestimmt. (…) McIntosh sieht in seiner angeborenen Kurzsichtigkeit lediglich die zweite Wurzel und ignoriert die erste völlig, so wie er auch die entgegengesetzten Zwänge, die auf den Zentrismus wirken, verkennt. Er kennt den Zentrismus lediglich als „Abstraktion“ und nicht in der Realität seiner Bewegung. Wenn McIntosh den Zentrismus anerkennt, dann nur in dem Moment, wenn dieser sich definitiv in das Lager der Bourgeoisie einreiht, das heißt, wenn der Zentrismus also aufgehört hat, Zentrismus zu sein. Dann aber wird unser Genosse umso erzürnter sein und große Empörung über eben jenen Zentrismus äußern, den er zuvor weder gekannt noch anerkannt hatte.

Es ist ganz im Sinne unserer Minderheit, sich auf den Kadaver eine wilden Bestie zu stürzen, die sie verpasst hat zu bekämpfen, als diese noch am Leben war und die sie heute zu erkennen und zu bekämpfen sich hütet.

Schauen wir uns nun an, wie der Zentrismus von der zweiten Wurzel genährt wird, das heißt, von der Unreife in der Bewusstwerdung von Klassenpositionen. Nehmen wir zum Beispiel die USPD, die neu entdeckte Reizfigur und das schwarze Schaf unserer Minderheit.

Die persische Mythologie besagt, dass der Teufel, seiner Misserfolge im Kampf gegen das Gute müde geworden, eines schönen Tages beschloss, seine Taktik zu ändern und noch besser zu sein als das Gute. Wenn also Gott den Männern Gutes in Form der Liebe und der fleischlichen Begierde gab, dann verstärkte und überhöhte der Teufel dies und brachte die Menschen dazu, sich in Luxus und Vergewaltigung wälzen. Wenn Gott Gutes gab in Form von Wein, dann verstärkte der Teufel die Freuden des Weines in der Form des Alkoholismus. Man kennt das Sprichwort: „Genieße ein Glas Wein, drei Gläser lasse sein!“.

Unsere Minderheit macht heute exakt dasselbe. In ihrer Unfähigkeit, ihr zentristisches Abgleiten Richtung Rätismus zu verteidigen, wechseln sie einfach ihre Taktik. „Ihr sagt Zentrismus, doch der Zentrismus ist die Bourgeoisie! Indem ihr vorgebt, den Zentrismus zu bekämpfen, macht ihr nichts anderes, als ihn zu rehabilitieren, indem ihr ihn in der Klasse verortet und ihm Klassencharakter bescheinigt. Indem ihr ihn innerhalb der Klasse positioniert, macht ihr euch zu seinem Verteidigern und Apologeten.“

Die alte Taktik des Rollenwechsels. Sie ist absolut hilfreich in den Händen des Teufels. Leider ist unsere Minderheit nicht der Teufel, so dass diese raffinierte Taktik in ihren Händen scheitert. Welcher Genosse glaubt schon im Ernst an die Absurdität, dass die Mehrheit des IB-Plenums vom Januar 1984, die die Existenz eines zentristischen Abgleitens in den Rätismus in unseren Reihen erkannt hat und dies seit einem Jahr bekämpft, in Wirklichkeit lediglich Verteidiger und Apologet des Zentrismus Kautskys vor 70 Jahren ist? Selbst unsere Minderheit glaubt dies nicht. Sie versucht lieber, die Debatte über die Gegenwart durch eine Debatte über die Vergangenheit zu verwirren.

Kommen wir zur Geschichte der USPD zurück. Es gilt zunächst an die Entwicklung der Opposition in der Sozialdemokratie gegen den Krieg zu erinnern. Der Burgfriede, besiegelt durch die von der parlamentarischen Fraktion einstimmig (mit Ausnahme von Otto Rühle) angenommenen Kriegskredite in Deutschland, verblüffte viele Mitglieder dieser Partei bis hin zur Schockstarre. Die Linke, welche den Spartakusbund gründete, war zu diesem Zeitpunkt derart reduziert worden, dass die kleine Wohnung Rosa Luxemburgs genug Platz für ihr Treffen nach dem 4. August 1914 bot.

