Die deutsche Sozialdemokratie 1872-1914: Der Kampf gegen organisatorischen Opportunismus (Teil 2)

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Die jahrelangen Versuche der Herrschenden, durch das Sozialistengesetz die Sozialdemokratie mit Hilfe der Repression „mundtot“ zu machen, waren gescheitert. Dennoch war es den Herrschenden gelungen, die Aktivitäten der Sozialdemokratie in großem Maße auf die parlamentarische Bahn zu lenken, wodurch die anderen Aktivitäten außerhalb der Wahlpropaganda stark vernachlässigt und die theoretischen Anstrengungen in den Hintergrund gedrängt wurden. D.h. auch wenn die Herrschenden das Wachstum der Partei nicht verhindern konnten, hatte sich das ideologische Gift der Demokratie ausgebreitet, das echte Arbeitersolidarität untergrub und den Kampfgeist zunehmend erstickte.  Gleichzeitig war langsam unter einem beträchtlichen Teil der Funktionäre der Partei, angefangen von den Parlamentsabgeordneten bis hin zu Gewerkschaftsführern usw., das Gefühl entstanden: Sich nur keiner Gefahr von Strafmaßnahmen durch den bürgerlichen Staat aussetzen, jede Konfrontation mit dem Staat scheuen, ein neues „Anti-Sozialistengesetz“ vermeiden; kurzum: ducken

Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass nach dem deutsch-französischen Krieg Deutschland bei der Industrialisierung in eine fulminante Aufholjagd gegenüber den anderen europäischen Rivalen und den USA eintrat. Zudem vermittelte das zahlenmäßig rapide Anwachsen der Arbeiterklasse in den Städten, die zunächst unter erbärmlichen hygienischen und materiellen Bedingungen wohnen und arbeiten musste, bevor sich ihre Lage schrittweise verbesserte, das Gefühl, dass der Kapitalismus den Arbeitern doch  ein Auskommen ermöglichen könnte.[1] Geblendet durch diese aufsteigende Phase des Kapitalismus mit den scheinbar überwundenen Wirtschaftskrisen fingen schon ab den frühen 1890er Jahren gewisse Kreise in der SPD an, die programmatischen Grundlagen infrage zu stellen. Das rasante wirtschaftliche Wachstum und die dadurch entstandenen Illusionen lieferten für den sich verstärkenden Opportunismus einen wertvollen Humusboden.

Dass diese Infragestellung des Programms und der Organisationsprinzipien untrennbar miteinander verbunden war und einen komplexen, vielschichtigen und heimtückischen Entartungsprozess einleitete, können wir hier im Rahmen dieses Artikels nicht umfassend schildern. Wir wollen hier vor allem einige Hauptmerkmale dieses Prozesses auf Organisationsebene herausheben.

Infragestellung und Aufgabe des Programms

Im Aufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der kurz vor den Februarwahlen 1890 erschien, wurde behauptet: „Die heutige Gesellschaft wächst in den Sozialismus hinein“. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Grillenberger verkündete im Februar 1891, die SPD strebe nicht nach einem gewaltsamen Sturz der bestehenden Ordnung, denn der Sozialismus werde als Folge von Reformen und nicht als Folge einer Revolution entstehen.[2] Bernstein meinte: „Dieses Hineinwachsen [der Partei] in den Staat, wie ich es an anderer Stelle genannt habe, unterscheidet eben die Partei von der Sekte. Die Partei mag sich der Ordnung des Staates, in dem sie wirkt, noch so feindselig gegenüberstellen, so kann sie doch bei Strafe politischer Unfruchtbarkeit nicht umhin, sich in das Leben dieses Staates organisch einzugliedern. Das ist der bisherige Entwicklungsgang der deutschen Sozialdemokratie gewesen, wie es der Entwicklungsgang der sozialistischen Partei in allen Ländern, wo sie zu einer größeren Bedeutung gelangt.“ (Eduard Bernstein, „Parteidisziplin", Neue Zeit, S. 1216).

Friedrich Engels wandte sich bei der Debatte um das Erfurter Programm entschieden gegen die Perspektive, dass „die heutige Gesellschaft in den Sozialismus“ hineinwachse. Aber so heftig Engels auch diese frühen und offenen Infragestellungen des Programms anprangerte, diese wurden Ende der 1890er Jahre trotzdem noch offensiver und deutlicher propagiert. 1898 veröffentlichte deren Sprachrohr Eduard Bernstein Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, in welchem Text er gänzlich auf das Ziel der Bewegung verzichtete und alles der Bewegung selbst unterordnete.

Nach dem Tod Friedrich Engels 1895 setzte Rosa Luxemburg diese Kritiken fort und entblößte umfassend die Position und die Haltung Bernsteins in ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie 1899 in Hannover sagte sie in einer Rede über die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft: „Es ist eine allbekannte Tatsache, dass wir seit etwa einem Jahrzehnt in unseren Reihen eine ziemlich starke Strömung haben, die im Geiste der Bernsteinschen Auffassung dahin strebt, unsere jetzige Praxis bereits als Sozialismus hinzustellen und so – natürlich unbewusst – den Sozialismus, den wir erstreben,  den einzigen Sozialismus, der keine Phrase und Einbildung ist, zur revolutionären Phrase zu machen. Bebel hat mit Recht wegwerfend gesagt, dass die Auffassungen Bernsteins so verschwommen, deutungsvoll sind, dass man sie nicht in einen festen Rahmen fassen kann, ohne dass er sagen kann, ihr habt mich missverstanden. Früher schrieb Bernstein nicht so. Diese Unklarheit, diese Widersprüche hängen nicht mit seiner Person, sondern mit seiner Richtung, mit dem Inhalt seiner Ausführung zusammen. Wenn Sie die Parteigeschichte seit zehn Jahren verfolgen, namentlich die Parteitagsprotokolle studieren, so sehen Sie, dass die Bernsteinsche Richtung allmählich erstarkt ist, aber noch durchaus nicht zur Reife gelangt ist; ich hoffe, dass sie es nie wird.“[3]

Sie hob hervor, dass die Versumpfung der Partei nicht auf „schlechte Politik“ der Parteiführung, sondern auf den Parlamentarismus und das Gift der Demokratie selbst zurückzuführen sei. Neben Rosa Luxemburg als Stimme der jungen Generation, die die tieferen Wurzeln des Revisionismus am entschlossensten aufspürte, traten auch einige ältere Führer der SPD wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegen die Revisionisten auf den Plan.

Um die Jahrhundertwende zeigte sich Bebel sehr entschlossen, den Revisionisten den Kampf anzusagen. „Die Partei soll wissen, bis zu welchem Stadium der Korruption und des Verrats an den Parteiinteressen die Dinge gediehen sind.[4] Die Sozialdemokratie soll auf dem Boden des unversöhnlichen Klassenkampfes gegen die bestehende Ordnung weiter voranschreiten: „Solange ich atmen und schreiben und sprechen kann, soll es nicht anders werden. Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben.“ (ibid) Und Wilhelm Liebknecht schrieb 1899 ein Jahr vor seinem Tod: „Ich bin für die Einheit der Partei – für die nationale und internationale Einheit der Partei. Aber es muss die Einheit des Sozialismus und der Sozialisten sein. Die Einheit mit Gegnern, mit Leuten, die andere Ziele und anderen Interessen haben, ist keine sozialistische Einheit. (…) Auf dem Boden des Klassenkampfes sind wir unbesiegbar; verlassen wir ihn, so sind wir verloren, weil wir keine Sozialisten mehr sind. Die Kraft und die Macht des Sozialismus besteht in der Tatsache, dass wir einen Klassenkampf führen, dass die arbeitende Klasse durch die Kapitalistenklasse ausgebeutet und unterdrückt wird und dass in der kapitalistischen Gesellschaft wirksame Reformen, welcher der Klassenherrschaft und Klassenausbeutung ein Ende machen, unmöglich sind. Wir können nicht mit unseren Prinzipien schachern, wir können keinen Kompromiss, keinen Vertrag mit dem herrschenden System schließen. Wir müssen mit dem herrschenden System brechen, es auf Leben und Tod bekämpfen. Es muss fallen, damit der Sozialismus siegen kann…[5].

Aber trotz dieser großen Entschlossenheit mangelte es dem größten Teil der Verteidiger des Programms an Bemühungen, die tieferen Wurzeln bloßzulegen. Lediglich Rosa Luxemburg und die wenigen Stimmen um sie gingen ausreichend in die Tiefe.

Zeichen der organisatorischen Entartung

Demokratistische Auffassungen untergraben Einheit und Disziplin

Neben der programmatischen Revision begannen diese Revisionisten auch, die organisatorischen Grundlagen der Partei zu untergraben. Bernstein z.B. plädierte offen für die Tolerierung von Disziplinbrüchen:Denn ehe wir Parteileute sind, sind wir Menschen. (…) Es kann unter Umständen im Interesse der Partei und ihrer gesunden Entwicklung förderlich sein, ihr nicht zu gehorchen.“[6]

Dem gegenüber betonte Rosa Luxemburg die Partei könne nur funktionieren durch „die unbedingte Unterordnung des einzelnen unter den Gesamtwillen der Organisation als Fundament unserer Existenz als Partei (…) Und da gibt es keine Ausnahme, keine Absolution von der Pflicht der Disziplin. Denn die Disziplin bindet entweder alle in der Partei, oder sie ist für niemanden verpflichtend.[7] Sie erklärte weiterhin: Die sozialdemokratischen Disziplin „ist das geschichtliche Werkzeug und das unentbehrliche Hilfsmittel, um den im Programm der Arbeiterpartei, in Parteitagsbeschlüssen und internationalen Kongressbeschlüssen aufgesteckten Willen fortlaufend zur politischen Tat zu schmieden[8].

Diskussionsclub oder Kampfpartei?

Heine beanspruchte das Recht auf „freie Meinungsäußerung“, „Autonomie“ und „freie Selbstbestimmung“ in der Partei. Ähnlich wie Bernstein rechtfertigte Heine den ständigen Bruch der Parteidisziplin, um „Kadavergehorsam“ gegenüber der Parteiführung zu vermeiden.[9] Auf dem Parteitag in Hannover verlangte Heine 1899 die „Freiheit der unbeschränkten“ Kritik, d.h. das sagen zu wollen, was jedem Mitglied in den Sinn kommt, unabhängig davon, ob es mit den Prinzipien der Organisation übereinstimmt oder nicht. Rosa Luxemburg hielt dem entgegen: „Ich sagte keine einzige Partei gibt es, die die Freiheit der Kritik in so ausgiebigem Maße gewährt wie die unserige. Wenn Sie aber darunter verstehen sollten, dass die Partei im Namen der Freiheit der Kritik kein Recht haben sollte, zu gewissen Meinungen und Kritiken der letzten Zeit Stellung zu nehmen und durch Majoritätsbeschluss zu erklären: wir stehen nicht auf diesem Standpunkte, so muss ich dagegen protestieren, denn wir sind nicht ein Diskutierclub, sondern eine politische Kampfpartei, die bestimmte Grundanschauungen haben muss.“[10]  Kautsky ergänzte diese Variante von demokratistischen Auffassungen, als er ab 1900 den Standpunkt vertrat, in der Partei müsse es einen „Wettbewerb der verschiedenen Auffassungen“ geben. Mit anderen Worten sollte es statt der Mehrheitsposition der Partei ein Nebeneinander von verschiedenen Positionen geben.

Massenpartei und die Frage der Aufnahmekriterien

Als die SAPD 1875 in Gotha gegründet wurde, verlangten die Statuten noch eine tatkräftige Unterstützung der Partei. Um die Jahrhundertwende wurden auch bei dieser Auseinandersetzung in der Sozialdemokratie die entgegengesetzten Auffassungen zwischen dem opportunistischen und revolutionären Flügel ersichtlich. Unter dem Motto, die SPD müsse zu einer “Volkspartei” werden, die “jedem offen steht”, und weil der größtmögliche Stimmengewinn das oberste Ziel sei und sich die Partei deshalb nicht als “Sekte” verhalten dürfe, stellten sich die Revisionisten gegen jede Einhaltung der früheren Mitgliedskriterien.

Ein Merkmal der Haltung der Revisionisten war deshalb: möglichst schwache oder gar keine Aufnahmekriterien. Aus ihrer Sicht könne und müsse eine Massenpartei immer mehr Leute aufnehmen, ohne aktive Mitarbeit und ohne tiefere innere Überzeugung, Gegen den Versuch, die Mitgliedskriterien    strenger zu fassen, lehnte „bereits 1900 Auer auf dem Parteitag in Mainz den von Delegierten eingebrachten Vorschlag ab, den ersten Paragraphen der Satzung der Sozialdemokratischen Partei dadurch zu verstärken, dass beim Eintritt in die Partei die Teilnahme an der Parteiarbeit und die Zugehörigkeit zu einer Parteiorganisation verlangt werden sollten. Solche Forderungen, so behauptete Auer, seien geeignet, die besten Menschen, die sich Sozialdemokraten nannten, wegen der polizeilichen Verfolgungen usw. von der Partei abzustoßen.[11] Eine aktive Mitarbeit, so die Revisionisten, sei nicht mehr erforderlich. Bei einer Massenpartei, die nur auf große Wahlerfolge ausgerichtet war, konnte man einfach sein Einverständnis erklären, ohne aktiv mitzuwirken. In Wirklichkeit verleitete der parlamentarische Schwerpunkt der Aktivität die Partei zur Passivität im „Alltag“ und zur Aufweichung ihres Programms. In den Statuten der SPD wurde dann auch ab dem Mainzer Parteitag 1900 jeglicher Passus einer aktiven Mitarbeit gestrichen. Kein Wort mehr von Mitgliedsbeiträgen – man sprach bis 1905 lediglich von dauerhafter „Unterstützung“ durch Geldmittel.

