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1917: Die Russische Revolution Der Oktoberaufstand - ein Sieg der Arbeitermassen
Das laufende Jahr erinnert uns daran, daß die Geschichte nicht eine Angelegenheit der Universitätsprofessoren ist, sondern eine Frage der gesellschaftlichen Klassen, eine politische Frage, die für das Proletariat lebenswichtig ist. Das Hauptziel, das sich die Bourgeoisie 1997 gesetzt hat, ist, der Arbeiterklasse die verfälschte bürgerliche Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufzuzwingen. Zu diesem Zweck richtet die Bourgeoisie ihre Scheinwerfer auf den Holocaust des 2. Weltkrieges und auf die Oktoberrevolution, um zu versuchen, die beiden Ereignisse miteinander zu verbinden. Diese beiden Momente, die für die beiden antagonistischen Kräfte stehen, deren Konflikt zu einem Großteil die Entwicklung dieses Jahrhunderts bestimmt hat, die Barbarei des dekadenten Kapitalismus und der fortschrittliche revolutionäre Kampf des Proletariates, werden in der bürgerlichen Propaganda dargestellt als die gemeinsame Frucht “totalitärer Ideologien” und werden “gemeinsam verantwortlich” gemacht für den Krieg, den Militarismus und den Terror der vergangenen 80 Jahre. In diesem Sommer war es die Nazigoldaffäre, die einerseits auf die gegenwärtigen Rivalen der USA und auf diejenigen abzielt, die ihre Autorität in Frage stellen (wie die Schweiz), und andererseits auf ideologischer Ebene dem Weltproletariat gilt (militaristische Propaganda, bürgerlich-demokratischer Antifaschismus), im Herbst nun schlachtet die Bourgeoisie den 80. Jahrestag der Russischen Revolution aus, um die folgende Botschaft zu vermitteln: So wie der Nationalsozialismus nach Auschwitz geführt hat, führt der Sozialismus von Marx, der die Arbeiterrevolution von 1917 inspiriert hat, ebenso unvermeidlich zum Gulag, zum gewaltigen Terror unter Stalin und zum Kalten Krieg nach 1945.
Mit diesem Angriff gegen die Oktoberrevolution zielen unsere Ausbeuter darauf ab, den gegenwärtigen Rückfluß des proletarischen Bewußtseins zu verstärken, den sie nach 1989 durch den intensiven Gebrauch der gewaltigen Lüge ausgelöst haben, wonach der Sturz der stalinistischen konterrevolutionären Regime gleichzusetzen sei mit dem “Ende des Marxismus” und dem “Bankrott des Kommunismus”. Aber heute will die Bourgeoisie noch einen Schritt weiter gehen bei der Verunglimpfung der proletarischen Revolution und der marxistischen Avantgarde, indem sie nicht nur mit dem Stalinismus, sondern auch mit dem Faschismus gleichgesetzt werden. So hat Anfang 1997 in einem so zentralen Land wie Frankreich zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert eine Medienkampagne begonnen, direkt die internationalistische kommunistische Linke anzugreifen. Sie hat versucht, dieser zu unterstellen, daß sie mit dem Faschismus kollaboriert habe; zu diesem Zweck entstellte sie die internationalistische Position, die während dem 2. Weltkrieg gegen jedes imperialistische Lager Stellung bezogen hatte. Da die Bourgeoisie heute mit dem Bankrott des Kapitalismus des verfaulenden Systems konfrontiert ist, will sie das Programm selber, das geschichtliche Gedächtnis und das Bewußtsein des Proletariats auslöschen. Und vor allem will sie die Erinnerung an den proletarischen Oktober, die erste Machtergreifung durch eine ausgebeutete Klasse in der Geschichte der Menschheit, zerstören.
Eine falsche Achtung vor der Februarrevolution, einen wahrhaften Haß auf den Oktober
Wie schon nach dem Fall der Berliner Mauer ist auch die gegenwärtige Kampagne der Bourgeoisie nicht einfach eine pauschale Verurteilung von allem, was die Russische Revolution darstellte. Im Gegenteil, gewisse Historiker im Solde des Kapitals sind voll der heuchlerischen Lobreden über “die Initiativen” und sogar “den revolutionären Elan” der Arbeiter und ihrer Massenkampforgane, der Arbeiterräte. Sie geben sich voll Verständnis für die Verzweiflung der Arbeiter, der Soldaten und der Bauern, die mit den Prüfungen des “Großen Krieges” konfrontiert waren. Vor allem aber stellen sie sich dar als die Verteidiger der “wirklichen Russischen Revolution” gegen die angebliche Zerstörung durch die Bolschewiki. Mit anderen Worten: Die Angriffe der Bourgeoisie gegen die Russische Revolution wird vor allem über den angeblichen Gegensatz zwischen Februar und Oktober 1917 geführt, über den angeblichen Gegensatz zwischen dem Anfang des Kampfes und dem Ende und Ziel der Machtergreifung, das das Wesen jeder großen Revolution ist.
Auf der einen Seite erinnert die Bourgeoisie an den explosiven und spontanen Massencharakter der Kämpfe, die im Februar 1917 ausgebrochen sind, d.h. an die Massenstreiks, die Millionen von Leuten, die die Straße besetzten, die Explosionen von öffentlicher Euphorie bis hin zur Tatsache, daß Lenin selber das Rußland dieser Zeit zum freisten Land auf der Welt erklärte; dem stellt die Bourgeoisie andererseits die Oktoberereignisse entgegen, in denen es wenig Spontaneität gab, die zum voraus geplant gewesen waren, ohne einen Streik, ohne Strassendemonstrationen oder Massenversammlung während des Aufstandes, wo die Macht ergriffen wurde dank der Aktion von einigen Tausend bewaffneten Männern in der Hauptstadt unter dem Kommando eines revolutionären Komitees, das direkt von der bolschewistischen Partei inspiriert war. So erklärt die Bourgeoisie: Ist das nicht genug Beweis dafür, daß der Oktober nichts anderes als ein bolschewistischer Putsch war? Ein Putsch gegen die Mehrheit der Bevölkerung, gegen die Arbeiterklasse, gegen die Geschichte, gegen die menschliche Natur selbst? Und all dies, so erklärt man uns, sei die Folge einer “verrückten marxistischen Utopie”, die nur durch den Terror überleben konnte und direkt zum Stalinismus führen mußte. Nach den Aussagen der herrschenden Klasse wollte das Proletariat 1917 nicht anderes als das, was das Februarregime ihm versprach: eine “parlamentarische Demokratie” mit der Verpflichtung, die “Menschenrechte zu achten”, und eine Regierung, die - auch wenn sie den Krieg fortsetzte - erklärt hatte, “für” einen sofortigen Frieden “ohne Annexionen” zu sein. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie erzählt uns, daß das russische Proletariat sich für die gleich elenden Bedingungen geschlagen hat, die das moderne Proletariat heute erleidet! Wenn das Februarregime nicht im Oktober gestürzt worden wäre, so versichert sie uns, wäre Rußland heute ein ebenso mächtiges und “wohlhabendes” Land wie die Vereinigten Staaten, und die Entwicklung des “Kapitalismus des 20. Jahrhunderts wäre friedlich gewesen”.