Die Linke war nicht nur reduziert, sondern auch in verschiedene Gruppen gespalten:

  • die „Bremer Linke“, die, von den Bolschewiki beeinflusst, den sofortigen Austritt aus der Sozialdemokratie vertrat;
  • ein Kreis von Leuten rund um kleine Zeitschriften und Bulletins wie die von Julian Borchardt (sie standen der Bremer Linken nahe);
  • die Revolutionären Obleute (die wichtigste dieser Gruppen), die Vertreter der Gewerkschaften aus den Metallbetrieben Berlins zusammenfassten und die sich politisch zwischen dem Zentrum und dem Spartakusbund positionierten;
  • der Spartakusbund
  • und schlussendlich das Zentrum, das die USPD gründete.

Keine dieser Gruppen war homogen, sondern in verschiedene Tendenzen unterteilt, welche sich unaufhörlich überschnitten und kreuzten, sich annäherten und entfernten. Gleichwohl waren die Hauptachsen der Trennungen immer der Rückzug nach rechts und die Weiterentwicklung nach links. All das gibt uns einen Eindruck vom Gären innerhalb der Arbeiterklasse in Deutschland seit Kriegsbeginn (dem kritischen Punkt der Dekadenzperiode) wieder,  das sich im Verlauf des Krieges beschleunigte. Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Artikels in die Details der Entwicklung der zahlreichen Streiks und Demonstrationen gegen den Krieg in Deutschland zu gehen. Kein anderes kriegführendes Land erlebte eine solche Entwicklung, nicht einmal Russland. Wir begnügen uns damit, einige Referenzpunkte zu geben, unter anderen die politische Rückwirkung dieses Gärungsprozesses auf die am weitesten rechts stehende Fraktion der SPD, die parlamentarische Fraktion.

Am 4. August 1914 stimmten 94 von 95 Delegierten für die Kriegskredite. Nur ein Delegierter stimmte dagegen: Otto Rühle. Karl Liebknecht unterwarf sich der Fraktionsdisziplin und stimmte dafür. Im Dezember 1914 brach Liebknecht anlässlich einer weiteren Abstimmung über die Kriegskredite mit der Fraktionsdisziplin und stimmte dagegen.

Im März 1915 fand erneut eine Abstimmung über das Budget statt, die auch neue Kriegskredite beinhaltete. „In der Budget-Abstimmung stimmten schließlich nur Liebknecht und Rühle dagegen, nachdem sich 30 Abgeordnete, mit Haase und Ledebour an der Spitze (zwei zukünftige Führer der USPD), vorher aus dem Saal entfernt hatten.“ (Ossip Flechtheim: Die Kommunistische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik). Am 21. Dezember 1915 erfolgte erneut eine Abstimmung über Kriegskredite in Reichstag. F. Geyer erklärte im Namen von 20 Mitgliedern der SPD: „Wir lehnen die Kredite ab“. „Bei dieser Abstimmung stimmten 20 Abgeordnete gegen die Kredite, etwa 22 weitere verließen den Saal“ (ebenda).

Am 6. Januar 1916 schloss die sozialchauvinistische Mehrheit der Parlamentsfraktion Liebknecht aus, Rühle solidarisierte sich mit ihm und wurde ebenfalls ausgeschlossen. Am 24. März 1916 lehnte Haase im Namen der Minderheit der parlamentarischen Reichstags-Fraktion der SPD das zur Abstimmung stehende Budget ab. Nach der Sitzung veröffentlichte die Minderheit der SPD-Fraktion folgende Erklärung: „Die sozialdemokratische parlamentarische Fraktion hat uns heute mit 58 gegen 33 Stimmen, bei vier Enthaltungen, der aus der Fraktionszugehörigkeit entspringende Rechte beraubt… sind wir genötigt, uns zu einer sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen“.