Zusätzlich wandten die Revisionisten ein, es bestehe die Gefahr, dass der Polizei Mitgliederlisten in die Hände fallen könnten (die SPD verfügte z.B. 1905 über ca. 385.000 Mitglieder). Deshalb hatte man auch in Jena 1905 in den Statuten nicht verankert, dass sich jedes Mitglied an der „praktischen Arbeit“ beteiligen sollte. Man übertrieb teilweise die Gefahr, dass die Polizei repressiv gegen die Partei vorgehen könnte, um die Mitglieder nicht zur Mitarbeit zu verpflichten.[12] D.h. somit hatte die Partei ab der Jahrhundertwende den Anspruch auf aktive Beteiligung der Mitglieder an der Parteiarbeit über Bord geworfen. Lediglich ein verbales Bekenntnis zum Programm und finanzielle Unterstützung wurden verlangt.[13] 

Während in Deutschland um die Jahrhundertwende die Frage der aktiven Mitarbeit und deren Festlegung in den Statuten auf dem Hintergrund des Niedergangs der Partei behandelt wurde, fand diese Auseinandersetzung, wie wir weiter unten sehen werden, 1903 auf dem 2. Parteitag der SDAPR in einem anderen Kontext statt.

Das Wesen der Partei selbst infrage stellen…

Gleichzeitig begannen die Revisionisten in der SPD auch Artikel für bürgerliche Zeitungen zu schreiben. Auch offizielle Verwaltungsämter im Staat sollten angestrebt werden – z.B. kandidierte der SPD-Mann Lindemann für das Oberbürgermeisteramt in Stuttgart. Im Wahlkampf trug er keine der sozialdemokratischen Forderungen vor.[14]  Bis zum damaligen Zeitpunkt lehnte die Partei es ab, dass SPD-Mitglieder öffentliche, staatstragende Ämter übernehmen. Nun wurde auch von den Revisionisten dafür plädiert, bei Haushaltsposten, die den Interessen der Arbeiter entsprächen (z.B. Bildung, Sozialversicherung), die Staatshaushalte zu bewilligen. Auch wenn dies noch nicht auf nationaler Ebene für den Reichstag befürwortet wurde, gab es Abgeordnete der SPD in einzelnen Teilen Deutschlands (wie z.B. Bayern und Baden-Württemberg), die sich durch ihre Budgetabstimmungen direkt hinter die bürgerliche Regierung stellten.[15]

Während einige Stimmen in der Partei für eine stärkere Zentralisierung der Partei eintraten, forderten andere eine „Föderation von Vereinen“. Vollmar warnte sogar davor, eine zentralistische Organisationsform würde nur die „Organisation der staatlichen Bürokratie“ kopieren.

Hinter dem Anspruch auf „Autonomie“ seitens der Abgeordneten gegenüber der Partei und dem Föderalismus stand in Wirklichkeit die Preisgabe der programmatischen Positionen der SPD als Arbeiterpartei.[16] All diese oben erwähnten kleinen Schritte auf verschiedenen Ebenen waren weit mehr als ein „Versagen der Führer“, wie Rosa Luxemburg betonte, sie brachten vielmehr den Prozess der Integration des Parteiapparates in den Staat zum Ausdruck. 

 

Bis 1899 war die SPD durch Verbote und Einschränkungen hinsichtlich der Mitgliedschaft und der Funktionsweise der Partei (bis 1899 durfte kein Kontakt der Parteisektionen untereinander bestehen) immer mit der Gefahr der Repression konfrontiert. Seit 1899 war durch Aufhebung des Verbindungsgebotes diese Fessel gefallen. Weil dieser Prozess von den Kräften im Parlament am stärksten mit vorangetrieben wurde, trat die Parlamentsfraktion wie zuvor schon 1890/1891 auf dem Haller und dem Erfurter Parteitag erneut für die Kontrolle des Parteivorstandes durch die Reichstagsfraktion ein.[17] Engels wandte sich gegen solche Maßnahmen.

Stillstand der theoretischen Bemühungen

Begleitet wurde dieser Revisionismus durch eine Vernachlässigung theoretischer Arbeit. Luxemburg hatte schon früh die theoretische Schwächung in ihrem Text Stillstand und Fortschritt im Marxismus (1903) angeprangert. Auch Clara Zetkin hatte am 11. September 1899 in einem Brief an Karl Kautsky berichtet, dass „in den Massen unserer Parteigenossen kein regeres Interesse an der Erörterung grundsätzlicher Fragen vorhanden ist[18]. Wie wenig auf der Ebene der „leitenden Parteifunktionäre“ Wert auf Theorie gelegt wurde, zeigen die Auswahlkriterien und die Orientierung für deren Arbeit. Es wurden gefordert: „Treffsicherer Ausdruck, eiserne Energie, zähe Ausdauer bei Durchführung gefasster Beschlüsse (…), dabei Ruhe und Besonnenheit[19]. Dabei wurde die Bereitschaft zur theoretischen Ausarbeitung nicht mal erwähnt. Und auch Heine wandte sich gegen die „Betonung des Theoretischen“, da sie ein „Grundfehler unserer deutschen Sozialdemokratie“ ist. Seine Sorge war vor allem die „Sorge um die Gegenwart“. „Die Hauptsache ist, dass wir wachsen. Das ist Klassenkampf. Für das andere lässt die Zukunft sorgen.[20] Die ablehnende Haltung, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und den Blick nur auf die Gegenwart zu richten, war ein Wesensmerkmal des Revisionismus. Dies ging einher mit einem Prozess der Erlahmung des Lebens in den Parteiversammlungen selbst. So wurde eine „Lauheit und Indolenz“ in der Partei bemängelt.[21]

Der Widerstand gegen das Aufkommen des Revisionismus

Auf den Parteitagen um die Jahrhundertwende nahm der Abwehrkampf der Kräfte, die sich gegen das Aufkommen des Revisionismus zur Wehr setzen wollten, zu. So wurde z.B. auf dem Dresdner Parteitag von 1903 folgende Resolution vorgelegt: „Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige gewährte und siegesgekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, dass an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, dass aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine Partei tritt, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt. Daher ist der Parteitag im Gegensatz zu den in der Partei vorhandenen revisionistischen Bestrebungen der Überzeugung, dass die Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen, und erklärt:

1. dass die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände und dass sie deshalb jede Bewilligung von Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten;

2. dass die Sozialdemokratie gemäß der Resolution Kautsky des Internationalen Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900 einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann.

Der Parteitag verurteilt ferner jedes Bestreben, die vorhandenen, stets wachsenden Klassengegensätze zu vertuschen, um eine Anlehnung an bürgerliche Parteien zu erleichtern.“[22] Diese Resolution wurde von Bebel, Kautsky und Singer eingebracht und mit 288 gegen 11 Stimmen angenommen. Viele Revisionisten, die keinen Mut hatten, innerhalb der Partei gegen die Mehrheit zu votieren, stimmten heuchlerisch dafür, nur um später umso entschlossener ihre Positionen weiter zu verteidigen. Anhand der Parteitage von 1898-1903 wird deutlich, dass in der Partei der Kampf gegen die Versumpfung eingesetzt hatte, d.h. die Partei war noch nicht mehrheitlich auf dem Abstieg. Der Vorstand, dem von der Parteilinken Vorschläge und Anträge für den Kampf gegen die Revisionisten vorgelegt wurden, wich immer stärker aus. Im Sommer 1904 verfasste der Vorstand eine spezielle Erklärung mit dem „dringenden Ersuchen, im ‚Namen der Einheit‘ alle ‚innerparteilichen Streitigkeiten ruhen zu lassen‘“. Auf dem Dresdner Parteitag, so berichtete Paul Frölich in seiner Biographie zu Rosa Luxemburg, war auf der einen Seite dem Revisionismus verbal eine Abfuhr erteilt worden, gleichzeitig wurde auf dem Parteitag aber ein heftiger und perfider Angriff gegen Franz Mehring eingeleitet. Man kann davon ausgehen, dass dieser Angriff gegen Mehring von den Revisionisten als Art Gegenoffensive mit angestachelt wurde, da Mehring damals dem Lager um Rosa Luxemburg angehörte.[23] Wie „rücksichtsvoll“ und „nachgiebig“ in der SPD mit den Revisionisten umgegangen wurde, prangerte Lenin in seiner Schrift Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück an.[24]

Verschwindet der Revisionismus von selbst oder muss man ihn energisch bekämpfen?

Auch wenn mit dieser Ablehnung der Regierungsbeteiligung und der Budgetbewilligung den Revisionisten zunächst einmal die Stirn geboten worden war, wollte der Vorstand die Revisionisten in den Reihen der Partei weiter wirken lassen, obwohl sie eine klare Untergrabung und Aufgabe des Programms betrieben. Viele Kräfte unterschätzten die Gefahr des Revisionismus. Dieser spiegelt den permanenten Druck der bürgerlichen Ideologie wider, die theoretischen Errungenschaften zu untergraben. Viele hielten ihn lediglich für ein vorübergehendes und kein lebensbedrohliches Phänomen, mit dem man in einer  „pluralistischen, demokratischen Debatte“ unter „gleichberechtigten“ Stimmen leben könne. Victor Adler erklärte: „Schließlich ist es kein Unglück, dass wir zwei Strömungen in der Partei haben; die Hauptsache ist nur, dass die andere (die revisionistische) hübsch in der Minderheit bleibt.[25] Kautsky glaubte ab 1903, dass z.B. durch die oben zitierte Resolution vom Dresdner Parteitag die Gefahr des Revisionismus gebannt sei. „Das Begräbnis des theoretischen Revisionismus als politischer Faktor“ sei auf dem Dresdner Parteitag erfolgt.[26] Nachdem sich Kautsky gegenüber seinem früheren Busenfreund Bernstein jahrelang abwartend und wohlwollend verhielt, hegte dieser, wie seine Rede auf dem Lübecker Parteitag 1901 zeigte, die Hoffnung: „Bernstein hat uns daran erinnert, dass er zehn Jahre lang als Redakteur des „Sozialdemokrat“ gewirkt hat. Ja, zehn Jahre lang hat er am „Sozialdemokrat“ gewirkt, zu unserer Freude und zu unserem Nutzen, und ich wünsche nichts sehnlicher, als dass er die Tradition, auf die er sich beruft, wieder erneuert. (…) Möge er die alten Traditionen erneuern![27] Über die Art und Weise, wie der Revisionismus bekämpft werden müsste, gab es aber auch in den Reihen der Linken unterschiedliche Auffassungen. Bebel vermittelte gegenüber Kautsky den Standpunkt, dass der Opportunismus sozusagen von selbst absterbe. „Was den Revisionismus zermalmt, ist die innere und äußere Entwicklung Deutschlands, die ihm alle seine Illusionen zerstört.[28] Dies zeigt, wie stark selbst Bebel sich im Charakter des Revisionismus irrte. Während es einerseits Kräfte in der Partei gab, die Resolutionen gegen den Revisionismus vorschlugen, wurde dennoch zum Teil von den gleichen Kräften eine Radikalisierung des Kampfes gebremst bzw. abgeblockt. „Ein Antrag, der unter anderem von Kautsky, Luxemburg, Zetkin unterstützt wird, die Frage des Generalstreiks auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu setzen, wird mit sehr großer Mehrheit abgelehnt.[29]

Die Fessel des Zentrismus

Jedoch wurde der Kampf gegen den Revisionismus durch den Zentrismus äußerst erschwert.[30]

Karl Kautsky verkörperte diesen Trend. Nachdem Rosa Luxemburg für eine Zeit nach ihrer Ankunft in Deutschland 1898 zusammen mit Karl Kautsky gegen den Revisionismus Stellung bezogen hatte, schlich sich jener schrittweise vor diesem Kampf davon. Hatte er zunächst ohnehin nur reagiert, nachdem Rosa Luxemburg ihn sozusagen „nach vorne gepeitscht“ hatte und er nur ungern gegen seinen alten Freund Bernstein Farbe bekennen wollte, fing er langsam an, diesen Kampf zu sabotieren.

Der Vergleich zwischen der Rolle Kautskys, der als die große Autorität des Marxismus nach dem Tode Engels angesehen wurde, und Plekhanov, der eine wesentliche Rolle bei der Ausbreitung des Marxismus und der Arbeiterbewegung in Russland spielte, ist aufschlussreich. Kautsky sträubte sich Stellung zu beziehen; er beanspruchte theoretische Aussagen zu treffen, hielt sich aber für über den „Organisationsfragen“ stehend und wich später der Konfrontation mit den Revisionisten immer stärker aus. Auch wenn die Komponente der besonderen persönlichen Beziehung zu Bernstein ihn zusätzlich zurückhielt, hob er sich vor allem durch seine mangelnde Kampfbereitschaft hervor. Stattdessen trat er für Versöhnung mit dem Revisionisten Bernstein ein und äußerte die Hoffnung, dass Bernstein wieder auf den richtigen Kurs gebracht werden könnte. Als Bernstein 1899 in Hannover auf dem Parteitag und auch in den darauffolgenden Parteitagen angegriffen wurde, vertrat Kautsky 1900 die Auffassung, dass Bernstein nicht aus der Partei ausgeschlossen werden sollte, da das nur bei Mitgliedern möglich sei, die „unehrenhaft sind, die Partei beschimpfen oder den Parteibeschlüssen zuwiderhandeln. Bernstein tut weder das eine noch das andere. Seine Haltung ist nicht die einer entschiedenen Gegnerschaft, sondern allgemeiner Verschwommenheit. Man kann niemanden zwingen, konsequent zu sein.[31] Solch eine Haltung des Übertünchens der völlig entgegengesetzten Standpunkte, als Bernstein das Ziel der Überwindung des Kapitalismus über Bord warf, hat die Entschlossenheit der Linken geschwächt und zur Unterschätzung der Gefahr der Revisionisten beigetragen. Die verheerende Rolle des Zentrismus und insbesondere dessen bekanntester Stimme Kautsky sollte während der Jahre vor dem Krieg, aber auch noch nach 1914 schwerwiegende Auswirkungen haben, da er in der Form der 1917 gegründeten USPD für eine enorme Schwächung der revolutionären Arbeit sorgte. Kautsky und die Zentristen behinderten eine größere Sammlung der linken Kräfte, weil er die Gegensätze „verwässerte“.[32] Mit den Revisionisten und Reformisten bestände „normalerweise kein Widerstreit der Interessen, kein Klassengegensatz, sondern bloß eine Verschiedenheit der Meinungen über den Weg, auf dem das gemeinsame Ziel am besten erreicht wird.[33] Lenin, der den Charakter und die wirkliche Rolle Kautskys erst spät erkannte, schrieb 1914: „Rosa Luxemburg hatte Recht, als sie bereits vor langer Zeit schrieb, Kautsky sei die ‚Servilität des Theoretikers‘ eigen, die Kriecherei, einfacher gesagt, die Kriecherei vor der Mehrheit der Partei, vor dem Opportunismus.[34]