Diese heuchlerische Verteidigung des “spontanen” Charakters der Februarereignisse drückt in Tat und Wahrheit den Haß und die Angst aus, die die Oktoberrevolution bei den Ausbeutern aller Länder hervorrufen. Die Spontaneität des Massenstreiks, der Zusammenschluß des gesamten Proletariats auf den Straßen und in den Vollversammlungen, die Bildung der Arbeiterräte im Feuer des Kampfes sind wesentliche Momente des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse. “Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Spontaneität einer Bewegung ein Zeichen dafür ist, daß sie tiefe und feste Wurzeln in der Masse hat und nicht auszumerzen ist”, stellte Lenin fest1. Aber solange die Bourgeoisie die herrschende Klasse bleibt, solange die politischen und repressiven Waffen des kapitalistischen Staates unversehrt bleiben, ist es ihr immer möglich, diejenigen ihres Klassenfeindes zu blockieren, zu neutralisieren und aufzulösen. Die Arbeiterräte, diese mächtigen Werkzeuge des Arbeiterkampfes, die mehr oder weniger spontan auftauchen, sind trotz allem nicht der einzige und auch nicht unbedingt der höchste Ausdruck der proletarischen Revolution. Sie beherrschen die ersten Etappen des revolutionären Prozesses. Die konterrevolutionäre Bourgeoisie preist die Arbeiterräte gerade mit der Absicht, den Beginn der Revolution als ihren Kulminationspunkt, als ihr Ziel darzustellen, weil sie weiß, daß es einfacher ist, eine Revolution zu zerschlagen, die auf halbem Weg stehenbleibt.
Aber die Russische Revolution ist nicht auf halbem Weg stehengeblieben. Da sie bis zum Ziel fortschritt, da sie vollendete, was sie im Februar 1917 begonnen hatte, stellte sie die Bestätigung für die Fähigkeit der Arbeiterklasse dar, geduldig, bewußt, kollektiv, also nicht nur “spontan”, sondern reiflich überlegt, geplant, strategisch die Waffen zu schmieden, die sie braucht zur Eroberung der Macht: ihre marxistische Klassenpartei, ihre Arbeiterräte, zusammengeschweißt durch ein Klassenprogramm und einen wirklichen Willen, die Gesellschaft anzuführen, ebenso wie die spezifischen Werkzeuge und die Strategie des proletarischen Aufstands. Es ist die Einheit von politischem Massenkampf und militärischer Machtergreifung, von Spontaneität und Planung, von Arbeiterräten und Klassenpartei, von der Aktion von Millionen von Arbeitern und derjenigen kühner Minderheiten der Vorhut der Klasse, die das Wesen der proletarischen Revolution ausmachen. Es ist diese Einheit, die die Bourgeoisie heute mit ihren Verleumdungen gegen den Bolschewismus und den Oktoberaufstand zerstören will.
Die Zerstörung des bürgerlichen Staates, der Sturz der Herrschaft der bürgerlichen Klasse, der Anfang der Weltrevolution - dies war die gigantische Verwirklichung des Oktobers 1917, d.h. das wichtigste, das bewußteste und das kühnste Kapitel der Geschichte der Menschheit bis zum heutigen Tag. Der Oktober zerschmetterte Jahrhunderte der durch die Klassengesellschaft produzierten Knechtschaft und bewies, daß mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte ein Klasse existiert, die sowohl ausgebeutet als auch revolutionär ist. Eine Klasse, die fähig ist, die Gesellschaft zu führen, die Klassenherrschaft abzuschaffen, die Menschheit von ihrer “vorgeschichtlichen” Fesselung an blinde gesellschaftliche Kräfte zu befreien. Das ist der eigentliche Grund, weshalb die herrschende Klasse zur Zeit - und heute mehr als je zuvor - kübelweise Lügen und Verunglimpfungen über den Roten Oktober kippt, über das “am meisten gehaßte” Ereignis der modernen Geschichte, das aber gleichzeitig den Stolz der bewußten proletarischen Klasse darstellt. Wir wollen beweisen, daß der Oktoberaufstand, den die Schreiberlinge, die Prostituierten des Kapitals, einen “Putsch” nennen, der Kulminationspunkt nicht nur der Russischen Revolution, sondern des gesamten Kampfes unserer Klasse bis heute gewesen ist. Wie Lenin 1917 schrieb: “Daß die Bourgeoisie uns mit einem solch abgrundtiefen Haß angreift, ist eine der deutlichsten Illustrationen der Wahrheit, das wir den Menschen die richtigen Wege und Mittel zeigen, um die bürgerliche Herrschaft zu stürzen.”2
“Die Krise ist herangereift”
Am 10. Oktober 1917 schlug Lenin, der am meisten verfolgte Mann im Land, der durch die Polizei in allen Ecken Rußlands gesucht wurde und auf der in Petrograd abgehaltenen Versammlung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei verkleidet mit einer Perücke und einer Brille teilnahm, folgende Resolution vor, die er auf eine Seite eines Schulheftes geschrieben hatte: “Das Zentralkomitee stellt fest, daß sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarische Partei - daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) - daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.
Das Zentralkomitee stellt somit fest, daß der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist, und fordert alle Parteiorganisationen auf, sich hiervon leiten zu lassen und von diesem Gesichtspunkt aus alle praktischen Fragen zu behandeln und zu entscheiden (Sowjetkongress des Nordgebiets, Abtransport von Truppen aus Petrograd, die Aktionen der Moskauer und der Minsker usw.).”3
Genau vier Monate zuvor hatte die bolschewistische Partei den kämpferischen Elan der Arbeiter Petrograds bewußt und wohlüberlegt gebremst. Diese waren durch die herrschende Klasse provoziert worden mit der Absicht, eine verfrühte und isolierte Konfrontation mit dem Staat herbeizuführen. Eine solche Situation hätte mit Sicherheit zur Enthauptung des russischen Proletariats in der Hauptstadt und zur Dezimierung seiner Klassenpartei geführt (vgl. “Die Julitage” in der vorliegenden Ausgabe der Internationalen Revue). Die Partei, die inzwischen die internen Hemmungen überwunden hatte, engagierte sich entschlossen, wie Lenin es in seinem berühmten Artikel “Die Krise ist herangereift” geschrieben hatte, dafür, “alle Kräfte zu mobilisieren, um die Arbeiter von der Unvermeidlichkeit des Entscheidungskampfes und der Notwendigkeit zu überzeugen, die Regierung Kerenski zu stürzen”. Am 29. September erklärte er: “Die Krise ist herangereift. (...) Es geht um die Ehre der bolschewistischen Partei. Die ganze Zukunft der internationalen Arbeiterbewegung für den Sozialismus steht auf dem Spiel.”
Die Erklärung für diese neue, im Vergleich zum Juli ganz andere Haltung der Partei ist in der weiter oben zitierten Resolution enthalten, es ist nämlich die Kühnheit und leuchtende Klarheit des Marxismus. Der Ausgangspunkt war wie immer für den Marxismus die Analyse der internationalen Lage, die Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und der Bedürfnisse des Weltproletariats. Die Resolution unterstrich, daß das russischen Proletariat im Unterschied zum Juli 1917 nicht mehr allein war, daß vielmehr die Weltrevolution in den zentralen Ländern des Kapitalismus begonnen hatte. “Das Heranreifen der Weltrevolution ist unbestreitbar. Der Ausbruch der Empörung der tschechischen Arbeiter wurde mit unglaublicher Brutalität niedergeschlagen, was davon zeugt, daß die Regierung äußerst erschreckt ist. Auch in Italien ist es zu einer Massenerhebung in Turin gekommen. Am wichtigsten aber ist der Aufstand in der deutschen Flotte”4 Es ist das Verdienst der russischen Arbeiterklasse, nicht nur die Gelegenheit ergriffen zu haben, die internationale Isolation zu durchbrechen, die bis zu diesem Zeitpunkt durch den Weltkrieg aufgezwungen worden war, sondern darüber hinaus die Flammen des Aufstandes zurück nach Westeuropa getragen zu haben, indem es die Weltrevolution begann.
