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Internationale Revue - 2005

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Internationale Revue 35

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Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil II)

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Konflikt im Nahen Osten: Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil II) 

Am Ende des ersten Teils dieser Artikelserie (Internationale Revue 34) haben wir gesehen, dass die Entwicklung des zionistischen Nationalismus und seine Manipulation durch die Briten im Kampf gegen ihre imperialistischen Rivalen um die Vorherrschaft im Nahen Osten am Ende des Ersten Weltkrieges einen neuen Faktor der Destabilisierung in dieser Region darstellten.

In diesem Artikel beabsichtigen wir zu untersuchen, wie es dazu kam, dass der arabische und der zionistische Nationalismus eine zunehmend wichtige Rolle im Nahen Osten spielten, beide als Faustpfand im komplexen Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Grossmächten und als Bedrohung der Arbeiterklasse in der Phase nach der Russischen Revolution.

Der Zionismus als Mittel der Spaltung in der Arbeiterklasse

Die kapitalistische Klasse hat stets versucht, die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede in der Arbeiterklasse zu benutzen und gar zu verschärfen, "zu teilen und zu herrschen".

Es trifft durchaus zu, dass in den meisten Ländern der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase fähig war, unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen durch die Proletarisierung ihrer Mitglieder gesellschaftlich zu integrieren. So wurden die rassischen, ethnischen und religiösen Spaltungen in der Bevölkerung wesentlich verringert. Aber der moderne Zionismus ist tief geprägt durch seine Entstehung am Ende dieser aufsteigenden Phase, als die Epoche der Nationalstaatenbildung zu Ende ging und es keinen "Lebensraum"1 für die Entstehung neuer Nationen gab, als das Überleben des Kapitalismus nur noch durch Krieg und Zerstörung möglich war.

Als 1897 der Erste Zionistenkongress in Basel die Forderung nach einem jüdischen Nationalterritorium erhob, lehnte der linke Flügel der Zweiten Internationalen die Bildung neuer territorialer Einheiten bereits ab.

1903 lehnte die SDRAP (Sozialdemokratische Russische Arbeiterpartei) die Existenz einer unabhängigen, separaten jüdischen Organisation in ihren Reihen ab und verlangte, dass sich diese Organisation – "Der Bund" (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterverband in Litauen, Polen und Russland) – mit der russischen Territorialpartei verschmilzt. Der Zweite Kongress der RSDAP 1903 setzte die Frage des Bundes nicht nur als ersten Punkt, noch vor der Debatte über die Statuten, auf die Tagesordnung, sondern "wies jegliche Möglichkeit föderaler Beziehungen zwischen der RSDAP und dem Bund als prinzipiell unzulässig zurück". Der Bund seinerseits lehnte damals die Bildung einer "jüdischen nationalen Heimstatt" in Palästina ab.

Der linke Flügel der Zweiten Internationalen vor dem Ersten Weltkrieg wandte sich somit deutlich gegen die Bildung eines jüdischen Staates in Palästina.

Die Geburt des politischen Zionismus fiel mit dem Anstieg der jüdischen Einwanderung in den Nahen Osten und vor allem in Palästina zusammen. Die erste grosse jüdische Siedlerwelle kam nach den Pogromen und der Repression im zaristischen Russland 1882 in Palästina an; die zweite Flüchtlingswelle aus Osteuropa nach der Niederlage der revolutionären Kämpfe von 1905 in Russland. 1850 lebten 12'000 Juden in Palästina, 1882 35'000 und 1914 90'000.

Grossbritannien plante nun, die Zionisten als zuverlässige Verbündete gegen seine europäischen Widersacher, besonders Frankreich, und gegen die arabische Bourgeoisie einzusetzen. Grossbritannien befand sich in einer Position, die es ihm erlaubte, sowohl den Zionisten als auch der aufkommenden panarabischen Bourgeoisie Versprechungen zu machen, wobei es voll auf die Karte des "Teile und herrsche" setzte – eine Politik, die Grossbritannien bis zum Beginn des II. Weltkrieges erfolgreich praktizierte. Während des Ersten Weltkrieges wurde sowohl den Zionisten als auch den ersten panarabischen Nationalisten, als Belohnung für ihre Unterstützung Grossbritanniens im Krieg, der Erhalt Palästinas versprochen. Die Balfour-Deklaration von 1917 sicherte dies den Zionisten just in dem Moment zu, als T.E. Lawrence ("Lawrence von Arabien") vom britischen Auswärtigen Amt den arabischen Stammesführern dasselbe versprach, als Dank für die Inszenierung des arabischen Aufstands gegen das kollabierende Osmanische Reich.

Als Grossbritannien von Völkerbund 1922 das "Palästina-Mandat" erhielt, waren von 650'000 Einwohnern Palästinas 560'000 Muslime und Christen sowie 85'000 Juden. Die Zionisten versuchten nun, so schnell wie möglich die Zahl der jüdischen Ansiedler zu vergrössern, indem sie den Zustrom gemäss ihrer imperialistischen Ziele regulierten. Ein "Kolonialbüro" wurde eingerichtet, um die Ansiedlung der Juden in Palästina zu fördern.

Der Zionismus war aber nicht ausschliesslich ein Instrument der britischen Interessen im Nahen Osten: Er verfolgte auch sein eigenes kapitalistisches Expansionsprojekt, die Errichtung eines eigenen jüdischen Staates – ein Projekt, das im dekadenten Kapitalismus nur auf Kosten der regionalen Widersacher durchgesetzt werden kann und unvermeidlich mit Krieg und Zerstörung verknüpft ist.

Der moderne Zionismus ist also ein typischer Ausdruck der Dekadenz dieses Systems. Er ist eine Ideologie, die nicht ohne militärische Mittel verwirklicht werden kann. Mit anderen Worten: Ohne Krieg, ohne vollständige Militarisierung, ohne Ausgrenzung und ohne "Eindämmungspolitik" ist der Zionismus unmöglich.

Indem sie also die Bildung einer jüdischen Heimstatt unterstützten, haben die englischen "Beschützer" nichts anderes getan, als grünes Licht für die ethnische Säuberung, für die gewaltsame Deportation der ansässigen Bevölkerung zu geben. Diese Politik ist zur ständigen und weit verbreiteten Praxis in allen durch Krieg zerrissenen Ländern geworden. Sie ist zu einem klassischen Merkmal der Dekadenz geworden.2

Obwohl die Politik der ethnischen Säuberung und der Rassentrennung nicht auf das Gebiet des ehemaligen osmanischen Reiches beschränkt war, wurde diese Region dennoch zu einem Zentrum dieser mörderischen Praktiken. Der Balkan hat während des ganzen 20. Jahrhunderts unter der Folge von ethnischen Säuberungen und Massakern gelitten – alle durch die europäischen Mächte und die USA unterstützt und manipuliert. Die herrschende Klasse in der Türkei führte einen schrecklichen Völkermord an den Armeniern durch – das Blutbad, in dem 1'500'000 Armenier durch türkische Truppen getötet wurden, begann 1915 und ging nach dem Ersten Weltkrieg weiter. Im Krieg zwischen Griechenland und der Türkei (März 1921 bis Oktober 1922) wurden 1,3 Millionen Griechen aus der Türkei vertrieben und 450'000 Türken aus Griechenland.

Das zionistische Vorhaben, eine eigene territoriale Einheit zu schaffen, basierte notwendigerweise auf Rassentrennung, Teilung, Zwietracht, Deportation, kurz: auf militärischen Schrecken und Vernichtung – dies alles lange, bevor der zionistische Staat 1948 proklamiert wurde.

Der Zionismus ist eine besondere Form des Kolonialismus, die nicht auf der Ausbeutung der lokalen Arbeitskraft beruht, sondern auf deren Ausgrenzung und Vertreibung. Arabische Arbeiter sollten nicht Teil der "jüdischen Gemeinschaft" sein, sondern wurden auf der Grundlage der Parole "Jüdisches Öl, jüdische Arbeit, jüdische Waren!" rigoros ausgeschlossen.

Die Gesetze, die das britische Protektorat einführte, legten fest, dass die jüdischen Siedler ihr Land den arabischen Grundbesitzern abkauften. Die Besitzrechte waren vor allem in den Händen reicher arabischer Grundbesitzer, für die das Land hauptsächlich ein Spekulationsobjekt bedeutete. Darüber hinaus akzeptierten sie es, die palästinensischen Tagelöhner und Pachtbauern zu vertreiben, wenn dies die neuen Besitzer wünschten. So haben viele Bauern und Landwirtschaftsarbeiter sowohl ihr Land als auch ihre Arbeit verloren. Die Errichtung jüdischer Siedlungen bedeutete nicht nur ihre Vertreibung aus dem Land, sondern auch ihr Sturz in noch grösseres Elend.

Die Zionisten untersagten den Weiterverkauf des Landes an Nicht-Juden, wenn jüdische Siedler es einmal gekauft hatten. Es war nicht nur eine Ware, ein Stück jüdischer Privatbesitz, sondern es war Teil des zionistischen Territoriums geworden, das wie eine Eroberung militärisch verteidigt werden musste.

In der Wirtschaft wurden die arabischen Arbeiter aus ihren Jobs gedrängt. Die zionistische Gewerkschaft Histadrut tat in enger Zusammenarbeit mit anderen zionistischen Organisationen alles, um die arabischen Arbeiter daran zu hindern, ihre Arbeitskraft den jüdischen Kapitalisten zu verkaufen. So wurden die palästinensischen Arbeiter in die Kollision mit den jüdischen Einwanderern gedrängt, die ebenfalls Arbeit suchten.

Die Errichtung einer jüdischen Heimstatt, wie es das britische "Protektorat" versprochen hatte, bedeutete nichts anderes als andauernde militärische Konfrontationen zwischen den Zionisten und der arabischen Bourgeoisie – mit der Arbeiterklasse und den Bauern, die auf dieses blutige Terrain gezogen wurden.

Was war die Haltung der Kommunistischen Internationalen zur imperialistischen Situation im Nahen Osten und zur Bildung einer "jüdischen Heimstatt"?

Die Politik der Kommunistischen Internationalen: eine verhängnisvolle Sackgasse

Rosa Luxemburg hatte während des I. Weltkriegs festgestellt: "In der Epoche dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen sind nur eine Verschleierung mit dem Ziel, die arbeitenden Volksmassen in den Dienst ihres Todfeindes zu stellen: des Imperialismus". (Junius-Broschüre, Entwurf vom Spartakusbund, im Januar 1916 angenommen.)

Als die russischen Arbeiter im Oktober 1917 die Macht ergriffen hatten, versuchten die Bolschewiki, den Druck, den die Bourgeoisie mit ihren Weissen Armeen auf die Arbeiterklasse ausübten, zu verringern und die Unterstützung der "schuftenden Massen" der Nachbarländer mit der Parole der "nationalen Selbstbestimmung" zu gewinnen – eine Position der SDRAP, die von der Strömung um Rosa Luxemburg bereits vor dem I. Weltkrieg kritisiert wurde (s. die Artikel in Internationalen Review 34, 37, 42, engl., franz. und span. Ausgabe). Anstatt den Druck der Bourgeoisie zu schwächen und die "schuftenden Massen" hinter sich zu scharen, hatte die bolschewistische Politik eine gegenteilige, verhängnisvolle Wirkung. Rosa Luxemburg schreibt in ihrer Broschüre Zur russischen Revolution: "Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, dass sie als Verfechter der nationalen Freiheit ‚bis zur staatlichen Absonderung Finnlands, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: Eine nach der anderen von diesen ‚Nationen‘ benutzte die frische geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Russland selbst zu tragen (…). Statt die Proletarier in den Randländern vor jeglichen Separatismus als rein bürgerlichen Fallstrick zu warnen und die separatistischen Bestrebungen mit eiserner Hand, deren Gebrauch in diesem Falle wahrhaft im Sinne und Geist der proletarischen Diktatur lag, im Keime zu ersticken, haben sie vielmehr die Massen in allen Randländern durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert. Sie haben durch diese Förderung des Nationalismus den Zerfall Russlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stossen sollten." (Zur russischen Revolution, Dietz Verlag Berlin 1979)

Als die revolutionäre Welle zurückzuweichen begann, begann der Zweite Kongress der Kommunistischen Internationale im Juli 1920 eine opportunistische Position zur nationalen Frage zu entwickeln, in der Hoffnung, die Unterstützung der Arbeiter und Bauern in den Kolonialländern zu gewinnen. Die Unterstützung angeblich "revolutionärer" Bewegungen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht "bedingungslos", sondern folgte gewissen Kriterien. Punkt 11 der "Thesen über die nationale Frage", die vom Kongress verabschiedet wurden, unterstreicht: "Es ist notwendig, die Bestrebungen der Unabhängigkeitsbewegungen, die in Tat und Wahrheit weder kommunistisch noch revolutionär sind, energisch zu bekämpfen, um die kommunistischen Ansichten hervorzuheben: Die Kommunistische Internationale darf die revolutionären Bewegungen in den Kolonien und rückständigen Ländern nur unter der Bedingung unterstützen, dass die Elemente der reinsten und wahrhaftigsten kommunistischen Parteien gruppiert sind und sich über ihre vorrangigen Aufgaben im Klaren sind: Ihre Aufgabe, die bürgerliche und demokratische Bewegung zu bekämpfen. Die Kommunistische Internationale muss dabei zeitlich begrenzte Beziehungen eingehen und auch Bündnisse mit den revolutionären Bewegungen in den Kolonien und rückständigen Ländern eingehen, dies allerdings ohne jemals mit ihnen zu fusionieren und indem sie immer den unabhängigen Charakter der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer embryonalen Form – bewahren".

Punkt 12 der Thesen fährt fort: "Es ist notwendig, den arbeitenden Massen aller Länder und vor allem der rückständigen Länder und Nationen, unermüdlich den von den imperialistischen Mächten mit Hilfe der herrschenden Klassen in den unterdrückten Ländern aufgezogenen Schwindel zu enthüllen. Sie tun, als ob sie die Existenz politische unabhängiger Staaten unterstützen – die in Tat und Wahrheit ökonomisch und militärisch Vasallen sind. Ein schlagendes Beispiel für diesen Schwindel (…) ist die Angelegenheit der Zionisten in Palästina (…). Bei der gegenwärtigen internationalen Sachlage gibt es kein Wohl für die schwachen und unterdrückten Völker ausserhalb der Union der sowjetischen Republiken".

Als aber die Isolierung der Russischen Revolution wuchs und die Komintern3 und die bolschewistische Partei immer opportunistischer wurden, wurden die anfänglichen Kriterien für die Unterstützung bestimmter "revolutionärer Bewegungen" fallen gelassen. Auf ihrem 4. Kongress im November 1922 führte die Internationale die katastrophale Politik der "Einheitsfront" ein, wobei sie darauf bestand: "Die grundlegende gemeinsame Aufgabe aller national-revolutionären Bewegungen besteht darin, die nationale Einheit und die politische Autonomie zu verwirklichen". ("Allgemeine Thesen über die Frage des Orients", Faksimile, Maspero). Während die Kommunistische Linke, vor allem die Gruppe um Bordiga, einen erbitterten Kampf gegen die Politik der "Einheitsfront" führte, erklärte die Kommunistische Internationale: "Die Weigerung der Kommunisten in den Kolonien, sich am Kampf gegen die imperialistische Unterdrückung zu beteiligen, und dies unter dem Vorwand der alleinigen ‚Verteidigung‘ der Klasseninteressen, ist Ausdruck des übelsten Opportunismus, der die proletarische Revolution im Orient nur in Verruf bringen kann".(idem).

Doch es war die Internationale, die dem Opportunismus verfiel. Dieser opportunistische Kurs wurde bereits im September 1920 in Baku auf dem Kongress der Völker des Orients sichtbar, kurz nach dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationalen. Der Kongress von Baku richtete sich vor allem an die nationalen Minderheiten in den Nachbarländern der belagerten Sowjetrepublik, wo der britische Imperialismus damit drohte, seinen Einfluss auszuweiten und damit neue Sprungbretter für bewaffnete Interventionen gegen Russland zu schaffen.

"Als Folge eines ungeheuren und barbarischen Blutbades erschien der britische Imperialismus als alleiniger, allmächtiger Herrscher Europas und Asiens" ("Manifest" des Kongresses der Völker des Orients). Indem sie von der falschen Voraussetzung ausging, dass "der britische Imperialismus, indem er alle Widersacher geschwächt und geschlagen hat, allmächtiger Beherrscher Europas und Asiens geworden ist", unterschätzte die Kommunistische Internationale die neue Ebene der imperialistischen Rivalitäten, die durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz entfesselt wurden.

Hatte nicht der Erste Weltkrieg gezeigt, dass alle Länder, ob gross oder klein, imperialistisch geworden waren? Der Kongress von Baku konzentrierte sich stattdessen ausschliesslich auf den britischen Imperialismus: "Grossbritannien, letzte imperialistische Vormacht Europas, hat seine schwarzen Schwingen über den islamischen Ländern des Orients ausgebreitet, es versucht, die Völker des Orients zu unterwerfen, um sie zu versklaven und daraus Beute zu schlagen. Sklaverei! Schreckliche Sklaverei, Verfall, Unterdrückung und Ausbeutung, das bringt Grossbritannien den Völkern des Orients. Verteidigt Euch, Völker des Orients! (…) Bereitet Euch vor für den Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den britischen Imperialismus!" (idem).

Die Politik der Unterstützung der "national-revolutionären" Bewegungen und der Appell an eine "anti-imperialistische Front" bedeutete konkret, dass Russland und die bolschewistische Partei, die zunehmend vom russischen Staat vereinnahmt wurde, Bündnisse mit nationalistischen Bewegungen eingingen.

Schon 1920 drängte Kemal Atatürk4 Russland dazu, eine anti-imperialistische Front mit der Türkei zu bilden. Kurz nach der Niederwerfung des Kronstädter Arbeiteraufstandes im März 1921 und dem Beginn des Krieges zwischen Griechenland und der Türkei unterzeichnete Moskau ein Freundschaftsabkommen zwischen Russland und der Türkei. Nach wiederholten Kriegen unterstützte zum ersten Mal eine russische Regierung die Existenz der Türkei als Nationalstaat.

Die Arbeiter und Bauern Palästinas wurden ebenfalls in die Sackgasse des Nationalismus gestossen: "Wir betrachten die nationalistische arabische Bewegung als eine wichtige Kraft, die den englischen Kolonialismus bekämpft. Es ist unsere Pflicht, alles zur Unterstützung dieser Bewegung in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus zu tun".

Die Kommunistische Partei Palästinas, gegründet 1922, rief zur Unterstützung des Muftis Hafti Amin Hussein auf. 1922 war Letzterer zum Mufti Jerusalems und Präsidenten des obersten islamischen Rates geworden: Er war einer derjenigen gewesen, die am lautesten die Bildung eines unabhängigen palästinensischen Staates forderten.

Ob 1922 in der Türkei, in Persien oder 1927 in China – diese Politik der Kommunistischen Internationalen war verheerend für die Arbeiterklasse. Wegen ihrer Unterstützung der lokalen Bourgeoisien drängte die Komintern die Arbeiter in die blutigen Arme einer sich selbst als "fortschrittlich" gerierenden Bourgeoisie. Dass Ausmass der Ablehnung des proletarischen Internationalismus‘ zeigt sich in einem Aufruf der Kommunistischen Internationalen von 1931, die damals zu einem Werkzeug des russischen Stalinismus geworden war: "Wir rufen alle Kommunisten auf, einen Kampf um nationale Unabhängigkeit und nationale Einheit zu führen, nicht nur innerhalb der engen Grenzen, die der Imperialismus und die Interessen der herrschenden Familienclans eines jeglichen arabischen Landes willkürlich geschaffen haben, sondern diesen Kampf für die Einheit des gesamten Orients auf breiter panarabischer Front zu führen."

Der Kampf innerhalb der Kommunistischen Internationalen zwischen den opportunistischen Konzessionen gegenüber den "nationalen Befreiungsbewegungen" und der Verteidigung des proletarischen Internationalismus wird an der Opposition verschiedener jüdischer Delegationen zum Kongress von Baku ersichtlich.

Eine "Delegation der Bergjuden" konnte noch einen wahrhaften Widerspruch in Worten zum Ausdruck bringen, indem sie erklärte: "Nur der Sieg der Unterdrückten über die Unterdrücker führt uns zum heiligen Ziel: die Bildung einer kommunistischen jüdischen Gesellschaft in Palästina". Die Abordnung der kommunistischen jüdischen Partei (Poale Zion, vorher dem jüdischen Bund angegliedert) rief zur "Besiedlung und Kolonisierung Palästinas nach kommunistischen Prinzipien" auf.

Das Zentralbüro der jüdischen Sektionen der kommunistischen Partei Russlands widersetzte sich entschlossen den gefährlichen Illusionen über die Errichtung einer jüdischen kommunistischen Gemeinschaft in Palästina und der Art und Weise, wie die Zionisten das jüdische Projekt für ihre eigenen imperialistischen Interessen einsetzten. Gegen die Spaltung der jüdischen und arabischen Arbeiter unterstrich die jüdische Sektion der russischen kommunistischen Partei: "Unter Zuhilfenahme des zionistischen Lakaien des Imperialismus zielt die britische Politik darauf ab, einen Teil des jüdischen Proletariats vom Kommunismus wegzuziehen, indem in ihm nationalistische Gefühle und Sympathien für den Zionismus geweckt werden (…) Wir verurteilen auch scharf die Versuche gewisser linkssozialistischer jüdischer Gruppen, den Kommunismus mit dem Festhalten an der zionistischen Ideologie zu verbinden. Wir sehen dies im Programm der so genannten Jüdischen Kommunistischen Partei (Poale Zion). Wir glauben, dass es in den Reihen der Kämpfer für die Rechte und Interessen der Arbeiterklasse keinen Platz für Gruppen gibt, die den nationalistischen Hunger der jüdischen Bourgeoisie auf die eine oder andere Art hinter der Maske des Kommunismus verbergen, indem sie die zionistische Ideologie unterstützen. Sie benutzen kommunistische Parolen, um bürgerlichen Einfluss auf die Arbeiterklasse auszuüben. Wir stellen fest, dass in der gesamten Zeit, in der die jüdische Arbeiterbewegung existierte, die zionistische Ideologie dem jüdischen Proletariat fremd war (…) Wir erklären, dass die jüdischen Massen die einzige Möglichkeit für ihre sozioökonomische und kulturelle Entwicklung nicht in der Erschaffung eines ‚nationalen Zentrums‘ in Palästina sehen, sondern in der Errichtung der Diktatur des Proletariats und der Bildung von sozialistischen Sowjetrepubliken in den Ländern, in denen sie leben." (Kongress von Baku, September 1920, eigene Übersetzung).

Doch während die Spannungen zwischen den jüdischen Siedlern und den palästinensischen Arbeitern und Bauern zunahmen, führte der Niedergang der Kommunistischen Internationale, als sie sich dem russischen Staat unterwarf, zur Spaltung zwischen der zunehmend stalinistischen Kommunistischen Internationalen und der Kommunistischen Linken in der palästinensischen und in anderen Fragen. Während die Kommunistische Internationale die palästinensischen Arbeiter dazu drängte, "ihre eigene" Bourgeoisie gegen den Imperialismus zu unterstützen, verstand die Kommunistische Linke die Auswirkungen der englischen Politik des Teile und Herrsche und die verheerenden Folgen der Komintern-Position, die die Arbeiterklasse in eine Sackgasse führte: "Der englischen Bourgeoisie ist es gelungen, die Klassengegensätze zu verstecken. Die Araber sehen nur gelbe und weisse Rassen und betrachten die Juden als Schützlinge der weissen Rasse" (Proletarier, Mai 1925, Zeitschrift der Kommunistischen Arbeiterpartei Deuschlands, KAPD).