Der Einschnitt der Kämpfe in Russland 1905

Nach den ersten wilden Streiks in Pennsylvania 1900, 1902 in Belgien, 1903 in Holland, 1904 in Ungarn und vielen anderen Ländern brachten die revolutionären Kämpfe 1905 in Russland zum ersten Mal eine neue Kampfform – die Arbeiterräte – hervor.[35]

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse verstärkte sich die Kritik vor allem in der deutschen Sozialdemokratie und später auch in den Niederlanden an der nahezu ausschließlichen Orientierung auf die Parlamentswahlen und den gewerkschaftlich organisierten Kampf. „Schon seit einem Jahr bilden die Reichstagswahlen den Grundton und das Schlagwort bei allem unserm Tun und Lassen. Auf diese Weise werden die Massen durch den ständigen Kehrreim systematisch fasziniert, es werden in ihnen unwillkürlich ganz übertriebene Hoffnungen erweckt, wie wenn der Ausgang der Wahlen eine Art neue Ära in der politischen Geschichte Deutschlands, einen Wendepunkt in den Schicksalen des Klassenkampfes bedeuten sollte. (…) Unser Parteileben als der Ausdruck der Gesamtinteressen des proletarischen Klassenkampfes hat seine mannigfachen Seiten, die um keines vorübergehenden taktischen Zweckes willen vernachlässigt werden dürfen. Wir haben Aufgaben, die ständiger Natur sind, die über die bevorstehenden Reichstagswahlen hinausreichen und auf keinen Fall zurückgestellt werden dürfen.[36] Damit schwamm man gegen den Strom in der Partei, denn die spektakuläre Zunahme an Mitgliedern und Wahlstimmen für die SPD schien den „Nur-Parlamentarismus“-Anhängern auf den ersten Blick Recht zu geben. Für den Zeitraum zwischen 1878-1906 können die Mitgliederzahlen nur geschätzt werden. Vor dem Sozialistengesetz betrug sie ungefähr 35.000, nach dem Ende des Sozialistengesetzes (1890) ca. 75.000, um die Jahrhundertwende ca. 100.000, anschließend stieg sie sprunghaft an, wobei sie während der Wirtschaftskrisen 1907-1909 und 1912/1913 eher nur langsam anstieg.[37]

Entwicklung der Mitgliederzahl 1905-1914

Jahr

Mitgliederzahl

Steigerung Vorjahr %

1905/06

384.000

 

1906/07

530.000

38

1907/08

587.000

11

1908/09

633.000

8

1909/10

720.000

14

1910/11

836.000

16

1911/12

970.000

16

1912/13

982.000

1

1913/14

1.085.000

11

1905 kritisierte die Leipziger Volkszeitung die zu starke Orientierung der Partei auf parlamentarischen Kampf, es bestehe die Gefahr, dass die Sozialdemokratie ein „bloßer Wahlmechanismus“ bleibe.

Je mehr unsere Organisationen wachsen, Hunderttausende und Millionen umfassen, umso mehr wächst notgedrungen der Zentralismus. Damit geht aber auch das geringe Maß an geistigem und politischem Inhalt, an Initiative und Entschluss, das im alltäglichen Leben der Partei von den Organisationen aufgebracht wird, gänzlich auf die kleinen Kollegien an der Spitze: auf Vereinsvorstände, Bezirksvorstände und Parlamentarier, über. Was für die große Masse der Mitglieder übrigbleibt, sind die Pflichten zum Beitragszahlen, zum Flugblätteraustragen, zum Wählen und zu Wahlschlepperdiensten, zur Hausagitation für das Zeitungsabonnement und dergleichen.[38] 

Während unter den Revisionisten in Anbetracht der quantitativen Erfolge das Gefühl der „Unbesiegbarkeit“ solch einer ständig wachsenden Massenpartei aufkam, und auch viele Arbeiter das Gefühl hatten, die Partei werde dank der vielen Parlamentssitze immer mächtiger, hatte sich in Wirklichkeit zum einen das Leben in der Partei selbst immer mehr „verflacht“ und zum anderen kam es zu einer immer engeren Verflechtung zwischen Gewerkschaftsapparat, Parlamentariern und dem Staatsapparat. „Zwischen der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Welt war eine geistige Endosmose hergestellt, durch die Giftstoffe der bürgerlichen Zersetzung in die Blutzirkulation des proletarischen Parteikörpers frei eindringen konnten.[39] 

Anprangerung des Revisionismus

„Die Revisionisten greifen das Programm auf Schritt und Tritt an, sie begehen Verstoß auf Verstoß gegen die Prinzipien der Partei, aber stets drücken sie sich um eine klare und unzweideutige Festlegung ihres Standpunktes herum. (…) [Die Revisionisten] hatten an allen Grundlagen der sozialdemokratischen Weltanschauungen herumgemäkelt. Der eine warf den historischen Materialismus über Bord, der andere die Werttheorie. Die Auffassung vom Klassenkampfe sollte der „Ergänzung“ bedürfen, die Marxsche Krisentheorie, die Grundrententheorie waren in ihren Augen fraglich geworden. (…) Man ist in der deutschen Sozialdemokratie zum Teil erschrecklich gleichgültig für politische Dinge geworden, weil die Gelegenheit politische Aktionen zu führen, so gering ist. Dieser Umstand kommt den Revisionisten zugute. Sie haben trotz all ihrer Niederlagen das Feld behauptet, weil es den organisierten Arbeitern nur zu oft gleichgültig war, was in den Redaktionsstuben, in den Parlamenten, in den Stadtverordnetenversammlungen geschah. (…) Dieses Bedürfnis nach Ruhe führte dann dazu, dass in manchem Parteiorgan der Revisionismus blüht, trotzdem die Mitgliedschaft des Parteiorts, die über das Organ zu entscheiden hat, weit entfernt ist vom Revisionismus… Es ist gewissermaßen eine Partei in der Partei erstanden, es hat sich eine Cliquenwirtschaft herausgebildet. (…) Es liegt ein Plan darin. (…) [Es wurde] Cliquenpolitik gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Partei [betrieben]. Vor zehn Jahren wurde auf dem Stuttgarter Parteitag der geistige Kampf um die Grundsätze der Partei begonnen. In diesem Kampfe haben die Revisionisten Niederlagen auf Niederlagen erlitten. Jetzt gilt es nicht mehr, die theoretischen Grundsätze zu verteidigen, sondern es gilt, in Nürnberg zu entscheiden, ob die Partei von der Clique vergewaltigt werden darf, es gilt, dem Spiel von Leuten, die sich über das formale und das moralische Recht in der Partei hinwegsetzen wollen, einen unzerbrechlichen Riegel vorzuschieben.“[40]  Auch  Hermann Duncker wies darauf hin, dass sich ein sich verselbständigender Machtapparat in der Partei entwickelt hatte.  „Aber die Masse wird durch die Beamtenkörperschaft gelähmt. Wie ein eiserner Ring schließt die Beamten- u[nd] Funktionärskörperschaft die Massen ab. Es ist die furchtbare Schattenseite der Bürokratie.“[41]

Die Rechten schlossen sich zusammen

Schon Anfang der 1890er Jahre hatten die Rechten begonnen, engere Verbindungen untereinander aufzubauen. Engels sprach von „Sonderbünden“, gar von einer Art Fronde.[42] Am 6. 10.1903 schrieb Zetkin an Bebel „Die Revisionisten ‚arbeiten‘ offenbar nach einem einheitlichen Feldzugsplan und nach vereinbartem Schema (…) Wir stehen einer vollendeten Verschwörung gegenüber (…) Mit Stillschweigen und Vertuschen darüber hinwegsehen und Gras darüber wachsen zu lassen, liefe darauf hinaus, die Partei mit dem Makel dieser tiefsten Korruption zu behaften.[43]

Auf dem Dresdner Parteitag 1903 führten die Revisionisten eine Sonderkonferenz durch.[44] Auch wurde der Kontakt zwischen bestimmten Kreisen der Bourgeoisie und führenden Kräften der Parlamentsfraktion zunehmend intensiviert. „Unter den Fittichen der „Bildung“ und der „allgemeinmenschlichen Kultur“ fanden sich nämlich an den schönen Winterabenden sozialdemokratische Parlamentarier mit bürgerlichen Journalisten zusammen, um sich „von den Strapazen des Berufs“ und der „politischen Fachsimpelei“ zu erholen.[45]  

Seit der Jahrhundertwende hatten sich u.a. um Heine und Vollmar führende Opportunisten geschart, die regelmäßig zu „Bierabenden“ bzw. „Donnerstagabenden“ zusammenkamen. Die zunehmenden Zusammenkünfte zwischen Vertretern der Revisionisten und bestimmen Kreisen des Kapitals war den revolutionären Kräften nicht entgangen. Bebel schrieb Liebknecht am 10.11.1908, bei diesen Bierabenden „findet sich der ganze revisionistische Klüngel zusammen[46]. Neben diesem Zusammenrücken der Rechten in separaten Treffen aller Art (unter sich in der Partei oder mit bestimmen Kreisen der Bourgeoisie) wurde auch eine Hetze in der SPD gegen die Kräfte angefacht, die gegen die Entartung ankämpften. Gegen jede Stimme, ob aus den Reihen der SPD selbst oder aus dem Ausland, die sich kritisch mit den Revisionisten und der Parteiführung auseinandersetzte, wurde entschlossen und oft perfide vorgegangen.[47] Wir haben dies in einem früheren Artikel ausführlich dokumentiert.[48]

Die SPD – Hochburg des internationalen Revisionismus

Der damals aufgekommene Revisionismus hatte in Deutschland besonders starke Ausmaße und eine besondere Bedeutung aufgrund der Ausstrahlung und herausragenden Position der deutschen Sozialdemokratie, die über mehr als eine Million Mitglieder verfügte, erlangt. Lange Zeit wurde K. Kautsky nahezu als „Papst des Marxismus“ angesehen, und Bernstein trat international als der „Bote des Revisionismus“ auf. Der Revisionismus war jedoch keineswegs auf Deutschland beschränkt, denn z.B. in Frankreich war Millerand in die französische Regierung eingetreten. In Italien stellte 1902 auf dem Kongress in Imola die reformistische Strömung um Turati und die Zeitschrift La Critica Sociale die Mehrheit dar.

Der 2. Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1903 und die SPD

Wir sind in anderen Artikeln unserer Presse ausführlich auf den Hintergrund und den Verlauf des 2. Parteitages eingegangen.[49]

Wie schon in diesem Artikel ausführlicher dargestellt, handelte es sich um eine Zeit herannahender historischer Umbrüche, den Übergang von der aufsteigenden zur dekadenten Phase des Kapitalismus. Ein Merkmal dieses Prozesses war, dass die Bedingungen für das Bestehen oder die Bildung einer Massenpartei sich langsam auflösten. Während bei einer Massenpartei eine relativ passive Mitgliedschaft möglich war, verlangte eine Partei in der dekadenten Phase des Kapitalismus mehr als je zuvor die aktive Mitarbeit. Es reichte nicht mehr aus, hauptsächlich Wahlhelfer zu sein; stattdessen sollte sich die Partei zu einer zahlenmäßig kleinen, aber kampfkräftigen Partei wandeln, die auf das aktive Engagement aller ihrer Mitglieder angewiesen war. Auch wenn Lenin diese Umwälzung bei der Statutendiskussion auf dem 2. Parteitag 1903 noch nicht so deutlich spüren konnte, schwebte dieser Wandel über der Partei und insofern nahm diese Auseinandersetzung die kaum 20 Jahre später ab 1919 aufgekommene Auseinandersetzung über die neuen Bedingungen für die Rolle der Partei vorweg.[50]

Demokratismus und Zentralisierungsfeindlichkeit in der SPD

Als der Opportunist Wolfgang Heine für eine Verteidigung der lokalen Autonomie eintrat, zeigte Lenin die Parallelen in der Denkweise zwischen Leuten wie Heine und den Menschewiki auf. „Wolfgang Heine schrieb in einem Artikel, den ‚die Sozialistischen Monatshefte‘ im April 1904 druckten, gegen die Einmischung der ‚ernannten Obrigkeit‘, d.h. des Parteivorstands, in die Tätigkeit der sozialdemokratischen Organisationen. Heine spielte sich als Vorkämpfer des ‚demokratischen Prinzips‘ auf und rebellierte gegen die angeblich besonders gefährliche ‚Tendenz zur Bureaukratisierung und Centralisierung der Partei.‘ (Wolfgang Heine, Demokratische Randbemerkungen zum Fall Göhre. In ‚Sozialistische Monatshefte‘, 1904, Nr. 4, S. 281-291). Heine entlehnte seine wichtigsten Schlussfolgerungen der Broschüre von Martow ‚Abermals in der Minderheit‘ und dessen Rede auf dem II. Parteitag, um die örtlichen Parteiinstitutionen gegen die zentralen auszuspielen und die Partei vor einer ‚doctrinären Politik‘ zu warnen, bei der ‚alle wichtigen politischen Entscheidungen von einer Centrale aus zu treffen‘ wären. Er wandte sich überhaupt gegen den Begriff Disziplin. Heine stellte sich gegen ‚eine alles umfassende große Organisation, möglichst zentralisiert, eine Taktik, eine Theorie‘, zu schaffen. Dieses Geschrei gegen die Herabsetzung, ‚Abtötung‘, ‚Bürokratisierung‘ des freien ideologischen Kampfes und die Forderung nach ‚Freiheit der Kritik‘ sowie nach ‚absolut individuellem ideologischem Schöpfertum‘ waren der konzentrierte Ausdruck des Individualismus….[51] Innerhalb der SPD brachte das Bestreben zur Aufgabe der Zentralisierung und die Untergrabung der Autorität der Parteitage eine klare Revision und Regression zum Ausdruck. Die Anfang der 1890er Jahre zuvor auf dem Haller / Erfurter Kongress verabschiedete Position von der Souveränität des Kongresses, dass die Zentralorgane dessen Beschlüsse umsetzen müssen und diese für alle Parteimitglieder und Parteiinstanzen verbindlich sind, wurde hier verworfen. Dagegen bedeutete das Bestehen auf der Einhaltung der Parteibeschlüsse in den Reihen der SDAPR einen klaren Schritt vorwärts gegenüber dem zuvor vorherrschenden Zirkelgeist. Die Revisionisten in der SPD und die Menschewiki auf dem 2. Parteitag der SDAPR bliesen ins gleiche Horn.