Gegen die Minderheit in der eigenen Partei, die noch der pseudomarxistischen, konterrevolutionären Argumentation der Menschewiki nachbetete, nach der die Revolution in einem fortgeschritteneren Land beginnen müsse, zeigte Lenin auf, daß die Bedingungen in Deutschland in Tat und Wahrheit viel schwieriger als in Rußland waren und daß die wirkliche Bedeutung des Aufstandes in Rußland darin lag, daß er der revolutionären Erhebung in Deutschland Hilfe leisten würde: ”Die Deutschen haben unter verteufelt schwierigen Verhältnissen, mit nur einem Liebknecht (der dazu noch im Zuchthaus sitzt), ohne Zeitungen, ohne Versammlungsfreiheit, ohne Sowjets, angesichts einer ungeheuren Feindseligkeit aller Bevölkerungsklassen bis zum letzten begüterten Bauern gegen die Idee des Internationalismus, angesichts der ausgezeichneten Organisation der imperialistischen Groß-, Mittel- und Kleinbourgeoisie, die Deutschen, d.h. die deutschen revolutionären Internationalisten, die Arbeiter im Matrosenkittel, haben einen Aufstand in der Flotte begonnen - bei einer Chance von vielleicht eins zu hundert. Wir aber, die wir Dutzende von Zeitungen, die wir Versammlungsfreiheit haben, über die Mehrheit in den Sowjets verfügen, wir, die wir im Vergleich zu den proletarischen Internationalisten in der ganzen Welt die besten Bedingungen haben, wir werden darauf verzichten, die deutschen Revolutionäre zu unterstützen. Wir werden argumentieren wie die Scheidemänner und die Renaudel: Das Vernünftigste ist, keinen Aufstand zu machen, denn wenn man uns niederknallt, so verliert die Welt in uns so prächtige, so vernünftige, so ideale Internationalisten!! Beweisen wir, daß wir vernünftig sind. Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen Aufständischen an und lehnen wir den Aufstand in Rußland ab. Das wird dann ein echter, vernünftiger Internationalismus sein.”5
Der Standpunkt Lenins und die internationalistische Methode, die das genaue Gegenteil der bürgerlich-nationalistischen Sichtweise des Stalinismus war, die sich im Gefolge der anschließenden Konterrevolution entwickelte, war nicht nur bei den Bolschewiki dieser Phase vorhanden, sondern bei allen fortgeschrittenen Arbeitern Rußlands dank der marxistischen politischen Erziehung. So strahlten die Matrosen der baltischen Flotte zu Beginn des Oktobers über die Radiostationen ihrer Schiffe folgenden Appell in alle Ecken der Welt aus: “In den Stunden, da die Wogen der Baltischen See rot gefärbt sind vom Blut unserer Brüder, erheben wir unsere Stimme. Unterdrückte aller Welt hebt das Banner der Revolte!” Doch die Einschätzung des weltweiten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen durch die Bolschewiki beschränkte sich nicht darauf, den Zustand des internationalen Proletariats zu untersuchen, sondern drückte auch eine klare Sichtweise der gesamten Lage der feindlichen Klasse aus. Die Bolschewiki, die ein tiefes Wissen über die Geschichte der Arbeiterbewegung hatten und das Beispiel der Pariser Kommune von 1871 kannten, wußten genau, daß die imperialistische Bourgeoisie sogar mitten im Weltkrieg ihre Kräfte gemeinsam gegen die Revolution einsetzen würde.
“Beweist nicht die völlige Untätigkeit der englischen Flotte im Allgemeinen und auch der englischen Unterseeboote bei der Besetzung Oesels durch die Deutschen, im Zusammenhang mit der Absicht der Regierung, ihren Sitz von Petrograd nach Moskau zu verlegen, daß zwischen den russischen und englischen Imperialisten, zwischen Kerenski und den englisch-französischen Kapitalisten eine Verschwörung zustande gekommen ist mit dem Ziel, Petrograd an die Deutschen auszuliefern und die russische Revolution auf diesem Wege zu erdrosseln?” fragt Lenin und fügt hinzu: ”Die Resolution der Soldatensektion des Petrograder Sowjets gegen die Übersiedlung der Regierung aus Petrograd hat gezeigt, daß auch unter den Soldaten die Überzeugung von der Verschwörung Kerenskis heranreift.”6 Im August war des revolutionäre Riga durch Kerenski und Kornilow bereits den Klauen des Kaisers Wilhelm II. ausgeliefert worden. Die ersten Gerüchte eines möglichen Separatfriedens zwischen Großbritannien und Deutschland gegen die Russische Revolution beunruhigten Lenin. Das Ziel der Bolschewiki war nicht der “Frieden”, sondern die Revolution, denn sie wußten als wirkliche Marxisten, daß ein kapitalistischer Waffenstillstand nur eine Feuerpause zwischen zwei Weltkriegen sein konnte. Es war diese durchdringende, kommunistische Sicht des unausweichlichen Untergangs in der Barbarei, den der dekadente, historisch bankrotte Kapitalismus der Menschheit vorbehielt, diese Sicht, die den Bolschewismus zu einem Wettlauf gegen die Zeit drängte, um mit den proletarischen, revolutionären Mitteln den Krieg zu beenden. Gleichzeitig begannen die Kapitalisten überall, systematisch die Produktion zu sabotieren, um die Revolution in Mißkredit zu bringen. Allerdings trugen diese Ereignisse schließlich auch dazu bei, den patriotischen Mythos der “nationalen Verteidigung”, wonach die Bourgeoisie und das Proletariat einer Nation ein gemeinsames Interesse daran hätten, den fremden “Aggressor” zurückzudrängen, in den Augen der Arbeiter zu zerstören. Dies erklärt auch, weshalb im Oktober die Sorge der Arbeiter nicht mehr darin bestand, Massenstreiks auszulösen, sondern die Produktion angesichts der Demontage ihrer “eigenen” Fabriken durch die Bourgeoisie in Gang zu halten. Unter den Faktoren, die für das Voranschreiten der Arbeiterklasse zum Aufstand entscheidend waren, gab es einerseits die Bedrohung der Revolution durch die neuen konterrevolutionären Angriffe, andererseits aber auch die entschlossene Unterstützung der Arbeiter v.a. in den wichtigsten Sowjets für die Bolschewiki. Diese beiden Faktoren waren das direkte Ergebnis der größten Massenkonfrontation zwischen Bourgeoisie und Proletariat von Juli bis Oktober 1917: des Kornilow-Putsches im August. Unter der Führung der Bolschewiki stoppte das Proletariat den Vormarsch von Kornilow auf die Hauptstadt, indem hauptsächlich die Truppen zersetzt, das Transportsystem und die Logistik dank den Arbeitern bei der Eisenbahn, der Post und anderen Sektoren lahmgelegt wurden. Im Laufe dieser Aktion, während der die Sowjets als revolutionäre Organisationen der gesamten Klasse zu neuem Leben erwacht waren, entdeckten die Arbeiter, daß die Provisorische Regierung von Petrograd unter der Führung des Sozialrevolutionärs Kerenski und der Menschewiki selbst im konterrevolutionären Komplott verhängt war. Von diesem Moment an verstanden die Arbeiter, daß diese Parteien zu einem eigentlichen “linken Flügel des Kapitals” geworden waren, und sie begannen, sich hinter den Bolschewiki zu vereinigen. “Die ganze taktische Kunst besteht darin, den Moment zu erfassen, wo die Gesamtheit der Bedingungen für uns am günstigsten ist. Der Kornilowsche Aufstand schuf diese Bedingungen. Die Massen, die das Vertrauen zu den Parteien verloren hatten, sahen die konkrete Gefahr der Gegenrevolution. Sie glaubten, daß jetzt die Bolschewiki berufen seien, diese Gefahr zu bannen.”7 Der größte einzelne Test über die Qualität einer Arbeiterpartei ist, ob sie fähig ist, die Machtfrage richtig und zeitig zu stellen. “Die gewaltigste Umstellung ist aber die, wenn die proletarische Partei von der Vorbereitung, der Propaganda, der Organisation, der Agitation übergeht zum unmittelbaren Kampf um die Macht, zum bewaffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Alles, was in der Partei vorhanden ist an unentschlossenen, skeptischen, opportunistischen, menschewistischen Elementen, erhebt sich gegen den Aufstand.”8 Die bolschewistische Partei überwand diese Krise und zeigte sich entschlossen, den bewaffneten Kampf vorwärtszutreiben, und bewies damit ihre beispiellose Qualität.