"Für den wahren Revolutionär gibt es natürlich keine ‚Palästinafrage‘, sondern nur den Kampf aller Ausgebeuteten des Nahen Ostens, arabische und jüdische Arbeiter inbegriffen, und dieser Kampf ist Teil des allgemeinen Kampfes aller Ausgebeuteten der ganzen Welt für die kommunistische Revolution" (Bilan, Nr. 31, 1936, Bulletin der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken).5

(Fortsetzung folgt)
D.

Fußnoten:

1 Der "Lebensraum" war eine Rechtfertigung Hitlers für die Expansion der "arischen Rasse" im Osten, der von slawischen "Untermenschen" besiedelt war.

2 Folgt man der Logik der ethnischen Säuberung, müssten Deutsche und Kelten Europa verlassen und nach Indien und Zentralasien zurückkehren, wo sie einst herkamen; die Lateinamerikaner spanischer Herkunft müssten zur iberischen Halbinsel zurückgeschickt werden. Diese absurde Logik kennt keine Grenzen: Die Südamerikaner müssten alle Südamerikaner europäischer oder anderer Herkunft verjagen, die Nordamerikaner alle afrikanischen Sklaven deportieren, nicht zu reden von sämtlichen europäischen Bevölkerungsgruppen, die im 19. Jahrhundert einwanderten. Wir müssten uns in der Tat fragen, ob nicht die ganze menschliche Spezies zur afrikanischen Wiege zurückkehren sollte, von wo sie einst ihre Emigration begann…?

Seit dem 2. Weltkrieg gab es eine unaufhörliche Folge von Vertreibungen: Drei Millionen Deutsche wurden aus der ehemaligen tschechischen Republik vertrieben; der Balkan war ständiger Schauplatz ethnischer Säuberungen; die Spaltung von Indien und Pakistan 1947 führte zur grössten Vertreibung aller Zeiten, und zwar in beide Richtungen; in den 1990er-Jahren lieferte Ruanda mit den Massakern zwischen Hutus und Tutsis ein besonders blutiges Beispiel: Binnen drei Monate wurden zwischen 300'000 und einer Million Menschen massakriert.

3 d.h. die Kommunistische Internationale.

4 Kemal Atatürk, geboren 1881 in Saloniki, militärischer Held im Ersten Weltkrieg nach seinem Erfolg gegen den alliierten Angriff auf Gallipoli 1915, organisierte 1919 die nationale republikanische türkische Partei und stürzte den letzten osmanischen Sultan. Später spielte er eine wichtige Rolle bei der Gründung der ersten türkischen Republik 1923 nach dem Krieg gegen Griechenland und blieb bis zu seinem Tod 1938 Präsident. Unter seiner Herrschaft zerschlug der türkische Staat die Macht der religiösen Schulen und unternahm ein umfassendes "Europäisierungsprogramm", einschliesslich der Ersetzung der arabischen durch die lateinische Schrift.

5 s. die zwei Arikel aus Bilan 30 und 31, Der Konflikt Juden/Araber: Die Position der Internationalisten in den 30er-Jahren, in: Revue Internationale Nr.31.

Geographisch: 

  • Naher Osten [1]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [2]

Argentinien: Die Mystifikation der Piquetero-Bewegung

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Wir veröffentlichen untenstehend Auszüge eines längeren Artikels der Genossen des Nucleo Comunista Internacional (NCI) aus Argentinien, der eine vertiefte Analyse der Piquetero-Bewegung macht, wobei er deren arbeiterfeindlichen Charakter und die Lügen der linken Gruppen aller Schattierungen anprangert, die "sich der Irreführung der Arbeiterklasse durch falsche Erwartungen gewidmet haben, um ihr glauben zu machen, dass die Ziele und Mittel der Piquetero-Bewegung dem Voranschreiten der eigenen Kämpfe dienen könne."

Diese Aufgabe der Irreführung, der Verfälschung von Ereignissen und der Behinderung des Proletariats daran, die wirklichen Lehren aus dieser Bewegung zu ziehen und sich somit gegen die Fallen des Klassenfeindes zu wappnen – eine Aufgabe, zu der die halb-anarchistische Gruppe GCI(1) einen unschätzbaren Beitrag liefert – wird von den Genossen des NCI deutlich entlarvt.

Nucleo Comunista Internacional:

Der bürgerliche Ursprung und Charakter der Piquetero-Bewegung

Allgemein herrscht die Ansicht vor, dass viele Arbeitslosenorganisationen ihren Ursprung in der Armut, der Arbeitslosigkeit und im Hunger haben, die sich im Laufe der letzten fünf oder sechs Jahre in den grossen Slums von Gross-Buenos Aires, Rosario, Cordoba etc. verschlimmert haben. Das ist nicht der Fall. Der Ursprung der Piquetero-Bewegung liegt in den so genannten "Manzaneras", die von der Gattin des damaligen Gouverneurs der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde, gelenkt wurden. Diese hatten eine doppelte Funktion: einerseits die soziale und politische Kontrolle sowie die Ermöglichung einer Mobilisierung ausgedehnter Schichten der verzweifelten Armen zur Unterstützung der von Duhalde repräsentierten bürgerlichen Fraktion und andererseits die Kontrolle über die Verteilung von Nahrungsmitteln an Arbeitslose (ein Ei und ein halber Liter Milch täglich), da es zu diesem Zeitpunkt noch keine Arbeitslosenprojekte, Hilfsprogramme usw. gab. Mit dem exponentiellen Wachstum der Arbeitslosigkeit und den damit einhergehenden Protesten verschwanden die Manzaneras jedoch von der Bühne. Es entstand ein Vakuum, das es zu füllen galt. Eine ganze Reihe von Organisationen, vorwiegend dirigiert von der katholischen Kirche, linken politischen Strömungen usw., sprangen in die Lücke. Der Letzte, der auf der Bühne erschien, war die maoistische Revolutionäre Kommunistische Partei mit ihrer Coriente Clasista y Combativa (Klassenkämpferische Strömung); die Trotzkisten des Partido Obrero (PO) hatten ihren eigenen Apparat für die Arbeitslosen errichtet Polo Obrero (Arbeiterpol), gefolgt von anderen Strömungen.

Diese ersten Organisationen erhielten ihre Feuertaufe in Buenos Aires, bei den Massenblockaden der strategischen Route 3, die Buenos Aires mit Patagonien im äussersten Süden des Landes verbindet. Sie forderten mehr Arbeitslosenunterstützung: Gelder, die von den Konsultativräten kontrolliert und verwaltet werden sollten, in denen die Gemeinden, die Piqueteros, die Kirche, oder, um es anders auszudrücken, der bürgerliche Staat vertreten waren.

Die "Arbeitsprojekte" und die verschiedenen Beihilfen erlaubten es somit der Bourgeoisie, mit Hilfe der mannigfaltigen Piquetero-Organisationen, ob sie nun Peronisten, Trotzkisten, Guevaristen, Stalinisten oder Gewerkschafter der CTA(2) waren, soziale und politische Kontrolle über die Arbeitslosen auszuüben. Diese Organisationen begannen, in die von der Arbeitslosigkeit, dem Hunger und der Marginalisierung am stärksten betroffenen Arbeiterquartiere auszuschwärmen. Die Verbreitung dieser Strukturen wurde vor allem mit Geldern des bürgerlichen Staates ausgeführt. Sie verlangten nur zwei Dinge von den Arbeitslosen, damit diese in den Genuss der Beihilfen und Nahrungsmittelpakete (5 kg) kommen: sich hinter den Fahnen der Organisationen zu mobilisieren und an politischen Aktionen teilzunehmen, sofern diese Organisationen eine politische Struktur besassen, sowie für die Vorschläge der Gruppe zu stimmen, der sie "angehörten". All dies geschah unter der Androhung, das Anrecht auf ihre erbärmlichen Beihilfen von 150 Peso (50 Dollars) pro Monat zu streichen.

Jedoch endeten hier die Verpflichtungen der Arbeitslosen gegenüber der Bewegung keineswegs. Sie mussten eine ganze Reihe von weiteren Pflichten gegenüber den Arbeitslosenorganisationen erfüllen, wobei die Erfüllung dieser Verpflichtungen in einem Heft festgehalten wurde: Jene, die durch die Teilnahme an Treffen und Demonstrationen sowie durch die Zustimmung zu den offiziellen Positionen die höchste Punktzahl erzielten, behielten ihre Beihilfen, während jene, die den offiziellen Positionen nicht zustimmten, Punkte verloren oder eventuell das Recht verwirkten, an den Projekten teilzunehmen. Darüber hinaus nehmen diese Organisationen den Arbeitslosen unter dem Vorwand von "Beiträgen" eine fixe Geldsumme ab. Dieses Geld wird zur Bezahlung der Offiziellen dieser Organisationen, zur Bezahlung von Lokalmieten (Versammlungsräume) benutzt, die von den Arbeitslosenorganisationen und den politischen Gruppen, von denen sie abhängen, gebraucht werden. Die Übergabe dieser Beiträge ist obligatorisch: Eigens zu diesem Zweck begleiten so genannte "Schiedsrichter" eines jeden Bezirkslokals der vielfältigen Arbeitslosenorganisationen die Arbeitslosen zur Bank, wo sie sofort nach Erhalt ihrer Unterstützung den Beitrag übergeben müssen.

Vor den Klassen übergreifenden Ereignissen vom 19. und 20. Dezember 2001 wurde die so genannte Piquetero-Versammlung vom trotzkistischen Polo Obrero, von der maoistischen Coriente Clasista y Combativa und von der Federacion de Tierra y Vivienda (Unterkunft und Wohnungswesen) dominiert.

Die Positionen, die von diesen und den folgenden Versammlungen angenommen wurden, demonstrieren klar das Wesen der diversen Piquetero-Gruppen als Apparate im Dienst des bürgerlichen Staates. Auch der Bruch zwischen dem Polo Obrero und den beiden anderen Strömungen, der zur Bildung des Bloque Piquetero führte, hat nichts an diesem Wesen verändert.

Der Partido Obrero sagt, dass das Ziel der Arbeitslosen oder des "Piquetero-Subjekts", wie der Partido Obrero es gerne in ihrer Monatszeitschrift Prensa Obreara nennt, es sei, die Piquetero-Bewegung in eine Bewegung der Massen zu verwandeln, wobei sie unter Letzteren die Massen der Arbeitslosen, der aktiven Arbeiter und aller Mittelschichten, die in die Arbeiterklasse und zu den Besitzlosen geworfen wurden, verstanden. Das bedeutet, dass die Arbeiterklasse sich in eine breite, Klassen übergreifende Front einreihen und nicht auf dem eigenen Terrain, sondern auf einem ihr völlig fremden Feld kämpfen soll. Das zeigt die Richtigkeit der (auch von uns vertretenen) Position der IKS auf, die die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember als eine Klassen übergreifende Revolte klassifizierte.

Der Partido Obrero bemäntelt ihre Worte nicht, wie der schamlose Paragraph auf ihrem 13. Kongress beweist, wenn er sagt: "Wer immer die Ernährung der Massen kontrolliert, kontrolliert die Massen…" Mit anderen Worten: Trotz der Deklamationen des Partido Obrero über seine Nahrungsmittelkontrolle als Mittel, die Kontrolle der Bourgeoisie über die Massen zu beenden, zeigt sie dasselbe Verhalten wie die Bourgeoisie, nämlich die Kontrolle über die Arbeitsprojekte, die Kontrolle über die Nahrungsmittelpakte und somit die Kontrolle über die Arbeitslosen. Das ist nicht nur die Haltung des PO, sondern der Gesamtheit der Strömungen und Gruppen in der Piquetero-Bewegung.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Arbeitslosenbewegungen, die die Massenmedien auf nationaler oder internationaler Ebene in Beschlag genommen und die zur Phantasmagorie einer beginnenden "Revolution", der Existenz von "Arbeiterräten" usw. im radikalisierten Kleinbürgertum geführt haben, ein völliger Schwindel sind.

Wenn man wie der PO der Auffassung ist, dass die Piquetero-Bewegung der bedeutendste Ausdruck der Arbeiterbewegung seit dem Cordobazo(3) und den anderen Kämpfen zu jener Zeit sei, dann diskreditiert man die Letzteren, die weder ein Volksaufstand noch in irgendeiner Weise Klassen übergreifend waren, sondern ganz im Gegenteil Arbeiterkämpfe, aus denen Arbeiterkomitees mit verschiedensten Funktionen (Verteidigungskomitees, Solidaritätskomitees usw.) hervorgingen.

Man mag einwenden, dass dies die Position der Führung der Piquetero-Bewegung und ihrer Organisationen sei, dass aber der dynamische Prozess des Piquetero-Phänomens viel wichtiger sei: ihre Kämpfe, ihre Demonstrationen, ihre Initiativen.

Die Antwort darauf ist einfach und dieselbe, die wir in Revolucion Comunista(4) Nr. 2 in unserer Kritik an der Position des IBRP(5) über den "Argentinazo" vom 19. und 20. Dezember gaben: dass es sich bei den Positionen dieser Strömung um idealistisches Wunschdenken handelt. Die Piquetero-Organisationen sind nicht mehr, als was ihre Führer, ihre Chefs sind. Die restlichen Piqueteros, mit ihren maskierten Gesichtern und den brennenden Reifen, sind Gefangene der 150 Peso pro Monat und der fünf Kilo Nahrungsmittel, die ihnen der bürgerliche Staat auf dem Wege dieser Organisationen zugesteht. Und all dies muss, wie wir bereits weiter oben gesagt haben, unter der Androhung des Verlustes der genannten "Beihilfen" getan werden.

Zusammengefasst stellen die Piqueteros absolut keine Entwicklung des Bewusstseins dar, sondern sind ganz im Gegenteil ein Rückschritt im Arbeiterbewusstsein, da diese Organisationen der Arbeiterklasse eine fremde Ideologie einimpfen: Wer immer die Nahrungsmittel verwaltet, verwaltet das Bewusstsein, wie der PO es nennt. Diese bürgerliche Position, diese perverse Logik kann nur zur Niederlage der Arbeiterklasse und der Arbeitslosen führen, denn die Funktion des Linksextremismus ist es, die Arbeiterklasse zu besiegen und ihre Klassenautonomie auszulöschen, gleich, wie "revolutionär" seine Parolen klingen.

Die GCI lügt über das Wesen der Piquetero-Bewegung

Ungenauigkeiten, Halbwahrheiten und Mystifikationen helfen dem Weltproletariat nicht; im Gegenteil, sie verschlimmern die Irrtümer und Beschränktheiten der kommenden Kämpfe. Genau das macht die GCI, wenn sie in ihrer Revue Communisme (Nr. 49, 50 und 51) schreibt: "Das erste Mal in der Geschichte Argentiniens gelang es der revolutionären Gewalt des Proletariats, eine Regierung zu stürzen." Und weiter: "Die Verteilung von enteigneten Waren an das Proletariat und die aus diesen Produkten hergestellten Volksmahlzeiten… Zusammenstösse mit der Polizei und anderen Kräften des Staates, wie die gedungenen peronistischen Strassenbanden, besonders am Tag der Amtseinsetzung des Präsidenten Duhalde…" Die GCI sät mit ihrer Haltung und mit ihren Lügen Verwirrung in der internationalen Arbeiterklasse und hindert sie so daran, die nötigen Lehren aus den Ereignissen in Argentinien 2001 zu ziehen.

Die GCI fährt mit der Verfälschung der Tatsachen fort, wenn sie im Zusammenhang mit dem Aufstieg Duhaldes von einem Kampf der "Bewegung" des Proletariats gegen die peronistischen Strassenbanden spricht. Das ist falsch, dies ist eine Lüge. Bei diesen Zusammenstössen prallten Fraktionen des bürgerlichen Staatsapparates aufeinander, auf der einen Seite der Peronismus und auf der anderen Seite der linksextremistische MST6, der PCA7 und andere, weniger wichtige trotzkistische und guevaristische Gruppen. Die Arbeiterklasse fehlte an diesem Tag.

Einen Augenblick lang könnte man vielleicht annehmen, dass die "Irrtümer" der GCI auf ein Übermass an revolutionärem Enthusiasmus und guten Willen zurück zu führen seien. Wenn man aber den Rest der Zeitschrift liest, kann man sehen, dass dies nicht der Fall ist. Ihre Rolle ist es, Verwirrung zu stiften, was den Interessen der Bourgeoisie dient. Die GCI belügt die internationale Arbeiterklasse und nährt die Mystifikation der Piqueteros, wenn sie sagt: "Die Behauptung des Proletariats in Argentinien wäre ohne die Piquetero-Bewegung nicht möglich gewesen, der Speerspitze der proletarischen Assoziation im letzten Jahrzehnt." Und: "In Argentinien hat die Entwicklung dieser Klassenmacht in den letzten Monaten solch ein Potenzial, dass sich ihr die noch Arbeitenden anschliessen (…) In den letzten Jahren ist ein grosser Kampf durch die Streikposten, die Versammlungen und die koordinierenden Strukturen der Piqueteros koordiniert und artikuliert worden." Es wäre Besorgnis erregend, wenn solche Behauptungen aus dem politisch-proletarischen Milieu kämen, jedoch erstaunt es uns nicht, sie von der GCI zu hören, einer halb-anarchistischen Gruppe, die sich auf die kleinbürgerlichen und rassistischen Positionen Bakunins bezieht. Was uns allerdings beunruhigt, das sind die von ihrer Presse verbreiteten Lügen.

Wie wir bereits oben gesagt haben, ist die Piquetero-Bewegung (abgesehen von Patagonien und Norte de Salta) Erbin der Manzaneras, und die Assoziationstümelei, die von den Streikposten generiert wurde, ist nichts anderes als eine Verpflichtung, die all jenen aufgezwungen wird, die vom "Arbeitsprojekt" oder von Beihilfen nutzniessen, um den Anspruch auf die Krümel nicht zu verlieren, die ihnen der bürgerliche Staat hinwirft. Unter ihnen existiert keine Solidarität, ganz im Gegenteil, hier herrscht das "Jeder für sich selbst und gegen den Anderen", das Trachten nach Beihilfen zum Schaden und auf Kosten des Hungers der Anderen.

Deshalb können wir in keiner Weise die Streikposten als etwas grossartig Bedeutsames für die Arbeiterklasse einordnen, und es ist eine schamlose Lüge, von einer "Koordination" der beschäftigten Arbeiter mit den Piqueteros zu sprechen. Die GCI fährt mit ihrer Verlogenheit fort, wenn sie sagt, dass "das generalisierte Assoziationstum des Proletariats in Argentinien ohne Zweifel die erste Bestätigung für die zunehmenden Autonomie des Proletariats ist (…) die direkte Aktion, eine mächtige Organisation gegen die bürgerliche Legalität, die Aktion ohne die Vermittlung der Vermittlung (…) ein Angriff gegen das Privateigentum (…) dies sind ausserordentliche Bestätigungen der Tendenz des Proletariats, sich zu einer die herrschende Ordnung zerstörenden Kraft zu formieren…" Diese Behauptungen sind zweifelsohne eine klare Demonstration ihrer offenen Absicht, die internationale Arbeiterklasse zu täuschen, um sie daran zu hindern, die notwendigen Lehren zu ziehen. Die GCI erweist der Bourgeoisie und der herrschenden Klasse einen grossen Dienst. Sie kann die Arbeiterklasse nicht beschwindeln, ohne die Bedeutung von Ereignissen, Aktionen und Parolen zu verzerren: Der Schlachtruf "Weg mit ihnen allen" (d.h. die Politiker) ist kein revolutionärer Aufruf, sondern vielmehr ein Aufruf an alle, nach einer "ehrlichen bürgerlichen Regierung" zu suchen.

Man muss sich die Frage stellen, was die GCI eigentlich unter Proletariat versteht. Für diese Gruppe wird das Proletariat nicht durch die Rolle definiert, die es in der kapitalistischen Produktion spielt, d.h. gemäss der Frage, ob es die Produktionsmittel besitzt oder seine Arbeitskraft verkauft. Für die GCI ist das Proletariat eine Kategorie, die neben den Arbeitslosen (die in der Tat Teil der Arbeiterklasse sind) auch das Lumpenproletariat und andere nicht ausbeutende Schichten umfasst, wie wir in ihrer Publikation Comunismo, Nr. 50 sehen können.

Die Position der GCI, das Lumpenproletariat in eine Kategorie mit der Arbeiterklasse zu stecken, bedeutet nichts weniger als den verschleierten Versuch, es als ein neues revolutionäres Subjekt zu präsentieren, um die Arbeitslosen von der Arbeiterklasse zu trennen. Weit entfernt davon, gegen die Linke zu sein, ähneln viele Positionen der GCI jenen des argentinischen Linksextremismus, wie des Partido Obrero, der seinerseits eine Unterkategorie der Arbeiter, die "Piquetero-Arbeiter", kreiert hat. Und wir sehen dies auch, wenn die GCI versucht, ihre Auffassung (die halb anarchistisch und "guerillaistisch" ist und nichts mit Marxismus zu tun hat) über dieses proletarische Subjekt darzulegen, und über die Lumpen sagt, dass sie "die entschlossensten Elemente gegen das Privateigentum" seien, da sie auch die verzweifeltsten Elemente seien.

Angesichts dieser Formulierung stellt sich die Frage: Ist das Lumpenproletariat eine von der Arbeiterklasse abgesonderte gesellschaftliche Schicht? Für die GCI ist dies nicht der Fall, für sie sind die Lumpen der bedrängteste Sektor des Proletariats. Dabei setzt die GCI das Lumpenproletariat mit den Arbeitlosen gleich, was absolut falsch ist. Dies bedeutet absolut nicht, dass die Bourgeoisie nicht versucht, diese abgesonderten Teile von Arbeitern ohne Arbeit durch die Isolation zu demoralisieren, sie zu verlumpen, damit sie ihr Klassenbewusstsein verlieren. Es gibt jedoch einen grossen Unterschied zwischen dem und der Auffassung der GCI, da die Annahme, so rührend sie sein mag, dass das Lumpenproletariat der verzweifeltste Teil der Arbeiterklasse sei und dass diese Verzweiflung dazu führe, "das Privateigentum nicht zu respektieren", falsch ist. Das Lumpenproletariat ist vollständig in der kapitalistischen Gesellschaft des "Nimm, was du kannst und jeder für sich selbst" integriert. Was seine "Respektlosigkeit vor dem Privateigentum" angeht, so ist dies nichts anders als Ausdruck der Verzweiflung dieser Gesellschaftsschicht.

Die unterschwellige Ankündigung der GCI über das Ende des Proletariats ist nichts anderes als ein Echo auf die Ideologien und Theorien, die von der Bourgeoisie in den 1990er-Jahren verbreitet wurden, wenn sie sagt, dass diese zukunftslosen Gesellschaftsschichten Teil des Proletariats seien. Sie leugnet das Wesen der Arbeiterklasse als die einzig revolutionäre Klasse in unserer Epoche und als die einzige Klasse, die die Perspektive des Kommunismus und der Zerstörung des Ausbeutungssystems des Kapitalismus besitzt.

Es ist falsch, die Revolte von 2001 als proletarisch und revolutionär zu charakterisieren. Es ist eine Lüge zu behaupten, die Arbeiterklasse habe das Privateigentum herausgefordert. Die assoziativen Strukturen, auf die sich die GCI bezieht, sind integraler Bestandteil des Staatsapparats, um die Arbeiterklasse zu spalten und aufzulösen, denn wie auch immer die Strukturen der Piqueteros beschaffen sein mögen, sie haben nie über die Zerstörung des Privateigentums nachgedacht noch haben sie eine kommunistische Perspektive aufgestellt.