Unter den Unterzeichnern dieser Erklärung findet man die meisten der zukünftigen USPD-Führer, sogar Eduard Bernstein. Die Spaltung und die daraus resultierende Existenz von zwei Gruppen der SPD im Reichstag, eine sozialchauvinistische und eine gegen den Krieg, repräsentierte mit ihren Spaltungen und den verbissenen Kämpfen in etwa das, was innerhalb der sozialdemokratischen Partei insgesamt wie auch innerhalb der Arbeiterklasse vor sich ging.

Spätestens ab Juni 1915 begann sich ein gemeinsames Vorgehen der gesamten Opposition gegen das Zentralkomitee der Partei abzuzeichnen. Es wurde ein Text in Form eines Flugblatts verbreitet, unterzeichnet von Hunderten von Mitgliedern. Es schloss mit den folgenden Worten: „... wir fordern, dass Fraktion und Parteivorstand endlich den Burgfrieden aufsagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach der Grundlinie des Programms und der Parteibeschlüsse, den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen“ (ob.zit.). Kurz darauf erschien ein Manifest, das von Bernstein, Haase und Kautsky unterzeichnet war und den Titel „Das Gebot der Stunde“ trug, „in dem sie unter Berufung auf die Annexionskundgebungen eine Abkehr von der Politik der Kreditbewilligung forderten“ (ebenda).

In Folge des Ausschlusses von Liebknecht aus der Parlamentsfraktion „billigte (der Zentralvorstand der Groß-Berliner Parteiorganisationen) mit 41 gegen 17 Stimmen die von der Fraktionsminderheit abgegebene Erklärung. Eine von 320 Funktionären besuchte Kreiskonferenz des 6. Berliner Wahlkreises sprach Ledebour ihre Billigung aus“ (ebenda).

Auf der Ebene des Kampfes der Arbeiter sei an folgende Ereignisse erinnert:

  • 1915 fanden mehrere Antikriegs-Demonstrationen in Berlin mit mindestens 1.000 Teilnehmern statt;
  • anlässlich des 1. Mai 1916 organisierte der Spartakusbund eine Demonstration, an der sich 10.000 Fabrikarbeiter beteiligten;
  • im August 1916 traten nach der Verhaftung und Verurteilung Liebknechts wegen seines Auftretens gegen den Krieg 55.000 Metallarbeiter in Berlin in den Streik. Es gab auch Streiks in anderen Städten.

Diese Bewegung gegen den Krieg und gegen die sozialchauvinistische Politik, die andauerte, verstärkte sich während des gesamten Krieges und gewann nach und nach die Arbeitermassen. Mittendrin eine kleine Minderheit von Revolutionären (auch sie tastend) und eine große Mehrheit einer zaudernden zentristischen Strömung, die sich zusehends radikalisierte. So erklärten auf der nationalen Konferenz der SPD im September 1916, an der die Zentristen und der Spartakusbund als Minderheit teilnahmen, viele Redner: „Nicht die Einheit der Partei sei das Wichtigste, sondern die Einheit in den Grundsätzen. Die Massen müssten aufgerufen werden zum machtvollen Kampf gegen Imperialismus und Krieg. Der Frieden müsse erkämpft werden unter Anwendung aller Machtmittel des Proletariats.“ (ebenda).

Am 7. Januar 1917 fand eine nationale Konferenz statt, auf der sich alle Oppositionsströmungen gegen den Krieg versammelten. Von 187 Delegierten repräsentierten 35 den Spartakusbund. Eine Konferenz, die einstimmig ein Manifest annahm… verfasst von Kautsky, und eine Resolution aus der Feder von Kurt Eisner. In beiden Texten stand: „Was sie (die Opposition) forderte, war die Bereitschaft zu einem Frieden, in dem es weder Sieger noch Besiegte gibt, zu einem Frieden der Verständigung ohne Vergewaltigung“.