Das Proletariat beschreitet den Weg des Aufstandes
Im Februar 1917 hatte sich eine Situation der “Doppelmacht” entwickelt. Nebst dem bürgerlichen Staat und gegen ihn erschienen die Arbeiterräte als eine Alternative, als eine potentielle Regierung der Arbeiterklasse. Da zwei entgegengesetzte Kräfte, zwei verfeindete Klassen, nicht nebeneinander bestehen können und weil die eine zwangsläufig die andere zerstören muß, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen, ist eine derartige Periode der “Doppelmacht” notwendigerweise sehr kurz und instabil. Eine solche Phase ist sicherlich nicht durch “friedliche Koexistenz” und gegenseitige Toleranz gekennzeichnet. Sie kann zuerst den Anschein einer sozialen Ausgeglichenheit haben, doch in Wirklichkeit ist es eine entscheidende Stufe im Bürgerkrieg zwischen Kapital und Arbeit.
Die bürgerlichen Geschichtsfälschungen sind dazu gezwungen, den Todeskampf der Klassen, der sich zwischen Februar und Oktober 1917 abspielte, zu verschleiern und die Oktoberrevolution als einen “bolschewistischen Putsch” darzustellen. Die “ungewöhnliche” Verlängerung dieser Periode der “Doppelmacht” hätte notwendigerweise das Ende der Revolution und ihrer Organe bedeutet. Der Sowjet ist “nur als Organ des Aufstandes, nur als Organ der revolutionären Macht real (...). Außerhalb dieser Aufgabe sind die Sowjets ein bloßes Spielzeug, das unvermeidlich zur Apathie, Gleichgültigkeit und Enttäuschung der Massen führt, denen die endlose Wiederholung von Resolutionen und Protesten mit vollem Recht zuwider geworden ist.”9 Wenn der proletarische Aufstand nicht spontaner war als ein konterrevolutionärer militärischer Staatsstreich - während der Monate vor dem Oktober hatten die zwei Klassen in wiederholter Weise ihre spontane Tendenz zum Kampf um die Macht zum Ausdruck gebracht. Die Julitage und der Kornilov-Putsch waren dabei die klarsten Ausdrücke. Der Oktoberaufstand begann in Wirklichkeit nicht auf ein Signal der bolschewistischen Partei hin, sondern auf den Versuch der bürgerlichen Regierung die revolutionärsten Truppen (2/3 der Petrograder Garnison) an die Front zu schicken und sie in der Hauptstadt durch konterrevolutionäre Bataillone zu ersetzen. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie machte, und dies lediglich einige Wochen nach Kornilow, einen erneuten Versuch, die Revolution zu zermalmen. Ein Versuch, der das Proletariat dazu trieb, zum Aufstand zu schreiten, um sie zu retten.
“Und doch war der Ausgang des Aufstandes vom 25. Oktober zu drei Viertel, wenn nicht mehr, in dem Moment entschieden, als wir uns der Absendung der Truppen entgegenstemmten, das kriegsrevolutionäre Komitee bildeten (16. Oktober), in allen Truppenteilen und Organisationen unsere Kommissare ernannten und dadurch nicht nur den Stab des Petrograder Militärbezirks, sondern auch die Regierung gänzlich isolierten. (...) Mit dem Moment, da die Bataillone auf den Befehl des kriegsrevolutionären Komitees sich weigerten, die Stadt zu verlassen und sie auch nicht verließen, hatten wir in der Hauptstadt einen siegreichen Aufstand (...).10
Noch mehr, dieses Militärrevolutionäre Komitee, welches die entscheidenden militärischen Aktionen des 25. Oktobers leiten sollte - alles andere als ein Organ der Bolschewiki - war ursprünglich von den konterrevolutionären Parteien der “Linken” als ein Mittel zum Abzug der revolutionären Truppen der Hauptstadt unter Umgehung der Sowjets eingeführt worden. Doch es wurde sofort durch den Sowjet zu seinem Instrument umgewandelt, nicht nur um sich dieser Maßnahme zu widersetzen, sondern um den Kampf um die Macht zu organisieren.