In Wahrheit wird der ganze Wirbel, den die GCI über die Streikposten und Piquetero-Gruppen veranstaltet, dazu benutzt, die Arbeiterklasse zu spalten und den revolutionären Charakter des Proletariats zu leugnen. Die GCI benutzt eine marxistische Phraseologie, doch ist diese Gruppe nichts anderes als eine Deformation der bürgerlichen Ideologie.

Darüber hinaus hat die GCI einen offenen Angriff gegen die IKS und ihre Position bezüglich der Ereignisse von 2001 lanciert. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Position, die die IKS gegenüber den Ereignissen in Argentinien eingenommen hat, die einzige ist, die im Stande ist, die richtigen Lehren aus diesem Volksaufstand zu ziehen, wohingegen jene des IBRP allein auf dem Fetisch der "neuen Avantgarden" und der "radikalisierten Massen in den peripheren Ländern" basiert. Die GCI hat (wie die Interne Fraktion der IKS) eine nicht-proletarische und anarchistisch-kleinbürgerliche Position angenommen.(...)

Unsere kleine Gruppe hat dieselben Lehren aus der Klassen übergreifenden Revolte in Argentinien gezogen wie die Genossen der IKS. Wir haben uns weder von den Drittwelt-Auffassungen des IBRP noch von der angeblich proletarisch-revolutionären Aktion des Lumpenproletariats, wie sie die GCI vertritt, blenden lassen.

Es ist absurd, die Klassen übergreifende Rebellion in Argentinien mit der Russischen Revolution von 1917 gleichzustellen. Was haben Bezüge auf Kerenski in der Analyse der Erhebung von 2001 zu suchen? Die Antwort lautet: Nichts. (…) Die Analogie in der Antwort der GCI ist offensichtlich. Es geht hier nicht um Irrtümer, überstürzte Analysen oder idealistische Sichtweisen, ganz im Gegenteil, sie ist schlicht und einfach das Produkt ihrer Ideologie, die sie zur materialistischen Dialektik und zum historischen Materialismus auf Abstand hält. Sie macht sich anarchistische Positionen zu Eigen, die eine schwer verdauliche Mischung sind. In ihrer oberflächlichen Terminologie übernimmt sie die kleinbürgerliche Ideologie der verzweifelten und zukunftslosen Mittelschichten.

Die Positionen der IFIKS

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die Positionen der IFIKS.(8) Obwohl diese Gruppe behauptet, die "wahre IKS" und die "einzige Nachfolgerin des revolutionären Programms der IKS" zu sein, zeigt sie klar, dass sie lediglich eine Nachbeterin der fehlerhaften Analysen des IBRP bezüglich Argentinien ist. Die Antwort dieser Gruppe auf einen von uns publizierten Artikel in Revolucion Comunista gibt eine gute Vorstellung über ihre Positionen.

"… im Gegensatz zu allen anderen kommunistischen Kräften hat die IKS die Wirklichkeit der Arbeiterkämpfe in Argentinien bestritten (…) wir denken, dass die Bewegung in Argentinien eine Bewegung der Arbeiterklasse war (…) Eine schematische Sichtweise geht davon aus, dass das Proletariat der peripheren Länder nichts anderes zu tun habe als zu warten, bis die Arbeiter der zentralen Länder den Weg zur Revolution öffnen. Offensichtlich hat eine solche Sichtweise Auswirkungen und Konsequenzen auf die Orientierungen und selbst auf die militante Haltung gegenüber den Kämpfen. Bereits in den 70er-Jahren zeigte sich in der Presse der IKS dieses unkorrekte, vulgäre, mechanische Unverständnis. Heute denken wir, dass diese Sichtweise mit aller Macht in den gegenwärtigen Positionen der IKS, mit der absoluten und daher idealistischen Vision über den Zerfall, zurückgekehrt ist, was ‚unsere‘ Organisation dazu verleitete, eine indifferente, defätistische und gar denunziatorische Position gegenüber den Kämpfen der argentinischen Arbeiter 2001 und 2002 einzunehmen. (siehe die IKS-Presse zur damaligen Zeit)"(9)

Diese langen Ausführungen aus der Publikation der IFIKS zeigen klar dieselben Irrtümer wie jene des IBRP, hinter dem die IFIKS und auch die GCI auf prinzipienlose Art und Weise hinterher rennen. Sie alle stimmen darin überein, dass der Volksaufstand in Argentinien ein Arbeiterkampf gewesen sei. Nichts könnte falscher sein.

Wahr ist, dass sich die Position der IKS und unserer kleinen Gruppe von denen der anderen kommunistischen Strömungen, insbesondere vom IBRP, unterscheidet. Doch dies ist nicht, wie die IFIKS fälschlicherweise behauptet, eine defätistische Position. Wir sind es leid zu wiederholen, dass es notwendig ist, die Lehren aus den Kämpfen zu ziehen, um keine Fehler zu begehen oder dem Impressionismus anheim zu fallen, wie es offensichtlich diesen Gruppen bezüglich der Piquetero-Erfahrung passiert ist. Wenn man sagt, dass es am 19. Dezember 2001 in Argentinien keinen Arbeiterkampf gegeben hat, heisst dies überhaupt nicht, dass man ein Deserteur des Klassenkampfes ist, wie die IFIKS uns unterstellt. Ihre Auffassung ist typisch für das verzweifelte Kleinbürgertum, das um jeden Preis Arbeiterkämpfe dort sehen will, wo es in der Realität keine gibt.

Die hoch industrialisierten Länder weisen weit günstigere Bedingungen für die revolutionären Arbeiterkämpfe auf als die peripheren Nationen. Die Bedingungen für eine proletarische Revolution, verstanden als Bruch mit der herrschenden Klasse, sind in Ländern, in denen die Bourgeoisie am stärksten ist und die Produktivkräfte einen hohen Entwicklungsstand erreicht haben, weitaus günstiger. (…)

Wie die GCI hat die IFIKS nichts anderes als eine Politik der Verleumdung und Beleidigung der IKS betrieben. Und diese Vorgehensweise hat sie dazu geführt, das Unleugbare zu leugnen und das Inakzeptable zu akzeptieren – an erster Stelle, dass der Kampf 2001 in Argentinien ein Arbeiterkampf gewesen sei – sowie die Mystifikation zu verbreiten, dass die Arbeitslosenbewegung, die "Streikposten" usw. Klassenorgane seien, obwohl die konkrete Praxis des Klassenkampfes das Gegenteil demonstriert.

Für eine proletarische Perspektive

Die Piquetero-Strömungen, die in ihrer Gesamtheit ca. 200'000 beschäftigungslose Arbeiter kontrollieren, sind streng genommen keine Gewerkschaften, aber sie weisen Eigenschaften von solchen auf: Mitgliederbeiträge, blinder Gehorsam gegenüber jenen, die die "Arbeitsprojekte" verwalten bzw. die Lebensmittel verteilen, und vor allem ihr permanenter Charakter. Es ist vollständig gleichgültig, ob sie von linken Parteien oder von der CTA (wie im Fall der FTV) kontrolliert werden. So haben nach den frühen Kämpfen der Arbeitslosen 1996 und 1997 in Patagonien, wo sich die Arbeitslosen in Komitees, Versammlungen usw. selbst organisierten, die linken Parteien es verstanden, als Organe des Kapitals in die Kämpfe der beschäftigten und arbeitslosen Arbeiter zu infiltrieren und sie zu sterilisieren.

Jedoch könnte man einwenden: "Könnten diese Strömungen nicht durch Aktionen der Basis regeneriert werden? Meint ihr etwa, dass die Arbeitslosen vom Kampf ablassen sollen?" Die Antwort ist ganz einfach: NEIN. Die Piquetero-Organsiationen sind Anhängsel der linken Parteien, ob sie nun "unabhängig" sind oder der verlängerte Arm der Hauptgewerkschaften, wie im Falle der CTA für die FTV und ihren offiziellen Führer D‘Elia. Sie sind untrennbarer Bestandteil des Kapitals, des bürgerlichen Apparates. Ihr Zweck ist die Spaltung und Zersplitterung der Kämpfe, die Sterilisierung der Kämpfe der Arbeitslosen, bis diese in einen integralen Bestandteil der urbanen Landschaft umgewandelt sind, ohne revolutionäre Perspektive und isoliert von ihrer Klasse.

Wir sagen keinesfalls, dass die Arbeitslosen vom Kampf ablassen sollen, im Gegenteil: Sie müssen ihr Engagement verdoppeln. Dennoch ist es notwendig, ständig zu erklären, dass die unbeschäftigten Arbeiter ihre Forderungen und Reformen innerhalb des Systems nicht durchsetzen können. Deshalb müssen die Arbeitslosen Seite an Seite mit den Beschäftigten gegen das System kämpfen. Dafür ist es aber notwendig, dass sie aus ihrer Isolation nicht nur gegenüber den Beschäftigten, sondern auch untereinander heraustreten. Eine Isolation, die die Bourgeoisie geschickt durch die linken Parteien und den Piquetero-Strömungen mit ihren eigenen, separaten Gruppen geschaffen hat und mit der sie Spaltungen unter den Arbeitslosen bewirkt hat, die eine Denkweise fördert, die in dem Nachbarn oder Genossen im Bezirk einen potenziellen Gegner und Feind sieht, der dir deine Beihilfen und Nahrungsmittel nehmen könnte.

Diese Falle muss kaputt gemacht werden. Die Arbeitslosen müssen ihre vom Kapitalismus aufgezwungene Isolation durchbrechen und sich mit der gesamten Klasse vereinen, derer sie ein Teil sind. Dazu ist allerdings eine Änderung der Organisationsform notwendig: nicht mit den Mitteln permanenter Organe, sondern indem man dem Beispiel der Arbeiter in Patagonien 1997 oder in Norte de Salta folgt, als Einheit in der Klasse bestand und die Organisation des Kampfes durch Generalversammlungen mit rückrufbaren Mandaten geschah, auch wenn sie letztendlich unter die Kontrolle der linksextremistischen Parteien gerieten.

Dennoch bleibt die Erfahrung aus diesen Kämpfen gültig, da die Arbeitslosen gegen die elenden Beihilfen, die ihnen gegeben werden, gegen die Preissteigerungen im Öffentlichen Dienst usw. kämpfen müssen, was auf gewisse Weise derselbe Kampf ist wie jener, der von den Beschäftigten für Lohnerhöhungen geführt wird. Sie müssen sich unterstützend am Klassenkampf beteiligen und ihre Kämpfe in einen integralen Bestandteil des allgemeinen Kampfes gegen das Kapital umwandeln.

Die Piquetero-Strömungen haben das Wort "Piquetero" geschaffen, um eine Spaltung nicht nur gegenüber den Beschäftigten, sondern auch gegenüber jenen Arbeitslosen zu vollziehen, die nicht in diesen Organisationen sind. Durch die Schaffung neuer gesellschaftlicher Kategorien und neuer gesellschaftlicher Subjekte wie die "Arbeitslosen-Piqueteros" versuche diese Gruppen von Arbeitslosen, Millionen von beschäftigten und arbeitslosen Arbeiter zu spalten und auszuschliessen, was nur der herrschenden Klasse nützt.

Wie im Falle der Zapatistas waren und sind die Piqueteros Instrumente im Dienste des Kapitals. Ihre "Mode" der Kopfschützer, der in Brand gesteckten Autoreifen mitten auf den Strassen ist nur eine "Vermarktung" durch den Kapitalismus, um der Klasse in ihrer Gesamtheit zwei Dinge zu sagen: Einerseits gibt es Millionen von Arbeitslosen, die bereit sind, die Jobs der Beschäftigten für weniger Geld zu übernehmen und auf diese Weise die Entwicklung des Klassenkampfes zu lähmen, und andererseits zeigt das Programm, das die vielfältigen Piquetero-Gruppen aufstellen – mehr Nahrungsmittelpakete und 150 Pesos im Monat an Beihilfen, echte Arbeit in kapitalistischen Fabriken –, dass ausserhalb des Kapitalismus nichts möglich sei, selbst wenn man von einer Arbeiter- und Volksregierung spricht.

Für die arbeitslosen Arbeiter ist es deshalb notwendig, mit den Fallen der Bourgeoisie und mit den Piquetero-Organisationen zu brechen, indem sie sie fallenlassen, da diese zusammen mit den Gewerkschaften und den linken Parteien Bestandteil des Kapitals sind. Entgegen dem, was der Linksextremismus sagt, sind die Arbeitslosen Arbeiter und nicht "Piqueteros". Solch eine Bezeichnung bedeutet die Spaltung der Arbeitslosen von der Gesamtheit der Arbeiterklasse und ihre Transformation in eine Kaste; dies ist der Inhalt der Positionen der Linken des Kapitals.

Die Arbeiter und die Arbeitslosen müssen zur Klasseneinheit streben, da beide Sektoren derselben Gesellschaftsklasse angehören: der Arbeiterklasse. Es gibt keine Lösung innerhalb dieses Systems, da es bankrott ist. Einzig die proletarische Revolution kann dieses System zerstören, das nur Armut, Hunger, Marginalisierung bringt. Dies ist die Herausforderung.

Buenos Aires, 16. Juni 2004

Fußnoten:

1 Groupe Communiste Internationale.

2 Central de los Trabajadores Argentinos, die ihre eigene Gewerkschaft für die Arbeitslosen unter dem Namen Federación de Tierra y Vivienda aufgestellt hat.

3 Arbeiteraufstand in der Industriestadt Cordoba, Argentinien, 1969.

4 die Zeitschrift des NCI.

5 Internationales Büro für die Revolutionäre Partei, s. https://www.ibrp.org [3]

6 Movimiento Socialista de los Trabajadores, die unter dem Namen Izquierda Unida im Parlament sitzt.

7 Partido Comunista de la Argentina (argentinische Stalinisten).

8 die selbsternannte „Interne Fraktion der IKS“; siehe https://www.internationalism.org/links.html [4]

9 IFIKS-Bulletin, Nr. 22, 23. Dezember 2003; unsere Übersetzung.

 

Geographisch: 

  • Argentinien [5]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Von der Kommunistischen Linken beeinflusst [6]

Battaglia Comunista wendet sich von einem marxistischen Schlüsselkonzept ab: der Dekadenz der Produktionsweisen

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Die Theorie der Dekadenz im Zentrum des Historischen Materialismus

Battaglia Comunista wendet sich von einem marxistischen Schlüsselkonzept ab: der Dekadenz der Produktionsweisen

In der letzten Ausgabe der Internationalen Revue 34 haben wir ausführlich und gestützt auf Passagen aus ihren Hauptschriften in Erinnerung gerufen, wie Marx und Engels die Begriffe des Aufstiegs und der Dekadenz einer Produktionsweise definierten. Wir sahen, dass der Begriff der Dekadenz sich im eigentlichen Zentrum des historischen Materialismus, in der Analyse der Aufeinanderfolge der verschiedenen Produktionsweisen, befindet. In einem weiteren Artikel werden wir aufzeigen, dass dieses Konzept auch an zentraler Stelle in den Programmen der 2. und 3. Internationalen sowie der marxistischen Linken stand, die aus Letzterer stammte und in denen die Gruppen der Kommunistischen Linken heute ihren Ursprung haben.
Wir haben mit der Veröffentlichung einer neuen Artikelreihe1 über die „Dekadenztheorie im Zentrum des Historischen Materialismus“ begonnen, um sowohl auf völlig legitime Fragen zum Thema als auch und vor allem auf die Konfusionen zu antworten, die von jenen in Umlauf gesetzt werden, die dem Druck der bürgerlichen Ideologie nachgegeben und sich von diesem Grundsatz des Marxismus abgewendet haben. Der Artikel, der von Battaglia Comunista veröffentlicht wurde und den schamhaften Titel „Für eine Definition des Konzepts der Dekadenz“2 trägt, ist ein erstklassiges Beispiel dafür. Wir haben bereits die Gelegenheit genutzt, einige seiner Hauptideen zu kritisieren .3 Doch die Publicity, die diesem Artikel gewidmet wurde, seine Übersetzung in drei Sprachen, die Tatsache, dass er innerhalb des IBRP eine Diskussion über die Frage der Dekadenz ausgelöst hat, und die Einleitung, die die CWO4 in ihrer eigenen Zeitschrift5 veröffentlicht hat, veranlassen uns, zum Thema zurückzukehren und noch eingehender darauf zu antworten.
Laut Battaglia machen es zwei Gründe notwendig, „den Begriff der Dekadenz zu definieren“:
– erstens um gewisse Zweideutigkeiten in der gegenwärtig akzeptierten Definition der Dekadenz des Kapitalismus zu entfernen, wovon die schlimmste die Sichtweise vom Absterben des Kapitalismus als „ökonomisch unabwendbar und gesellschaftlich vorhersehbar“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32) sei, mit anderen Worten: eine fatalistische Sichtweise des Todes des Kapitalismus;
– zweitens um die Idee zur Durchsetzung zu verhelfen, dass solange, wie das Proletariat den Kapitalismus noch nicht überwunden hat, „das Wirtschaftssystem sich selbst reproduziert, indem es einmal mehr und auf höherer Ebene all seine Widersprüche aufwirft, ohne auf diese Weise die Bedingungen für seine Selbstzerstörung zu schaffen“ (ebenda). Die Idee der Dekadenz macht also angeblich „keinen Sinn, wenn sie in Bezug auf die Überlebensfähigkeiten der Produktionsweise benutzt wird“ (Internationalist Communist, Nr. 21).
Wir bestreiten die Behauptung, dass der Marxismus auch nur die leiseste Zweideutigkeit enthält, die zu einer fatalistischen Sichtweise vom Ableben des Kapitalismus und damit zur Idee verleiten könnte, dass unter dem Druck der immer überwältigenderen Widersprüche das System sich einfach von der historischen Bühne zurückzieht. Für den Marxismus hatte im Gegenteil die Folge einer Abwesenheit, entweder „…jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaf [geendet] oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 462). Mit anderen Worten: das Verschwinden der Gesellschaft selbst. Wie wir aufzeigen wollen, besteht die einzige Zweideutigkeit in den Ideen von Battaglia Comunista. Wir sollten darauf hinweisen, dass Battaglia unfreiwillig als Sprecher all jener bürgerlichen Ideologen handelt, die behaupten, dass der Marxismus „fatalistisch“ sei, und die die Rolle des „menschlichen Willens“ in der Entwicklung der Geschichte hervorheben. Battaglia stellt selbstredend den Marxismus nicht in Frage. Im Gegenteil, im Namen des Marxismus (oder zumindest der eigenen Version des Marxismus) macht es sich daran, eine Konzeption als „fatalistisch“ zurückzuweisen, die sich, wie wir im letzten Artikel gesehen haben, im eigentlichen Zentrum des Marxismus befindet.
Was den zweiten Grund angeht, den Battaglia für die Definierung des Begriffes der Dekadenz angibt, so steht er im völligen Widerspruch zum Marxismus, für den die kapitalistische Produktionsweise „damit nur aufs neue [beweist], dass sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt“,6 und das „kapitalistische System im Westen im Verblühen ist“,7 „…an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet“.8
Seine methodischen Irrtümer führt Battaglia in die schlimmste Art von Verirrungen: „Selbst in der progressiven Phase (…) tauchten Krisen und Kriege wie auch die Angriffe gegen die Arbeitsbedingungen punktuell immer wieder auf“.9 Battaglia endet so bei den alten bürgerlichen Banalitäten, die die qualitativen Ausweitungen dieser Geisseln während des barbarischen 20. Jahrhunderts minimalisieren, mit der Begründung, dass Krieg und Armut immer existiert haben. Indem es so verfährt, behauptet Battaglia letztendlich, dass die Hauptausdrücke der Dekadenz des Kapitalismus einfach nicht existieren.
Laut Battaglia gibt es ferner keine zwei fundamentalen Phasen in der Evolution der kapitalistischen Produktionsweise, sondern stetig aufeinander folgende Perioden des Aufstiegs und der Dekadenz, die den Hauptphasen der Entwicklung der Profitrate entsprechen.
Bei dieser Sichtsweise nehmen die Kriege der dekadenten Periode – die einen der Ausdrücke der Todeskrise des Systems und eine wachsende Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellen – die Rolle der „Regulierung der Beziehungen zwischen den Sektionen des internationalen Kapitals“ (ebenda) an. Diese Unfähigkeit, die Realität zu begreifen, ist ein Hauptfaktor in der erheblichen Unterschätzung des Ernstes der Weltlage durch das IBRP. Das IBRP steht somit in wachsendem Masse auf Kriegsfuss mit der Realität, was nur seine Fähigkeit aufs Spiel setzen kann, die Welt zu verstehen, deren Analyse Teil seiner Interventionen in der Arbeiterklasse ist. Es verringert den Einfluss dieser Intervention, wenn es sich auf faule und nicht überzeugende Argumente stützt.

Besassen Marx und Engels eine fatalistische Sichtweise der Dekadenz des Kapitalismus?