Wie kann man sich erklären, dass der Spartakusbund für eine solche Resolution stimmte, die total opportunistisch und pazifistisch war, jener Spartakusbund also, der durch die Stimme seines Repräsentanten Kurt Meyer „die Frage der Beitragssperre“ stellte?

Für McIntosh in seiner Vereinfachung macht eine solche Frage gar keinen Sinn: Die Mehrheit der SPD war bürgerlich geworden, also ist der Zentrismus auch bürgerlich und der Spartakusbund gleichermaßen.

(…) Hier kann man sich fragen, was die Bolschewiki und die Tribunisten in Holland auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal machten, wo sie, obwohl sie eine eigene Resolution vorschlugen, die die Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg forderte, letztendlich doch für das Manifest und die Resolution stimmten, die gleichermaßen für einen Frieden ohne Annexionen und ohne Kriegsschulden war? In der Logik von McIntosh sind die Dinge entweder schwarz oder weiß, und dies in alle Ewigkeit. Er sieht die Bewegung nicht und noch weniger sieht er die Richtung, in die die Bewegung geht. Glücklicherweise ist McIntosh kein Arzt, denn er wäre ein Unglück für jeden Kranken, wäre dieser doch von vornherein zum Sterben verdammt und würde von ihm bereits als Leichnam betrachtet.

Wir müssen hier an die Tatsache erinnern, dass, was schon auf ein Menschenleben nicht zutrifft, auf der Ebene einer historischen Bewegung wie dem Proletariat eine völlige Absurdität darstellt. Hier spielt sich der Übergang vom Leben in den Tod nicht in Sekunden, nicht in Minuten, sondern in Jahren ab. Der Moment, in dem eine Arbeiterpartei die ersten Anzeichen ihres Todes zeigt, und der Moment ihres tatsächlichen Todes sind nicht dasselbe. All das ist für einen radikalen Phrasendrescher vermutlich schwer zu verstehen, aber für Marxisten, die nicht die Gewohnheit haben, wie die Ratten das Boot zu verlassen, sobald es leckt, eine Selbstverständlichkeit. Die Revolutionäre wissen, dass sie für eine Organisation, der die Klasse das Leben geschenkt hat, kämpfen müssen, um sie zu retten, um sie für die Klasse zu behüten, solange in ihr noch ein Hauch von proletarischem Leben existiert. Vor einigen Jahren existierte eine solche Frage für die CWO noch nicht, sie existierte nicht für Guy Sabatier oder andere Phrasendrescher, für die die Kommunistische Internationale oder die Bolschewiki stets die Bourgeoisie waren. Sie existiert auch nicht für McIntosh. Revolutionäre können sich in bestimmten Momenten täuschen, doch ist für sie die hier gestellte Frage von höchster Bedeutung. Und warum? Weil die Revolutionäre keine Sekte von Suchenden sind, sondern ein lebender Teil eines lebenden Körpers, den die Arbeiterbewegung mit all ihren Höhen und Tiefen eben darstellt.

Die sozial-chauvinistische Mehrheit der SPD begriff klarer als McIntosh, welche Gefahr diese Oppositionsströmung gegen den Burgfrieden und gegen den Krieg darstellte, und schritt in großer Eile zu massiven Parteiausschlüssen. In Folge dieser Ausschlüsse erfolgte am 8. April 1917 die Gründung der USPD. Mit großen Vorbehalten und nach vielen Zweifeln schloss sich der Spartakusbund dieser neuen Partei an, stellte aber die Bedingung, dass ihm „völlige Freiheit der Kritik und Handlungsunabhängigkeit“ eingeräumt werde. Liebknecht beschrieb später das Verhältnis zwischen dem Spartakusbund und der USPD folgendermaßen: „Wir schlossen uns der USPD an, um sie vorwärtszutreiben, um sie in Reichweite zu haben und um ihr die besten Elemente zu entreißen“ (eigene Übersetzung). Ob diese Strategie in dem Moment richtig war, ist mehr als zweifelhaft, doch Eines ist klar: Eine solche Frage musste sich für Luxemburg und Liebknecht stellen, weil sie die USPD zu Recht als eine zentristische Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse und nicht als eine Partei der Bourgeoisie betrachteten.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass von den 38 Delegierten, die in Zimmerwald teilnahmen, die deutsche Delegation unter der Führung von Ledebour aus zehn Mitgliedern bestand, die sich wiederum aus sieben Mitgliedern der zentristischen Opposition, zwei vom Spartakusbund und einem Delegierten von der Bremer Linken zusammensetzten, und dass auf der Konferenz in Kienthal von 43 Teilnehmern sieben aus Deutschland kamen, darunter vier Zentristen, zwei vom Spartakusbund und einen Mitstreiter von der Bremer Linken. Der Spartakusbund behielt innerhalb der USPD seine volle Unabhängigkeit und verhielt sich auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal ähnlich wie die Bolschewiki.