“Nein, die Macht der Sowjets war keine Schimäre, keine von Parteitheoretikern erklügelte, willkürliche Konstruktion. Sie wuchs unaufhaltsam von unten auf, aus dem Wirtschaftszerfall, Ohnmacht der Besitzenden, aus den Nöten der Massen; die Sowjets wurden in der Tat zur Macht - für Arbeiter, Soldaten, Bauern blieb kein anderer Weg übrig. Es war nicht mehr an der Zeit über die Sowjetmacht zu klügeln und zu streiten: es hieß sie verwirklichen.”11 Die Legende eines bolschewistischen Putsches ist eine der größten Lügen der Geschichte. In Wirklichkeit wurde der Aufstand im vornherein von den gewählten revolutionären Delegierten öffentlich angekündigt. Die Rede Trotzkis an der Konferenz der Garnison von Petrograd am 18. Oktober illustriert es: “Es ist der Bourgeoisie bekannt, daß der Petrograder Sowjet dem Sowjetkongress vorschlagen wird, die Macht in seine Hände zu nehmen...Und nun versuchen die bürgerlichen Klassen, in Voraussicht des unvermeidlichen Kampfes, Petrograd zu entwaffnen (...) Beim ersten Versuch der Konterrevolution, den Kongreß zu sprengen, werden wir mit einer Gegenoffensive antworten, die unbarmherzig sein wird und die wir restlos durchführen weden.”12 Punkt 3 der durch die Konferenz der Garnison angenommenen Resolution lautet: “Der Gesamtrussische Sowjetkongress muß die Macht in die Hände nehmen und dem Volk Frieden, Land und Brot verschaffen.” Um sicher zu gehen, daß das gesamte Proletariat den Kampf um die Macht unterstützt, beschloß diese Garnisonskonferenz, sich auf friedliche Weise noch vor dem Kongreß der Sowjets in Petrograd und gestützt auf Massenversammlungen und Debatten einen Überblick über die eigenen Kräfte zu verschaffen. “Zehntausende umspülten das gigantische Gebäude des Volkshauses (...) An ehernen Säulen und Fenstern hingen Girlanden und Trauben menschlicher Köpfe, Beine, Arme. Die Luft war von jener elektrischen Spannung erfüllt, die eine nahe Entladung anzeigt. Nieder mit Kerenski! Nieder mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Nicht einer der Versöhnler wagte nunmehr vor dieser bis zum Rotglühen erhitzten Menge mit Entgegnungen oder Warnungen aufzutreten. Das Wort gehörte den Bolschewiki.” Trotzki führt weiter an: “Die Erfahrung der Revolution, des Krieges, des schweren Kampfes, des ganzen bitteren Lebens ersteht aus der Tiefe der Erinnerung eines jeden von Not bedrückten Menschen und geht in diese einfachen und gebieterischen Parolen ein. So kann es nicht weitergehen. Es muß ein Ausgang in die Zukunft durchbrochen werden.”13
Die Partei hatte den “Willen zur Machtergreifung” der Massen nicht erfunden. Sie hatte ihn jedoch inspiriert, und ihm Vertrauen in seine Fähigkeit gegeben, die Klasse zu führen. Wie Lenin nach dem Putsch von Kornilow schrieb: “Mögen alle Kleinmütigen aus diesem historischen Beispiel lernen. Mögen sich diejenigen schämen, die sagen: “Wir haben keinen Apparat, der den alten, unweigerlich zur Verteidigung der Bourgeoisie neigenden ersetzen könnte.” Denn dieser Apparat ist vorhanden. Das sind gerade die Sowjets. Fürchtet nicht die Initiative und Selbständigkeit der Massen, vertraut den revolutionären Organisationen der Massen, und ihr werdet auf allen Gebieten des staatlichen Lebens dieselbe Kraft, dieselbe Unbesiegbarkeit der Arbeiter und Bauern sehen, die sie in ihrem gemeinsamen Handeln, in ihrem Elan gegen den Kornilowputsch offenbart haben.”14
Die Aufgabe der Stunde: die Zerstörung des bürgerlichen Staates
Der Aufstand ist eines der entscheidendsten, komplexesten und anspruchsvollsten Probleme, welches das Proletariat zu lösen hat, um seine historische Aufgabe zu erfüllen. In der bürgerlichen Revolution war diese Frage viel weniger entscheidend, da sich die Bourgeoisie in ihrem Kampf um die Macht auf das stützen konnte, was sie sich auf ökonomischer und politischer Ebene innerhalb der feudalen Gesellschaft bereits erobert hatte. Während ihrer Revolution ließ die Bourgeoisie das Kleinbürgertum und die junge Arbeiterklasse für sich kämpfen. Sobald der Rauch der Schlacht abgezogen war, bevorzugte sie meist ihre frisch eroberte Macht in die Hände einer feudalen und nun verbürgerlichten, heimischen Klasse zurückzugeben, da diese die Autorität der Tradition auf ihrer Seite hatte. Im Gegensatz dazu besitzt das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft keinerlei Eigentum oder ökonomische Macht. Es kann deshalb weder den Kampf um die Macht noch die Verteidigung seiner einmal erworbenen Klassenherrschaft einer anderen Klasse oder einem anderen Sektor der Gesellschaft überlassen. Das Proletariat muß die Macht selbst ergreifen, indem es die anderen Schichten unter seine Führung stellt, indem es die gesamte Verantwortung trägt, und die Konsequenzen und Gefahren seines Kampfes auf sich nimmt. Während des Aufstandes erwacht das Proletariat und entdeckt sich, viel klarer als in irgendeinem vorangegangenen Moment, selbst, entdeckt das “Geheimnis” seiner eigenen Existenz als erste und letzte sowohl ausgebeutete als auch revolutionäre Klasse in der Geschichte. Aus diesem Grunde darf man keineswegs erstaunt sein, daß die Bourgeoisie dermaßen bestrebt ist, die Erinnerung an den Oktober auszulöschen!
Von größter Bedeutung in der Revolution war seit dem Februar 1917 die Aufgabe des Proletariates, die Herzen und Gedanken derjenigen Sektoren zu erobern, welche für die Seite des Proletariates gewonnen werden konnten, aber zugleich auch gegen die Revolution hätten mißbraucht werden können: die Soldaten, die Bauern, die Beamten, die Angestellten des Transportwesens, bis zu denjenigen, welche im Hausdienst der Bourgeoisie standen. Am Vorabend des Aufstandes mußte diese Aufgabe erfüllt werden.
Die Aufgabe des Aufstandes selbst war etwas ganz anderes: Er beinhaltete das Zerbrechen des Widerstandes derjenigen Teile des Staates und Teile der Armee, welche nicht gewonnen werden konnten, deren Weiterbestehen aber den Keim der barbarischen Konterrevolution beinhalteten. Um diesen Widerstand zu brechen, um den bürgerlichen Staat zu zerstören, mußte das Proletariat eine bewaffnete Kraft bilden, welche der eisernen Disziplin der Klasse unterstand. Deshalb waren die bewaffneten Kräfte des 25. Oktobers ausschließlich aus Soldaten gebildet, welche der Leitung des Proletariates voll und ganz Folge leisteten. “Die Oktoberrevolution war der Kampf des Proletariates gegen die Bourgeoisie um die Macht. Aber den Ausgang des Kampfes entschied letzten Endes der Muschik. (...) Was hier der Umwälzung den Charakter eines kurzen Schlages mit minimalster Zahl an Opfern verlieh, war die Verbindung der revolutionären Verschwörung, des proletarischen Aufstandes mit dem Kampf der Bauerngarnison um die Selbsterhaltung. Geleitet wurde die Umwälzung von der Partei; die wichtigste treibende Kraft war das Proletariat; die bewaffneten Arbeiterabteilungen bildeten die Faust des Aufstandes; doch den Ausgang des Kampfes entschied die schwerwiegende Bauerngarnison.”15 So war es in Tat und Wahrheit dem Proletariat gelungen, die Macht zu ergreifen, weil es fähig war, die anderen nichtausbeutenden Schichten hinter sein eigenes Klassenziel zu mobilisieren. Also haargenau das Gegenteil eines “Putsches”!