Battaglia beginnt seinen Artikel mit der Behauptung, dass das Konzept der Dekadenz Zweideutigkeiten enthalte und dass sich die erste in der fatalistischen Sichtweise vom Ende des Kapitalismus zeige: „Die Zweideutigkeit befindet sich in der Tatsache, dass die Dekadenz (oder der fortschreitende Verfall der kapitalistischen Produktionsweise) aus einer Art unabwendbaren Selbstzerstörungsprozesses herrührt, dessen Ursachen nachweislich die wesentlichen Aspekte ihres eigenen Daseins sind (…) das Verschwinden und die Zerstörung der kapitalistischen Wirtschaftsform ist ein historisch gegebenes Ereignis, ökonomisch unvermeidbar und gesellschaftlich vorhersehbar. Dies, eine ebenso infantile wie idealistische Vorgehensweise, endete darin, ein negatives politisches Echo auszustrahlen und die Hypothese in die Welt zu setzen, dass es angesichts des Todes des Kapitalismus ausreiche, Däumchen zu drehen, oder dass es in einer Krisensituation (und nur dann) genug sei, die subjektiven Instrumente des Klassenkampfes als den letzten Impuls für einen Prozess zu schaffen, der ansonsten unumkehrbar ist. Nichts ist falscher als dies.“ (ebenda) Vorweg sei gesagt, dass diese Zweideutigkeit nur in Battaglias Kopf existiert. Marx und Engels, die als Erste diesen Begriff der Dekadenz prägten und davon reichlich Gebrauch machten, waren keineswegs fatalistisch. Für die Begründer des Marxismus gab es keinen unabwendbaren und automatischen Mechanismus hinter der Abfolge der Produktionsweisen; sozioökonomische Widersprüche wurden vom Klassenkampf geregelt, der die Antriebskraft der Geschichte bildet. Um Marx zu zitieren – die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber innerhalb vorgegebener historischer Bedingungen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“10 Oder wie Rosa Luxemburg schrieb: „Der wissenschaftliche Sozialismus hat uns gelehrt, die objektiven Gesetze der geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst. Das Proletariat ist in seiner Aktion von dem jeweiligen Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, aber die gesellschaftliche Entwicklung geht nicht jenseits des Proletariats vor sich, es ist in gleichem Masse ihre Triebfeder und Ursache, wie es ihr Produkt und ihre Folge ist. Seine Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte. Und wenn wir die geschichtliche Entwickung sowenig überspringen können wie der Mensch seinen Schatten, so können wir sie doch beschleunigen oder verlangsamen.“11
Eine alte herrschende Klasse verzichtet niemals auf ihre Macht, sie verteidigt sie mit allen Mitteln und Waffen. Der Begriff der Dekadenz enthält also keinerlei Zweideutigkeit hinsichtlich der Möglichkeit eines „unabwendbaren Prozesses der Selbstzerstörung“. Wie sehr auch immer eine alte Produktionsweise sich auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene aufgelöst haben mag, wenn keine neue gesellschaftliche Kraft aus dem Innern der alten Gesellschaft emporgekommen ist oder wenn sie sich als unfähig erweist, genügend Kraft zu entwickeln, um die alte herrschende Klasse zu stürzen, dann gibt es keinen Tod der herrschenden Gesellschaft oder den Aufbau einer neuen. Die Macht der herrschenden Klasse und ihre Anhänglichkeit an ihren Privilegien sind bedeutende Faktoren beim Überleben einer Gesellschaftsform. Die Dekadenz einer Produktionsweise schafft die Möglichkeit und die Notwendigkeit ihres Sturzes, aber nicht die automatische Entstehung einer neuen Gesellschaft.
Es gibt daher keine „fatalistische Zweideutigkeit“ in der marxistischen Analyse der Aufeinanderfolge von Produktionsweisen, wie Battaglia uns weiszumachen versucht. Marx wies selbst darauf hin, dass, wenn der Ausgang des Klassenkampfes nicht vom Sieg einer neuen Klasse besiegelt wird, die neue Produktionsverhältnisse mit sich bringt, die Periode der Dekadenz einer Produktionsweise zu einer Periode des allgemeinen Zerfalls mutieren wird. Diese historische Möglichkeit wird gleich zu Beginn des Kommunistischen Manifestes entwickelt, wo Marx nach seiner Äusserung, dass die „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, mit einem „Entweder…. oder“ fortfährt, um die beiden möglichen alternativen Ausgänge der Klassenwidersprüche zu veranschaulichen: „…..Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“12
Es gibt viele historische Beispiele von Zivilisationen, die eine solche Pattsituation im Klassenkampf erlebt haben, welche sie zum „gemeinsamen Untergang.“ und somit zur Stagnation, zum Zusammenbruch oder gar zur Rückkehr zu früheren Entwicklungsstufen verurteilte.
Battaglias Bannsprüche, denen zu Folge die Auffassungen über Dekadenz und Zerfall „den Methoden und dem Arsenal der politischen Ökonomie fremd“ (Internationalist Communist, Nr. 21) seien, sind also nichts Anderes als lächerlich. Die Militanten dieser Organisation würden besser daran tun, zu ihren Klassikern zurückzukehren und mit dem Manifest und dem Kapital beginnen, wo die beiden Begriffe einen wichtigen Platz einnehmen (s. Internationale Revue Nr. 34). Manche Gruppen oder Individuen mögen ein Unverständnis oder opportunistische Verirrungen rund um den Begriff der Dekadenz entwickelt haben – und die fatalistische Sichtweise ist sicherlich eine von ihnen. Dies ist eine Frage. Doch die Methode, die darin besteht, den Begriff der Dekadenz zu diskreditieren, indem ihm die Irrtümer angeheftet werden, die von Anderen in seinem Namen begangen werden, ist dieselbe, die die Anarchisten benutzten, um den Begriff der Partei oder der Diktatur des Proletariats auf der Basis der Verbrechen des Stalinismus zu diskreditieren. Eine andere Frage ist die häufig anzutreffende Ungeduld, der Optimismus vieler Revolutionäre, unter ihnen auch Marx. Wie oft ist der Kapitalismus in den Texten der Arbeiterbewegung voreilig begraben worden! Dies traf besonders auf die Kommunistische Internationale und die ihr angeschlossenen Parteien zu, einschliesslich der italienischen Kommunistischen Partei (ob es den Bordigisten gefällt oder nicht): „Die Krise des Kapitalismus ist immer noch offen und wird sich unvermeidlich vertiefen, bis der Kapitalismus dahinstirbt.“ (Lyoner Thesen, 1926)13 Diese verständliche und kleine Sünde ist, auch wenn sie möglichst vermieden werden sollte, nur dann eine Gefahr, wenn die Revolutionäre sich als unfähig erweisen, ihre Fehler zu erkennen, wen sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändert.

Ein Konzept des historischen Materialismus, das dem Marxismus völlig entgegengesetzt ist

In seinem Kampf gegen den „Fatalismus“, der angeblich der marxistischen Idee der Dekadenz innewohnt, enthüllt Battaglia seine eigene Sicht des historischen Materialismus: „Der widersprüchliche Aspekt der kapitalistischen Produktion, die Krisen, die daraus herrühren, die Wiederholung des Akkumulationsprozesses, der zeitweise unterbrochen wird, der aber frisches Blut aus der Zerstörung des Übermasses an Kapital und Produktionsmitteln erhält, führt nicht automatisch zu seiner Zerstörung. Entweder interveniert der subjektive Faktor, der im Klassenkampf seinen materiellen Angelpunkt und in der Krise seine ökonomisch bestimmende Voraussetzung hat, oder das Wirtschaftssystem reproduziert sich selbst, indem es all seine Widersprüche einmal mehr und auf einer höheren Stufe aufwirft, ohne auf diese Weise die Bedingungen für seine Selbstzerstörung zu schaffen.“ Für Battaglia fährt der Kapitalismus, solange er nicht vom Klassenkampf zerstört worden ist, also fort, „frisches Blut aus der Zerstörung des Übermasses an Kapital und Produktionsmittel“ zu beziehen, womit sich „das Wirtschaftssystem selbst reproduziert, indem es all seine Widersprüche einmal mehr und auf einer höheren Stufe aufwirft“. Hier befindet sich Battaglia im krassen Gegensatz zur Ansicht von Marx über die Dekadenz einer Produktionsweise, insbesondere des Kapitalismus: „Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit.“14
In seinem zweiten Entwurf des Briefes an Vera Sassulitsch (MEW 19, S. 398) zog Marx in Betracht, dass „...das kapitalistische Systems im Westen im Verblühen ist, und nur noch eine ‚archaische‘ Formation sein wird,“ und im Kapital teilt er uns mit, dass der Kapitalismus „altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt. (siehe oben Fsn 5). Die Begriffe, die Marx benutzt, um die Dekadenz des Kapitalismus zu beschreiben, sind unzweideutig: „altersschwach“, „im Verblühen“, „eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit“ etc. Und dennoch meint Battaglia sagen zu können, dass „die Dekadenz (…) bedeutungslos ist, wenn wir die Überlebensfähigkeit einer Produktionsweise in Betracht ziehen“ (Internationalist Communist, Nr. 21)
Mit diesen wenigen Erinnerungen an die marxistische Definition der Dekadenz wird der Leser allein den Unterschied zwischen der von Marx entwickelten historischen und materialistischen Sicht der Dekadenz des Kapitalismus und Battaglias eigener Sichtweise beurteilen können, wonach der Kapitalismus, auch wenn er sicherlich Krisen und wachsende Widersprüche durchläuft,15 sich kontinuierlich erneuert (es sei denn, der Klassenkampf interveniert), „frisches Blut“ erhält und „sich selbst reproduziert, indem er all seine Widersprüche einmal mehr und auf einer höheren Stufe aufwirft“. Es trifft zu, dass Battaglia vorgibt, keine Kenntnis davon zu haben, dass Marx über die Dekadenz schrieb – „bis hin zu der Tatsache, dass das Wort selbst nirgendwo in den drei Bänden, die das Kapital bilden, auftaucht“ (Internationalist Communist, Nr. 21, S. 23) – und dass Marx die Idee der Dekadenz nur ein einziges Mal in seinem gesamten Werk erwähnte: „Marx beschränkte sich selbst darauf, den Kapitalismus lediglich in jener historischen Phase als fortschrittlich zu definieren, als er die Wirtschaftswelt des Feudalismus eliminierte und sich selbst als mächtiges Entwicklungsmittel der Produktionsmittel vorstellte, die von der vorherigen Wirtschaftsform gehemmt worden waren, doch ging er niemals weiter in der Definition des Kapitalismus, ausgenommen in der berühmten Einleitung zu ‚Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie‘“16. Nach unserer Auffassung würde Battaglia, statt hochtrabende Exkommunikationen gegen die Begriffe der Dekadenz und des Zerfalls zu verkünden, die dem Marxismus fremd seien, besser daran tun zu berücksichtigen, was Marx über Weitling feststellen musste: „Ignoranz ist kein Argument.“ Dann sollten die Genossen von Battaglia zu ihren Klassikern zurückgehen, insbesondere zum Kapital, das sie offensichtlich als ihre Bibel betrachten.17 Was uns anbelangt, so verweisen wir den Leser auf die Beschreibung des Marx'schen Konzeptes der Dekadenz in der Internationalen Revue Nr. 34.

Die marxistische Methode auf das Studium gewisser ökonomischer Mechanismen reduziert

Der Prozess der Dekadenz, wie ihn Marx definiert hat, geht weit über eine blosse „kohärente ökonomische Erklärung“ hinaus: Er korrespondiert an erster Stelle mit der historischen Alterung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (Lohnarbeit, Leibeigenschaft, Sklaventum, Stammesgesellschaft etc.) auf der Grundlage verschiedener Produktionsweisen (Kapitalismus, Feudalismus, Sklavenhaltergesellschaften, die asiatische Produktionsweise etc.). Der Eintritt in eine Periode der Dekadenz bedeutet, dass sich die eigentlichen Fundamente einer Produktionsweise in der Krise befinden. Das Sekret, die versteckte Gründung einer neuen Produktionsweise, ist „Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird. (...) Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens…“ und dies „.das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“ 18 Marx hätte nicht ausdrücklicher sein können. „Hiermit war aber nachgewiesen, dass die Reichtumserwerbung der heutigen Kapitalisten ebensogut in der Aneignung von fremder, unbezahlter Arbeit besteht, wie die der Sklavenbesitzer oder der die Fronarbeit ausbeutenden Feudalherren, und dass sich alle diese Formen der Ausbeutung nur unterscheiden durch die verschiedene Art und Weise, in der die unbezahlte Arbeit angeeignet wird.“19 Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind also mehr als blosse „ökonomische Mechanismen“: Sie sind vor allem gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Klassen, da sie den verschiedenen Formen, die die Auspressung von Mehrwert annimmt (Lohnarbeit, Sklaverei, Leibeigentum, Zins etc.), erst die materielle Form verleiht. Wenn eine Produktionsweise in die Dekadenz eintritt, bedeutet dies, dass sich diese spezifischen Verhältnisse zwischen den Klassen in der Krise befinden, dass sie historisch ungeeignet sind. Dies ist der eigentliche Kern des historischen Materialismus in einer Welt, die Battaglia, besessen von seiner „kohärenten ökonomischen Erklärung“, völlig unerschlossen bleibt.
Wie Battaglia sagt: „Auch die Evolutionstheorie ist nicht gültig, der zu Folge der Kapitalismus historisch durch eine progressive Phase und eine dekadente Phase gekennzeichnet ist, falls keine kohärente ökonomische Erklärung gegeben wird (...) Die Untersuchung der Dekadenz unterscheidet entweder diese Mechanismen, die die Verlangsamung des Verwertungsprozesses des Kapitals regulieren, von all den Konsequenzen, die diese mit sich bringen, oder bleibt in einer falschen Perspektive gefangen, die aufgeblasene Prophezeiungen macht (…) Doch das Auflisten dieser ökonomischen und gesellschaftlichen Phänomene, sofern sie identifiziert und beschrieben worden sind, kann für sich genommen nicht als eine Demonstration der dekadenten Phase des Kapitalismus betrachtet werden. Sie sind lediglich Symptome, und die vorrangige Ursache, die sie zum Leben verhilft, muss im Gesetz der Profitkrise gesucht werden.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32) Einerseits wird hier die Folgerung geäussert, dass heute keine kohärente ökonomische Erklärung der Dekadenz existiert, andererseits verfügt Battaglia vorbeugend, dass jene Phänomene, die klassischerweise dafür benutzt worden waren, um die Dekadenz einer Produktionsweise zu charakterisieren, irrelevant sind.
Bevor wir uns mit einer spezifisch ökonomischen Erklärung befassen, sollten wir darauf hinweisen, dass der Begriff der Dekadenz bedeutet, dass die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu eng geworden sind, um die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu gewähren, und dass die Kollision zwischen den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften jeden Aspekt der Gesellschaft betrifft. Die marxistische Analyse der Dekadenz bezieht sich nicht auf eine quantitative ökonomische Ebene ausserhalb der gesellschaftlichen und politischen Mechanismen einer gegebenen Gesellschaftsform. Im Gegenteil, sie bezieht sich auf die qualitative Ebene jenes Verhältnisses, das die Produktionsverhältnisse an die Entwicklung der Produktivkräfte bindet: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“20 Die Ära der Dekadenz der alten Gesellschaft wird nicht mit einer Blockade der Entwicklung der Produktivkräfte eröffnet, sondern mit einem endgültigen und unumkehrbaren „Konflikt“. Marx ist sehr genau bei diesem Kriterium: „Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um.“ Um genau zu sein, heisst dies, dass eine Gesellschaft niemals ihr Leben aushaucht, bevor die Weiterentwicklung der Produktivkräfte definitiv von den herrschenden Produktionsverhältnissen gehemmt wird. Die Dekadenz kann als eine Reihe von Funktionsstörungen definiert werden, deren Auswirkungen sich von dem Moment an häufen, wenn das System seine Entwicklungskapazitäten ausgeschöpft hat. Vom marxistischen Standpunkt aus wird die Periode der Dekadenz einer Gesellschaft nicht durch einen völligen und permanenten Stopp im Wachstum der Produktivkräfte charakterisiert, sondern durch quantitative und qualitative Umbrüche, die von diesem konstanten Konflikt zwischen obsoleten Produktionsverhältnissen und der Weiterentwicklung der Produktivkräfte verursacht werden.
Wann immer Marx versuchte, die Kriterien für den Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Periode festzulegen, gab er niemals irgendeine präzise ökonomische Erklärung, sondern höchstens dieses oder jenes allgemeine Kriterium in Zusammenhang mit seiner Krisenanalyse (s. unseren Artikel in der letzten Ausgabe von Internationale Revue). Es wird möglicherweise Battaglia nicht erfreuen, aber Marx benötigte keine nationalen Statistiken oder die ökonomische Wiedergenesung der Profitabilität, die Battaglia benutzt,21 um sich für die Reife des Kapitalismus oder für seine Alterung auszusprechen. Dasselbe trifft auf die anderen Produktionsweisen zu; Marx und Engels machten wenig Gebrauch von den präzisen ökonomischen Mechanismen, um den Eintritt in die Dekadenz zu erklären. Sie charakterisierten diese historischen Wendepunkte auf der Grundlage eindeutig qualitativer Kriterien: das Auftauchen eines allgegenwärtigen Prozesses der Behinderung der Entwicklung der Produktivkräfte, eine qualitative Entwicklung von Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen der herrschenden Klasse und den ausgebeuteten Klassen, die Überzogenheit des Staatsapparates, die Geburt einer neuen revolutionären Klasse, die in sich die neuen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse trägt und eine Übergangsperiode herbeiführt, die Vorbote revolutionärer Erschütterungen ist, etc. (s. unseren Artikel in der letzten Ausgabe).
Dies war auch die Methode, die von der Kommunistischen Internationalen angenommen wurde, die nicht wartete, bis alle Komponenten einer „kohärenten ökonomischen Erklärung“ entdeckt waren, um im Ausbruch des I. Weltkrieges die Eröffnung der Periode der kapitalistischen Dekadenz zu identifizieren.22 Der Krieg und eine ganze Reihe anderer qualitativer Kriterien auf anderen Ebenen (gesellschaftlich, ökonomisch und politisch) brachte die KI zur Erkenntnis, dass der Kapitalismus seine historische Mission vollendet hatte. Die gesamte kommunistische Bewegung stimmte dieser Diagnose zu, auch wenn es wichtige Unstimmigkeiten gab, wie jene über ihre wirtschaftlichen Ursachen und die politischen Auswirkungen. Die ökonomischen Erklärungen variierten zwischen jener, die von Rosa Luxemburg auf der Basis der Sättigung des Weltmarkts vertreten wurde,23 und Lenins Erklärung auf der Grundlage seiner Argumente, die er in “Der Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus” entwickelt hatte.24
Und dennoch waren alle, auch Lenin, davon überzeugt, dass die „Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie“ zu Ende war und dass die Welt in die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie” eingetreten war.25 In der Tat hatten die Differenzen etwas mit der Analyse der ökonomischen Ursachen der Dekadenz zu tun, vertrat doch Lenin, obwohl tief überzeugt von der Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise in die Dekadenz eingetreten war, dennoch den Gedanken, dass der Kapitalismus “im grossen und ganzen (...) bedeutend schneller als früher” wächst.26 Trotzki hingegen, der auf derselben theoretischen Grundlage wie Lenin arbeitete, kam kurz darauf zu der Schlussfolgerung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte zum Stillstand gekommen ist, während die Italienische Linke behauptete: „Der Krieg von 1914–18 markierte den äussersten Punkt in der Expansionsphase des kapitalistischen Regimes (…) In der letzten Phase des Kapitalismus, in jener seines Niedergangs, wird die historische Entwicklung grundsätzlich durch den Klassenkampf geregelt“ (Manifest des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, in: Octobre, Nr. 3, April 1938)
Es mag unlogisch erscheinen, die Dekadenz einer Produktionsweise auf der Grundlage ihrer Ausdrücke zu identifizieren, und nicht auf der Grundlage einer Untersuchung ihrer ökonomischen Fundamente, wie Battaglia dies gern möchte, da Erstere „in letzter Instanz“ nichts anderes als das Produkt Letzterer sind. Dies ist jedoch die Art und Weise, wie Revolutionäre – einschliesslich Marx und Engels – in der Vergangenheit gearbeitet haben, nicht weil es im Allgemeinen einfacher ist, die Überbau-Strukturen in einer Dekadenzphase zu erkennen, sondern weil hier die ersten Ausdrücke zuerst historisch in Erscheinung treten. Ehe sie auf der quantitativen ökonomischen Ebene als Hemmnis der Weiterentwicklung der Produktivkräfte auftrat, erschien die Dekadenz des Kapitalismus vor allem als ein qualitatives Phänomen auf der sozialen, politischen und ideologischen Ebene durch die Verschlimmerung der Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, die zum I. Weltkrieg führten, durch den Verrat der Sozialdemokratie und das Überlaufen der Gewerkschaften zum kapitalistischen Lager, durch den Ausbruch eines Proletariats, fähig zum Sturz des bürgerlichen Rechts und zur Etablierung der ersten Massnahmen zur Kontrolle durch die Arbeiterklasse. Auf der Grundlage dieser Charakteristiken identifizierten die Revolutionäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz.27 .
Auch wartete Marx nicht auf die „kohärenten ökonomischen Erklärungen“, die im Kapital enthalten sind, um im Kommunistischen Manifest das Urteil über die historisch veraltete Natur des Kapitalismus zu fällen: „Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.“ (Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 468)
Battaglia weigert sich also, die Dekadenz einer Produktionsweise entsprechend der Methode zu definieren, die von unseren Vorgängern, angefangen bei Marx und Engels, angewandt wurden. Offensichtlich unter dem Eindruck, marxistischer als Marx zu sein, denken die Genossen, sie könnten sich als Materialisten profilieren, indem sie pausenlos wiederholen, dass das Konzept der Dekadenz ökonomisch definiert werden müsse, wenn es nicht für null und nichtig erklärt werden soll. Indem es so verfährt, demonstriert Battaglia, dass sein Materialismus von vulgärster Art ist, wie ihnen Engels mitgeteilt hätte, der sich in seinem Brief an J. Bloch sehr ungehalten darüber äusserte: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichts sagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schliesslich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, dass wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades. Dass von den jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Es ist aber leider nur zu häufig, dass man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig.“28 Ob es darum geht, die Dekadenz zu definieren, die Ursachen der Kriege zu erklären, das Gleichgewicht der Kräfte oder die gegenwärtige Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft zu analysieren, stets ist der Vulgärmaterialismus die Handelsmarke von Battaglia.29 Und nebenbei sei bemerkt, dass Battaglias Ausflucht in eine „kohärente ökonomische Erklärung“ der Dekadenz des Kapitalismus kaum all jenen Revolutionären gerecht wird, die bereits eine solche Erklärung angeboten haben, von Rosa Luxemburg über die italienische Fraktion30 bis hin zur IKS und gar zur CWO, deren erste Broschüre den Titel trägt „Die ökonomischen Fundamente der Dekadenz“! Es ist charakteristisch für den Marxismus, dass er von den früheren theoretischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung ausgeht, um sie zu vertiefen oder zu kritisieren und Alternativen vorzuschlagen… Doch die marxistische Methode gehört nicht zu den Stärken von Battaglia: In der Annahme, dass die revolutionäre Kohärenz erst mit ihnen beginnt, ziehen es die Genossen vor, ganz von vorn anzufangen.