Die Reaktionen in Deutschland 1903 gegenüber der Auseinandersetzung in der SDAPR: ein Streit zwischen Personen oder um Prinzipien?

Nach der Durchführung des 2. Parteitages der SDAPR[52] fand wenige Wochen später in Dresden der SPD–Parteitag unbehelligt von jeglichen Belästigungen der Polizei statt. Zum ersten Mal wurde in der SPD-Presse im Dezember 1903 über diesen Parteitag berichtet. Ein halbes Jahr später erschien Rosa Luxemburgs Kritik an der Position der Bolschewiki: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie [53]. Als Lenin ihr kurze Zeit später antwortete, weigerte sich Kautsky als Herausgeber der Neue Zeit Lenins Text zu veröffentlichen.[54] Die „Nachricht vom russischen Streit“ würde den Sympathien der deutschen Sozialdemokraten für die russischen Sozialdemokraten beider Richtungen abträglich sein. „Es handele sich um einen ‚Familienstreit‘, der keine ‚internationale Bedeutung‘ habe, Lenin habe diesen ‚unheilvollen Zwist begonnen.‘[55] Kautsky bezeichnete den Streit zwischen Menschewiki und Bolschewiki als „persönliche Zwistigkeiten“ infolge „rein persönlicher Feindseligkeiten“ zwischen den Führern beider Fraktionen (Kautsky, Brief 14.2.1905 an Axelrod). Er behauptete weiter „Euren Lenin kennen wir noch nicht, und ihm können wir nicht aufs Wort glauben.[56]  Wie Lenin später feststellte, brachte der Vorwärts keinen einzigen Artikel mit einer objektiven Einschätzung der Tätigkeit der Bolschewiki, während in der Neuen Zeit Menschewiki und Trotzki immer wieder zu Wort kamen.[57]

Aus Kautskys Sicht war die Frage der Parteimitgliedschaft „nicht prinzipiell“.  „In den Spalten der menschewistischen „Iskra“ behauptete er, die ‚Mehrheit darf ihren Willen der Minderheit nicht aufzwingen‘“, sondern müsse sich mit ihr aufgrund „möglichst großer gegenseitiger Zugeständnisse“ verständigen. Damit wurde die Position des Erfurter Parteitages verworfen, wonach Parteitagsbeschlüsse verbindlich waren und somit Minderheiten die Mehrheitsbeschlüsse akzeptieren und umsetzen müssen.

Parteinahme in der SPD für die Menschewiki

Ein weiterer Grund für das Ausweichen der SPD-Parteiführung bzw. des Flügels um Kautsky vor dem Kampf in der SDAPR bestand darin, dass man tatsächlich eher auf Seiten der Menschewiki stand. „Müsste ich“, so schrieb Kautsky, “zwischen Martow und Lenin wählen, so würde ich mich auf Grund aller Erfahrungen unserer Tätigkeit in Deutschland entschieden für Martow aussprechen[58]. Kautsky beabsichtigte in der Iskra einen Artikel gegen die Bolschewiki zu veröffentlichen. Insgesamt hörte man kaum Stimmen aus der SPD, die die Position der Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt unterstützten.

Die SPD befallen von Demokratismus und zentralisierungsfeindlichen Tendenzen

Darüber hinaus wurde eine tiefgreifende Divergenz Kautskys gegenüber den Bolschewiki zu Organisationsfragen deutlich, denn er war der Ansicht, dass das Prinzip der Autonomie, auf das er die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren des Sozialistengesetzes zurückführte, zum maßgebenden Organisationsprinzip der SDAPR werden müsste. Wie in einem früheren Artikel entwickelt, war zur Zeit des Sozialistengesetzes eine gewisse Autonomie der örtlichen lokalen Parteieinheiten   unvermeidbar, aber seit dem Ende des Sozialistengesetzes und vor allem nach der Abschaffung jeglicher Restriktionen für das Funktionieren der SPD um die Jahrhundertwende gab es keine Begründung mehr für diese Schutzmaßnahmen der lokalen Sektionen in der Form einer gewissen Autonomie gegenüber der Partei insgesamt. In Wirklichkeit handelte es sich um eine lokalistische, zentralisationsfeindliche Auffassung, die ein Ausdruck der vorherrschenden föderalistischen Auffassungen in der II. Internationale war.

Anhand dieser verschiedenen Aspekte (ein Herunterspielen bzw. ein Versuch des Verschweigens der Divergenzen, ein Parteiergreifen für die Menschewiki, eine Darstellung der Prinzipienfrage als ein Streit zwischen Personen, Ablehnung der Zentralisierung, Verwerfen der statutenmäßigen Festlegung zur aktiven Mitarbeit in der Partei) wird der Rückschritt von Teilen der SPD zum damaligen Zeitpunkt deutlich.

Gleichzeitig waren die Statuten der anderen Parteien der II. Internationale nicht klarer hinsichtlich Mitgliedschaft und Zentralisierung.[59]

Die „objektiven“ unterschiedlichen Bedingungen zwischen Deutschland und Russland

Während die Mehrheit in der SPD nicht verstand, was auf dem 2. Parteitag der SDAPR auf dem Spiel stand bzw. Teile von ihnen offen für die Menschewiki Partei ergriffen hatten, könnte man einwenden, dass diese Wahrnehmung des Kampfes in Russland durch die unterschiedlichen objektiven Bedingungen geprägt und gewissermaßen verfälscht wurde.

Tatsächlich gab es große Unterschiede zwischen der Situation der beiden Parteien. In Deutschland gab es Zeichen eines politischen Niedergangs der Partei, u.a. ersichtlich anhand einer degenerierenden Reichstagsfraktion. Der kraftlose und abblockende Vorstand, der nur durch die Initiative „von Unten“, durch die Masse der Parteimitglieder „angeschoben“ wurde, zeigte immer deutlicher revisionistische Züge und eine wachsende Integration in den Staat. Deshalb legte in jenen Jahren Rosa Luxemburg die Betonung auf die Massenaktivität, „Initiative von Unten“, „Spontaneität“, Wachsamkeit, eigenständiges Denken der „Basis“. Zu Recht zeigte sie ein „Misstrauen“ gegenüber einem mächtigen, sich immer mehr verselbständigenden Vorstand. Dagegen gab es in Russland kein vergleichbares „erdrückendes Gewicht“ eines Zentralorgans, sondern einen Kampf, wo der Zirkelgeist durch den Parteigeist gebannt und die Kongressbeschlüsse überhaupt respektiert werden mussten. 

Während die Revolutionäre in Russland seit jeher unter den Bedingungen der Illegalität unter dem Zar mit einer viel drastischeren Repression kämpften und diese Illegalität die Partei nicht daran hinderte, die Frage der Mitgliedschaft und aktiver Mitarbeit zu einer  zentralen Frage auf dem 2. Parteitag 1903 zu machen, war der Einwand des „altgedienten“ SPD-Führers Auers, ein Bekenntnis zur aktiven Mitarbeit könne zur Entblößung gegenüber dem Staat führen, vor allem eine opportunistische Ausrede.

Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse durch das Zentralorgan oder Zirkelherrschaft?

Wir sind in unserem Artikel[60] ausführlich auf die Divergenzen zwischen Lenin und Luxemburg eingegangen und haben darin schon die Mängel an Rosa Luxemburgs Herangehensweise kritisiert.  In ihrem Artikel Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie warnte sie u.a. vor „Ultrazentralismus“; die Parteiführung sollte nicht „mit so absoluten Machtbefugnissen“ ausgestattet werden, „wie Lenin es tut“.[61]

In seiner Antwort an Rosa Luxemburg unterstrich Lenin, dass er „nicht den „rücksichtslosen Zentralismus“ verteidige, sondern die elementare Parteidisziplin, die von den Menschewiki verletzt wurde. Er betrachtete das Zentralkomitee nicht als den „eigentlichen aktiven Kern der Partei“, sondern verteidige nur dessen statutenmäßig festgelegten Rechte. Er fordere lediglich, dass das Zentralkomitee die Richtung der Parteimehrheit vertrete. Lenin schrieb: „dass der Streit bei uns hauptsächlich darum geht, ob das Zentralkomitee und das Zentralorgan die Richtung der Parteitagsmehrheit vertreten sollen oder nicht[62]. „[Die Genossin] zieht es vor, gegen die mechanische Unterwerfung eines Teils unter das Ganze, gegen den Kadavergehorsam, gegen die blinde Unterordnung und ähnliche Schreckgespenster zu wettern. Ich bin der Genossin Luxemburg sehr dankbar für die Darlegung des höchst geistreichen Gedankens, dass der Kadavergehorsam für die Partei sehr schädlich ist, aber ich möchte doch gern wissen: Hält die Genossin es für normal, kann sie es zulassen, hat sie in irgendeiner Partei je gesehen, dass in den Zentralbehörden, die sich Parteibehörden nennen, die Minderheit des Parteitags dominieren darf?“ Weiter antwortete Lenin, dass „(…) die Zeit schon vorbei ist, da man ein Parteikollegium durch einen Privatzirkel ersetzen konnte[63].

Der Aufbau der Organisation – nur ein ‚spontaner‘ Spiegel der Dynamik in der Klasse oder ein bewusstes Werk?

In Anbetracht der Erfahrung mit dem erdrückenden und lähmenden Gewicht der deutschen Parteiführung, gegen die eine Mobilisierung „der Basis“ geboten war, schlussfolgerte Luxemburg, dass „die proletarische Armee sich erst im Kampf selbst rekrutiert und erst im Kampf auch über die Aufgaben des Kampfes klar wird. (…) Die großen Massen müssen sich in einer ihr eigenen Weise betätigen, ihre Massenenergie, ihre Tatkraft entfalten können, sie müssen sich selbst als Masse rühren, handeln, Leidenschaft, Mut und Entschlossenheit entwickeln.[64] Während Rosa Luxemburg 1905 bei der Analyse der Bedeutung der Massenstreikbewegung und der inneren Triebkraft, der Spontaneität der Klasse, richtig lag, muss man betonen, dass die Initiative der Klasse alleine nicht reicht. Um eine Revolution erfolgreich durchzuführen, ist eine revolutionäre Organisation unabdingbar, aber diese entsteht nicht allein durch die Spontaneität der Massen. Sie ist das Ergebnis eines jahrelangen, gar jahrzehntelangen, zähen und harten Kampfes, bei dem die Positionen und Prinzipien erarbeitet und verteidigt werden müssen. Auch wenn Luxemburg dieser Notwendigkeit zugestimmt hat, lag ihre Betonung, geprägt durch die Erfahrung vor allem in Deutschland, darauf, dass die große Masse der Parteimitglieder die „Führung“ vorantreiben müsse. „Die Massen müssen, zur Geltung kommen, um das Schiff der Partei vorwärtszustoßen, dann können sie getrost in die Zukunft blicken.[65] Und sie befürchtete in Anbetracht der deutschen Erfahrung, dass eine zu starke „zentralistische“ Führung nur zum Sieg des Opportunismus führen würde. Die Wurzeln des Opportunismus lagen aber nicht nur im bürgerlichen Parlamentarismus, dessen Gewicht in Deutschland viel erdrückender war als in Russland. Das heißt, es ging bei der Auseinandersetzung zwischen Luxemburg und Lenin um die Frage, wie die Organisation aufgebaut werden muss, und wie das Verhältnis zwischen Spontaneität und Bewusstheit in der revolutionären Bewegung aussieht. Die revolutionäre Organisation kann nicht einfach der „Spiegel“ der Klasse selbst sein, und ihre Rolle darf nicht von dem jeweiligen Grad und Umfang der Spontaneität der Arbeiterklasse abhängen. Die Betonung der Notwendigkeit der Spontaneität bei Rosa Luxemburg nach dem 1905 erstmals in Erscheinung getretenen Massenstreik und der Initiative und Wachsamkeit der großen Parteimassen gegenüber einem schwankenden oder opportunistisch werdenden Vorstand, in dessen Händen Zentralisierung tatsächlich ein Werkzeug zur Erwürgung der Aktivität der Parteibasis wurde, war völlig richtig, aber sie darf nicht auf die gleiche Stufe gestellt werden wie der Parteiaufbau.[66] Es besteht die Gefahr, dass man den Unterschied zwischen Klasse und Partei verwischt.

Der Organisationsaufbau muss gewissermaßen dem Handeln der Klasse „vorausgehen“, denn revolutionäre Organisationen dürfen mit dem Aufbau der Organisation nicht „so lange warten, bis die Klasse bereit und reif genug“ ist, weil die Reifung und Fähigkeit der Klasse sich zu radikalisieren wiederum auch von der Intervention der Revolutionäre selbst abhängt.

Vielleicht können wir hier tiefergehende Schwächen in der Auffassung von Rosa Luxemburg erkennen, die sich zwar äußerst kämpferisch und mit klaren programmatischen Entblößungen dem Kurs der Revisionisten und der Erwürgungspolitik der Führung der SPD entgegenstellte, dabei selbst aber die Komponente der aktiven Bemühungen um den Aufbau der Organisation vernachlässigte. Auch wenn dies nur ein Aspekt der Schwächen der Revolutionäre war, wie wir unten weiter sehen werden, kündigte sich hier vielleicht schon etwas an, was die Gauche Communiste de France (GCF) Jahrzehnte später diagnostizierte: „Die Geschichte sollte Lenins Position meisterhaft bestätigen. Ohne auf die Untersuchung anderer und vielfältiger Faktoren der russischen Situation einzugehen, können wir sagen, dass der Sieg der proletarischen Revolution im Oktober 1917 in erster Linie auf die Erfüllung dieser entscheidenden Bedingung zurückzuführen war, auf die Existenz dieser Partei, die Lenin unermüdlich 20 Jahre lang geschmiedet hatte. Im Gegensatz dazu sollte das Jahr 1918 in Deutschland die Niederlage der Revolution bringen, die trotz des großartigen und heroischen Kampfgeistes der Massen nicht zuletzt auf die verspätete Bildung der Partei und damit auf ihre Unerfahrenheit, ihr Zögern und ihre Unfähigkeit, die Revolution zu ihrem Sieg zu führen, zurückzuführen war. Das war der Preis und die experimentelle Widerlegung von Rosa Luxemburgs Theorie von der Spontaneität der revolutionären Bewegung.[67]

Der Führungsapparat fühlt sich durch den Massenstreik und die Spontaneität der Arbeiterklasse bedroht

Insbesondere nach den Massenstreiks in Russland 1905 spürten die SPD- und Gewerkschaftsführung, dass die Eigeninitiative der Arbeiter, die Entfaltung von Massenstreiks, die Bündelung der Kräfte der Arbeiterklasse in Arbeiterräten usw. sowie die daraus zu ziehenden Lehren und Orientierungen, die insbesondere von Rosa Luxemburg in Massenstreik, Partei und Gewerkschaften und Pannekoek in Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung gezogen wurden, eine Bedrohung für sie werden würden. Aus ihrer Sicht wurde alles, was aus Russland kam – Massenstreiks, Arbeiterräte, die Russische Partei – vor allem die Bolschewiki – nicht nur mit Misstrauen betrachtet, sondern auch mit großer Hochnäsigkeit verworfen.  