“Demonstrationen, Strassenkämpfe, Barrikaden, alles, was in den gewohnten Begriff des Aufstandes fällt, gab es fast nicht: die Revolution hatte nicht nötig, die bereits gelöste Aufgabe zu lösen. Die Eroberung des Regierungsapparates ließ sich planmäßig durchführen, mit Hilfe verhältnismäßig weniger, von einem Zentrum aus geleiteter bewaffneter Abteilungen. (...) Die Ruhe in den Oktoberstrassen, das Fehlen von Massen und Kämpfen gaben den Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer verschwindenden Minderheit, von Abenteuer eines Häufleins Bolschewiki zu sprechen. (...) In Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im letzten Moment den Kampf um die Macht auf eine “Verschwörung” beschränken, nicht weil sie eine kleine Minderheit waren, sondern im Gegenteil, weil sie in den Arbeitervierteln und Kasernen eine erdrückende, geschlossene, organisierte und disziplinierte Mehrheit hinter sich hatten.”16
Die Wahl des richtigen Zeitpunktes: Schlüssel zu Machtübernahme
Von einem technischen Standpunkt aus betrachtet ist der kommunistische Aufstand nichts anderes als eine Frage der Organisation und Strategie. Politisch jedoch ist es wohl die anspruchsvollste Aufgabe, die man sich vorstellen kann. Die schwierigste aller Aufgaben, welche auch am meisten Probleme mit sich bringt, ist die Wahl des richtigen Zeitpunktes zur Eröffnung des Kampfes um die Macht: nicht zu früh, nicht zu spät. Im Juli 1917, sowie auch schon im August beim Kornilow-Putsch, als die Bolschewiki die Klasse zurückhielten, welche bereit für den Kampf um die Macht war, bestand die größte Gefahr in einem verfrühten Aufstand. Schon im September rief Lenin ohne Unterbruch zur Vorbereitung eines bewaffneten Kampfes auf, indem er erklärte: “Jetzt oder nie!”
“Eine revolutionäre Situation läßt sich nicht willkürlich konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober-November die Macht nicht genommen, sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhaßt gewordene Auseinandergehen von Wort und Tat gefunden und sich von der Partei, die ihre Hoffnung betrogen, im Laufe von zwei - drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten”17 Dies war der Grund, weshalb Lenin in seinem Einsatz gegen die Gefahr des Zurückstellens des Kampfes um die Macht nicht nur die konterrevolutionären Vorbereitungen der Weltbourgeoisie unterstrich, sondern er zog auch die verheerenden Auswirkungen von Zweifeln unter den Arbeitern selbst in Betracht, welche “fast ohne Hoffnung sind”. Die Hungernden könnten beginnen, “alles kurz und klein zu schlagen”, “ja sogar rein anarchistisch, wenn die Bolschewiki es nicht verstehen, sie im letzten Gefecht zu führen.” “Man kann nicht weiter warten, ohne Gefahr zu laufen, das Komplott Rodsjankos mit Wilhelm zu fördern und den völligen Zerfall bei einer Massenflucht der Soldaten zu erleben, wenn sie (die schon nahezu verzweifelt sind) völlig verzweifeln und alles seinem Schicksal überlassen.”18
Den richtigen Zeitpunkt wählen erfordert nicht nur eine exakte Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, sondern es bedarf auch einer sorgfältigen Einschätzung der Dynamik der Zwischenschichten. “Eine revolutionäre Situation ist nicht von ewiger Dauer. Die schwankendste Voraussetzung der Umwälzung ist die Stimmung der Kleinbourgeoisie. Während nationaler Krisen geht sie hinter jener Klasse, die ihr nicht durch Worte, sondern auch durch Taten Vertrauen einflößt. Fähig zum impulsiven Aufstieg, sogar zur revolutionären Raserei, fehlt der Kleinbourgeoisie Ausdauer, sie verliert bei Mißerfolg leicht den Mut und fällt aus flammender Hoffnung in Enttäuschung. Die scharfen und jähen Wechsel ihrer Stimmungen verleihen eben jeder revolutionären Situation eine solche Unbeständigkeit. Ist die proletarische Partei nicht genügend entschlossen, um die Erwartungen und Hoffnungen der Volksmassen rechtzeitig in revolutionäre Handlungen umzusetzen, wird die Flut schnell von der Ebbe abgelöst: die Zwischenschichten wenden ihre Blicke von der Revolution ab und suchen die Retter im feindlichen Lager.”19
Die Kunst des Aufstandes
In seinem Kampf zur Überzeugung der eigenen Partei von der dringenden Notwendigkeit eines unmittelbaren Aufstandes, griff Lenin auf Marxens hervorragende Argumentation in dessen Werk “Revolution und Konterrevolution in Deutschland” zurück. Über den Aufstand, der “eine Kunst ist, genauso wie der Krieg und andere Formen der Kunst. Er ist bestimmten Regeln unterworfen, deren Unterlassung zur Niederlage und die versäumende Partei zur Mitschuld führt.” Die wichtigsten dieser Regeln sind laut Marx, einen begonnenen Aufstand niemals auf halbem Wege abzubrechen und immer in der Offensive zu bleiben, da “die Defensive der Tod der bewaffneten Erhebung ist”; den Feind zu überraschen und durch alltägliche Erfolge zu demoralisieren, “selbst mit kleinen”, welche ihn zum Rückzug zwingen; “(...) mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik, so zusammengefaßt: ‘Kühnheit, Kühnheit, abermals Kühnheit!’” Und wie Lenin es sagte: “Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muß ein großes Übergewicht an Kräften konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, den Aufstand vernichten.” Lenin fügte an: “Wir wollen hoffen, daß wenn die Aktion beschlossen wird, die Führer mit Erfolg das große Vermächtnis von Danton und Marx befolgen werden. Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab.”20
In dieser Perspektive hatte das Proletariat die Organe seines Kampfes um die Macht zu formieren: ein Militärrevolutionäres Komitee und bewaffnete Truppen. “Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen, so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine für diese Aufgabe geeignete Organisation. In der Verknüpfung von Massenaufstand und Verschwörung, der Unterordnung der Verschwörung unter den Aufstand, der Organisierung des Aufstandes durch die Verschwörung, besteht jedes komplizierte und verantwortliche Gebiet der revolutionären Politik, das Marx und Engels “die Kunst des Aufstandes” nannten.”21
Es ist diese zentralisierte, koordinierte und wohlüberlegte Art und Weise, die es dem Proletariat ermöglichte, den letzten bewaffneten Widerstand der herrschenden Klasse zu brechen. Die Bourgeoisie hat diesen Schlag, den ihr das Proletariat versetzt hatte, bis heute nie vergessen. “Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche Massenbewegung, die - geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime - weder klare Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewußt zum Sieg führende Leitung besitzt. Der elementare Aufstand genießt die wohlwollende Anerkennung der offiziellen Historiker, wenigstens der demokratischen, als unabwendbares Übel, für das die Verantwortung auf das alte Regime fällt. (...) Was sie als “Blanquismus” oder noch schlimmer als Bolschewismus verneint, ist die bewußte Vorbereitung der Umwälzung, der Plan, die Verschwörung.”22
Das ist es, was die Bourgeoisie so wütend macht: die Kühnheit, mit der ihr die Arbeiterklasse die Macht aus den Händen riß. Die Bourgeoisie auf der ganzen Welt wußte, daß ein Aufstand bevorsteht. Aber sie wußte nicht, wann und wo der Feind zuschlagen würde. Bei seinem entscheidenden Schlag profitierte das Proletariat voll und ganz vom Überraschungseffekt, daß es den Zeitpunkt und das Kampfterrain selbst wählte. Die Bourgeoisie hoffte, ihr Feind sei so naiv und “demokratiegläubig”, öffentlich, auf den Allrussischen Sowjetkongress in Petrograd in Gegenwart der herrschenden Klasse, anzukündigen, wann und wo er losschlägt. Dort gedachte sie, die Entscheidung und Durchführung des Aufstandes sabotieren und beeinflussen zu können. Aber als die Kongressdelegierten in der Hauptstadt ankamen, war der Aufstand schon voll im Gange, die Herrschaft der Ausbeuter wankte schon. Das Petrograder Proletariat übergab mittels seines Militärischen Revolutionskomitees dem Sowjetkongress die Macht, und die Bourgeoisie war dagegen machtlos. Putsch! Verschwörung! schrie die Bourgeoisie und schreit es noch heute. Lenins Antwort war: Putsch, Nein! Verschwörung, Ja! Aber eine Verschwörung, die dem Willen der Massen und den Notwendigkeiten des Aufstandes untergeordnet ist. Und Trotzki fügte hinzu: “Je höher die revolutionäre Bewegung ihrem politischen Niveau nach ist, je ernster ihre Führung, einen um so größeren Raum nimmt die Verschwörung im Volksaufstande ein.”