Battaglia leugnet die Haupterscheinungen der Dekadenz

Nachdem es Zweifel über den Wert des (angeblich „fatalistischen“) Konzepts der Dekadenz gesät hat, nachdem es voller Entschiedenheit erklärt hat, dass es keine kohärente ökonomische Erklärung der Dekadenz gibt und dass ohne diese ohne sie wertlos ist, und nach der Umdefinierung der marxistischen Methode geht Battaglia dazu über, die Hauptausdrücke der Dekadenz zu leugnen: „…. es ist absolut unzureichend, sich auf die Tatsache zu beziehen, dass in der dekadenten Phase die Wirtschaftskrise und Kriege ähnlich wie die Angriffe gegen die Arbeitskraft weltweit in einem beständigen und verheerenden Rhythmus auftreten. Auch in der progressiven Phase (…) traten punktuell Krisen und Kriege auf, genauso wie Angriffe gegen die Bedingungen der Arbeitskraft. Ein ausdrückliches Beispiel hierfür sind die Kriege zwischen den grossen Kolonialmächten Ende des 18. Jahrhunderts und während des gesamten 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Diesem Beispiel könnten noch weitere hinzugefügt werden, indem man die sozialen Angriffe und die häufigen militärischen Attacken gegen Klassenrevolten und Aufstände auflistet, die ebenfalls in dieser Periode stattfanden.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32) Mit anderen Worten: alle Kriege und Krisen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bedeuten nichts – sie haben stets existiert!
Mit unglaublicher Sorglosigkeit sowohl gegenüber dem Marxismus als auch gegenüber der schlichten historischen Realität wirft Battaglia mir-nichts-dir-nichts alle theoretischen Errungenschaften der vergangenen Arbeiterbewegung über Bord. Was sagt uns Battaglia? Dass Kriege und Krisen immer existiert haben – was so selbstverständlich wie banal ist. Doch welch Verwirrung stiftet Battaglia damit? Dass es folglich keinen qualitativen Bruch in der Geschichte des Kapitalismus gebe – und das ist schlichtweg blind!
Wenn Battaglia jeglichen qualitativen Bruch in der Entwicklung einer Produktionsweise leugnet, dann lehnt es die Analyse von Marx und Engels ab, die die Existent einer jeden Produktionsweise in zwei qualitativ unterschiedliche Phasen aufteilten. Für jeden, der des Lesens kundig ist, demonstriert die von Marx und Engels benutzte Sprache ohne die leiseste Zweideutigkeit, dass es zwei gesonderte historische Perioden innerhalb einer Produktionsweise gibt: „Über eine gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung…“, Auf einem gewissen Punkt angelangt…“, „kapitalistische System im Westen im Verblühen ist“ etc. Im ersten Artikel dieser Reihe haben wir ebenfalls gesehen, dass Marx und Engels in jeder Produktionsweise, die sie definierten (Urkommunismus, die asiatische Produktionsweise, Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus), eine Phase der Dekadenz ausfindig machten und dass sie diese Phase als qualitativ unterschiedlich zu der ihr vorausgehenden Phase anerkannten. In einem Artikel über die feudale Produktionsweise mit dem Titel „Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie“ (Friedrich Engels: Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, MEW Bd. 21, S. 392) demonstrierte Engels die Macht des historischen Materialismus, indem er die feudale Dekadenz durch ihre wesentlichen Ausdrücke definierte: stagnierende Produktivkräfte, ein aufgeblähter (monarchischer) Staat, die qualitative Zuspitzung von Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen der herrschenden Klasse und den ausgebeuteten Klassen, das Herauskristallisieren eines Übergangs zwischen den alten und neuen Produktionsverhältnissen etc. Dasselbe trifft auf Marx' Definition der kapitalistischen Dekadenz zu, das heisst, in einer Periode, „…die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihre bisherigen Produktionsverhältnissen…“,31 und er betrachtet diese Konflikte, Krisen und Erschütterungen als qualitativ verschieden gegenüber der vorausgehenden Periode, da er solche Begriffe wie „…an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet,“, „altersschwach“, etc. benutzt.
Es ist nur ein Minimum an historischen Kenntnissen notwendig, um die Absurdität von Battaglias Behauptung zu begreifen, dass es keinen qualitativen Bruch zwischen dem Aufstieg und der Dekadenz gebe, der seinen Ausdruck in den Krisen, Kriegen und sozialen Kämpfen findet.
1. Während der Aufstiegsphase des Kapitalismus nahmen seine Wirtschaftskrisen sicherlich sowohl in der Tiefe als auch im Ausmass zu. Doch man muss schon Battaglias Nerven (oder Ignoranz) besitzen, um zu glauben, dass die enorme Krise in den 1930er-Jahren als blosse Fortsetzung der Krisen im 19. Jahrhundert betrachtet werden kann! Beginnen wir damit, dass Battaglia ganz einfach vergisst, wie die Revolutionäre zu jener Zeit die relative Verminderung der Krisen in den letzten 20 Jahren (1894 – 1914) der kapitalistischen Aufstiegsperiode (die das Wachstum des Reformismus begünstigte) konstatierte die Kommunistische Internationale stellte fest: „Die den zwei Dezennien vor dem Krieg waren eine Epoche einer besonders mächtigen Entwicklung. Die Perioden des Aufschwungs zeichneten sich durc lange Dauer und hohe Intensität, die Perioden der Depression durch ihre kurze Dauer aus.“32 Dies passt kaum mit Battaglias „Theorie“ der ständigen Verschlimmerung der Wirtschaftskrisen zusammen. Darüber hinaus benötigt man schon eine gehörige Portion Chuzpe, um zu übersehen, dass die Krise der 1930er-Jahre alle Proportionen der Krisen des 19. Jahrhunderts sprengt, sowohl hinsichtlich ihrer Dauer (knappe zehn Jahre), ihrer Tiefe (Halbierung der Industrieproduktion) als auch hinsichtlich ihres Ausmasses (internationaler denn je). Noch schlimmer: Während die Krisen des kapitalistischen Aufstiegs durch die Steigerung der Produktion und eine Ausweitung des Weltmarktes gelöst wurden, wurde die Krise in den 1930er-Jahren nie überwunden und endete im II. Weltkrieg. Battaglia verwechselt hier die Herzschläge eines wachsenden Organismus mit dem Todesröcheln desselben in seinen letzten Zügen. Was die gegenwärtige Krise anbelangt, so dauert sie nun bereits 30 Jahre, und das Schlimmste kommt noch.
2. Was die sozialen Konflikte betrifft, so trifft es sicherlich zu, dass die gesamte Aufstiegsperiode wachsende Spannungen zwischen den Klassen erlebte, die in allgemeinen politischen Streiks (für das allgemeine Wahlrecht und den 8-Stunden-Tag) und im Massenstreik in Russland 1905 ihren Höhepunkt fanden. Doch man wäre mit Blindheit geschlagen, würde man übersehen, dass die revolutionären Bewegungen zwischen 1917–23 aus ganz anderem Holz geschnitzt waren. Es waren keine lokalen oder nationalen Bewegungen oder gar Aufstände, sondern eine sechsjährige internationale Welle, deren Dauer alle Bewegungen des 19. Jahrhunderts in den Schatten stellte. Es gibt auch einen qualitativen Unterschied: Diese Bewegungen waren zumeist nicht ökonomisch, sondern direkt revolutionär und stellten keine Forderungen nach Reformen, sondern nach der Machtergreifung auf.
3. Was schliesslich den Krieg anbetrifft, so ist der Gegensatz noch frappierender. Während des 19. Jahrhunderts bestand die Funktion des Krieges darin, die Einheit jeder kapitalistischen Nation (nationale Unabhängigkeitskriege) und/oder die für ihre Entwicklung notwendige territoriale Expansion (Kolonialkriege) sicherzustellen. In diesem Sinne war der Krieg trotz der Katastrophen, die er mit sich brachte, ein Moment in der Weiterentwicklung des Kapitalismus; seine Kosten waren einfach eine notwendige Ausgabe für die Erweiterung des Marktes und somit der Produktion. Daher betrachtete Marx bestimmte Kriege als fortschrittlich. Die Kriege jener Periode waren im Allgemeinen :
a) begrenzt auf zwei oder drei benachbart
Länder;
b) von geringer Dauer;
c) ohne grössere Schäden;
d) ein Kampf zwischen stehenden Armeen, die nur einen kleinen Teil der Wirtschaft oder der Bevölkerung mobilisierten;
e) ausgeführt wegen der rationalen Aussicht auf ökonomischem Gewinn;
Sowohl für Sieger als auch für Besiegte bedeuteten sie eine neue wirtschaftliche Expansion. Der deutsch-französische Krieg 1870 ist ein typisches Beispiel hierfür: Er war ein entscheidender Schritt zur Bildung der deutschen Nation; mit anderen Worten, er legte die Fundamente für eine gewaltige Expansion der Produktivkräfte und für die Schaffung des grössten Sektors des europäischen Industrieproletariats. Ferner dauerte dieser Krieg weniger als ein Jahr und verursachte relativ wenig Opfer. Auch bildete er kein ernstes Handicap für das besiegte Land. Während der Aufstiegsperiode waren Kriege im Wesentlichen das Produkt eines expandierenden Systems:
a) 1790–1815: Kriege der Französischen Revolution und des napoleonischen Reiches (die zum Sturz der Feudalmächte in ganz Europa beitrugen);
b) 1850–1873: der Krimkrieg, der amerikanische Bürgerkrieg, Kriege der nationalen Einheit (Deutschland, Italien), mexikanischer und deutsch-französischer Krieg;
c) 1895–1913: spanisch-amerikanischer, russisch-japanischer und Balkankrieg.
Bis 1914 gab es ein Jahrhundert lang keinen richtig grossen Krieg. Die meisten Kriege zwischen den Grossmächten blieben verhältnismässig kurz, dauerten allenfalls Monate oder gar nur Wochen (der Krieg zwischen Preussen und Österreich 1866). Zwischen 1871 und 1914 wurde kein europäisches Land Opfer einer Invasion. Es hat keinen Weltkrieg gegeben. Zwischen 1815 und 1914 wurde kein Krieg zwischen den Grossmächten ausserhalb ihrer Nachbarregionen geführt. All dies änderte sich 1914, als ein Zeitalter des Abschlachtens eingeläutet wurde. 33
In der Dekadenzperiode sind die Kriege das Produkt eines Systems, dessen Dynamik nur in eine Sackgasse führen kann. In einer Periode, in der es nicht mehr um die Schaffung wirklich unabhängiger Nationalstaaten geht, sind alle Kriege imperialistisch. Die Kriege zwischen den Grossmächten a) neigen dazu, Weltkriege zu werden, weil ihre Wurzeln in der Schrumpfung des Weltmarktes im Verhältnis zu den Erfordernissen der Kapitalakkumulation liegen; b) dauern weitaus länger an; c) sind immens zerstörerisch; d) mobilisieren die gesamte Weltwirtschaft und die gesamte Bevölkerung der Krieg führenden Länder; e) haben vom Standpunkt des globalen Kapitals jede fortschrittliche wirtschaftliche Funktion verloren und sind völlig irrational geworden. Sie sind nicht mehr Elemente in der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern Mittel zu ihrer Zerstörung. Sie sind nicht mehr Momente in der Expansion der Produktionsweise, sondern Zuckungen eines sterbenden Systems. In der Vergangenheit endeten Kriege mit einem klaren Gewinner, und der Ausgang des Krieges beeinflusste nicht die künftige Entwicklung der Protagonisten, wohingegen in den beiden Weltkriegen sowohl Sieger als auch Besiegte vom Krieg ausgezehrt wurden, zugunsten eines dritten Gangsters, den Vereinigten Staaten. Die Sieger waren nicht im Stande, die Besiegten zu zwingen, Kriegsreparationen zu zahlen (im Gegensatz zum riesigen Lösegeld in Gold, das nach 1870 von Frankreich an Preussen gezahlt wurde). Dies zeigt, wie in der Dekadenzperiode die Expansion der einen Macht nur zum Ruin Anderer führen kann. Früher garantierte die Militärmacht die Eroberungen ökonomischer Positionen. Heute steht die Wirtschaft in wachsendem Masse zu Diensten der Militärstrategie. Die Teilung der Welt in rivalisierende Imperialisten und die daraus resultierenden militärischen Konflikte zwischen ihnen sind zu permanenten Aspekten in der Existenz des Kapitalismus geworden. Dies war das Ergebnis der Analyse unserer Vorgänger, der Italienischen Linken: „Seit der Eröffnung der imperialistischen Phase des Kapitalismus zu Beginn des Jahrhunderts schwankt die Evolution zwischen dem imperialistischen Krieg und der proletarischen Revolution. In der Epoche des kapitalistischen Wachstums öffneten Kriege den Weg zur Ausweitung der Produktivkräfte durch die Zerstörung überholter Produktionsverhältnisse. In der Dekadenzphase haben Kriege keine andere Funktion als die Vernichtung des überschüssigen Reichtums…“ (Resolution über die Bildung des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, in: Octobre,
Nr. 1, Februar 1938, S. 5) Battaglia lehnt heute diese Analyse ab und behauptet dennoch, Erbe der Italienischen Linken zu sein.
All dies ist in den Analysen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts enthalten,34 und Battaglia amüsiert sich lediglich darüber, indem es versucht, unsere Vorgänger mit der sarkastischen Frage zu ignorieren: „Und wann, folgt man dieser Art, die Frage zu stellen, trat der Übergang von der progressiven zur dekadenten Phase auf? Am Ende des 19. Jahrhunderts? Nach dem Ersten Weltkrieg? Nach dem zweiten?“. Battaglia weiss – oder sollte es wissen – sehr gut, dass für die gesamte kommunistische Bewegung, einschliesslich der Mitgefährten des IBRP, die Communist Workers Organisation, der I. Weltkrieg den Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz bedeutete: „Zurzeit der Bildung der Komintern 1919 wurde es offensichtlich, dass die Epoche der Revolution erreicht war, und ihre Gründungskonferenz erklärte dies.“35
In diesem Artikel haben wir versucht aufzuzeigen, dass es nichts Fatalistisches an der marxistischen Sichtweise der kapitalistischen Dekadenz gibt und dass die Geschichte des Kapitalismus nicht ein endloser Kreis von Wiederholungen ist. Im nächsten Artikel werden wir unsere Kritik an Battaglia fortsetzen und vor allem auf all die Folgen hinweisen, die eintreten, wenn sich vom Begriff der Dekadenz auf der Ebene des politischen Kampfes des Proletariats abwendet.
C.Mcl.

Fußnoten:
1 s. International Review Nrn. Nr. 48, 49, 50, 54, 56, 58 und 60 (engl., frz., span. Ausgabe). Und auf Deutsch: Die Dekadenz verstehen in: Internationale Revue Nrn. 10–12. Und unserer Website.
2 Veröffentlicht auf Italienisch in Prometeo, Nr. 8, Reihe VI (Dezember 2003) und auf Englisch in Revolutionary Perspectives, Nr. 32, dritte Serie, Summer 2004. Eine französische Version ist über die IBRP-Website erhältlich. Weitere Referenzen zur Dekadenztheorie können im Artikel Kommentare über die jüngste Krise der IKS, in Internationalist Communist, Nr. 21, gefunden werden.
3 s. International Review Nrn. 111, 115 und besonders 118. (engl., frz., span. Ausgabe).
4 Die Communist Workers Organisation war mit Battaglia Comunista Mitbegründer des IBRP.
5 In ihrer Einführung zum Artikel von Prometeo schreibt die CWO: „Wir veröffentlichen unten einen Text der Genossen von Battaglia Comunista, der einen Beitrag zur Debatte über die kapitalistische Dekadenz darstellt. Der Begriff der Dekadenz ist ein Teil von Marxens Analyse der Produktionsweisen. Der klarste Ausdruck dafür wird in dem berühmten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie gegeben, wo Marx feststellt: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ (Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, S. 9) Zurzeit der Bildung der Komintern 1919 schien es, dass die Epoche der Revolution erreicht war, und ihre Gründungskonferenz erklärte dies. 85 Jahre später erschient dies zumindest fraglich. Innerhalb des 20. Jahrhunderts haben die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse trotz der von zwei Weltkriegen verursachten unerhörten Zerstörung und Leiden die Produktivkräfte in die Lage versetzt, sich in nie gekannter Weise weiterzuentwickeln, und Hunderte von Millionen neuer Arbeiter in die Reihen des Proletariats eingegliedert. Kann unter diesen Umständen argumentiert werden, dass diese Verhältnisse in dem allgemeinen Sinn, den Marx unterstrichen hat, eine Fessel der Produktivkräfte sind? Die CWO hat früher argumentiert, dass nicht die Abwesenheit von Wachstum der Produktivkräfte, sondern die allgemeinen Unkosten, die mit einem solchen Wachstum verbunden sind, betrachtet werden müssen, wenn man die Dekadenz beurteilt. Solch ein Argument öffnet, während es das massive Wachstum der Produktivkräfte anerkennt, die Tür für eine subjektive Beurteilung der allgemeinen Unkosten, die ein solches Wachstum ermöglicht haben. Der Text weiter unten streitet für eine wissenschaftliche Herangehensweise besonders an die Frage der ökonomischen Definition der Dekadenz. Wir hoffen, weitere Texte über dieses Thema in Zukunft veröffentlichen zu können.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32, unsere Hervorhebung) Wir werden später in dieser Reihe auf die Argumente zurückkommen, die die CWO vorbringt, um den Begriff der Dekadenz, wie er von Marx definiert wurde, in Frage zu stellen: die Dynamik in der Entwicklung der Produktivkräfte, das numerische Wachstum der Arbeiterklasse und die Bedeutung der beiden Weltkriege. Im Moment muss die Veröffentlichung dieser Einführung ausreichen, um unseren Lesern eine Ahnung von dem Entwicklungsgang im Denken der CWO zu geben, die in der Vergangenheit die marxistische Definition der Dekadenz stets als einen zentralen Angelpunkt ihrer Plattform betrachtet hat. In der Tat trug die erste Broschüre der CWO den Titel Die ökonomischen Fundamente der kapitalistischen Dekadenz. Sollen wir heute daraus den Schluss ziehen, dass die ökonomischen Fundamente dieser Broschüre nicht wissenschaftlich waren?
6 Karl Marx: Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 273.
7 Karl Marx: Brief an V. I. Sassulitsch, . MEW Bd. 19, S. 387.
8 Karl Marx: Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 252.
9 s. Revolutionary Perspectives, Nr. 32, oben zitiert.
10 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte,in: MEW Bd. 8, S. 115.
11 Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre (Die Krise der Sozialdemokratie),in: Werke Bd. 4, S. 61.
12 Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 462.
13 Diese Thesen wurden in Paris von der Imprimerie spéciale de la Librairie du Travail unter dem Titel Plattform der Linken veröffentlicht. Eine andere französische Übersetzung ist über die Edition Programme Communiste erhältlich: Die Krise des Kapitalismus bleibt offen, und ihre weitere Verschlimmerung ist unvermeidlich, veröffentlicht in der Anthologie Nr. 7 von Texten der Parti Communiste International mit dem Titel Die Verteidigung der Kontinuität des kommunistischen Programms.
14 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 635.
15 Wir sollten unsere Leser darauf hinweisen, dass sich nicht einmal Battaglia dessen sicher ist! Anscheinend sind sich die Genossen nicht einmal sicher, ob der Kapitalismus an wachsenden Krisen und Widersprüchen leidet: „Die Verkürzung der Aufschwungsphase der Akkumulation könnte ebenfalls als ein Aspekt der ‚Dekadenz‘ betrachtet werden, doch die Erfahrungen aus dem letzten Zyklus zeigen, dass die Verkürzung der aufsteigenden Phase nicht notwendigerweise die Beschleunigung des Gesamtzyklus der Akkumulation, Krise, Krieg, neue Akkumulation, mit sich bringt.“ (Internationalist Communist, Nr. 21)
16 Revolutionary Perspectives, Nr. 32.
17 In Internationalist Communist, Nr. 21, sagt das IBRP, dass es „ein internationales Dokument/Manifest verteilte (…) (das) neben einem dringenden Aufruf zur internationalen Partei auch beabsichtigt, eine seriöse Einladung an all jene zu sein, die behaupten, zur kommunistischen Avantgarde zu gehören.“ Wenn das IBRP wirklich ernst genommen werden will, dann muss es anfangen, die Fundamente des historischen Materialismus zu begreifen und Polemiken auf der Grundlage wirklich politischer Argumente zu führen, statt Selbstgespräche zu führen und Bannsprüche zu fällen, deren Ursprung in einem Anfall typisch bordigistischen Grössenwahns liegen, welcher sie einbilden lässt, die einzigen Wächter der marxistischen Wahrheit und weltweit der einzige revolutionäre Umgruppierungspol zu sein.
18 Karl Marx Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 799/800.
19 Friedrich Engels, Karl Marx, in: MEW Bd. 19, S. 105–106.
20 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, S. 9.
21 „In einfachen Begriffen betrifft das Dekadenzkonzept allein die fortschreitenden Schwierigkeiten beim Verwertungsprozess des Kapitals (…) Die stetig wachsenden Schwierigkeiten im Verwertungsprozess des Kapitals haben zu ihrer Voraussetzung den tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate (…) Selbst Ende der 60er-Jahre waren entsprechend der Statistiken, die von internationalen Wirtschaftsorganisationen wie der IWF, die Weltbank und auch das Massachusetts Institute für Technologie sowie jüngst in den Untersuchungen von Ökonomen des marxistischen Gebiets, wie Ochoa und Mosley, herausgegeben wurden, die Profitraten in den USA 30% niedriger als in den 50er-Jahren…“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32)
22 „2. Die Niedergangsperiode des Kapitalismus
Nach Abschätzung der ökonomischen Weltlage konnte der 3. Kongress mit vollkommener Bestimmtheit konstatieren, dass der Kapitalismus nach Erfüllung seiner Mission, die Entwicklung der Produktion
zu fördern, in unversöhnlichen Widerspruch zu den Bedürfnissen nicht nur der gegenwärtigen historischen Entwicklung, sondern auch der elementarsten menschlichen Existenzbedingungen geraten ist. Im letzten imperialistischen Kriege spiegelte sich dieser fundamentale Widerspruch wider, der durch den Krieg noch verschärft wurde und der die Produktions- und Zirkulationsverhältnisse den schwersten Erschütterungen aussetzte. Der überlebte Kapitalismus ist in das Stadium getreten, in dem die Zerstörungsarbeit seiner zügellosen Kräfte die schöpferischen, wirtschaftlichen Errungenschaften, die das Proletariat noch in den Fesseln kapitalistischer Knechtschaft geschaffen hat, lähmt und vernichtet. (…) Was der Kapitalismus heute durchmacht, ist nichts anderes als sein Untergang. Der Zusammenbruch des Kapitalismus ist unabwendbar.“ (Thesen über die Taktik der Komintern des 4. Kongresses, in: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen,
Bd. 2, S. 9, Intarlit 1984).
23 „Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine Akkumulationsbewegung ist der Ausdruck, die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung des Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der Grundlagen des Sozialismus – derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird.“ (R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, in: Werke Bd. 5, S. 411)
24 Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, dass er charkterisiert werden muss, als Übergangskapitalismus (...) Es ist eben der Parasitismus und die Fäulnis des Kapitalismus, die seineinem höchsten geschichtlichen Stadium, d. h. dem Imperialismus eigen sind (...) Der Imperialismus ust de Vorabend der sozialen Revolution. Das hat sich 1917 im Weltmasstab bestätigt.” (W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in LW Bd. 22, S. 307 und 198).
25 „…Die russischen Sozialchauvinisten (an ihrer Spitze Plechanow) berufen sich auf die Taktik von Marx im Kriege von 1870; die deutschen Sozialchauvinisten (vom Schlage der Lensch, David und Co.) berufen sich auf die Erklärungen von Engels im Jahre 1891, in denen er von der Pflicht der deutschen Sozialisten spricht, im Falle eines gleichzeitigen Krieges gegen Russland und Frankreich das Vaterland zu verteidigen (…) Alle diese Berufungen sind eine empörende Fälschung der Auffassungen von Marx und Engels zugunsten der Bourgeoisie und der Opportunisten (…) Wer sich jetzt auf Marx' Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx' Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ vergisst – diese Worte, die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche dersozialistischen Revolution –, der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.“ (W. I. Lenin, Sozialismus und Krieg, in: LW Bd. 21, S. 295 ff.)
26 „Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass diese Fäul-nistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschliesst; durchaus nicht, einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenz. Im grossen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmässiger, sondern die Ungleichmässigkeit äussert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder (England).“ (W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: LW Bd. 22, S. 305.)
27 „Wenn der Kapitalismus einmal in die Dekadenz eingetreten ist, wenn er bewiesen hat, dass er in eine historische Sackgasse geraten ist, sind es deshalb hauptsächlich politische Faktoren, die den Zeitpunkt des Kriegsausbruchs bestimmen.“ s. Bericht über die internationale Lage für den 9. Internationalen Kongress, in: International Review Nr. 67 (frz., engl., span. Ausgabe).
28 Engels an Bloch, 21. September 1890, in: MEW Bd. 37, S. 462 ff.
29 In diesen Fragen siehe unsere Kritik an Battaglia Comunista's politischen Positionen in International Review, Nr. 36, Die 1980er sind nicht die 1930er-Jahre; Nr. 41, Welche Methode zum Verständnis des Klassenkampfes; Nr. 50, Antwort an Battaglia über den historischen Kurs; Nr. 79, Die Auffassung des IBRP über die Dekadenz des Kapitalismus und die Kriegsfrage; Nr. 82, Antwort an das IBRP: der Charakter des imperialistischen Krieges; Nr. 83, Antwort an das IBRP: Theorien der historischen Krise des Kapitalismus; Nr. 86, Hinter der Globalisierung der Wirtschaft die Verschlimmerung der kapitalistischen Krise Nr. 108, Polemik mit dem IBRP: der Krieg in Afghanistan – Strategie oder Ölprofite?
30 s. den Artikel aus Bilan, Nr. 10–11, 1934, Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des dekadenten Kapitalismus, in” Internationale Review, Nr. 27 und 28.
31 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 635
32 s. Thesen zur Weltlage und die Aufgaben der Kommunistische Internationale des 3. Weltkongresse, in: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd. 2, S. 9, Intarlit (1984).
33 Dies wurde von Engels lange vor dem Ende des 19. Jahrhunderts vorausgesagt: Friedrich Engels sagt einmal: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein „Rückfall in die Barbarei” auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein grosser Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder – Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.“ (R. Luxemburg, Juniusbroschüre – Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke Bd. 4, S. 62).
34 „Eine neue Epoche ist geboren: die Epoche der Auflösung und des Zusammenbruchs des Kapitalismus, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats“ (Richtlinien des 1. Kongresses der Kommunistischen Internationale).
„Der theoretisch klare Kommunismus muss dagegen den Charakter der gegenwärtigen Epoche richtig einschätzen. (Höhepunkt des Kapitalismus; imperialistische Selbstverneinung und Selbstvernichtung; ununterbrochenes Anwachsen des Bürgerkriegen usw.)“ (Leitsätze über die Kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale)
„Die III. Kommunistische Internationale, gegründet im März 1919 in der Hauptstadt der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, Moskau, erklärt feierlich vor der ganzen Welt, dass sie es auf sich nimmt, das grosse Werk, welches von der I. Internationalen Arbeiter-Assoziation begonnen wurde, fortzusetzen und zu Ende zu führen. (…) Die III. Kommunistische Internationale bildete sich beim Ausbruch des imperialistischen Krieges 1914–1918, in welchem die imperialistische Bourgeoisie der verschiedenen Länder 20 Millionen Menschen opferte. (…) „Gedenke des imperialistischen Krieges!” das ist das erste, womit die Kommunistische Internationale sich an jeden Werktätigen wendet, wo er auch leben mag, in welcher Sprache er auch sprechen mag. . Gedenke dessen, dass dank des Bestehens der kapitalistischen Ordnung ein kleines Häuflein von Imperialisten die Möglichkeit hatte, im Verlauf von vier langen Jahren die Arbeiter der verschiedenen Länder zu zwingen, einander den Hals abzuschneiden! Gedenke dessen, dass der Krieg .der Bourgeoisie über Europa und die ganze Welt die fürchterlichste Hungersnot und das entsetzlichste Elend, heraufbeschwor! Gedenke dessen, dass ohne den Sturz des Kapitalismus die Wiederholung von derartigen Raubkriegen nicht nur möglich, sondern unvermeidlich ist. (…) Die Kommunistische Internationale stellt sich zum Ziel: mit allen Mitteln, auch mit den Waffen in der Hand, für den Sturz der internationalen Bourgeoisie und für die Schaffung einer internationalen Sowjetrepublik, als Übergangsstufe zur vollen Vernichtung des Staates, zu kämpfen. Die Kommunistische Internationale hält die Diktatur des Proletariats für das einzige Mittel, welches -die Möglichkeit gibt, die Menschheit von den Greueln des Kapitalismus zu befreien. (Statuten der Kommunistischen Internationale vom 2. Kongress)
Alle drei Zitate in: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd. 2, S. 9, Intarlit (1984).
35 Die Einführung der CWO zu Battaglias Artikel in Revolutionary Perspectives, Nr. 32.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Battaglia Comunista [7]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [9]