Mangelnde Fraktionsarbeit…

Zwar hatte es in der Geschichte der revolutionären Bewegung immer wieder Rückschläge, Repression, Zerstreuung und auch die Auflösung des Bundes der Kommunisten und der I. Internationale gegeben. Auch hatte die revolutionäre Bewegung Erfahrungen gesammelt im Kampf gegen Opportunismus, Anarchismus und Abenteurertum. Aber noch nie zuvor hatte eine Degenerierung einer Partei stattgefunden, und deshalb verfügte die revolutionäre Bewegung noch nicht über Erfahrung im Abwehrkampf dagegen.

Wie den Kampf gegen die Degenerierung führen?

Zunächst bestand eine große Herausforderung darin, diese Gefahr der Entartung überhaupt zu erkennen. Zwar hatten Marx, Engels und Bebel schon in den 1880er Jahren erste opportunistische und revisionistische Anzeichen entblößt, als aber der Revisionismus in den 1890er Jahren eine festere Gestalt annahm und durch Bernstein quasi zu einem Programm ausgearbeitet wurde, stellte Rosa Luxemburg als erste mit ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution diese Entwicklung in einen tieferen theoretisch-programmatischen Rahmen. Sie entblößte zu jener Zeit am deutlichsten die Unvereinbarkeit von revisionistischer Richtung und Marxismus. Gleichzeitig ging es um die Analyse der tieferen Ursachen und die Herausforderung durch den sich anbahnenden Umbruch in der Entwicklung des Kapitalismus selbst, dessen aufsteigende Phase seinem Ende zuneigte, und wo erste Anzeichen der Dekadenz zu erkennen waren.

Die jeweiligen Umwälzungen wie die schrittweise Anbindung und Integration des Gewerkschaftsapparates in den Staatsapparat, und die Unterwerfung der Partei unter die Gewerkschaften[68], das Aufkommen der Arbeiterräte 1905 in Russland und das neue Phänomen des Massenstreiks, und die Identifikation großer Teil des Parteiapparates mit den Parlamentariern an der Spitze mit dem Staat, die Abstumpfung der Partei durch Demokratismus und die zunehmende Erosion der Kampfbereitschaft – all diese langsam erkennbaren Zeichen waren Teile einer umfassenden und zusammenhängenden Umwälzung. Aber den revolutionären Kräften gelang es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, diese Phänomene in einen deutlichen Zusammenhang zu bringen.

Der Hintergrund war die zunehmende Integration des Parteiapparates in den Staat, ja die Identifikation der Gewerkschaften und der Partei selbst mit dem Staat. Dieser Prozess wurde zwar am deutlichsten verkörpert durch die Führungsspitzen, die Parlamentsfraktion und die Gewerkschaftsfunktionäre, aber er beschränkte sich nicht auf einige Leute. Deshalb hätte auch kein schneller, entschlossener Rauswurf der Revisionisten das Problem aus der Welt geschafft, handelte es sich doch um einen allgemeinen Fäulnisprozess, bei dem die Kampfbedingungen in der Gesellschaft insgesamt sich umwälzten. Gewiss war dies damals erst im Keim zu spüren.

Dabei war den anderen Parteien in der II. Internationale die Trageweite des Niedergangsprozesses nicht klar. Da die meisten Parteien durch die Wahlerfolge der SPD verblendet wurden, die SPD auch im Ausland deshalb nahezu glorifiziert wurde, wurde man sich erst sehr spät dieser Dynamik bewusst. In Russland gab es gar die meisten „Bewunderer“ der SPD.[69]

Dem Niedergang hatten die entschlossenen Kräfte einen unnachgiebigen Kampf angesagt. Die Auseinandersetzungen auf dem Hannoveraner Parteitag 1899 bis zum Dresdner Parteitag 1903 spiegeln diese Entschlossenheit wider.

Fraktionsarbeit vor dem Krieg…

Bei dem internationalen Kampf zwischen Revisionismus und den Verteidigern des Marxismus war Deutschland eine Hauptbühne. Während wir uns hier ausführlicher mit der Reaktion in der SPD auf die Entwicklung in der SDAPR befasst haben, muss man eigentlich die Lage in den anderen Ländern mit berücksichtigen, um einen umfassenderen Einblick zu gewinnen. Aus Platzgründen haben wir dies hier nicht getan. Jedoch wurde schon in diesen Jahren der Auseinandersetzung um die Organisationsfrage deutlich, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der SDAPR und der SPD (und im Wesentlichen trifft das auch auf die anderen Parteien in Europa zu), schon zum damaligen Zeitpunkt darin bestand, dass sich mit den Bolschewiki unter Lenin ein entschlossener Pol in der SDAPR herauskristallisiert hatte, der für die Einhaltung der Parteibeschlüsse eintrat, wogegen es in der SPD zwar entschlossene einzelne Stimmen wie die von Rosa Luxemburg oder teilweise noch von Bebel gab, die aber nicht als starke, gebündelte Kraft auftraten und zu keinem ausreichenden Gegenpol wurden. Hinsichtlich der Kampfbereitschaft, der Unnachgiebigkeit und Kompromisslosigkeit unterschieden sich die Bolschewiki und die linken Kräfte in Deutschland nicht. Vielmehr fehlte es diesen Kräften in Deutschland an Geschlossenheit, an Zusammenhalt und gemeinsamen Vorgehen.

Nachdem 1890 auf dem Haller und Erfurter Parteitag der Revisionismus deutlich in Erscheinung getreten, aber von den linken Kräften noch resolut entblößt und zum Teil in die Schranken verwiesen werden konnte, hatte es um 1900 unter einigen Linken in der SPD noch das Gefühl gegeben, 1899 wären auf dem Hannoveraner Parteitag und 1903 in Dresden die Revisionisten ausreichend entlarvt worden. Aber während der Revisionismus in Parteiresolutionen offiziell angeprangert und mehrheitlich verworfen worden war, drang er in Wirklichkeit sozusagen durch die Hintertür immer tiefer in die SPD ein.

Wie oben erwähnt sollten die Ereignisse von 1905, als zum einen der Massenstreik der Arbeiter in Russland die neuen Bedingungen im dekadenten Kapitalismus „ankündigte“, und zum anderen die Zuspitzung der Kriegsgefahr durch den Krieg zwischen Japan und Russland und später immer stärker zwischen den europäischen Mächten deutlich machen, dass der immer aktiver auftretende Revisionismus nur mit gebündelten Kräften zurückgedrängt werden könnte.[70]

Trotz dieser Entwicklung unternahm man aber weder innerhalb der SPD noch auf internationaler Ebene ausreichende Schritte, um zu einem Schulterschluss der internationalistischen und gegen den Revisionismus gerichteten Kräfte zu kommen. Und gleichzeitig blieb Lenin relativ unbekannt außerhalb des Bereichs der russischen Partei. „Diese fraktionelle Arbeit Lenins fand nur innerhalb der russischen Partei statt, ohne dass er versuchte, sie auf die internationale Ebene zu bringen. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, seine Reden auf verschiedenen Kongressen zu lesen, und man kann sagen, dass diese Arbeit außerhalb der russischen Sphären völlig unbekannt blieb.“[71]

Gemeinsames Vorgehen gegenüber der Kriegsgefahr aber nicht bei der Verteidigung der Organisation

Zwar wurde auf dem 1907 in Stuttgart stattgefundenen Kongress der II. Internationale mit über 60.000 Demonstrationsteilnehmern gegen den Krieg eine Resolution gegen die Kriegsgefahr angenommen, die von Lenin, Luxemburg und Martow gemeinsam verfasst wurde und über die ursprüngliche, zögerliche, von Bebel verfasste hinausging. Hierdurch wurde die Entschlossenheit der linken, internationalistischen Kräfte bezeugt, gemeinsam, über alle Landesgrenzen hinweg der Kriegsgefahr entgegenzutreten. Aber in den Parteien insgesamt wurde der Widerstand gegen die Kriegsgefahr nicht weiter verstärkt. Das Gleiche wiederholte sich später bei den Kongressen in Kopenhagen 1910 und Basel 1912. Im Rückblick muss man sagen, die Zusammenarbeit der linken Kräfte erfolgte nahezu ausschließlich auf den Kongressen und in den Proklamationen gegen die Kriegsgefahr; bei dem Kampf gegen den Revisionismus und um die Organisationsfrage blieb man weitestgehend zersplittert.

Während die wachsende Kriegsgefahr mehr als nur ein gemeinsames Vorgehen bei Kongressen und Resolutionen verlangte, verhinderten die Divergenzen zur Organisationsfrage die linken Kräfte ein näheres Zusammenrücken. Dies war umso tragischer, da – wie oben erwähnt – die Rechten und die Revisionisten längst zusammengerückt waren.

Paul Frölich berichtet in seiner Autobiographie, dass es nur in einzelnen Städten Kontakte untereinander gab, aber es fehlten städteübergreifende Bemühungen zu einem gemeinsamen Vorgehen, einer Bündelung und erst recht einer Zentralisierung der Opposition innerhalb der SPD.[72] Dabei war eine der Lehren aus dem Kampf um die Organisation auf dem Haager Kongress mehr als 30 Jahre zuvor gewesen, dass der Komplott Bakunins nur durch das entschlossene Handeln des Generalrates der I. Internationale abgewehrt werden konnte. Ein „loser, zusammengewürfelter“ Haufen reicht nicht aus, sondern eine feste, zusammengeschweißte Front muss aufgebaut werden. Zwar gab es Ansätze auf dem Parteitag 1910 in Magdeburg oder dem Parteitag 1911 in Jena, als linke Delegierte zu Sonderberatungen zusammen kamen.[73] Auch waren die Linken in einigen Städten insbesondere in den Redaktionen der vielen Zeitungen und Zeitschriften der SPD stärker vertreten, aber es gab keine Ansätze zu einer gemeinsamen Presse. 1913 kündigten Rosa Luxemburg und andere Linke, nachdem ihnen ein Maulkorb nach dem anderen angelegt worden war, die Mitarbeit in der Leipziger Volkszeitung auf und gaben ab Dezember 1913 die Sozialdemokratische Korrespondenz heraus. „Wir drei, und ich ganz besonders, was ich betonen möchte, sind der Auffassung, dass die Partei eine innere Krise durchmacht, viel, viel schwerer als zu jener Zeit, da der Revisionismus aufkam. Das Wort mag hart sein, aber es ist meine Überzeugung, dass die Partei dem Marasmus zu verfallen droht, wenn es so weiter geht. In einer solchen Situation gibt es für eine revolutionäre Partei nur eine Rettung: die denkbar schärfste, rücksichtsloseste Selbstkritik. Daher denke ich mir die Rolle der Leipziger Volkszeitung gemäß ihrer bisherigen Tradition, dass sie gerade jetzt Tag für Tag diese Aufgaben zu verfolgen hat.[74]

Im Rückblick kann man sehen, dass vor dem Krieg kein Netzwerk von linken Kräften aufgebaut wurde, das in der dramatischen Zeit nach 1914, als die Parteiführung verraten hatte, einen soliden organisatorischen Gegenpol und eine Brücke hätte darstellen können. Dadurch hatten die linken Kräfte nicht gelernt, als eigenständige Fraktion INNERHALB der Sozialdemokratie und darüber hinaus innerhalb der II. Internationale zusammenzuarbeiten. Kurzum, während auf der einen Seite die Bolschewiki innerhalb der SDAPR einen unnachgiebigen Kampf gegen alle möglichen opportunistischen und liquidatorischen Kräfte führten und sie dabei über Jahre wichtige Kampferfahrung für die Organisation erlangten und auch lernten, wie man  Divergenzen behandelt, ohne dass die Organisation auseinanderbricht, dabei einen Kampfgeist für die Organisation formten, eigneten sich die linken Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie in Deutschland solche Erfahrungen nicht an.

In der SPD wurden zwar „Arbeitsgemeinschaften“ gebildet, aber diese konnten nie das Gegengewicht darstellen, das die Bolschewiki jahrelang innerhalb der SDAPR erlangt hatten. Man ging nie über punktuelle Schritte hinaus.