Man kann nicht verstehen, was die zentristische USPD wirklich war, ohne sie in den Kontext der gewaltigen, im Kampf befindlichen Massenbewegung zu stellen. Im April 1917 brach ein Massenstreik aus, der mindestens 300.000 Arbeiter allein Berlin erfasste. Gleichzeitig brach die erste Meuterei von Matrosen aus. Im Januar 1918 gab es anlässlich der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk eine Streikwelle, an der sich ungefähr eine Million Arbeiter beteiligten. Die Organisation des Streiks war in den Händen von Revolutionären Obleuten, die der USPD nahe standen (erstaunlicherweise nahmen auch Ebert und Scheidemann an diesem Streikkomitee teil). Zum Zeitpunkt der Spaltung zählte die SPD ungefähr 248.000, die USPD 100.000 Mitglieder. 1919 zählte die USPD fast eine Million Mitglieder, dies vor allem in den großen Industriezentren. Es ist unmöglich, hier auf alle revolutionären Ereignisse in Deutschland 1918 einzugehen. Erinnern wir uns nur daran, dass am 7. Oktober der Zusammenschluss zwischen dem Spartakusbund und der Bremer Linken beschlossen wurde. Liebknecht, der aus der Haft befreit worden war, trat in die Organisation der Revolutionären Obleute ein, die Vorbereitungen für den Aufstand am 9. November trafen. Doch in der Zwischenzeit, am 30. Oktober, ereignete sich der Aufstand in Kiel. In vielen Belangen erinnert der Beginn der Revolution in Deutschland an die Februarrevolution 1917 in Russland. Vor allen was die Unreife des subjektiven Faktors, die Unreife des Bewusstseins in der Klasse angeht. Ganz wie in Russland schenkten die Rätekongresse ihr Vertrauen jenen „Vertretern“, die die schlimmsten Durchhaltepolitiker im Krieg gewesen waren: Ebert, Scheidemann, Landsberg, zu denen sich drei Mitglieder der USPD gesellten: Haase, Dittmann und Barth. Letztere waren Teil der Rechten innerhalb der Zentristen mit allem, was dazugehört wie Verlogenheit, Feigheit, Zaudern, und dienten Ebert-Scheidemann als „revolutionäre“ Bürgen zwar nur für eine sehr kurze Zeit (vom 20. 12. bis zum 29. 12. 1919), doch lange genug, um ihnen zu gestatten, mit Hilfe der Junker und Freikorps die konterrevolutionären Massaker zu organisieren.

Die halb auf Vertrauen bauende, halb auf Misstrauen sich gründende Politik gegenüber dieser Regierung, die die Führung der USPD praktizierte, erinnert eigenartigerweise an die bedingte Unterstützung der Kerensky-Regierung, die ihr von der Führung der bolschewistischen Partei bis zum Mai 1917, bis zum Triumph der Aprilthesen von Lenin, zuteilwurde. Der große Unterschied jedoch war nicht allein die Entschlossenheit der bolschewistischen Partei unter der Führung von Lenin und Trotzki, sondern auch die Macht und Intelligenz einer erfahrenen Klasse wie der deutschen Bourgeoisie, die fähig war, alle ihre Kräfte gegen das Proletariat zu sammeln, und die extreme Senilität der russischen Bourgeoisie.