Der Nucleo Comunista Internacional in Argentinien: Eine Episode im Streben des Proletariats nach Bewusstsein

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Wie wir bereits mehrere Male in unserer Presse(1) betont haben, befinden wir uns nach einer langen Ebbe im Klassenbewusstsein und im Kampfgeist in Folge der riesigen ideologischen Kampagnen, die den Zusammenbruch der so genannten "sozialistischen" Regimes Ende der 80er-Jahre begleiteten, an einem Wendepunkt in der Entwicklung des Gleichgewichts der Klassenkräfte zugunsten des Proletariats. Ein Anzeichen dieser neuen Situation ist die "Entwicklung eines vertieften Nachdenkens innerhalb der Klasse, auch wenn sich dies heute vorwiegend unter der Oberfläche abspielt, die man jedoch im Erscheinen einer Reihe von oft jungen Elementen und Gruppen erblicken kann, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden".(2) Dieses Phänomen ist selbstredend von vitaler Bedeutung, ist dies doch eine der Vorbedingungen für die Bildung einer künftigen revolutionären Weltpartei. Es ist also die Pflicht der Organisationen der Kommunistischen Linken, diesem Emporstreben neuer Kräfte grösste Aufmerksamkeit zu zollen, um sie zu verwirklichen, um ihnen zu ermöglichen, von der Erfahrung der Kommunistischen Linken zu profitieren, und sie in die organisierte militante Aktivität zu integrieren. Dies ist eine sehr schwierige und delikate Aufgabe, die bereits Gegenstand vieler Reflexionen und Debatten in der Arbeiterbewegung war. Marx und Engels befanden sich unter den Ersten, die ihre Anstrengungen dieser Frage widmeten, insbesondere in der ersten internationalen Organisation der Arbeiterklasse: in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA). Eines der grossen Verdienste Lenins und der Bolschewiki bestand darin, dass sie sich auf der Grundlage des Kongresses der Sozial-Demokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR).von 1903 diese Frage zu Herzen nahmen und eine Antwort darauf formulierten, die es den Bolschewiki erlaubte, ihrer Verantwortung in der Oktoberrevolution von 1917 gerecht zu werden.(3) Es ist eine Verantwortung, die die IKS, inspiriert von ihren illustren Vorgängern und den Organisation, denen diese angehörten, stets sehr ernst genommen hat. Dies ist ein Grund dafür, warum wir angesichts des Auftauchens neuer revolutionärer Kräfte mit einer Reihe von Artikeln in der Internationalen Revue zu dieser Frage zurückkehren. Mehr noch: Wir betrachten es als notwendig, einmal mehr und im Licht der jüngsten Erfahrung den Unterschied zwischen "Marxismus und Opportunismus beim Aufbau der revolutionären Organisation"(4) zu veranschaulichen. Der erste Artikel dieser Reihe wird sich daher unserer letzten Erfahrung widmen, als sich die marxistische und opportunistische Sichtweise wieder einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen: nämlich beim Erscheinen einer kleinen Gruppe von Revolutionären in Argentinien, die den Nucleo Comunista Internacional – NCI (Internationaler Kommunistischer Kern) bildeten.

Der NCI(5) war das Ziel einer furiosen Offensive, die vom "Dreierbündnis" des Opportunismus (das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei – IBRP), der Parasiten (die so genannte "Interne Fraktion" der IKS – IFIKS) und eines merkwürdigen, grössenwahnsinnigen Abenteurers, der gleichzeitig Gründer, oberster Führer und einziges Mitglied eines "Zirkels kommunistischer Internationalisten" ist und der für sich selbst die "Kontinuität" mit dem NCI beansprucht, den er aus guten Gründen zerstört haben will, wie er behauptet.(6)

In diesem Artikel werden wir untersuchen, wie der NCI entstand, wie er den Kontakt zur IKS herstellte, wie sich seine Beziehungen zu unserer Organisation entwickelten und welche Lehren wir dieser Erfahrung entnehmen können. Wir werden uns auch damit befassen, worin die Perspektiven für unsere künftige Arbeit bestehen, jetzt, wo wir den grotesken Betrüger entlarvt haben, dessen Manöver die Unterstützung des IBRP genossen, das versuchte, ihn zu benutzen, um die IKS anzugreifen, selbst wenn es bedeutete, den im Werden begriffenen NCI zu zerstören.

Diese Analyse hat ein doppeltes Ziel: zum einen für den Kampf einer Handvoll Militanter einzutreten, die Ausdruck des Beitrages des argentinischen Proletariats zum allgemeinen Kampf des Weltproletariats sind; zum anderen einige Lehren aus dieser Suche nach einem internationalen kommunistischen Zusammenhang zu ziehen und sowohl die Hindernisse und Schwierigkeiten auf diesem Weg als auch die Stärken, auf wir uns verlassen können, näher zu beleuchten.

Die Geburt des NCI: erste Kontakte mit der IKS

In einem Brief (12. November 2003), der den politischen Werdegang des NCI und seiner Mitglieder erläuterte, stellte sich der NCI selbst als "eine kleine Gruppe von Genossen mit unterschiedlichem politischen Hintergrund, mit unterschiedlichen Aktivitäten in der Massenbewegung und unterschiedlicher politischer Verantwortung (dar). Doch wir alle teilen dieselben politischen Wurzeln: die argentinische Kommunistische Partei (…) Während der 90er-Jahre traten einige von uns der Partito Obrero und der Partito de Trabajadores bei (zwei trotzkische Organisationen, d.Red.), während Andere Zuflucht in gewerkschaftlichen Aktivitäten suchten. Der erste Kern tauchte im Grunde in der Abspaltung einer kleinen Fraktion der PTS, die LOI, auf; nach mehreren Diskussionen im Verlaufe des Jahres 2'000 und Anfang 2003 (Januar – Februar) entschieden wir uns aufgrund prinzipieller Unterschiede, uns nicht mit dieser trotzkistischen Strömung zu vereinigen." Daraufhin begann ein schwieriger Prozess, der die Genossen dazu führte, sich "dank des Internet mit Euren Positionen und jenen der anderen Strömungen vertraut (zu machen), die jenem Milieu angehören, das als Kommunistische Linke bekannt ist. Wir teilten die Dokumente, die meisten von der IKS und dem IBRP, unter uns auf und lasen sie bis Ende 2002".

Verlaufe des Jahres 2003 führte dieses Studium der Positionen der verschiedenen linkskommunistischen Strömungen die Genossen zu den Positionen der IKS: "Was uns an der IKS am meisten fesselte, waren nicht nur Eure programmatischen Fundamente, sondern auch – unter all den Dokumenten, die wir auf Eurer Website zu Rate zogen – die Debatten mit den russischen Genossen, die Frage des historischen Kurses, die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus, die Positionen, die die Partei und ihr Verhältnis zur Klasse betreffen, die Analyse der Situation in Argentinien und die Debatte mit dem IBRP über die Parteifrage."

Dieses Studium führte die Gruppe dazu, programmatische Positionen anzunehmen, die sich stark an die Plattform der IKS anlehnen, eine Zeitung herauszugeben (Revolución Comunista, vier Ausgaben zwischen Oktober 2003 und März 2004) und im Oktober 2003 den Kontakt zur IKS herzustellen.

Der Appell des NCI an das politische Milieu des Proletariats

Dann begann ein zweigleisiger Prozess: auf der einen Seite mehr oder weniger systematische Diskussionen über die IKS-Positionen und auf der anderen Seite eine Intervention gegenüber dem Proletariat in Argentinien, die sich auf die brennenden Tagesfragen konzentrierte: vor allem zu verstehen, ob die Ereignisse im Dezember 2001 in Argentinien ein Schritt vorwärts im proletarischen Kampf oder ein Aufstand ohne jegliche Perspektive waren. Ein Artikel, der am zweiten Jahrestag dieser Ereignisse verfasst wurde, stellt klar und deutlich fest, dass "das Hauptziel dieses Schriftstücks ist, die Irrtümer offen zu legen, die von vielen Strömungen in der Presse, in Flugblättern, Broschüren etc. verbreitet wurden, in denen die Ereignisse in Argentinien zwei Jahre zuvor als etwas beschrieben wurden, was sie nicht waren, nämlich ein proletarischer Kampf."

Wir führten übers Internet eine Diskussion über die Gewerkschaftsfrage, die es dem NCI ermöglichte, die Überbleibsel der linksextremistischen Vision einer "Arbeit in den Gewerkschaft, um die Basis gegen die Führung in Stellung zu bringen", zu klären und hinter sich zu lassen. Die Diskussion war brüderlich und aufrichtig, und zu keiner Zeit wurde unsere Kritik als "Drangsalierung" oder "Bannfluch" betrachtet.(7)

Im Dezember 2003 richtete das NCI einen Appell an das politische Milieu zur Abhaltung von internationalen Konferenzen, "mit der präzisen Absicht, einen Pol der Zusammenarbeit und Information zu schaffen, wo die mannigfaltigen Organisationen ihre politischen Divergenzen auf programmatischer Ebene debattieren können und was es ermöglichen könnte, gemeinsame Aktionen gegen die Feinde der Arbeiterklasse, gegen die Bourgeoisie, zu unternehmen, ob durch die Publizierung gemeinsamer Dokumente oder durch die Organisierung von öffentlichen Treffen der fortgeschrittensten Elemente des Proletariats, die deutlich machen, sowohl was uns zu trennt als auch was uns verbindet, oder durch anderen Initiativen, die vorgeschlagen werden."

Es war der IKS klar, dass dieser Appell dem vorherrschenden Sektierertum und der Unverantwortlichkeit der Mehrheit der Gruppen der Kommunistischen Linken vor den Kopf stossen würde. Dennoch unterstützten wir diese Initiative insoweit, als sie auf der Offenheit der Diskussion und der Konfrontation von Positionen basierte und von der Bereitschaft gekennzeichnet war, gemeinsame Aktionen gegen den kapitalistischen Feind zu unternehmen: "Wir begrüssen Euren Vorschlag, eine neue Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken abzuhalten (ein ‚neues Zimmerwald‘, wie Ihr es genannt habt). Die IKS hat stets diese Perspektive vertreten und sich begeistert an den drei Konferenzen beteiligt, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er veranstaltet worden waren. Unglücklicherweise sind, wie Ihr sicherlich wisst, die anderen Gruppen der Kommunistischen Linken der Auffassung, dass solche Konferenzen angesichts der tiefen Uneinigkeit unter den mannigfaltigen Gruppen der Kommunistischen Linken nicht auf der Tagesordnung stünden. Wir sind nicht dieser Auffassung, doch wie das Sprichwort sagt: ‚Es braucht nur einen, um sich scheiden zu lassen, aber zwei, um zu heiraten‘. Es ist klar, dass es in der gegenwärtigen Periode keinen Zweifel über die Notwendigkeit einer ‚Heirat‘ (d.h. die Umgruppierung in einer einzigen Organisation) zwischen den verschiedenen Strömungen der Kommunistischen Linken gibt."

In diesem allgemeinen Rahmen stellten wir eine Orientierung vor, um die Arbeit der kleinen Gruppen, die in etlichen Ländern auf der Grundlage von Klassenpositionen erschienen sind bzw. dabei sind, sich ihnen zu nähern, anzuleiten: "Dies bedeutet nicht, dass eine ‚Heirat‘ in der gegenwärtigen Periode unmöglich ist. In Wirklichkeit ist sie, wenn zwei Organisationen zu einer programmatischen Übereinstimmung auf der Basis einer gemeinsamen Plattform kommen, nicht nur möglich, sondern eine Notwendigkeit: Das Sektierertum, von dem viele Gruppen der Kommunistischen Linken betroffen sind (und das zum Beispiel zur Zersplitterung der bordigistischen Gruppierungen in einer Vielfalt von Denkschulen führte, deren programmatische Differenzen schwer nachzuvollziehen sind), ist der Preis, den die Kommunistische Linke noch immer für die fürchterliche Konterrevolution zahlt, welche die Arbeiterklasse in den 1920er-Jahren getroffen hatte" (unser Brief vom 25. November 2003).

Erstes Treffen mit dem NCI

Abgesehen von der IKS kamen die einzigen anderen Antworten auf den Appell(8) von der Internationalen Kommunistischen Partei (Il Partito, bekannt als die "Florenzer PCI") und vom IBRP. Beide waren deutlich ablehnend.

Die Antwort des IBRP erklärte definitiv: "Vor allem sind wir überrascht, dass 23 Jahre nach dem Ende des Zyklus‘ von Internationalen Konferenzen der Kommunistischen Linken (ursprünglich einberufen von der PCInt Italiens), die demonstriert hatten, was wir weiter unten ausführlicher erklären werden, Ihr solch einen Vorschlag mit genau derselben Unaufrichtigkeit vorbringt, wo die Situation eine völlig andere ist."

Wie konnten es diese Neulinge wagen vorzuschlagen, was bereits 23 Jahre zuvor vom IBRP erledigt worden war?(9) Die anmassende Geringschätzung (dieselbe, die Marx bei Proudhon feststellte(10)) gegenüber solchen ersten Bemühungen von Elementen der Klasse durch das IBRP ist wirklich entmutigend!(11) Gerade weil dies aus dem Munde des "einzigen gültigen Pols der Umgruppierung" kommt, um den endlos wiederholten Ausdruck ihrer Bewunderer, die IFIKS, zu benutzen!

Was Il Partito anbelangt, so schiebt sie einfach jede erdenkliche Meinungsverschiedenheit (mit einer Gruppe, die gerade erst ins Leben getreten ist!) vor, angefangen mit der Parteifrage, und dies mit einer Argumentation, die so schwach ist, dass sie schon ans Lächerliche grenzt: "Der vielleicht klarste Punkt ist die Konzeption der Partei. Unsere Partei meint, dass wir die Fortsetzung der historischen Partei sind, die von Marx und Engels geschaffen worden war und die seither niemals aufgehört hat zu existieren trotz der schwierigen Epochen, die sie erlebt hat, und dass die Fackel der marxistischen Lehre dank Organisationen wie die Italienische Kommunistische Linke oder die russische bolschewistische Partei nie erloschen war." Dabei geht es dem NCI gerade darum, die marxistische Lehre am Leben zu erhalten. Doch Il Partito ist jeder Grund gut genug, um eine politische Konfrontation zu vermeiden!

Wie wir aus diesen beiden Antworten ersehen können, wäre es um die Perspektive für neu entstandene Gruppen in der Tat schlecht bestellt, wenn das Lager der Kommunistischen Linken sich allein aus jenen Organisationen zusammensetzen würde, die diese Antworten verfassten. Sie betrachten neue Gruppen aus der luftigen Höhe ihres sektiererischen Schutz-

walls und bieten keine andere Perspektive an als die Integration als Gruppe in die "internationale Umgruppierung" des IBRP oder die individuelle Integration in die PCInt. Diese Positionen sind Lichtjahre entfernt von jenen, die Marx, Engels, Lenin, die Dritte Internationale oder die italienische Fraktion der Kommunistischen Linken vertreten hatten.(12)

Nach dem Scheitern ihres Appells war es also wenig überraschend, dass die Genossen des NCI beschlossen, näher an die IKS zu rücken. Dies veranlasste uns, im April 2004 eine Delegation nach Buenos Aires zu schicken, die viele Diskussionen mit den Mitgliedern des NCI führte, über Themen wie die Gewerkschaftsfrage, die Dekadenz des Kapitalismus, das Funktionieren revolutionärer Organisationen, die Rolle ihrer Statuten und die Einheit der drei Komponenten des politischen Programms des Proletariats: politische Positionen, Funktionsweise und Verhalten. Wir schlugen vor, ein allgemeines Treffen abzuhalten, und die Genossen des NCI beschlossen, regelmässige Diskussionen über die Dekadenz und den Zerfall des Kapitalismus, über die Statuten und unsere Texte über die Organisation und ihre Funktionsweise etc. mit der Zielrichtung zu führen, der IKS beizutreten: "Im Anschluss an den internationalen Besuch der IKS sind die Mitglieder des Kerns einmütig zur Auffassung gelangt, dass dieser Besuch unsere Erwartungen weit übertroffen hat, nicht nur bezüglich des Grades an Übereinstimmung, den wir erreicht haben, sondern auch durch die wichtigen Fortschritte, zu die uns dieser Besuch verhalf (…) So ermöglichte uns dieser Besuch, auch wenn unsere Absicht bereits vorher die Integration in die IKS war, nicht nur diese internationale Strömung als solche konkret kennen zu lernen, sondern auch ihre internationalistische Haltung." (Resolution des NCI, 23. April 2004)

Die Gefahr der Gurus

Im Anschluss an den Besuch unserer Delegation stimmte die Gruppe unserem Vorschlag zu, sich an der Presse der IKS zu beteiligen, indem sie Artikel über die Situation in Argentinien schrieb. Diese Beiträge waren sehr positiv, besonders ein Artikel, der die Piquetero-Bewegung denunzierte und der sich als sehr nützlich erwies, um die pseudo-revolutionären Mythen der Linksextremisten und der "Antiglobalisierungsgruppen" blosszustellen.(13)

Unter den Themen, die mit dem NCI debattiert wurden, wollen wir besonders auf die Debatte über das Verhalten hinweisen, das innerhalb einer proletarischen Organisation herrschen und von dem Charakter der zukünftigen Gesellschaft, für die sie kämpft, inspiriert sein sollte. Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Können wir zum Kommunismus gelangen, einer Gesellschaft der freien Gemeinschaft aller menschlichen Wesen, während wir gleichzeitig Verleumdungen, Spitzeldienste, Manipulation, Diebstahl – Praktiken, die jeden Ansatz einer solchen Gemeinschaft zunichte machen – begehen? Sollte der kommunistische Militante edelmütig sein Bestes für die Sache der menschlichen Emanzipation geben oder kann er zur Sache beitragen und gleichzeitig nach seinem persönlichen Profit oder nach persönlicher Macht trachten, indem er andere als Bauernopfer benutzt, die seinen eigenen spezifischen Zielen dienen?

Diese Diskussionen provozierten eine intensive Debatte im NCI über die Frage des Verhaltens der IFIKS, die die Gruppe dazu führte, am 22. Mai 2004 eine Resolution anzunehmen, die diese Bande von Schurken verurteilte und die, "nachdem sie die Publikationen sowohl der IKS als auch der Internen Fraktion der IKS gelesen hat, die Auffassung vertritt, dass Letztere ein Verhalten an den Tag legen, das der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Linken fremd ist."(14)

Trotz dieser Fortschritte begann sich dennoch ein Problem bemerkbar zu machen. In einem Brief, geschrieben nach unserem Besuch, wiesen wir bei der Einschätzung seiner Resultate darauf hin, dass "eine kommunistische Organisation nicht ohne eine kollektive und einheitliche Funktionsweise existieren kann. Regelmässige Treffen, mit Strenge und Bescheidenheit durchgeführt, ohne extravagante Ansprüche, aber mit Hartnäckigkeit und intellektueller Strenge abgehalten, sind die Fundamente dieses kollektiven, auf Einheit und Solidarität fussenden Lebens. Selbstverständlich steht das Kollektiv nicht in einem Gegensatz zur Entwicklung der individuellen Initiative und Beiträge. Die bürgerliche Sichtweise des ‚Kollektivs‘ ist genau genommen die einer Summe von Klonen, in der jeglicher Geist einer individuellen Initiative systematisch erstickt wird. Das entsprechende Pendant dieser falschen Sichtweise wurde vom Stalinismus zum einen und von den liberalen Demokraten und Libertären zum anderen entwickelt. Die marxistische Sichtweise ist die eines kollektiven Rahmens, der die individuelle Initiative, Verantwortung und Beiträge ermutigt und entwickelt. Jeder sollte sein Bestes geben, in Übereinstimmung mit dem berühmten Satz von Marx in der Kritik des Gothaer Programms: ‚jeder nach seinen Fähigkeiten‘."

Die Praxis eines Mitglieds des Kerns, den wir B. nennen werden, stand jedoch in völligem Gegensatz zu dieser Orientierung. Angefangen damit, dass er den Zugang zu Computern und zum Internet sowie zur Korrespondenz nach aussen völlig monopolisierte, wobei er auch von dem Vertrauen profitierte, das ihm die anderem Mitglieder der Gruppe entgegenbrachten, wenn er die meisten ihrer Texte ausarbeitete. Darüber hinaus – und im Gegensatz zu den Orientierungen, die während des Aprilbesuchs beschlossen wurden – entwickelte er eine organisatorische Praxis, die darin bestand, so weit wie möglich allgemeine Treffen der Gruppe, wo sich sämtliche Militante artikulieren und über ihre Aktivitäten entscheiden können, zu vermeiden. An Stelle solcher Treffen traf er sich getrennt zumeist mit einem oder zwei Genossen, was ihm erlaubte, ihre gesamten Aktivitäten zu kontrollieren. Diese Praxis ist typisch für bürgerliche Gruppen, wo sich der "Führer", der "Politkommissar" getrennt mit allen Mitgliedern trifft, um sie zu spalten und in Unkenntnis zu halten, was vor sich geht. Dies führte, wie uns die Genossen des NCI später bestätigten, zu einer Situation, in der sie selbst nicht richtig wussten, wer Mitglied der Gruppe war und welche Aufgaben von Bürger B. an Leute verteilt wurden, die sie nicht einmal selbst kannten.(15)

Ein anderes Element in der Taktik dieses Individuums bestand darin, die Entwicklung jeglicher ernsthafter Diskussionen während der raren, mehr oder weniger allgemeinen Treffen zu vermeiden. Die Genossen haben sich beunruhigt gezeigt über die Interventionen des Bürger B., der Diskussionen unter dem Vorwand abbrach, man müsse noch zu "jemand anderen" gehen. Um die Treffen so weit wie möglich von jeglichem Inhalt zu befreien, ermutigte B. zu grösstmöglichem informellen Charakter: Treffen wurden auf gemeinsame Essen reduziert, an denen auch Familienangehörige und Freunde, die nicht der Gruppe angehörten, teilnahmen.