Ab Herbst 1910 wurden in einigen süddeutschen Städten „Karl-Marx-Klubs“ gegründet, in denen sich Linke zusammenschlossen. Die Rechten wandten sich sofort gegen deren Existenz. In Stuttgart gelang es 1910 den Linken, den Sozialdemokratischen Verein unter ihren Einfluss zu bringen. Vor allem die Schriften und das Auftreten der Gruppe um Rosa Luxemburg lässt keinen Zweifel daran, dass gekämpft wurde, aber dieser Widerstand blieb zerstückelt und seine Ausstrahlungskraft als Gegenpol blieb zu schwach. Gewiss begünstigte die Tatsache, dass die SPD mehr als eine Million Mitglieder umfasste, die „Trägheit“ der Masse, die ohnehin nie diesen Kampfgeist erworben hatte. Infolge dieses unzureichend erkennbaren Gegenpols fehlte eine ausreichende Abgrenzung vom Zentrum und den Revisionisten. Während in der Partei immer noch das Dogma der Einheit nach außen vertreten wurde, war die Partei tatsächlich schon innerlich zerrissen. Der internationalistische, revolutionäre Gegenpol war aber weder in der Partei noch in der Klasse insgesamt deutlich genug zu erkennen. Dies sollte im Laufe des Krieges, vor allem 1917 und 1918 dazu führen, dass viele Arbeiter den Unterschied zwischen SPD, USPD, Zentristen und Spartakisten und anderen revolutionären Linken nicht deutlich genug sahen. Bei einer niedergehenden Organisation verlangt der Widerstand ab einer gewissen Stufe auch INNERHALB der Partei eine eigenständige Organisierung, um die Kräfte zu bündeln und die Zukunft vorzubereiten. Weil diese Bemühungen fehlten, gab es 1914, als es um die Organisierung des Widerstandes in der Illegalität ging, keine Kanäle und kein ausreichendes Netzwerk der Linken, um zu diskutieren, zu klären und zu agieren. Man war trotz der seit Jahren erkennbaren Gefahr des Krieges mit der zu erwartenden Verschärfung der Bedingungen für die Arbeit der Revolutionäre nicht auf die Illegalität vorbereitet und wie der Kampf gegen die Verräter auf eine neue Stufe gestellt werden musste![75] Die Fixierung auf die Wahlen, den Parlamentsbetrieb, d.h. der ganze Rahmen der bürgerlichen Demokratie, hatte zu einer gewissen Lähmung und Vernachlässigung der Erfahrung der Revolutionäre aus früheren Kämpfen geführt.[76]

Während man die zunehmende opportunistische Versumpfung und die offene Ablehnung der Prinzipien durch die Revisionisten beobachtet und angeprangert hatte, und insbesondere bei der Kriegsfrage gewissermaßen den Verrat kommen sah, hatten die Revolutionäre sich nicht wirklich konsequent darauf eingestellt. 

Wie oben ausgeführt, gehörten zu den linken Kräften in der SPD Ende der 1890er Jahre noch führende Persönlichkeiten wie Bebel, Wilhelm Liebknecht und auch Karl Kautsky. Schnell aber stellte sich heraus, dass Kautsky dem Kampf gegen den Revisionismus ausweichen wollte, und er nur durch das „Einprügeln“ durch Rosa Luxemburg zu Stellungnahmen gegen Bernstein bewogen werden konnte. Nach 1903-1905 verhielt er sich immer offener zentristisch, während er im Ausland noch lange als eine theoretische Kapazität, ja als „Papst des Marxismus“ angesehen wurde. Die Abgrenzung von solchen „theoretisch“ renommierten, aber dem Kampf ausweichenden Kräften ist ein schwieriges Unterfangen. Und als Führer bekannte Persönlichkeiten wie Bebel und auch Wilhelm Liebknecht, die seit jeher durch ihr Auftreten im Parlament großes Ansehen erworben hatten, erwiesen sich als unfähig, eine entschlossene Opposition gegen die Revisionisten anzuführen.[77] Rosa Luxemburg, die am heftigsten und am mutigsten Widerstand gegen die Revisionisten leistete, und deren programmatische Ansichten den klarsten Gegenpol bildeten, war zwar trotz der ganzen Hetzkampagne gegen sie am populärsten, und sie erhielt viel Zulauf bei Versammlungen[78], aber die „besten“, „klarsten“ und meist bekannten Führer reichen nicht, um eine wirksame Opposition auf die Beine zu stellen. Eine organisierte, gemeinsame Fraktionsarbeit ist erforderlich. Dabei muss es Kräfte geben, die die verschiedenen Widerstandskräfte zusammenführen, sie zusammenschweißen. Rosa Luxemburg hat nie eine „eigenständige“ linke Strömung um sich gebildet. Es gelang ihr und ihrer Gruppe nicht, die verschiedenen Kräfte in Deutschland um ihren Flügel zu scharen. War es, weil sie selbst vielleicht die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der linken Kräfte unterschätzte?[79] Stattdessen bewahrte man eher Distanz und teilweise herrschte gar ein gewisses Misstrauen unter verschiedenen linken Kräften vor. Es gab mehrere Faktoren, die dafür eine Rolle spielten. Wir werden weiter unten auf einige eingehen.

Die Gefahr des Nachläufertums

Weit bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts genoss die SPD international ein riesengroßes Ansehen innerhalb der II. Internationale, insbesondere in Russland. Die deutsche Sozialdemokratie stehe „hinsichtlich Organisiertheit, Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Bewegung, Reichtum und Gehalt der marxistischen Literatur an der Spitze aller sozialdemokratischen Parteien[80]. U.a. weil sie zahlenmäßig die stärkste Massenpartei war und die größten Wahlerfolge einfuhr, wurde sie als Modell angesehen. International vernebelten auch hier die beeindruckenden Stimmenzahlen, dass der Wurm schon in der Partei steckte.[81]

Den Versumpfungsprozess der SPD hatten die meisten Teile der II. Internationale nicht gesehen oder unterschätzt. Die Erfahrung zeigt, die Idealisierung eines Teils der Arbeiterbewegung ist immer problematisch, insbesondere wenn dies in ein völlig unkritisches Nachlaufen umschlägt. Das war zum Teil seitens der Menschewiki gegenüber den rechten bzw. zentristischen Kräften in der SPD der Fall, aber wie oben erwähnt, lobte Lenin eine lange Zeit die SPD und insbesondere Kautsky über alles.[82]

Die Politik der II. Internationale gegenüber der russischen Partei

Wir haben in anderen Artikeln schon auf die Besonderheiten der Bedingungen und der Funktionsweise der II. Internationale hingewiesen, und dass ein Niedergangsprozess nicht isoliert in einem Land aufgehalten werden kann, sondern dafür der internationale Zusammenschluss der linken Kräfte erforderlich ist.

Auf programmatischer Ebene gab es eine sehr große Heterogenität unter den linken Flügeln – einerseits wurde in den Niederlanden und in Deutschland Kritik an dem „Nur-Parlamentarismus“ und an der Versumpfung der Gewerkschaften geübt. Dies waren Fragen, die bei den Revolutionären in Russland nicht besonders im Vordergrund standen, da sie in Russland selbst nicht so sehr mit dem alles erdrückenden Gewicht des Parlamentarismus und der Gewerkschaftsarbeit konfrontiert waren. Auf Organisationsebene gab es in der Internationale kein Internationales Büro bis zum Jahre 1900 und innerhalb der II. Internationale gab es abgesehen von der Kriegsfrage nahezu keine gemeinsame Zusammenarbeit der linken Flügel.

Während z.B. Lenin von den Menschewiki und auch von Trotzki nach 1903 aufs heftigste angegriffen wurde, hinderten sicherlich die Divergenzen zwischen Luxemburg und Lenin diese daran, Lenin gegen die Verunglimpfungen, Beschimpfungen der Menschewiki, Trotzki und Sozialrevolutionäre in Schutz zu nehmen. Und während in der SPD die Hetze gegen Rosa Luxemburg einsetzte, sprang ihr Lenin nicht bei. Vielleicht hätte er sich anders verhalten, wenn er das wahre Ausmaß dieser Kampagne gekannt hätte. Kurzum man muss von einer mangelnden Solidarität und einem unzureichenden Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Linken in der II. Internationale sprechen. Z.B. agierten die „linken“ Kräfte in den Niederlanden entweder meist nur „lokal“ oder aber ohne ausreichende abgestimmte Zusammenarbeit mit den linken Stimmen in der SPD und der II. Internationale insgesamt.[83] Als der Kampf in der SDAPR 1903 auf dem 2. Parteitag in der II. Internationale bekannt wurde, schlug die SPD z.B. 1905 vor, dass ein „Einigungsversuch“ zwischen Menschewiki und Bolschewiki mit Hilfe eines „Schiedsgerichtes“ unternommen werden sollte. Die Menschewiki verbanden mit dem Vorschlag eines Schiedsgerichts die Hoffnung, dass die Mehrheitsposition der Bolschewiki damit überworfen werden könnte. Lenin verwarf diese Herangehensweise und pochte darauf, dass in diesen Fragen jeweils der Parteitag selbst entscheiden müsse und nicht ein internationales Schiedsgericht, da es um politische Tendenzen ging, „die von der Partei angenommen oder abgelehnt werden, nicht aber von einem Gericht gerechtfertigt oder verurteilt werden“ können[84]. Schließlich wurde der SPD-Vorschlag eines Schiedsgerichts fallengelassen. Auch nachdem dieser im Juni 1905 dann vom ISB erneuert wurde, lehnten die Bolschewiki ihn wieder aus den gleichen Gründen ab.

Bei den nahezu ein Jahrzehnt dauernden Auseinandersetzungen zwischen Menschewiki und Bolschewiki drängte die SPD immer wieder auf „eine Wiedervereinigung“ der beiden Flügel, obwohl sich hier zwei entgegensetzte Richtungen gegenüberstanden. 

Selbst als im Januar 1912 auf der 7. Konferenz der SDAPR die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki in Prag vollzogen worden war, drängten die SPD und vor allem die Kräfte um Rosa Luxemburg immer noch auf die Wiedervereinigung der beiden Flügel.[85] Sie richteten sich damit ausdrücklich gegen die Position Lenins. Auch brachte der Vorwärts im März 1912 einen Artikel, in dem die Bolschewiki als Usurpatoren und Spalter bezeichnet wurden. Die SPD lehnte es ab, Lenins Antwort zu veröffentlichen. Daraufhin schrieb Lenin eigens eine Broschüre in deutscher Sprache.[86]   

Die Divergenzen zwischen „Linken“ aus Polen und SDAPR zur nationalen Frage – ein erschwerender Faktor

Seit dem Ende der 1890er Jahre war eine Divergenz in der II. Internationale um die Nationalitätenfrage aufgekommen, die von besonderer Bedeutung war für das Verhältnis zwischen den aus Polen und Litauen stammenden bzw. dort wirkenden Revolutionären und der SDAPR, insbesondere den Bolschewiki. Die Gruppe um Rosa Luxemburg hatte als erste angefangen, die Möglichkeit nationaler Autonomie Polens zu verwerfen.[87] Die nachfolgenden Jahre waren durch das Fortbestehen dieser Divergenzen, insbesondere zwischen Lenin und Luxemburg bestimmt.[88] Auch wenn diese Divergenzen die Bolschewiki und den Flügel um Rosa Luxemburg nie bei der Verteidigung des Internationalismus behinderten, belasteten sie trotzdem das Verhältnis zwischen beiden Seiten. Auf dem 2. Parteitag der SDAPR 1903 sollte diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden. Aufgrund der Debatte um die Statuten und die Frage des Zirkelgeistes wurde diese Auseinandersetzung aber auf dem 2. Parteitag nicht ausgetragen. 

Rückblickend ist Bedeutung dieser Divergenz für das Verhältnis zwischen den Bolschewiki und dem Flügel um Luxemburg/Jogiches schwer einzuschätzen – jedenfalls trug sie dazu bei, dass die Genossen in der SPD, die aus Polen stammten, gegenüber den Bolschewiki auf Distanz blieben.[89]

Das Gewicht der Divergenzen im Umgang mit „Verhaltensfragen“ und Konflikten in der Organisation

Das Verhältnis zwischen den linken Kräften aus Polen und den Bolschewiki wurde zudem noch durch einen weiteren Faktor belastet: Karl Radek wurde ab 1904 in der polnischen SDKPL ein Fehlverhalten vorgeworfen; auch in den nachfolgenden Jahren hielt man ihm weitere kleinere Fehlverhalten vor. Nach der ersten Untersuchung des Falles – es ging um den Diebstahl eines Mantels von einem Genossen – wurde er Jahre nach dem Delikt von der polnischen Partei ausgeschlossen. Da Radek mittlerweile in Deutschland wohnte und in der SPD tätig war, strengte der SPD-Vorstand u.a. auf Drängen von Luxemburg/Jogiches ein Parteiausschlussverfahren aus der SPD an, dem sich wiederum Genossen aus Bremen widersetzten. Zu ihnen gehörten Frölich, Knief, Pannekoek, d.h. Mitglieder des linken SPD-Flügels in der Hansestadt. Sie setzten eine Untersuchungskommission ein, die Radek im Gegensatz zum Parteitag der SPD „freisprach“. 1913 hatte ebenso die Russische Partei Radeks Fall untersucht und ihn „freigesprochen“. So wurde Radek von der russischen Partei und der Bremer Sektion (oder Teilen davon) als rehabilitiert angesehen, von der SPD-Führung und dem Zentralkomitee der polnischen Partei jedoch ausgeschlossen.[90] Weil es kein gemeinsames Vorgehen innerhalb der verschiedenen Parteien der II. Internationale gab, man nicht wusste, wie man bei konträren Schlussfolgerungen von Untersuchungskommissionen in solchen Fragen verfahren sollte, wurde das Verhältnis vor allem zwischen Luxemburgs Gruppe, den Bremer Linken und den Bolschewiki zusätzlich erschwert.

Transmission, Kampfgeist…

Wie zuvor schon erwähnt, waren im Werdegang der Sozialdemokratie mehrere Lücken in der Weitergabe der Erfahrungen und des Kampfgeistes entstanden:

- z.B. wurde nicht angeknüpft an die Lehren aus dem Haager Kongress (1872);

- die Generation von Militanten, die die Organisation zur Zeit des Sozialistengesetzes aufrechterhalten hatte, vermochte nicht diesen Kampfgeist an die Nachfolgegeneration weiterzugeben, die durch das Gift des Parlamentarismus und der Demokratie „gelähmt“ wurde;

- die Lehren aus dem Kampf der Bolschewiki 1903 wurden weder verstanden noch weitergegeben.

Wie oben erwähnt – als der Revisionismus und Opportunismus jeglicher Couleur immer mehr Einfluss gewann – konnten sich die jungen Kräfte um Rosa Luxemburg (die zu Beginn der Konfrontation mit Bernstein 1899 selbst gerade mal 30 Jahre war) nur auf ganz wenige stützen. Meist „versagten“ die Alten, deren Kampfgeist bei vielen schon gebrochen war.