Was die USPD betrifft, so teilte sie sich wie jede zentristische Strömung in eine rechte Tendenz, die sich wieder in die alte Partei einzugliedern versuchte, welche ins Lager der Bourgeoisie übergegangen war, und in eine Tendenz auf, die immer stärker ins Lager der Revolution strebte. Man traf die USPD während der blutigen Tage der Konterrevolution in Berlin und im Januar 1919 an der Seite des Spartakusbundes an, so wie man auch in den verschiedenen Konfrontationen in anderen Städten wie z.B. in München auf sie stößt. Die USPD konnte sich, wie jede andere zentristische Strömung, in den entscheidenden Prüfungen der Revolution nicht behaupten. Sie war dazu verdammt zu zerfallen, sie zerfiel.

Ab ihrem 2. Kongress (am 6. März 1919) stritten sich die beiden Richtungen gleich in mehreren Fragen (Gewerkschaften, Parlamentarismus), vor allem aber in der Frage, ob sie sich der Kommunistischen Internationalen anschließen sollen. Die Mehrheit lehnte den Eintritt ab. Die Minderheit wurde jedoch stärker, obwohl es ihr auf der nationalen Konferenz im September noch nicht gelang, die Mehrheit zu erobern. Auf dem Leipziger Kongress am 30. November desselben Jahres setzte sich die Minderheit in der Frage des Aktionsprogramms, das einstimmig angenommen wurde, bezüglich des Prinzips der Rätediktatur durch, und es wurde beschlossen, mit der Kommunistischen Internationalen in Gespräche zu treten. Im Juni 1920 begab sich eine Delegation nach Moskau, um die Verhandlungen darüber einzuleiten und am 2. Kongress der Komintern teilzunehmen.

Das Exekutivkomitee der Komintern hatte dazu einen Text vorbereitet, der ursprünglich 18 Bedingungen enthielt und nun um drei weitere ergänzt wurde. Dies sind die 21 Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationalen. Nach heftigen internen Diskussionen sprach sich der außerordentliche Parteitag der USPD vom Oktober 1920 mit einer Mehrheit von 237 gegen 156 Stimmen für die Annahme dieser 21 Bedingungen und den Anschluss an die Komintern aus.

McIntosh, und hinter ihm JA, entdeckten im August 1984 die Kritik, die von Anbeginn von der Linken der Komintern daran geübt worden war, dass es zu viele Schlupflöcher für den Eintritt in die Komintern gebe. Doch wie immer ist die sehr späte Entdeckung durch unsere Minderheit nichts anderes als eine Karikatur, die ins Absurde geht. Zweifellos enthielten die 21 Aufnahmebedingungen als solche falsche Positionen, die nicht erst 1984 gesehen wurden, sondern schon damals und die von der Linken kritisiert worden waren. Doch was beweist dies? Dass die Komintern bürgerlich war? Oder nicht vielmehr, dass die Komintern in vielen Fragen von Anfang an von zentristischen Positionen durchdrungen war? Die plötzliche Empörung unserer Minderheit kann ihre Ignoranz gegenüber der Geschichte, die sie heute zu entdecken scheint, und die Absurdität ihrer Schlussfolgerung, dass der Zentrismus in der gegenwärtigen Dekadenzperiode nicht existieren könne, nur schwerlich verbergen.

Also macht sich unsere Minderheit, die Konzessionen an die Rätisten macht, zu Puristen. Offenbar scheut sie nicht, sich durch ihre Forderung nach einer reinen, jungfräulichen Partei lächerlich zu machen, eine Partei, die entweder vom Himmel fällt oder als Gottesgabe voll ausgerüstet auf die Bühne tritt. Auch wenn sie kurzsichtig ist und nicht sehr weit zurückschaut, so sollte sie doch wenigstens die kurze Geschichte der IKS betrachten und begreifen können. Woher kommen denn die Gruppen, die sich schlussendlich in der IKS zusammengefunden haben? Unsere Minderheit sollte im Übrigen damit beginnen, sich selbst und ihren eigenen politischen Werdegang anzuschauen. Woher kommen Revolution Internationale oder World Revolution oder die Sektionen in Belgien, den USA, Spanien, Italien und Schweden? Kommen sie nicht eben genau aus jenem konfusen, Anarchie-haften und oppositionellen Sumpf?