Diese organisatorische Praxis hat nichts mit dem Proletariat zu tun und ist typisch für bürgerliche Gruppen. Sie verfolgt zwei Absichten: Einerseits hält sie die meisten Genossen in einem Zustand der politischen Unterentwicklung, indem sie ihnen die Mittel vorenthält, die ihnen ermöglichen würden, ihr eigenes Urteil weiter zu entwickeln; auf der anderen Seite und entsprechend dem, was wir gerade beschrieben haben, wandelt sie die Genossen in Manövriermasse für die Politik des "grossen Führers" um. In Wahrheit beabsichtigte Bürger B., seine "Genossen"16 als Sprungbrett zu benutzen, um zu einer "Persönlichkeit" innerhalb des politischen Milieus des Proletariats zu werden.

Der Kampf um die Verteidigung der Organisation

Die Pläne dieses Individuums wurden von zwei Faktoren durchkreuzt, die es in seiner arroganten Kalkulation nicht vorhergesehen hatte: zum einen die organisatorische Kohärenz und Beharrlichkeit der IKS und zum anderen die Tatsache, dass die anderen Genossen des NCI trotz ihrer begrenzten Mittel und trotz der obskuren Manöver von Bürger B. grosse Anstrengungen unternahmen, die ihnen schliesslich zu politischer Unabhängigkeit verhalfen.

Ende Juli 2004 unternahm Bürger B. ein dreistes Manöver: Er forderte die sofortige Mitgliedschaft in der IKS und setzte diese Forderung trotz des Widerstands der anderen Genossen durch, die, auch wenn sie ebenfalls beabsichtigten, der IKS beizutreten, fühlten, dass sie sich zunächst einem tief greifenden Assimilierungs- und Klärungsprozess der neuen Ideen unterziehen müssen: Die militante Aktivität der Kommunisten kann nur auf einem soliden Fundament errichtet werden.

Dies versetzte Bürger B. in eine peinliche Lage: Seine "Genossen" waren dabei, klassenbewusste Elemente zu werden, statt nützliche Idioten in seinem ehrgeizigen Plan zu sein, internationaler "Führer" zu werden. Als eine IKS-Delegation Ende August Argentinien besuchte, bestand er darauf, dass sie sofort die Integration des NCI in die IKS verkünden solle. Die IKS wies dieses Ansinnen zurück. Wir haben nichts mit hastigen und voreiligen Integrationen am Hut, die lediglich Gefahr laufen, militante Energien zu vergeuden. Eine Bilanz unseres Besuchs ziehend, schrieben wir: "Während unseres Besuchs habt Ihr die Frage Eurer Integration gestellt. Selbstverständlich reagieren wir mit dem natürlichen Enthusiasmus von Kämpfern für die proletarische Sache, wenn andere Genossen an unserem Kampf teilnehmen wollen (…) Doch wir müssen uns klar darüber sein, dass wir die Frage der Integration neuer Militanter oder der Bildung neuer Sektionen nicht auf derselben Ebene wie ein kommerzielles Unternehmen stellen, das mit allen Mitteln versucht, in einem neuen Markt Fuss zu fassen, oder wie eine linkskapitalistische Gruppe, die nach neuen Anhängern für ihre Politik innerhalb des Staatskapitalismus sucht, (sondern als) ein allgemeines Problem des internationalen Proletariats betrachten, das auf der Grundlage historischer und globaler Kriterien behandelt werden muss (…) Die zentrale Orientierung unserer Delegation bestand darin, mit Euch über das ganze Ausmass der Folgen der militanten Aktivitäten eines Kommunisten zu diskutieren und was es bedeutet, eine vereinte und zentralisierte kommunistische Organisation aufzubauen. (Dies) ist keine technische Frage; sie erfordert eine hartnäckige, kollektive Beständigkeit. Sie kann niemals Früchte tragen, wenn sie nur einem momentanen Impuls folgt (…) was uns angeht, so ist es unsere Absicht, Militante in ihrem unabhängigen Urteil zu schulen, wie auch immer ihre persönlichen oder intellektuellen Fähigkeiten sind, damit sie in der Lage sind, kollektiv am Aufbau und der an der Verteidigung der internationalen Organisation teilzunehmen".

Dies passte Bürger B. nicht in den Kram. "Darüber hinaus ist es höchst wahrscheinlich, dass er bereits im Geheimen Kontakt zur IFIKS aufgenommen hat, während er gleichzeitig fortfuhr, uns mit seinem Begehren zu täuschen, die Integration des NCI in die IKS zu beschleunigen".(17) Dieses Individuum änderte sein Verhalten über Nacht, ohne wenigstens die Ehrlichkeit zu besitzen, seine "Meinungsverschiedenheiten" auszudrücken.

Der Grund ist simpel: Seine Absicht war nicht die Klärung, sondern einfach sein eigener persönlicher Erfolg als ein "internationaler Führer". Nachdem ihm aufging, dass er nicht in der Lage war, seine Ambitionen in der IKS zu befriedigen, entschloss er sich, nach einer ihm angenehmeren Gesellschaft Ausschau zu halten.

Auch zögerte er nicht, zu Intrigen und zum Doppelspiel zu greifen, um eine "Sensation" zu schaffen. Über Nacht verhalf er einem "Zirkel Internationaler Kommunisten" zum Leben, dessen einziges Mitglied er selbst war, wobei er die Unverfrorenheit besass, in diesen "Zirkel" die Mitglieder des NCI – die bar jeder Kenntnis darüber waren – und seine "sehr engen Kontakte" zu ""integrieren". Dieser "Zirkel" schlug vor, dieselbe Methode zu nutzen (die bereits von Stalin praktiziert worden war), um das Verschwinden des NCI sicherzustellen: Er präsentierte sich selbst als die einzig wahre Nachfolge des NCI.(18)

Diese Manöver, die, wie wir gesagt haben, von dem widerwärtigen Bündnis zwischen dem Opportunismus des IBRP und den Parasiten der IFIKS19ermutigt wurden, wurden auf unser Betreiben zusammen mit dem NCI aufgedeckt und entschärft. Die Genossen des NCI waren durch die Manöver des Bürgers B. isoliert gewesen; trotz aller Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, stellten wir den Kontakt zu ihnen wieder her. "Durch Telefonanrufe bei den anderen Genossen des NCI (eine Vorgehensweise, die in den Worten des Bürgers B. angeblich die ‚ekelhafte Methode der IKS‘ war) erfuhren wir, dass sie völlig ahnungslos über die Existenz des ‚Zirkels‘ waren, dessen angebliche Mitglieder sie waren! Sie hatten überhaupt keine Ahnung von der Existenz der widerwärtigen ‚Erklärungen‘ des ‚Zirkels‘ gegen die IKS, die angeblich – um die Worte dieser ‚Erklärungen‘ zu gebrauchen – ‚kollektiv‘, ‚einmütig‘ und ‚nach Konsultierung aller Mitglieder‘ des NCI angenommen wurden. All dies ist vollkommen unwahr." ("Präsentation der Erklärung des NCI")

Sobald der Kontakt wiederhergestellt war, organisierten wir einen Besuch, um mit den Genossen des NCI zu diskutieren und Perspektiven für die Zukunft auszuarbeiten. Wir wurden von den Genossen herzlich und brüderlich empfangen. Während unseres Aufenthaltes beschlossen die Genossen, ihre Erklärung vom 27. Oktober an alle Sektionen des IBRP und den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken zu senden, um der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen: Im Gegensatz zur Falschinformation, mit der das IBRP hausieren ging (vor allem in seiner italienischen Presse), hat das NCI nicht mit der IKS gebrochen!

Bei etlichen Gelegenheiten riefen die Genossen des NCI Bürger B. an, um ihn zu bitten, zu kommen und sein Verhalten gegenüber dem NCI und der IKS-Delegation zu erläutern. Doch der Herr verweigerte sich einer solchen Begegnung. Auf frischer Tat ertappt, zog dieses feige Individuum es vor, sich wie ein Kaninchen in seinem Bau zu verkriechen.

Trotz des Schocks über die Lügen und Manöver, die von diesem üblen Individuum in ihrem Namen verübt wurden, drückten die Genossen des NCI ihre Absicht aus, ihre politischen Aktivitäten fortzusetzen, soweit sie dazu in der Lage waren. Dank des brüderlichen Empfangs durch den NCI und seines politischen Engagements war die IKS in der Lage, eine zweite öffentliche Veranstaltung in Buenos Aires (5. November) über ein von den Genossen des NCI ausgewähltes Thema zu veranstalten. (20)

Trotz der fürchterlichen materiellen Probleme, mit denen sie in ihrem täglichen Leben konfrontiert sind, erklärten die Genossen unserer Delegation fest entschlossen ihre Absicht, mit ihren militanten Aktivitäten fortzufahren und insbesondere die Diskussion mit der IKS fortzusetzen. Jene Genossen, die arbeitslos sind, beabsichtigen, Arbeit zu finden, nicht nur um sich selbst und ihre Kinder zu ernähren, sondern auch um der politischen Unterentwicklung, in der sie vom Bürger B. gehalten worden waren, zu entkommen (vor allem haben sie ihren Wunsch ausgedrückt, zum Kauf eines PC beizutragen). Indem sie mit Bürger B. und seinen bürgerlichen Methoden brachen, haben sich die Genossen des NCI als wahre Militante der Arbeiterklasse verhalten.

Perspektiven

Die Erfahrungen des NCI sind voller Lehren. An erster Stelle sei genannt, dass der NCI durch die Annahme von programmatischen Positionen, die eng an jenen der IKS angelehnt sind, die Einheit des Weltproletariats und seiner Avantgarde demonstriert hat. Die Arbeiterklasse verteidigt die gleichen Positionen in jedem Land, ungeachtet der politischen Entwicklungen, der imperialistischen Positionen oder der politischen Regimes. Innerhalb dieses einheitlichen Rahmens waren die Genossen in der Lage, Beiträge von allgemeinem Interesse für das gesamte Proletariat zu leisten (Charakter der Piquetero-Bewegung, der sozialen Revolte in Argentinien und Bolivien etc.), und nahmen am internationalen Kampf zur Verteidigung proletarischer Prinzipien teil: ihre klare Denunzierung des Haufens von Ganoven, der sich selbst IFIKS nennt, die Erklärung zur Verteidigung des NCI und proletarischer Verhaltensregeln etc.

Zweitens hat diese Erfahrung ein Schlaglicht auf die Gefahr geworfen, die "Gurus" für die Entfaltung von Gruppen und Genossen auf der Suche nach Klassenpositionen darstellen können. Dieses Phänomen ist alles andere als spezifisch argentinisch,21 es ist ein internationales Phänomen, dem wir in der Vergangenheit oft begegnet sind: Individuen, oftmals brillant, die eine Gruppe als ihr "persönliches Eigentum" betrachten und die aufgrund ihres Misstrauens gegenüber den wirklichen Fähigkeiten der Arbeiterklasse und wegen ihres Durstes nach persönlicher Anerkennung versuchen, die anderen Genossen ihrer persönlichen Kontrolle zu unterwerfen, indem sie deren Entwicklung blockieren und sie zur politischen Unmündigkeit verdammen. Solche Elemente spielen anfangs oft eine dynamische Rolle beim Streben nach revolutionären Positionen, und sei es nur dadurch, dass sie sich an die Spitze der Annäherung und des Denkprozesses seitens der anderen Genossen stellen. Doch im Allgemeinen scheitern solche Elemente, wenn sie nicht gründlich ihre eigene vergangene Herangehensweise in Frage stellen, daran, ihre Annäherung konsequent zu Ende führen, da dies den Verlust ihres eigenen Status als "Guru" bedeuten würde. Eine andere Konsequenz ist der rapide Verlust von Mitgliedern der Gruppe in Folge der Atmosphäre, die in der Gruppe durch die Forderung des Gurus nach Unterwerfung unter seiner eigenen Subjektivität entsteht; dies führt zur Demoralisierung der Anderen, die häufig unter dem ernüchternden Eindruck jegliche politische Aktivität aufgeben, dass politische Positionen schön und gut sein mögen, dass aber die organisatorische Praxis, die menschlichen Beziehungen und das persönliche Verhalten nicht im Mindesten mit dem unterdrückerischen Universum der linken und linksextremistischen Gruppen gebrochen haben.

Drittens hat diese Erfahrung etwas sehr viel Wichtigeres gezeigt: Es ist möglich, diese Gefahr zu bekämpfen und zu bannen. Heute haben die Genossen nicht ohne Schwierigkeiten einen Prozess der Klärung, der Entwicklung ihres eigenen Selbstvertrauens und ihrer kollektiven Kapazitäten begonnen, mit dem Ziel der künftigen Integration in die IKS. Was auch immer das endgültige Ergebnis dieses Kampfes sein wird, der NCI hat demonstriert, dass trotz all der Bemühungen des Gurus, ihre politische Entwicklung zu bremsen, die Genossen sich für die proletarische Sache organisieren und kämpfen können.

Schliesslich entwickelt sich – und dies ist nicht am unwichtigsten – dank der aktiven Bemühungen der Genossen um die politischen Positionen der IKS ein Milieu für die proletarische Debatte in Argentinien. Es wird von grösstem Wert sein für die Klärung und militante Einbeziehung von proletarischen Elementen, die in diesem Land und in anderen Ländern Lateinamerikas auftauchen.

C. Mir (3. Dezember 2004)

Fußnoten:

1 s. International Review Nr. 119 (frz., engl., span. Ausgabe).

2 Ebenda.

3 s. die Artikelreihe 1903–1904: The birth of Bolshevism, in: Internationale Review Nr. 116–118 (frz., engl., span. Ausgabe).

4 s. den Artikel Die marxistische und die opportunistische Sichtweise in der Politik des Parteiaufbaus, in: Internationale Revue Nr. 26.

5 Für weitere Informationen siehe die Präsentation der Erklärung des NCI vom 27. Oktober 2004; auf Englisch auf unserer Website: https://en.internationalism.org./ir/119_imposture.html [10].

6 s. den Artikel ‚Circulo de Comunistas internacionalistas‘: Hochstapelei oder Realität? auf unserer Website: https://en.Internationalism.org/ir/119_imposture.html [11].

7 Als ein Beispiel dieser linksextremistischer Überbleibsel weisen wir auf den Gebrauch des Begriffs „Gewerkschaftsbürokratie“ hin, der dazu neigt, die Tatsache zu verbergen, dass die Gewerkschaft als Organisation, von Kopf bis Fuss, ein verlässlicher Diener des Kapitals und ein Feind der Arbeiterklasse ist. In demselben Sinne ermöglicht die Idee, dass die Gewerkschaften „Mittler“ zwischen Kapital und Arbeit sind, ihnen, sich als irgendwie neutrale Organisationen geltend zu machen, die zwischen den beiden wesentlichen Klassen der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, stünden.

8 Die Kopien davon sind uns vom NCI zugesandt worden.

9 Die Art und Weise, wie das IBRP die Dynamik der Konferenzen „auflöste“, bestand darin, sie durch den Gebrauch eines sektiererischen Manövers kaputt zu machen. In: International Review, Nr. 22, (frz., engl., span. Ausgab).

10 Siehe die berühmte Streitschrift von K. Marx Das Elend der Philosophie, in: MEW 4, S. 63 ff.

11 Ist es auch nur im Entferntesten vorstellbar, dass Marx und Engels gleichermassen geantwortet hätten, als die französischen und englischen Arbeiter zu jenem Treffen aufriefen, das die Erste Internationale 1864 ans Tageslicht verhalf, und zwar aus dem Grund, dass sie sich bereits 1848 mit dieser Frage beschäftigt hätten?

12 In einem Brief an die Genossen, der zur Einschätzung des Resultats ihres Appells verfasst wurde, boten wir eine detaillierte Erklärung der Umgruppierungsmethoden an, die die Revolutionäre in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung benutzt haben, um aufzuzeigen, wie die vielfältigen internationalen Organisationen des Proletariats geschmiedet wurden.

13 Siehe den Artikel über die Piquetero-Bewegung in dieser Ausgabe der Internationalen Revue.

14 Der Text der Resolution kann auf Englisch auf unserer Website vorgefunden werden: https://en.internationalism.org./ir/119_nci_reso.html [12], in der es auch Links zum vollständigen Text als Anhang auf Spanisch gibt.

15 Dies erklärt einen augenscheinlichen Widerspruch in der Herkunft des NCI. Für die Genossen des NCI heute wurde der Nucleo erst im April 2004 gebildet, mit anderen Worten: nach dem ersten Besuch durch die IKS. Zuvor bedeutete die Funktionsweise, die Bürger B. erfolgreich in der Gruppe durchsetzte, und die geringe Kenntnis von den anderen Mitglieder dass der NCI zunächst viel mehr einem informellen Diskussionszirkel ähnelte. Erst nach unserem Besuch, wo wir auf der Wichtigkeit regelmässiger Treffen bestanden, begann der NCI für jedes seiner Mitglieder eine bewusste Existenz anzunehmen.

16 Seine Gerigschätzung gegenüber ihnen war besonders empörend: „Bürger B. verachtete die anderen Mitglieder des NCI, die Arbeiter sind, die in grosser Armut leben, während er selbst Angehöriger eines liberalen Berufes ist und damit prahlte, dass er das einzige Mitglied des NCI ist, das sich eine Reise nach Europa leisten kann“. Siehe unseren Artikel auf Spanisch: Der NCI hat nicht der IKS gebrochen auf unserer Website: https://en.internationalism.org./spanish/ap/180_nci.html [13].

17 s. die Präsentation der Erklärung des NCI“ auf unserer Website https://en.internationalism.org./ir/119_nci_pres.html [14].

18 All die Metamorphosen dieses „Zirkels“, dessen absurde internationale Reputation allein durch seine Beschützer, das IBRP und die IFIKS, aufgebläht wurde, sind in zwei Dokumenten demaskiert worden, die auf unserer spanischen Website (Circulo comunistas internacionalistas: una extrana aparicion und Una nueva… y extrana aparicion) und in einem Artikel auf Englisch (‘Circulo comunistas internacionalistas‘: Imposture or reality?) veröffentlicht wurden. Siehe: https://en.internationalism.org./ir/119_imposture.html [10].

19 Unsere Website hat eine ganze Reihe von Dokumenten veröffentlicht, insbesondere etliche Briefe an das IBRP, in denen auf die beklagenswerte Richtung hingewiesen wurde, in der diese Organisation abdriftet. Kaum hatte Bürger B. hinter dem Rücken der anderen Mitglieder des NCI seinen „Zirkel“ geformt, hatte das IBRP nichts Eiligeres zu tun, als ihm eine Öffentlichkeit anzubieten. Zunächst durch die Veröffentlichung einer italienischen Übersetzung eines Dokuments des „Zirkels“ über die Repression eines Arbeiterkampfes in Patagonien (was umso erstaunlicher ist, als dass das IBRP sich stets geweigert hat, auch nur das kleinste Dokument des NCI zu veröffentlichen) und schliesslich durch die dreisprachige Veröffentlichung (französisch, englisch und spanisch, aber nicht italienisch) einer „Erklärung“ des „Zirkels“, datiert vom 12. Oktober (Gegen die Ekel erregenden Methoden der IKS), die nichts anderes ist als eine Ansammlung von unerhörten Lügen und Verleumdungen gegen die IKS. Drei Wochen und drei Briefe der IKS später veröffentlichte das IBRP auf seiner Website wenigstens ein kleines Kommunique der IKS, das alle Anschuldigungen des „Zirkels“ von sich weist. Seither ist die äusserst verlogene und verleumderische Natur der Behauptungen des Bürgers B. wie auch das Lügengespinst seines „Zirkels“ ohne den Schatten eines Zweifels demonstriert worden. Und bis heute hat das IBRP – während es diskret das Werk von Bürger B. von seiner Website zurückzog – es nicht geschafft, auch nur die geringste Erklärung abzugeben, um die Wahrheit wieder gerade zu rücken. Es ist bemerkenswert, dass Bürger B.'s plötzliche Leidenschaft für das IBRP und dessen Positionen sowie für die IFIKS erst begann, als diesem kleinen Abenteurer gewahr wurde, dass er mit seinen Manövern bei der IKS auf Granit beissen würde. Diese Konvertierung, die noch schneller stattfand als die des St. Paulus auf dem Weg nach Damaskus, veranlasste das IBRP, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, sich hastig zum Sprecher von Bürger B. zu machen. Das IBRP sollte sich einst selbst fragen, wie es kommt (und das nicht nur einmal), dass Elemente, die ihre Unfähigkeit bewiesen haben, sich in die Kommunistische Linke zu integrieren, sich stets dem IBRP zuwandten, nachdem sie mit ihrer „Annäherung“ an die IKS gescheitert sind. Wir werden auf diese Frage in einer späteren Ausgabe dieser Revue zurückkommen.

20 s. unsere spanische Website: https://www.internationalism.org./spanish/ap/179_RPBA.html [15].

21 Auch wenn eingeräumt werden muss, dass die gespaltene Persönlichkeit und Arglist des Bürgers B. schon ans Pathologische grenzt

Geographisch: 

  • Argentinien [5]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Von der Kommunistischen Linken beeinflusst [6]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [16]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [17]

Die humanitäre und demokratische Scheinheiligkeit

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Wenn man für jedes Zeitalter der Menschheit eine charakteristische Unsitte nennen müsste, so wäre es beim Kapitalismus bestimmt die Scheinheiligkeit der herrschenden Klasse. Der berüchtigte mongolische Eroberer Tschingis Khan stapelte nach der Einnahme von Widerstand leistenden Städten die Schädel ihrer Bewohner zu Pyramiden auf, aber er gab nie vor, dass er dies zu ihrem Wohl tun würde. Es war der bürgerlichen und kapitalistischen Demokratie vorbehalten zu verkünden, dass der Krieg "humanitär" sei und dass man die Zivilbevölkerung bombardieren müsse, um genau dieser Bevölkerung den Frieden und die Freiheit zu bringen.

Tsunami: Der Bluff der humanitären Hilfe

Der Tsunami vom Dezember 2004 traf die Küsten des Indischen Ozeans im Zeitpunkt, als sich die letzte Ausgabe der Internationalen Revue (frz./engl./span. Ausgabe) bereits beim Drucker befand. Da wir somit keine Stellungnahme über dieses bedeutende Ereignis der gegenwärtigen Weltlage1 in diese letzte Nummer einfügen konnten, gilt es dies hier nachzuholen. Schon 1902 – vor etwas mehr als 100 Jahren – stellte die Revolutionärin Rosa Luxemburg die Scheinheiligkeit der Grossmächte an den Pranger, die ihre "humanitäre Hilfe" der vom Vulkanausbruch von Martinique heimgesuchten Bevölkerung angedeihen liess, während sie umgekehrt nie einen Augenblick zögerten, die gleichen Leute zu massakrieren, wenn es darum ging, die Herrschaft auf die ganze Welt auszudehnen.2 Wenn wir heute die Reaktion der Grossmächte angesichts der Katastrophe betrachten, die sich Ende 2004 in Südasien ereignet hat, so müssen wir feststellen, dass sich die Dinge nicht zum Besseren verändert haben, im Gegenteil.