Trotz ihrer nahezu 40 Jahre langen Existenz gab es in der SPD keinen nennenswerten Grundsatztext zur Organisationsfrage. Stattdessen hatte man sich mitreißen und aufsaugen lassen durch die Wirkungsmöglichkeit als Massenpartei. Die Erfahrungen im Kampf zur Verteidigung der Organisation wurden nie aufgearbeitet. Zwar mangelte es nicht an Texten zur Geschichte der Organisation, und schon 1890 war der Vorschlag zur Erarbeitung einer Geschichte der Partei gemacht worden.[91] Aber Mehrings 1897 veröffentlichtes Buch über die Geschichte der Sozialdemokratie oder dessen Biographie über Marx oder Bebels „Mein Leben“ lieferten auffallend wenige klare Aussagen zu den Hauptlehren des Kampfes um die Organisation. Im Gegensatz dazu trat Lenin in seinem Text Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück schon sehr früh und schnell für die Hauptlehren aus dem Kampf in der Partei ein. Wie oben erwähnt blieb dieser Text abgesehen von den Kritiken von Rosa Luxemburg nahezu ohne Echo.

Paul Frölich, der Anfang der 1900er Jahre politisiert worden und in die Partei als Jugendlicher eingetreten war, schrieb dazu: „Mir will es fast erscheinen, als sei zwischen den aktiven Parteiarbeitern, die während des Ausnahmegesetzes und kurz nach seiner Aufhebung begonnen hatten, eine Rolle zu spielen, und unserer Generation eine Lücke gewesen. (…) Wir empfanden uns auch als neue Genration, die mit etwas vorlautem Hochmut auf die Älteren herabschaute.“[92]

Erst 1904 wurde auf dem Parteitag in Bremen ein Antrag auf Bildung proletarischer Jugendorganisationen gestellt.[93] Diese wurde jedoch mangels Unterstützung auf dem Parteitag verworfen. Genossen aus Stuttgart schlugen demselben Parteitag in Bremen vor, die Schulungsarbeit in der Partei zu verbessern und proletarische Jugendorganisationen zu gründen.[94] Durch die Verstärkung von Schulungsarbeit und die Schaffung von Jugendorganisationen lässt sich das Problem allein nicht lösen. Tatsächlich müssen nicht nur bei der Lektüre und Diskussionen von Texten, sondern auch in der Alltagsarbeit der Organisation und vor allem bei der Auseinandersetzung um die Prinzipien die „Alten“ den Jungen ihre Erfahrung und Haltung weitergeben.

Weil aber die Wichtigkeit der Organisationsfrage als solche unterschätzt wurde und auch in der Zeitschrift Neue Zeit zwar eine Vielzahl von Themen behandelt wurde, aber die Aufarbeitung der Grundsatzfragen und der Organisationserfahrungen vernachlässigt wurden, fehlte es auch an ausreichenden Quellen zur Organisationsfrage.[95]

Dabei sollte die Gründung der Parteischule der Bildung der (führenden) Genossen dienen.[96] In ihr standen zwar viele Themen zur Geschichte auf dem Programm, aber die Aufarbeitung der Organisationskämpfe fehlte im Curriculum.

Insgesamt wurden also die Organisationserfahrungen aus der Zeit zwischen den 1870ern und 1914 in der SPD nirgendwo schriftlich tiefergehend festgehalten, und ebenso sehr mangelte es an der Fähigkeit der Generation, deren Kampfgeist noch ungebrochen war, diese Erfahrungen weiter zu vermitteln.[97]

Dino (Juni 2022)

 

[1] Deutschland überholte Großbritannien und wurde Zweites hinter den US.

[2] Geschichte der Zweiten Internationale, S. 277, Moskau 1982

[3] Rosa Luxemburg, 14. Oktober 1899, Gesammelte Werke, Bd. 1/1 S. 572,   

[4] Bebel in Brief an Kautsky, 9.9.1903, zit. nach Fricke (Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869-1917, Illegale Organisation der Sozial Demokratie, Berlin, Dietz Verlag 1887), S. 249, IISG, NL Kautsky, D III 87.

[5] Brief Wilhelm Liebknechts vom 10.08.1899 an den Jahreskongress der französischen Arbeiterpartei (Le Parti ouvrier français) über den Eintritt A.E. Millerands in die bürgerliche Regierung und die Einheit der Partei, in Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band IV, S. 31

[6] Bernstein, „Parteidisziplin und Überzeugungstreue“, Sozialistische Monatshefte, 1901, H.11, S. 848 f., siehe auch Fricke, S. 247.

[7] Rosa Luxemburg, „Gefährliche Neuerungen“, Leipziger Volkszeitung, 9.5.1911, Bd. 2, S. 508.

[8] Rosa Luxemburg, „Parteidisziplin“, 4.12.1914,  Bd. 4, S. 16

[9] Fricke, ebenda, S. 247

[10] Parteitag der SPD in Hannover 1899, Ges. Werke 1/1, S. 574

[11] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Mainz vom 17. bis 21. September 1900, Berlin, 1900, S. 135), aus „Die Geschichte der Zweiten Internationale“, S. 788.

[12] Jena Protokoll, 1905, S. 117/158

[13] § 1 Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei dauernd durch Geldmittel unterstützt (Mainz, Statuten, 1900); d.h. Mitglieder der SPD mussten nicht ständig aktiv sein, sondern hatten nur die Prinzipien anzuerkennen (nicht das Programm im Detail). Schließlich war von aktiver Mitarbeit bei den Statuten von 1909 (verabschiedet auf dem Leipziger Parteitag)  kein Wort zu lesen. „§ 1: Zur Partei gehört jede Person, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und Mitglied der Parteiorganisation ist.“          

[14]Bis jetzt waren wir in der Partei der Auffassung, dass uns alle Arten öffentlicher Wahlen dazu dienen, für die Sozialdemokratie und ihr Programm, ihre Auffassungen, ihre Ziele die Volksmassen zu gewinnen. Nichts Ähnliches in dem Wahlkampf für den Stuttgarter Oberbürgermeister (…). Hier war es die Person des Kandidaten, für die allein gekämpft wurde. Seine Vorzüge, seine Verdienste, seine Absichten, sein Programm (...)Von dem Gesamtprogramm der Sozialdemokratie, von den politischen Klassenbestrebungen des Proletariats war keine Rede (…) Derartige Wahlen hat man in der deutschen Sozialdemokratie noch nicht gesehen. Bis jetzt war für uns die Sache, die Partei alles, die Person nichts. Hier war die Partei nichts und die Person alles.“ (Rosa Luxemburg, „Der Disziplinbruch als Methode“, 15.5.1911, Leipziger Volkszeitung, in Ges. Werke, Bd. 2, S. 512).

[15] Schon im Juli 1910 hatte die SPD-Landtagsfraktion von Baden dem Budget zugestimmt und sich damit über den Beschluss des Nürnberger Parteitags von 1908 hinweggesetzt, nach dem die Budgets der Regierungen grundsätzlich abzulehnen waren. Die radikaleren Kräfte wollten gegen diesen Disziplinbruch auf dem  Magdeburger Parteitag auftreten (1910), „dem revisionistischen Block einen radikalen Block entgegensetzen“ (Wohlgemuth, S. 38). Eine Dokumentation zu deren Vorgehen liegt uns nicht vor. Es ist nicht bekannt, ob und wie Pannekoek und Luxemburg, die beide auf dem Parteitag anwesend waren, an einem Strang gezogen haben.

[16] Bernstein sprach von  „Staatswerdung der Partei (…) [welche wiederum neue Maßstäbe)  für den Umfang und die Grenzen ihrer Hoheitsansprüche der Mitglieder gegenüber“ erforderlich machte, m.a.W. die Mitglieder hätten sich einer in den Staat integrierten Partei zu unterwerfen. (Fricke, S. 288, Bernstein, Parteidisziplin, Sozialistische Monatshefte, 1910, H  19/20, S. 1218).

[17] Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2/2, S. 379-384.

[18] Fricke 246.

[19] „Leitfaden für die Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei des Agitationsbezirks obere Rheinprovinz“, Köln, Oktober 1913, S. 5, in Fricke S. 283. Man kann vermuten, dass Leute wie Friedrich Ebert, Führer und späterer Regierungschef, diesen Kriterien entsprachen.

[20] Heine an Haenisch, 9.2.1915, Zsta Potsdam NL Haenisch, Nr. 134, BI.39 und 44, Fricke, S. 289.

[21] Fricke, S. 239. 

[22] „Resolution gegen den Revisionismus“, Dresdner Parteitag, Sept. 1903.

[23] Mehring, 1846 geboren, war erst spät für die SPD gewonnen worden. Er hatte in den 1870er selbst gegen die SAPD „gefochten“. Nachdem er von sozialdemokratischen Positionen überzeugt worden war, hatte er in der Tat keine ausreichend deutliche Abrechnung mit seinen eigenen früheren Positionen veröffentlicht.  Siehe dazu auch P. Frölich, Im radikalen Lager, S. 36

[24]Bebel erklärte auf den Kongressen seiner Partei öffentlich, daß er keinen Menschen kenne, der sich so sehr durch seine Umgebung beeinflussen lasse wie Genosse Bernstein (nicht Herr Bernstein, wie sich früher Genosse Plechanow auszudrücken pflegte, sondern Genosse Bernstein): Wir werden ihn in unseren Kreis aufnehmen, wir werden ihn zum Reichstagsabgeordneten machen, wir werden gegen den Revisionismus kämpfen, ohne mit unangebrachter Schärfe (à la Sobakewitsch-Parvus) gegen den Revisionisten zu kämpfen - wir werden diesen Revisionisten ‚durch Milde töten‘ (kill with kindness), wie diese Methode, wenn ich nicht irre, Gen. Max Beer in einer englischen sozialdemokratischen Versammlung kennzeichnete, als er die deutsche Nachgiebigkeit, Friedfertigkeit, Milde, Elastizität und Umsicht gegen die Angriffe Hyndmans, des englischen Sobakewitsch, verteidigte. Ganz genauso wollte auch Gen. Plechanow den kleinen Anarchismus und den kleinen Opportunismus der Genossen Axelrod und Martow ‚durch Milde töten‘." (Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Kleine Unannehmlichkeiten dürfen ein großes Vergnügen nicht stören, Band 7, S. 373)

[25] Victor Adler an Kurt Eisner, 6.9.1903, IML, ZPA, NL 60/59, Fricke, S. 251.

[26] Fricke, S. 251

[27] Kautsky, Rede auf dem Parteitag der SPD in Lübeck, September 1901, Dokumente IV, S. 80

[28] Bebel 8.10.1912, in Fricke S. 294

[30]Der Zentrismus ist eine Spielart des Opportunismus, eine Erscheinungsform, die dazu neigt, sich zwischen offenem Opportunismus und revolutionären Positionen zu positionieren und zu schwanken. Lenin bezeichnete den Zentrismus als 'inkonsequent, unentschlossen, getarnt, zögerlich, heuchlerisch, geschwätziger Opportunismus, schwankend". Für ein tieferes Verständnis siehe den Artikel der IKS: https://en.internationalism.org/content/3146/discussion-opportunism-and-centrism-working-class-and-its-organizations.

[31] Kautsky an Sorge, 2. 2.1900, IISG, NL Kautsky, C 691, Fricke, S. 293.

[32] Kautsky, Der Weg zur Macht, 1909

[33] Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, S. 17F, Fricke, S. 292.

[34] Lenin, Brief an Schlapnikow, 27.10.1914, Werke Bd. 35, S. 142 f.

[35] Rosa Luxemburg, „Die Theorie und Praxis“, Ges. Werke, Bd. 2, S. 404, Die Neue Zeit, 1909/1919, S. 564. Vgl. auch unsere Artikelserie zu 1905 in Internationale Revue Nr. 35-38, https://de.internationalism.org/content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i); Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften; Trotzki 1905.

[36] Rosa Luxemburg, „Zum kommenden Parteitag“,  Jena, 1911, 29.6.1911, Ges. Werke, Bd. 2, S. 555

[37] Fricke, S. 308

[38] Rosa Luxemburg, „Taktische Fragen“, 1913, Bd. 3, S.,  253.

[39] R. Luxemburg, „Geknickte Hoffnungen“, 1903, Bd. 1 / 2, S. 399 ff. 

[40] „Zehn Jahre Revisionismus“, Julian Marchlewski (Karski), Leipziger Volkszeitung vom 1.09.1908, in Dokumente und Materialien, Bd. IV, S. 242

[41] Brief von Hermann Duncker an seine Frau, 14.09.1910 IML, ZPA, NL 45/125, in Fricke, S. 287

[42] Engels an W. Liebknecht 24.11.1894, MEW 39, S. 330, siehe auch Fricke S. 288

[43] IISG 183/12-17, Fricke, S. 250.

[44] Wolfgang Heine, „Sonderkonferenz“, Sozialistische Monatshefte, 1912, H. 18/20, S. 1 142 ff.; in Fricke, S. 289,

[45] R. Luxemburg, „Geknickte Hoffnungen“, 1903, Bd. 1/2, S. 399 ff.

[46] Fricke, S. 289.

[47] Alexandra Kollontai schreibt in ihrem Buch Ich habe viele Leben gelebt: 1912 war „in Russland […] mein Buch „Durch das Europa der Arbeiter“ erschienen. Darin hatte ich die Neigung des Parteiapparates der deutschen Sozialdemokratie zum Opportunismus und auf seine zunehmende Bürokratisierung hingewiesen. Verschiedentlich hatte ich das „Generalsgehabe“, die Blasiertheit und die Arroganz führender Leute verspottet und dem bürokratischen Dünkel und Konservatismus der Parteiführung das gesunde Klassenempfinden der einfachen Parteimitglieder gegenübergestellt. (…) Die Parteiführung war aufgebracht.“ (S. 157) Kollontai berichtet weiter, Karl Liebknecht habe eine Rezension über ihr Buch geschrieben. Als Reaktion darauf schrieb ein anonymer Schreiberling: „Aus welchem Grund behält die deutsche  Polizei eigentlich eine russische politische Emigranten in Berlin? Da stimmt doch was nicht!“ (Kollontai, S. 159).

[49] Siehe insbesondere: 1903-4: the birth of Bolshevism, in International Review Nr. 116 (engl./frz./span. Ausgabe)   

[50] 1920: The Programme of the KAPD, in International Review Nr. 97 (engl./frz./span. Ausgabe)

[51] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Werke, Bd. 7, S. 403 f.; Die Geschichte der Zweiten Internationale, S. 789; siehe auch Neue Zeit, Jahrgang 22, 1903-1904, Bd. 2, Nr. 28, S. 37.