Es wird niemals ein Netz geben, das engmaschig genug wäre, um uns eine Garantie gegen das Eindringen zentristischer Elemente oder ihre Entstehung inmitten der Organisation zu geben. Ohne auf die Geschichte der gesamten Arbeiterbewegung einzugehen, zeigt uns allein die Geschichte der IKS, dass die revolutionäre Bewegung ein unaufhörlicher Klärungsprozess ist. Es reicht aus, einen Blick auf unsere Minderheit zu werfen, um sich der Summe von Konfusionen bewusst zu werden, die sie binnen eines Jahres zu leisten imstande war.

Jetzt hat McIntosh entdeckt, dass die Flut der ersten revolutionären Welle auch die Smerals, die Cachins, die Frossards und die Serratis  vor sich her getrieben hat. Hat McIntosh je von Fenster seiner Universität aus erblickt, was eine revolutionäre Flut ist?

Was die KPF angeht, so schreibt McIntosh die Geschichte ebenfalls nach seinem Geschmack um und sagt zum Beispiel, dass die Partei, die der Komintern beitrat, um Cachin-Frossard herum gruppiert war. Weiß er nichts über die Existenz des Komitees der 3. Internationalen rund um Loriot und Souvarine, die in Opposition zum Wiederaufbaukomitee von Faure und Longuet stand? Cachin und Frossard fuhren einen Zickzack-Kurs zwischen diesen beiden Komitees, um sich schlussendlich der Resolution des Komitees für die 3. Internationale zum Eintritt in die Komintern anzuschließen. Auf dem Kongress von Straßburg im Februar 1920 war die Mehrheit immer noch gegen den Eintritt. Auf dem Kongress in Tours im Dezember 1920 erhielt der Antrag für den Eintritt in die Komintern 3208 Mandate, der Antrag von Longuet für den „Eintritt unter Vorbehalten“ 1022 Mandate, und 397 Mandate enthielten sich der Stimme (die Gruppe um Blum-Renaudel).

Waren die Maschen nicht eng genug geknüpft worden? Sicherlich. Doch das hindert uns nicht daran zu verstehen, was eine ansteigende Flut der Revolution ist. Wir diskutieren darüber, ob die bolschewistische Partei, der Spartakusbund und die sozialistischen Parteien, die die Komintern gegründet oder sich ihr angeschlossen hatten, Arbeiterparteien oder bürgerliche Parteien waren. Wir diskutieren nicht über ihre Fehler, sondern über ihren Klassencharakter, und der Wirrwarr von McIntosh ist für uns dabei nicht hilfreich. So wie McIntosh nicht versteht, was eine heranreifende Bewegung ist, die sich von der bürgerlichen Ideologie zu einem Klassenbewusstsein bewegt, so wenig weiß er auch darüber, worin ihr Unterschied zu einer degenerierenden Bewegung besteht, d.h. zu einer Bewegung, die sich von der Klassenposition in Richtung bürgerlicher Ideologie entfernt.

In seiner Vorstellung von einer fixen Welt hat der Begriff der Bewegung keinen Platz. Deshalb versteht er nicht, was es heißt, eine sich annähernde Tendenz durch Kritik zu unterstützen und eine sich entfernende Tendenz kompromisslos zu bekämpfen. Vor allem aber weiß er nicht, wann der Degenerierungsprozess einer proletarischen Partei definitiv abgeschlossen ist. Ohne die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung aufzurollen, wollen wir ihm hier einen Anhaltspunkt geben: Eine Partei ist für die Arbeiterklasse definitiv verloren, wenn aus ihrem Schoß keine  lebendige Tendenz, kein lebendiger (proletarischer) Körper mehr hervorgeht. Dies war nach 1921 bei den sozialistischen Parteien der Fall, und es war zu Beginn der 1930er Jahre bei den kommunistischen Parteien der Fall. Dies ist der Grund, warum man bis zu diesem Datum von ihnen in den Begriffen des Zentrismus sprechen konnte.