Ist der Bolschewismus eine Form des Blanquismus? Diese Anklage wird auch heute wieder von den Herrschenden erhoben. “Die Bolschewiki mußten mehr als einmal, schon lange vor der Oktoberumwälzung, die von den Gegnern gegen sie gerichtete Beschuldigung des Verschwörertums und Blanquismus widerlegen. Indes hat niemand einen so unversöhnlichen Kampf gegen das System der reinen Verschwörung geführt wie Lenin. Die Opportunisten der internationalen Sozialdemokratie haben mehr als einmal die alte sozialrevolutionäre Taktik des individuellen Terrors gegen die Agenten des Zarismus in Schutz genommen vor der erbarmungslosen Kritik der Bolschewiki, die dem individualistischen Abenteurertum der Intelligenz den Kurs auf den Massenaufstand entgegenstellten. Während er jedoch alle Abarten des Blanquismus und Anarchismus verwarf, hat Lenin sich keine Minute vor der ‘Heiligkeit’ des Massenaufstandes gebeugt.” Dazu fügte Trotzki weiter an: “Die Verschwörung ersetzt den Aufstand nicht. Die aktive Minderheit des Proletariates, so gut sie auch organisiert sein mag, ist nicht fähig, unabhängig vom Gesamtzustand des Landes die Macht zu ergreifen: in diesem Sinne hat die Geschichte über den Blanquismus ihr Urteil gesprochen. Aber nur in diesem Sinne. Das direkte Theorem behält seine volle Geltung. Zur Machteroberung genügt dem Proletariat nicht der elementare Aufstand. Nötig ist die entsprechende Organisation, nötig der Plan, nötig die Verschwörung. So ist die Leninsche Fragestellung.”23
Die Partei und der Aufstand
Es ist wohlbekannt, daß Lenin der erste war, der die volle Klarheit über die Notwendigkeit des Kampfes um die Macht im Oktober aufwies. Er arbeitete an mehreren Aufstandsplänen: Der eine konzentrierte sich auf Finnland und die baltische Flotte, ein anderer auf Moskau. Er trat dafür ein, daß die bolschewistische Partei, und nicht ein Organ der Sowjets den Aufstand organisieren sollte. Die Ereignisse haben allerdings bewiesen, daß die Organisation und die Führung des Aufstands durch ein Organ der Sowjets, konkret durch das militärische Revolutionskomitee, in dem die Partei offensichtlich den dominierenden Einfluss ausübte, den besten Erfolg für das Gelingen des Unternehmens garantierte, da sich die Klasse als ganzes, und nicht lediglich Sympathisanten der Partei durch die revolutionären Einheitsorgane vertreten sah.
Gemäß den bürgerlichen Historikern offenbarte allerdings der Vorschlag Lenins, daß für ihn die Revolution nicht die Angelegenheit der Massen, sondern eine Privatsache der Partei gewesen sei. Weshalb, so fragen sie, habe er sich so sehr gegen ein Abwarten des Sowjetkongresses zur Entscheidung des Aufstandes zur Wehr gesetzt. Lenins Haltung war in völliger Übereinstimmung mit der von Marx und fußte auf einem historisch begründeten tiefen Vertrauen in die proletarischen Massen. “Es wäre verderblich oder ein rein formales Herangehen, wollten wir die unsichere Abstimmung am 25. Oktober abwarten, das Volk hat das Recht und die Pflicht, solche Fragen nicht durch Abstimmungen, sondern durch Gewalt zu entscheiden; das Volk hat das Recht und die Pflicht, in kritischen Augenblicken der Revolution seinen Vertretern, selbst seinen besten Vertreter, die Richtung zu weisen und nicht auf sie zu warten. Das hat die Geschichte aller Revolutionen bewiesen, und maßlos wäre das Verbrechen der Revolutionäre, wenn sie den Augenblick vorübergehen ließen, obwohl sie wissen, daß die Rettung der Revolution, das Friedensangebot, die Rettung Petrograds, die Rettung vor dem Hunger, die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern von ihnen abhängen. Die Regierung wankt. Man muß ihr den Rest geben, koste es, was es wolle!”24
In Tat und Wahrheit stimmten alle Führer der Bolschewiki darin überein, die kaum eroberte Macht unmittelbar an den Sowjetkongress ganz Rußlands zu übergeben, wer auch immer der Dirigent des Aufstandes sei. Die Partei war sich sehr wohl bewußt, daß die Revolution weder das Werk der Partei allein noch einzelner Arbeiter von Petrograd, sondern der gesamten Arbeiterklasse ist. Was jedoch die Frage der Inszenierung des Aufstandes selbst betrifft, so hat Lenin richtigerweise hervorgehoben, daß hier die geeignetsten Klassenorgane eine zentrale Rolle spielen sollten, nämlich diejenigen, die befähigt waren, die Aufgabe politisch und militärisch zu planen und die politische Führung der Kämpfe zu übernehmen. Die Ereignisse haben bewiesen, daß Trotzki richtig lag, als er für diese Aufgabe die Bildung eines speziellen Organs der Sowjets vorschlug, in dem die Partei direkten Einfluß ausüben konnte. Es handelte sich hier nicht nur um eine prinzipielle Auseinandersetzung, sondern um die vitale Frage der politischen Effizienz. Lenin wollte nicht den Sowjetapparat als ganzes mit dem Aufstand betrauen, weil dies den Aufstand fatal verzögert und dem Feind die Pläne enthüllt hätte. Diese tiefe Sorge Lenins war vollkommen richtig. Die schmerzhafte Erfahrung der Russischen Revolution war notwendig, damit die Kommunistische Linke einige Jahre später klar festhalten konnte, daß zwar die Partei die politische Führung sowohl im Kampf um die Macht als auch in der Diktatur des Proletariats ausüben müsse, nicht aber die Macht übernehmen dürfe. In dieser Frage wiesen 1917 weder Lenin und die anderen Bolschewiki noch die Spartakisten in Deutschland Klarheit auf, und sie waren dazu auch noch nicht in der Lage. Was jedoch die ”Kunst des Aufstands” selbst betrifft, so gibt es heute keinen Revolutionär, von dem man mehr lernen könnte als von Lenin, insbesondere was die revolutionäre Geduld, die Vorsicht bei der Vermeidung verfrühter Auseinandersetzungen sowie die revolutionäre Kühnheit bei der Machtergreifung anbelangt. Lenin lag richtig, als er die Rolle der Partei im eigentlichen Aufstand thematisierte: Die Massen übernehmen die Macht, die Sowjets garantieren die Organisation, die Partei jedoch ist die unentbehrlichste Waffe im Kampf um die Macht. Im Juli 1917 ersparte die Partei der Klasse eine entscheidende Niederlage. Im Oktober 1917 führte die Partei die Klasse auf dem Weg zur Machtergreifung. Ohne diese unentbehrliche Führung hätte es keine Machtergreifung gegeben.