[52] Dieser war in Brüssel begonnen worden, musste dann aber wegen polizeilicher Repressionsgefahr nach London verlegt werden.

[53] Ges. Werke, Bd. 1/2, S. 422 (Neue Zeit, 1903/1904, I, S. 484-492, II, S. 529-535)

[54] Lenin Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Antwort an R. Luxemburg, 1904, Bd. 7, S. 480-491

[55] Kautsky gründete 1882 die Neue Zeit und war deren Herausgeber bis 1917. Reisberg, S. 62

[56] Geschichte der II. Internationale, S. 790

[57]Wenn Deutsche [Sozialdemokraten] schreiben, umgehen sie gewöhnlich die Frage der Meinungsverschiedenheiten. Wenn in den deutschen sozialdemokratischen Presseorganen Russen schreiben, so beobachten wir entweder eine Vereinigung sämtlicher Auslandsgrüppchen mit den Liquidatoren zu unflätigstem Geschimpfe auf die „Leninisten“ (wie es im Frühjahr 1912 im „Vorwärts“ geschah) oder das Geschreibsel eines Tyszkianers, Trotzkisten oder anderen Mitglieds eines Auslandszirkels, der die Frage bewusst verdunkelt. Jahrelang kein einziges Dokument, keine einzige Zusammenfassung von Resolutionen, keine einzige Analyse der Ideen, kein einziger Versuch, Tatsachenmaterial zusammenzuführen. Wir bedauern die deutschen Parteiführer, dass sie (…) sich nicht schämen, die Märchen der liquidatorischen Informatoren anzuhören und zu wiederholen“ (Lenin, Ges. Werke, Bd. 19, „Eine gute Resolution und eine schlechte Rede“, Proletarskaja Prawda Nr. 6, 13. Dez. 1913).

[58] Die Geschichte der II. Internationale, Bd. 2, S. 791

[59] Die SP Frankreichs (Guesdisten) beschränkte sich auf den Hinweis, „die Partei besteht aus politischen Gruppen, deren Mitglieder Mitgliedskarten haben und zugunsten der zentralen Parteiorganisation einen monatlichen Beitrag entrichten“. Die Französische Sozialistische Partei (Jaurès) die SP Österreichs und die Belgische Arbeiterpartei verzichteten überhaupt darauf, die Mitgliedschaft genauer zu definieren. Die Statuten der Parteien der II. Internationale enthielten kein Wort über den bindenden Charakter der Beschlüsse der Zentralorgane für die lokalen Parteiorganisationen (Geschichte der II. Internationale, S. 699).

[60] 1903-1904: the birth of Bolshevism, Lenin and Luxemburg, in International Review Nr. 118 (engl./frz./span. Ausgabe)

[61] Luxemburg, Organisationsfragen der russisschen Sozialdemokratie, Ges. Werke, Bd. 1/2, S. 422, 424

[62] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Antwort an R. Luxemburg, Lenin, Bd. 7, 1904

[63] Ebenda, S. 365.

[64] Rosa Luxemburg, Taktische Fragen,  Bd. 3, S. 253.

[65] Jenaer Parteitag 1911, S. 161, 319

[66]Unser Organisationsapparat wie unsre Parteitaktik ist seit 20 Jahren, seit dem Fall des Sozialistengesetzes, im Grunde genommen auf die eine Hauptaufgabe zugeschnitten gewesen: auf Parlamentswahlen und parlamentarischen Kampf. Darin haben wir das Äußerste geleistet, und darin sind wir groß geworden. Aber die neue Zeit des Imperialismus stellt uns immer mehr vor neue Aufgaben, denen mit dem Parlamentarismus allein, mit dem alten Apparat und der alten Routine nicht beizukommen ist. Unsre Partei muss lernen, Massenaktionen in entsprechenden Situationen in Fluss zu bringen und sie zu leiten.

(…) Das Proletariat kann seine Kräfte nicht sammeln und seine Macht für den endgültigen Sieg nicht anders steigern, als indem es sich im Kampfe erprobt, mitten durch Niederlagen und alle Wechselfälle, die ein Kampf mit sich bringt. Ein ausgefochtener großer Kampf, ganz gleich ob er mit Sieg oder Niederlage endet, leistet in kurzer Zeit an Klassenaufklärung und geschichtlicher Erfahrung mehr als Tausende von Propagandaschriften und Versammlungen in windstiller Zeit.“ (Rosa Luxemburg, „Taktische Fragen“, Juni 1913, Leipziger Volkszeitung, Bd. 3, S. 256)

[67] Internationalisme, Gauche Communiste de France, n°4, 1946, S. 73.

[68] Auf dem Gewerkschafskongress in Köln 1905 wurde die Diskussion über den Massenstreik als „verwerflich“ betrachtet und verworfen. 

[69] Claudie Weill, Marxistes russes et social-démocratie allemande 1898-1904, Paris, 1977

[70] Der Weg zum 1. Weltkrieg wurde von Rosa Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre am besten nachgezeichnet.

[71] „La fraction dans les partis socialistes de la Seconde Internationale“, Bilan Oct.-Nov. 1935, n° 24, p. 814).

[72] Frölich berichtete in seiner Autobiographie auch von oppositionellen Kräften in verschiedenen deutschen Städten, bei denen sich oft die jüngere Generation durch große Altersunterschiede von älteren, oft reformistischen und revisionistischen Kräften abgrenzte.

[73] Reisberg, Lenins Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 1970, S. 125

[74] P. Frölich, Im radikalen Lager, S. 54

[75] Langsam verlor die Partei die Gewohnheit illegaler Arbeit, obwohl 1908 noch repressive Maßnahmen gegen sie ergriffen worden waren. „1908 wurde in Deutschland ein Gesetz über Gewerkschaften und Versammlungen erlassen, das das Recht auf Abhaltung von Versammlungen in anderen Sprachen als Deutsch einschränkte, der Polizei freie Hand bei der Unterdrückung sozialdemokratischer Propaganda ließ und Personen unter 18 Jahren den Beitritt zu politischen Gewerkschaften und die Teilnahme an politischen Versammlungen untersagte. Auch wurden Sozialdemokraten von bestimmten Arbeitsplätzen, z. B. bei der Eisenbahn, ausgeschlossen.“ (The International Working Class Movement, Vol. 3, p. 317)

[76] Man muss hinzufügen, dass zwar der Flügel um Rosa Luxemburg in der Illegalität und im Exil „groß“ geworden war, aber sie selbst hatte keine Erfahrung mit einer Fraktionsarbeit gesammelt, da der Bruch zwischen der SDKP und PSP relativ schnell vollzogen wurde.

[77] Leute wie Bebel, hoch angesehener und integer gebliebener Führer der SPD, kritisierten zwar den Revisionismus, drangen aber nicht wirklich zur Wurzel vor. Oder Leute wie Mehring lieferten zwar wertvolle Texte, erwiesen sich aber nicht als ausreichend entschlossene Kämpfer.

[78] Es gibt viele Berichte von ihr und aus der Presse, die von Tausenden von begeisterten Versammlungsteilnehmern bei ihren Reden berichten, auf denen sie oft über eine Stunde sprach.

[79]So hatte Rosa Luxemburg schnell ausreichend Spielraum, aber sie hatte nie die Möglichkeit, die Erfahrung eines Fraktionskampfes zu erleben, um eine Partei zu verteidigen, die vom Entartungsprozess bedroht ist. Deshalb hat sie es nie geschafft, eine Fraktionsarbeit zu betreiben, und damit hat sie auch nie wirklich die Auffassung einer Fraktionsarbeit verstanden. Diese Schwäche wurde teuer während des heldenhaften Kampfes der Spartakisten gegen die Entartung der deutschen SPD bezahlt, und sie war zum Teil mit ein Grund für die fatale Verspätung bei der Bildung einer neuen kommunistischen Partei in Deutschland im Jahre 1918.“ (DAS VERHÄLTNIS FRAKTION - PARTEI IN DER MARXISTISCHEN TRADITION, VON MARX BIS LENIN, 1848-1917, I. Von Marx bis zur II. Internationale, IKS online April 2006.

[80] Lenin, Der Jenaer Parteitag der SPD, September 1905, Werke, Bd. 9, S. 285; Reisberg, S. 60

[81] Aus der Reichstagswahl 1912 ging sie mit 34,8 % Wählerstimmen bzw. 110 Reichstagsmandaten als klare Wahlsiegerin hervor.

[82] Wie groß das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der SPD oder genauer gesagt in gewisse Kräfte der SPD war, bezeugt die Tatsache, dass die SDAPR nach 1905 der SPD treuhänderisch eine große Summe Gelder anvertraute. Das blockierte auch wieder eine Annäherung. Siehe Dietrich Geyer, Kautskys Russisches Dossier, Deutsche Sozialdemokraten als Treuhänder des russischen Parteivermögens, 1910-1915, Frankfurt/New York, 1981.

[83] Pannekoek, der jahrelang in Deutschland lebte, zog jedenfalls in Organisationsfragen mit Rosa Luxemburg nicht an einem Strang.

[84] Lenin, Werke, Bd. 7, S. 600

[85] Reisberg (S.130)

[86] In dieser Broschüre (Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands – Lenin, Juli 1912, Werke, Bd. 18, S. 191-209), von der 600 Exemplare von Frankreich aus nach Deutschland gebracht wurden, betonte Lenin, die  Bolschewiki seien die legale Parlamentsfraktion; es gebe allerlei legale Arbeitervereinigungen, aber die illegale Parteiorganisation sei die Basis. Deutschland war übrigens ein zentraler „Umschlagplatz“ für den Transport von illegaler Literatur nach Russland, die oft aus der Schweiz und aus Großbritannien via Deutschland an die Genossen in Russland weiter geschmuggelt wurden.

[87] Siehe Rosa Luxemburgs „Die industrielle Entwicklung Polens“, Inaugural-Dissertation zu Polen – Ges. Werke, Bd. 1, S. 113.

[88] Selbst während des 1. Weltkriegs ging die Auseinandersetzung nach der Veröffentlichung der Junius-Broschüre durch Luxemburg und die Polemik Lenins mit ihr weiter; und auch nach Ausbruch der Revolution verstummte die Kritik Rosa Luxemburgs an der Haltung der Bolschewiki nicht. 

[89] Eine zusätzliche Belastung zwischen dem Flügel um Rosa Luxemburg und den Bolschewiki entstand 1913 zu einem Zeitpunkt, als das ISB und die SPD eine Wiedervereinigung der SDAPR einfädeln wollten.  

[90] Literaturhinweise: u.a. Karl-Ernst Moring, Die Sozialdemokratische Partei in Bremen, 1890-1914, Reformismus und Radikalismus in der Sozialdemokratischen Partei Bremens, Hannover, 1968, veröffentlicht von der Friedrich-Ebert-Stiftung; Lenin, Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie, 12. Januar 1912, Werke Band 18 S. 472; derselbe: Auch Vereiniger, 15. November 1913, Band 19 S. 493; derselbe: An das Sekretariat des ISB, 21. November 1912, Band 19 S. 266)

[91] Antrag von Sozialdemokraten aus Dresden zur Ausarbeitung einer Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Eine umfassende Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung soll verfasst werden. Begründung: “Dieses Interesse wird vollkommen nur dann gewahrt werden, wenn die geforderte Untersuchung nicht auf eine Glorifizierung unserer Partei hinausläuft, sondern mit der Strenge und Unparteilichkeit wissenschaftlicher Methode Licht und Schatten gleichmäßig gerecht verteilt. Wir verlangen darum eine wissenschaftliche Arbeit, die dabei in einer schönen, allgemein verständlichen Sprache geschrieben sein soll.“ (Dokumente, Bd. III, S. 348, Parteitag Halle, 1890)

[92] P. Frölich, Im radikalen Lager, S. 43

[93] „Der Parteivorstand wird beauftragt, sozialistische Jugendvereine zu gründen.“ (Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung, IV, S. 120)

[94]Der Parteitag möge beschließen, dass der Parteitag 1905 sich mit der Frage zu beschäftigen hat, wie es zu ermöglichen sei, dass mit der zunehmenden Zahl der Parteianhänger auch die Ausbildung und Schulung derselben gleichen Schritt hält, was um so notwendiger ist, als die gegenwärtigen Zustände  einer Verflachung entgegenführen. Es wäre zu prüfen, ob eine Lösung dieser Frage wohl in Verbindung mit der Schaffung möglichst umfassender Jugendorganisationen geschaffen werden kann.“ (Dokumente, IV, S. 120). Auch dieser Antrag wurde verworfen, jedoch 1905, ein Jahr später, angenommen.

[95] In den Publikationen der Bolschewiki findet man in der Zeit zwischen 1903-1912 dagegen ständig Artikel zur Organisationsfrage.

[96]Die Arbeit der Organisation absorbierte die ganze Energie - für das Studium blieb keine Zeit. Denn die unerbittlichen Anforderungen der praktischen Arbeit müssen die Leidenschaft für das Wissen schwächen. Die kleinen Industrien schrien nach neuen Kräften, die aggressiveren Arbeiter verlangten das volle Maß; und jeder junge Mann, der etwas Eifer und Fähigkeit zeigte, wurde sofort an die Arbeit gesetzt und fand fortan keine Zeit mehr für theoretische Studien. Außerdem hörten die bürgerlichen Parteien auf, mit Theorien, Prinzipien und Argumenten zu kämpfen. An ihre Stelle traten Beschimpfungen, persönliche Angriffe und die Verdrehung von Tatsachen. Um gegen die Bourgeoisie Krieg zu führen, war also nicht theoretisches Wissen notwendig, sondern vielmehr polemische Gewandtheit und Kenntnis der Tatsachen; am wenigsten wurde das Bedürfnis nach grundlegendem Wissen in einem solchen Kampf empfunden.“ Anton Pannekoek, The Social Democratic Party School in Berlin, 1907, Source: The International Socialist Review, New York, Vol. VIII, No. 6 (December 1907), pp. 820-824.

[97] Z.B. kann man bei Bebel viel aus der Zeit des Sozialistengesetzes und davor lesen, aber für die Zeit danach gibt es kaum weiterreichende Ausführungen.

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Organisationsfrage