Und um abzuschließen, sollte daran erinnert werden, dass die neue Theorie von McIntosh, die die Existenz des Zentrismus in der Periode der Dekadenz ignorieren will, stark an jene Menschen erinnert, die, statt eine „peinliche Krankheit“ behandeln zu lassen, diese schlichtweg ignorieren. Man bekämpft den Zentrismus nicht, indem man ihn negiert und ignoriert. Dem Zentrismus kann, wie allen anderen Seuchen, die die Arbeiterklasse heimsuchen können, nicht begegnet werden, indem man ihn versteckt, sondern indem man ihn ins volle Licht rückt, wie Rosa Luxemburg hervorhob. Die neue Theorie von McIntosh stützt sich auf den Aberglauben der Macht der bösen Worte: Je weniger man vom Zentrismus spricht, umso besser offenbar. Für uns gilt das Gegenteil: Man muss den Zentrismus kennen und erkennen können, wissen, in welcher Periode, des Aufstiegs oder des Niedergangs, er sich befindet, und verstehen, in welche Richtung er sich bewegt. Den Zentrismus zu überwinden und zu bekämpfen ist in letzter Instanz eine Frage der Reifung des subjektiven Faktors, der Bewusstwerdung der Klasse.

MC, Dezember 1984

[1]Dieser Text wurde als Diskussionsbeitrag im Internationalen Internen Bulletin der IKS publiziert, wurde aber dann auch in der Internationale Revue Nr. 43 (engl., franz., span.) unter dem Titel „Das Konzept des „Zentrismus: Der Weg zum Verlassen der Klassenpositionen“ als Position der „Tendenz“ die sich im Januar 1985 gebildet hatte abgedruckt. In derselben Nummer gibt es auch eine Antwort auf diesen Text, mit dem Titel: „Die Zurückweisung des Begriffs Zentrismus: eine offene Türe zum Verlassen der Klassenpositionen“.      

[2]Lenin: „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, Ges. Werke, Bd. 24, auch zitiert im Artikel: „Die Zurückweisung des Begriffs Zentrismus: eine offene Tür zum Verlassen der Klassenpositionen“, Internationale Revue, Nr. 43)  

[3]Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Sie wurde 1917 von der SPD-Minderheit in der SPD, die sich dem Krieg entgegengestellt hatte und 1916 aus der SPD ausgeschlossen worden war. 

[4]Das Internationale Sekretariat ist die permanente Kommission des Internationalen Büros, des Zentralorgans der IKS.

[5]JA (Judith Allen) war eine der GenossInnen, die Vorbehalte gegen die Resolution geäußert hatte, die im Januar 1984 vom Zentralorgan der IKS angenommen worden war, und den Begriff des Zentrismus im Zusammenhang mit dem Rätismus ablehnten. Sie rutschten jedoch selbst in rätistische Ansichten ab; die Mehrheit von ihnen verließ die IKS, noch bevor die Debatte beendet war, und gründeten die „Externe Fraktion der IKS“ (EFIKS), die die Zeitschrift Internationalist Perspective publizierte. Anfangs präsentierte sich diese Gruppe als „tatsächlicher Vertreter der IKS-Plattform“, sie gab jedoch Schritt für Schritt den Bezug auf unserer Plattform auf.    

[6]Im Originaltext von MC gibt es folgende Anmerkung: „Wir kommen später auf die Analyse der Natur des Zentrismus zurück, der in der Periode zwischen Kriegsende und Gründung der Kommunistischen Internationale existierte.“

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

Rubric: 

Verteidigung des internationalistischen und organisatorischen Erbes