Lenin gegen Stalin
Die Bourgeoisie streicht schließlich ihr Hauptargument hervor: Die Oktoberrevolution habe ja zum Stalinismus geführt. Es waren jedoch die bürgerliche Konterrevolution, die Niederlage der Weltrevolution in Westeuropa, die Invasion und internationale Isolierung der Sowjetunion, die Unterstützung der nationalistischen Bürokratie in Rußland gegen die Arbeiterklasse und die Bolschewiki durch die Weltbourgeoisie, die zum Stalinismus führten. Man muß sich unbedingt vergegenwärtigen, daß sich sowohl in den entscheidenden Wochen des Oktobers 1917 als auch bereits in den Monaten zuvor innerhalb der bolschewistischen Partei eine Strömung manifestierte, die das Gewicht der bürgerlichen Ideologie widerspiegelte und sich gegen den Aufstand stellte. Stalin war zu jener Zeit bereits ein gefährlicher Exponent dieser Strömung. Im März 1917 war Stalin das Sprachrohr derjenigen Strömung innerhalb der Partei, die die internationalistische Position verlassen, die provisorische Regierung mit ihrer kriegtreiberischen Politik unterstützen und schließlich die Fusion mit den Menschewiki herbeiführen wollte. Als sich Lenin in den Wochen vor dem Aufstand öffentlich dafür aussprach, ließ Stalin in seiner Funktion als Herausgeber der Parteipresse die Artikel von Lenin absichtlich verspätet erscheinen, während er die Beiträge von Sinowjew und Kamenew, die gegen den Aufstand gerichtet waren, vorzog und so den Eindruck erweckte, als würden sie die Position des Bolschewismus repräsentieren. Lenin drohte daraufhin sogar mit seinem Rücktritt aus dem Zentralkomitee. Stalin fuhr jedoch mit seinem Manöver fort und behauptete, daß Lenin, Sinowjew und Kamenew dieselbe Position vertreten würden, während ersterer die Gesamtheit der Partei in der Frage des unmittelbaren Aufstandes hinter sich hatte, sabotierten letztere offen die Entscheide der Partei. Während des Aufstandes selbst verschwand Stalin von der Bildfläche, um abzuwarten, auf welche Seite der Wind drehen würde, ohne sich vorher zu stark zu exponieren. Der Kampf Lenins und der Partei gegen den ”Stalinismus”, gegen die Manipulationen, gegen die hinterhältige Sabotage des Aufstandes (im Unterschied zu Sinowjew und Kamenew, die wenigstens offen agierten) wurde innerhalb der Partei in Lenins letzten Lebensjahren wieder aufgenommen, allerdings unter historisch unendlich schlechteren Bedingungen.
Der Kulminationspunkt der Menschheitsgeschichte
Weit davon entfernt ein simpler Staatsstreich zu sein, wie dies die herrschende Klasse lügnerisch behauptet, war die Oktoberrevolution der Kulminationspunkt der bisherigen Menschheitsgeschichte. Erstmals in der Geschichte zeigte eine ausgebeutete Klasse den Mut und die Fähigkeit, den Ausbeutern die Macht zu entreißen und die proletarische Weltrevolution einzuleiten. Obgleich zwar die Revolution bald Niederlagen erlitt, zuerst in Berlin, dann in Budapest und Turin, und obgleich die Arbeiterklasse einen schrecklichen Preis für diese Niederlagen bezahlen mußte (Horror der Konterrevolution, weiterer Weltkrieg, allgemeine Barbarei), gelang es der Bourgeoisie dennoch nicht, dieses außergewöhnliche Ereignis und seine Lehren aus dem Gedächtnis der Arbeiterklasse zu löschen. In der heutigen Zeit existieren in der herrschenden Klasse nur noch die schlimmsten Ideologien und Zerfallsgedanken wie der zügellose Individualismus, der Nihilismus, Obskurantismus. Es blühen reaktionäre Visionen wie der Rassismus und Nationalismus, der Mystizismus und der Oekologismus. In einer Zeit, in der die letzten Spuren eines Glaubens an den Fortschritt der Menschheit verschwunden sind, zeigt uns der Scheinwerfer des Roten Oktobers nach wie vor den Weg. Die Erinnerung an den Oktober ist da, um der Arbeiterklasse zu vergegenwärtigen, daß die Zukunft der Menschheit in ihren Händen ruht und daß sie die große Aufgabe lösen kann. Den Klassenkampf des Proletariats, die Wiederaneignung der eigenen Geschichte, die Verteidigung und die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode des Marxismus beinhaltet das Programm des Oktobers. Dies ist das Programm für die Zukunft der Menschheit. Wie Trotzki im Schlußwort seiner großen Geschichte der Russischen Revolution schreibt: “Den historischen Aufstieg der Menschheit kann man, im ganzen genommen, resümieren als eine Kette von Siegen des Bewußtseins über die blinden Kräfte - in Natur, Gesellschaft und im Menschen selbst. Der kritische und schöpferische Gedanke konnte sich bis auf den heutigen Tag der größten Erfolge rühmen im Kampfe mit der Natur. Die physikalisch-chemischen Wissenschaften sind bereits an dem Punkt angelangt, wo der Mensch sich offensichtlich anschickt, Herr der Materie zu werden. Die gesellschaftlichen Beziehungen jedoch gestalten sich noch immer in der Art von Koralleninseln. Der Parlamentarismus hat ein Licht nur auf die Oberfläche der Gesellschaft geworfen, und auch da nur ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und anderen Erbschaften von Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiß eine große Errungenschaft dar. Doch läßt sie das blinde Spiel der Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen der Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewußten erhob zum erstenmal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und Plan hineintragen in das Fundament der Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen herrschten.”
Kr.
(aus Internationale Revue Nr. 20, Herbst 1997)
1 Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, S. 14
6 Lenin, a.a.O. S. 130 f., “Brief an die Petrograder Stadtkonferenz”
7 Trotzki, “Die Lehren des Oktobers”, 1924, Kap. “Vom Oktoberumsturz”
8 Trotzki, a.a.O., Kap. “Es ist notwendig, den Oktoberumsturz zu studieren”
9 Lenin, “Thesen zum Referat in der Konferenz der Petersburger Organisation am 8. Oktober”, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 128
10 Trotzki, “Die Lehren des Oktobers”, Kapitel: “Die Oktoberrevolution und die “Legalität” der Sowjets”
11 Trotzki, “Geschichte der Russischen Revolution”, Fischer Taschenbuchausgabe 1973, Seite 758
12 Trotzki, ebenda, Seite 780
13 Trotzki, ebenda, Seite 788 f.
14 Lenin, “Eine der Kernfragen der Revolution”, Ges. Werke, Bd. 25, Seite 382
15 Trotzki, ebenda, Seite 933 f.
16 Trotzki, ebenda, Seite 935 ff.
17 Trotzki, ebenda, Seite 821
18 Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 198 und 195
19 Trotzki, ebenda, Seite 839
20 Lenin, “Ratschläge eines Außenstehenden”, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 167-168
21 Trotzki, ebenda, Seite. 833
22 Trotzki, ebenda, Seite 833
23 Trotzki, ebenda, Seiten 832 ff.
24 Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, S. 224