Heute wissen wir, dass die Zahl der direkt durch den Tsunami verursachten Toten 300'000 übersteigt, wobei vor allem diejenigen getroffen wurden, die ohnehin mittellos waren; hinzu kommen Hunderttausende von Obdachlosen. Ein solches Ausmass der Katastrophe ist keineswegs einfach "Schicksal". Man kann natürlich nicht den Kapitalismus beschuldigen, dass er das Seebeben verursacht habe, das zur gigantischen Flutwelle führte. Aber ihm sind die totale Nachlässigkeit und die Unverantwortlichkeit der Regierungen dieser Region der Welt und ihrer westlichen Doppelgänger anzulasten, die diese gewaltige menschliche Katastrophe nach sich zogen.3

Alle wussten, dass dieser Teil der Erde besonders erdbebengefährdet ist. "Die örtlichen Experten wussten jedenfalls, dass ein Drama im Anzug war. Im Dezember hatten indonesische Seismologen am Rande einer Physikertagung in Jakarta das Thema mit einem französischen Experten erörtert. Sie waren sich voll der Gefahr von Tsunamis bewusst, denn in diesem Teil der Erde kommt es ständig zu Beben" (Libération, 31.12.04).

Nicht nur die Experten waren im Bilde, sondern auch der ehemalige Direktor des Internationalen Tsunami-Informationszentrums in Hawaii, George Pararas-Carayannis, teilte mit, dass ein grösseres Beben zwei Tage vor der Katastrophe vom 26. Dezember stattgefunden habe. "Der Indische Ozean verfügt über eine Basisinfrastruktur, um Massnahmen gegen Beben zu treffen und Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen. Und niemand hätte überrascht sein sollen, denn am 24. Dezember war ein Beben mit der Grössenordnung von 8,1 auf der Richterskala gemessen worden. Allein dadurch hätten schon die Behörden gewarnt sein sollen. Aber es fehlt vor allem der politische Wille der betroffenen Länder und eine internationale Abstimmung entsprechend den Massnahmen, wie sie im Pazifik getroffen wurden" (Libération, 28.12.2004).

Niemand hätte überrascht sein dürfen und trotzdem ist das Schlimmste eingetreten, obwohl genügend Informationen über die sich abzeichnende Katastrophe verfügbar waren, um rechtzeitig zu handeln und das Massaker zu verhindern.

Dies ist keine Nachlässigkeit, sondern eine verbrecherische Haltung, die die tiefe Verachtung der herrschenden Klasse für die Bevölkerung und die Arbeiterklasse offenbart, die die Hauptopfer der bürgerlichen Politik der Regierungen vor Ort sind!

Dieses unverantwortliche Handeln der Regierungen verdeutlicht erneut die Lebensform dieser Räuberklasse, die das Leben und die Produktion in dieser Gesellschaft verwaltet. Wenn es darum geht, die Ausbeutung und den kapitalistischen Profit aufrechtzuerhalten, sind die bürgerlichen Staaten bereit, so viele Menschenleben, wie ihnen nötig scheint, zu opfern.

Der abgrundtiefe Zynismus der herrschenden Klasse und die Katastrophe, die die Weiterexistenz dieses tödlichen Ausbeutungssystems für die Menschheit bedeutet, werden noch offensichtlicher, wenn wir die Kosten eines Tsunami-Warnsystems vergleichen mit den gigantischen Summen, die für Rüstungsgüter nur schon in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, in so genannten "Entwicklungsländern", ausgegeben werden: Der Betrag von 20–30 Millionen Dollar, der nach Schätzungen nötig wäre, um ein System der Erkennung und der Vorwarnung in der Region einzurichten, entspricht gerade dem Preis von einem der 16 Flieger des Typs Hawk-309, die die indonesische Regierung in den 1990er-Jahren in Grossbritannien bestellte. Wenn wir die Militärbudgets von Indien (19 Milliarden Dollar), Indonesien (1,3 Milliarden Dollar) und Sri Lanka (540 Millionen Dollar – dies ist das kleinste und ärmste der drei Länder) betrachten, so springt ins Auge, wie dieses Wirtschaftssystem mit vollen Händen Geld ausgibt, um Tod zu säen, aber umgekehrt äusserst knauserig tut, wenn es darum geht, das Leben der Bevölkerung zu schützen.

Weitere Opfer sind angekündigt worden nach einem neuen Seebeben in der Region, das diesmal die indonesische Insel Nias getroffen hat. Die hohe Zahl der Toten und Verletzten ist auf das beim Häuserbau verwendete Material zurückzuführen, Betonblöcke, die den Erdstössen viel weniger widerstehen können als das Holz, das in der Region das herkömmliche Baumaterial ist. Aber eben, der Beton ist billig und das Holz teuer, und dies umso mehr, als dessen Export in die entwickelten Länder eine wichtige Einnahmequelle der indonesischen Kapitalisten, Mafiosi und Militärs ist. Diese neue Katastrophe mit der Rückkehr der westlichen Medien in die Region, die uns all die guten Taten der NGOs vor Ort zeigen wollen, offenbart auch, was die Folgen der grossen Solidaritätserklärungen waren, die die verschiedenen Regierungen nach dem Seebeben vom Dezember 2004 abgaben.

Was zunächst die Geldspenden betrifft, die die westlichen Regierungen versprachen, so ist das Missverhältnis zwischen den Rüstungsausgaben und dem Geld, das für Rettungszwecke zur Verfügung gestellt wird, noch schreiender als bei den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans: Die Vereinigten Staaten, die zuerst an eine Hilfe in der Höhe von 35 Millionen Dollar dachten ("das, was wir im Irak jeden Morgen vor dem Frühstück ausgeben", wie der amerikanische Senator Patrick Leahy sagte), budgetieren Rüstungsausgaben für 2005/06 von 500 Milliarden Dollar, wobei die Kriegskosten in Afghanistan und Irak noch nicht mit eingerechnet sind. Und sogar hinsichtlich dieser erbärmlichen Hilfszusagen mussten wir darauf hinweisen, dass die westliche Bourgeoisie den Mund mit Versprechen voll nimmt, denen aber dann oft keine Taten folgen. "So hatte diese ‚internationale Gemeinschaft‘ im Dezember 2003 den Erdbebenopfern im Iran 115 Millionen $ zugesagt; bislang hat Teheran aber ganze 17 Mio. $ erhalten. Das Gleiche konnte man in Liberia beobachten: eine Milliarde Dollar wurden versprochen, weniger als 70 Mio. $ sind bislang eingetroffen."4 Die Asian Development Bank gibt heute bekannt, dass vom versprochenen Geld vier Milliarden Dollar immer noch fehlen, und BBC meldet: "Der srilankische Aussenminister Lakshman Kadigamar sagte, dass sein Land noch nichts von dem erhalten habe, was die Regierungen versprochen hätten." In Banda Aceh gibt es nach wie vor kein sauberes Wasser für die Bevölkerung (paradoxerweise sind die Flüchtlinge in ihren Barackenlagern die einzigen, denen die bei weitem ungenügenden Anstrengungen der NGOs zugute kommen). In Sri Lanka leben die Flüchtlinge aus der Region um Trincolamee (um nur ein Beispiel zu nennen) immer noch in Zelten und leiden an Durchfall und Windpocken; 65% der Fischerboote (von denen ein Grossteil der Bevölkerung der Insel abhängig ist) wurde durch den Tsunami zerstört, und sie sind immer noch nicht ersetzt worden.

Die Medien der Bourgeoisie erklären uns natürlich des Langen und Breiten, wie schwierig eine solche gross angelegte Hilfsaktion zu organisieren sei. Es ist sehr aufschlussreich, wenn man diese "Schwierigkeiten", der bedürftigen Bevölkerung zu helfen (was dem Kapital keinen Gewinn einbringt), vergleicht mit der eindrücklichen Logistik der amerikanischen Armee bei der Operation Wüstensturm: Erinnern wir uns daran, dass die Vorbereitung des Angriffs auf den Irak sechs Monate gedauert hat. In diesem Zeitraum wurde gemäss einem Artikel des Army Magazine5 folgendes in Bewegung gesetzt: "Das 22. Support Command erhielt mehr als 12'447 Raupenfahrzeuge, 102'697 Radfahrzeuge, 3,7 Milliarden Liter Treibstoff und 24 Tonnen Post in dieser kurzen Zeitspanne. Unter den Neuigkeiten im Vergleich zu früheren Kriegen sah man diesmal den Einsatz von Schiffen zum schnellen Verladen, den Transport mittels ultramoderner Container, ein effizientes System mit vereinheitlichtem Treibstoff und eine automatisierte Informationsverwaltung". Nun, immer wenn man uns über "logistische Schwierigkeiten" bei humanitären Operationen erzählt, sollten wir uns daran erinnern, welche Fähigkeiten der Kapitalismus zeigt, wenn es darum geht, imperialistische Interessen zu verteidigen.

Doch abgesehen davon, waren selbst die bescheidenen Geldbeträge und die elenden Dienste, die in die Region geschickt wurden, nicht gratis: Die Bourgeoisie gibt kein Geld ohne Gegenleistung aus. Wenn die westlichen Staaten ihre Hubschrauber, Flugzeugträger und Amphibienfahrzeuge in den Indischen Ozean sandten, so rechneten sie damit, an imperialistischem Einfluss in der Gegend zu gewinnen. Wie Condoleezza Rice vor dem amerikanischen Senat anlässlich ihrer Einsetzung als Staatssekretärin 6 unterstrich: "Ich bin einverstanden, wenn man sagt, dass der Tsunami eine wunderbare Gelegenheit geboten hat, um das Mitleid nicht nur der amerikanischen Regierung, sondern des amerikanischen Volkes zu zeigen, und ich denke, dass uns dies viel gebracht hat."7 Ebenso war der Entscheid der indischen Regierung, jede westliche Hilfe abzulehnen, voll und ganz durch den Wunsch begründet, "im Verein mit den Grossen mitzuspielen" und sich als regionale imperialistische Macht zu behaupten.

Die Demokratie zur Vertuschung der Barbarei

Wenn wir uns darauf beschränken würden, das obszöne Missverhältnis zwischen dem, was die Bourgeoisie zur Verbreitung des Todes ausgibt, und den immer elender werdenden Lebensbedingungen der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung festzustellen, würden wir nicht weiter gehen als all die guten Seelen, die die Demokratie verteidigen, als die NGOs jeder Couleur.

Aber auch die Grossmächte selber sind eingefleischte Verteidiger der Demokratie, und ihre über das Fernsehen verbreiteten Informationen bemühen sich, uns die Hoffnung zu vermitteln, dass sich dank dem unaufhaltsamen Vormarsch der Demokratie doch noch alles zum Guten wenden werde. Nach den Wahlen in Afghanistan durfte nun auch die Bevölkerung im Irak zum ersten Mal wählen, und Bush junior konnte den bewundernswerten Mut dieser Leute begrüssen, die einer wahrhaftigen Todesdrohung trotzten, um an die Urnen zu gehen und dem Terrorismus eine Absage zu erteilen. In der Ukraine folgte die "orangefarbene Revolution" dem Vorbild Georgiens und beseitigte das korrupte, Russland ergebene Regime durch den heldenhaften Juschtschenko. Im Libanon forderte die mobilisierte Jugend eine Aufklärung der Ermordung des oppositionellen Rafik Hariri und den Abzug der syrischen Truppen aus dem Land. In Palästina erteilten die Wahlen Mahmud Abbas einen klaren Auftrag, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten und einen gerechten Frieden mit Israel abzuschliessen. Und in Kirgistan endlich fegte eine "Tulpenrevolution" den alten Präsidenten Akayev weg. Wir stehen also scheinbar vor einem wahrhaften Ausbruch der Demokratie, von "people power", der nun endlich die "Neue Weltordnung" bringen soll, die uns 1989 mit dem Einsturz der Berliner Mauer versprochen wurde.

Aber sobald wir etwas an der Oberfläche kratzen, verschwindet der rosafarbene Anstrich.

So spitzten die Wahlen im Irak nur den Machtkampf zwischen den verschiedenen Fraktionen der irakischen Bourgeoisie zu. Mit mühsamen Verhandlungen zwischen Schiiten und Kurden über die Machtaufteilung und den Grad an Autonomie, der dem kurdischen Teil des Landes gewährt werden soll, geht dieser Kampf weiter. Sie haben zwar einstweilen eine Vereinbarung über bestimmte Regierungsposten abschliessen können, haben aber umgekehrt die delikate Frage um Kirkuk, eine reiche Erdöl-Stadt im Norden des Iraks, auf die lange Bank schieben müssen; über diese Angelegenheit streiten sich Sunniten und Kurden, und sie wird auch weiterhin zu blutigen Zusammenstössen führen. Man kann sich auch fragen, wie weit die kurdischen Führer die irakischen Wahlen überhaupt Ernst nahmen, da sie am selben Tag eine "Umfrage" organisierten, nach der 95% der Kurden ein unabhängiges Kurdistan wünschten. "Die Selbstbestimmung ist ein Naturrecht unseres Volkes, und es hat ein Recht darauf, seine Wünsche zu äussern", sagte der kurdische Führer Barzani, "wenn die Zeit reif ist, wird die Selbstbestimmung Wirklichkeit".8 Die Lage der Kurden lässt für die Stabilität der Region Schlimmes befürchten, denn jeder Versuch von ihrer Seite, ihre Unabhängigkeit zu behaupten, wird von zwei angrenzenden Mächten mit bedeutenden kurdischen Minderheiten als unmittelbare Bedrohung aufgefasst: von der Türkei und dem Iran.

Die irakischen Wahlen stellten für die USA einen Medienerfolg dar, der den Widerstand der Rivalen, namentlich Frankreichs, auf der politischen Ebene beträchtlich dämpfte. Umgekehrt ist aber die Regierung Bush kaum entzückt über die Perspektive eines von Schiiten beherrschten Iraks, die mit dem Iran und somit indirekt auch mit Syrien und dessen Schergen im Libanon, dem Hisbollah, verbündet sind. In diesem Zusammenhang ist die Ermordung Rafik Hariris zu sehen und zu verstehen, des mächtigen politischen Führers und Geschäftsmanns im Libanon.

Die ganze westliche Presse – allen voran die amerikanische und französische – zeigten mit dem Finger auf Syrien. Doch alle Kommentatoren waren sich einig darüber, dass erstens Hariri kein wirklich Oppositioneller war (er war vielmehr Ministerpräsident unter syrischer Vormundschaft während 10 Jahren), und zweitens Syrien zuletzt Nutzniesser des Verbrechens ist; vielmehr war Syrien gezwungen, den Abzug all seiner Truppen bis zum 30. April anzukündigen.9 Umgekehrt sind diejenigen, die aus der Situation Nutzen ziehen, einerseits Israel, das den Einfluss der Hisbollah schwinden sieht, und andererseits die Vereinigten Staaten, die die Gelegenheit beim Schopf packten, um Syrien aus dem Land zu schicken. Heisst dies nun, dass die "demokratische Revolution", die diesen Rückzug ausgelöst hat, ein neues Gebiet des Friedens und des Wohlstands erobert hätte? Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, wenn man weiss, dass die heutigen "Oppositionellen" (wie der drusische Führer Walid Dschumblat) nichts anderes als Kriegsherren sind, nämlich die zentralen Figuren des blutigen Libanon-Konflikts von 1975 bis 1990; schon mehrere Bombenanschläge sind in christlichen Gebieten des Libanons verübt worden, während der Hisbollah (mit seinen 20'000 Bewaffneten) Massendemonstrationen abhält.

Auch die erzwungene Absetzung des kirgisischen Präsidenten Akayev kündet nur noch mehr Elend und Unbeständigkeit an. Dieses Land, das zu den ärmsten Zentralasiens gehört und bereits russische und amerikanische Militärbasen auf seinem Territorium hat, sieht sich immer mehr mit Begehrlichkeiten Chinas konfrontiert. Abgesehen davon ist es eine bevorzugte Zwischenstation für den Drogentransport. Unter diesen Bedingungen ist der jüngste "demokratische" Umsturz nichts anderes als ein Moment in der Abrechnung, die die Grossmächte mit Stellvertretern betreiben.

Im 20. Jahrhundert stürzten die imperialistischen Rivalitäten den Planeten zweimal mit Weltkriegen in schreckliche Schlächtereien; darüber hinaus folgte nach 1945 ein Krieg dem anderen – Kriege, die die beiden grossen imperialistischen Blöcke, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren, einander lieferten, bis 1989 der russische Block zusammenbrach. Am Ende jedes Gemetzels verspricht uns die herrschende Klasse, dass dies nun der letzte Krieg gewesen sei: der Krieg von 1914–18 war der "allerletzte", der Krieg von 1939–45 sollte eine neue Phase des Wiederaufbaus und der von der UNO garantierten Freiheit eröffnen, das Ende des Kalten Krieges 1989 war angeblich der Beginn einer "Neuen Weltordnung" des Friedens und des Wohlstandes. Für den Fall, dass sich die Arbeiterklasse heute Fragen zum Stand dieser "Neuen Ordnung" (des Krieges und des Elends) stellt, erwarten uns in diesen Jahren 2004 und 2005 prunkvolle Triumphfeiern der Demokratie (Landung der Alliierten in der Normandie vom Juni 1944) wie auch Gedenkfeiern an die Schrecken des Nationalsozialismus (aus Anlass der Befreiung der Konzentrationslager). Man kann davon ausgehen, dass die demokratische Bourgeoisie umgekehrt wenig Klamauk zu den 20 Millionen Toten des russischen Gulags veranstalten wird, da doch die UdSSR ihr Verbündeter gegen Hitler war, und ebenso wenig zu den 340'000 Toten in Hiroshima und Nagasaki, zur Erinnerung an die Tage, als die grösste Demokratie der Welt das einzige Mal in der Geschichte die Waffe des Armageddon, die Atombombe, gegen ein bereits besiegtes Land einsetzte.10

Es gibt also keinen Grund, in diese bürgerliche Klasse auch nur einen Funken Vertrauen zu haben, die uns hoch und heilig verspricht, den Frieden und den Wohlstand zu verbreiten. Im Gegenteil: "Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reissende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt."11 Gegen diesen makabren Sabbat kann nur das Proletariat einen wirklichen Widerstand aufbauen, der auch tatsächlich fähig ist, dem Krieg ein Ende zu setzen, weil er dem Kapitalismus selber – dem wahren Kriegstreiber – ein Ende bereiten wird.

Nur die Arbeiterklasse hat eine Lösung anzubieten

Gegen Ende des Vietnamkrieges war die amerikanische Armee nicht mehr kampftauglich. Die Soldaten – die meisten von ihnen einberufene – weigerten sich regelmässig, an die Front zu gehen und brachten "übereifrige" Offiziere um. Diese Demoralisierung war nicht die Folge einer militärischen Niederlage, sondern des Umstandes, dass es der amerikanischen Bourgeoisie im Gegensatz zum Krieg von 39–45 nicht gelungen war, das Proletariat für ihre imperialistischen Absichten zu gewinnen.

Bevor sich die Kriegstreiber im Pentagon zur Invasion in den Irak entschieden, überzeugten sie sich davon, dass das "Vietnamsyndrom" überwunden war. Und doch gibt es unter den amerikanischen Arbeitern in Uniform eine immer grössere Weigerung dagegen, ihr Leben für die militärischen Abenteuer ihrer Bourgeoisie hinzugeben: Seit dem Begin des Irakkrieges haben etwa 5'500 Soldaten desertiert, gleichzeitig fehlen bei der Reserve (die rund die Hälfte der Truppen stellt) etwa 5'000 Mann: Diese Gesamtheit von 10'500 Mann macht fast 8% der Truppenstärke im Irak von total 135'000 aus.

Für sich allein bildet dieser passive Ungehorsam keine Zukunftsperspektive. Aber der alte Maulwurf des Klassenbewusstseins fährt mit seiner Wühlarbeit fort, und das langsame Erwachen des Arbeiterwiderstandes gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen beinhaltet nicht nur Auflehnung, sondern auch die potentielle Zerstörung dieser alten verfaulenden Welt – eine Umwälzung, die für immer die Kriege, das Elend und alle Scheinheiligkeit beseitigen wird.
Jens, 9. April 2005

Fußnoten:

1 s. Weltrevolution Nr. 128 und www.internationalism.org/german: [18] Tödliche Flutwelle in Südasien – die wahre Katastrophe ist der Kapitalismus!

2 Rosa Luxemburg, Martinique, Gesammelte Werke Bd. 1/2, S. 249

3 Unmittelbar vor dem Ausbruch des Vulkans Pelée auf Martinique versicherten die staatlichen "Sachverständigen" der Bevölkerung, dass sie von ihm nichts zu befürchten hätten.

4.s. Weltrevolution Nr. 128 und www.internationalism.org/german: [18] Tödliche Flutwelle in Südasien – die wahre Katastrophe ist der Kapitalismus!

5 s. Offizielle Zeitschrift des Amerikanischen Armee-Vereins, s. https://www.ausa.org/www/armymag.nsf/ [19]

6 Das heisst als Aussenministerin.

7 s. Agence France Presse, 18.01.2005, https://www.commondreams.org/headlines05/0118-08.htm [20]

8 Zitiert nach Al Jazira: https://english.aljazeera.net/NR/exeres/350DA932-63C9-4666-9014-2209F872... [21]

9 Bis jetzt konnte die von der UNO geführte Untersuchung einzig feststellen, dass die Ermordung unbedingt die Beteiligung eines in der Region tätigen Geheimdienstes voraussetzte, d.h. der Israelis, der Franzosen, der Syrer oder der Amerikaner. Natürlich kann man auch die These nicht ausschliessen, dass die syrischen Geheimdienste schlicht unfähig waren.

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [2]

Vor 100 Jahren: Die Revolution von 1905 in Russland (Teil I)

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Vor 100 Jahren unternahm das Proletariat in Russland die erste revolutionäre Bewegung des 20. Jahrhunderts, heute bekannt als die russische Revolution von 1905. Da sie, anders als die Oktoberrevolution zwölf Jahre später, nicht zu einem erfolgreichen Schluss gelangte, geriet diese Bewegung fast vollständig in Vergessenheit. Dies ist auch der Hauptgrund, warum sie nicht zum Mittelpunkt von Verleumdungs- und Verunglimpfungskampagnen wurde, wie es der Russischen Revolution von 1917 geschah, besonders im Herbst 1989, als die Berliner Mauer niedergerissen wurde. Dennoch erbrachte die Revolution von 1905 eine Reihe von Lehren, Klärungen und Antworten auf Fragen der damaligen Arbeiterbewegung, ohne die die Revolution von 1917 sicherlich nicht gelungen wäre. Darüber hinaus befindet sich 1905, obgleich diese Ereignisse vor 100 Jahren stattgefunden haben, politisch näher an uns, als man annehmen könnte. Aus diesen Gründen müssen sich die Generationen der Revolutionäre von heute und morgen die grundlegenden Lehren der ersten russischen Revolution wiederaneignen.

Die Ereignisse von 1905 fanden statt, als die Periode des Niedergangs des Kapitalismus heraufdämmerte. Dieser Niedergang setzte bereits Zeichen, auch wenn nur eine winzige Minderheit der Revolutionäre jener Zeit in der Lage war, seine Bedeutung für den tief greifenden Wandel zu erahnen, der sich in der Gesellschaft und in den Bedingungen des proletarischen Kampfes vollzog. Im Verlaufe dieser Ereignisse entfaltete die Arbeiterklasse massive Bewegungen über die Fabriken, Branchen und sonstigen Kategorien hinaus. Es gab keine gemeinsamen Forderungen, auch keine klare Unterscheidung zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen, wie dies zuvor mit dem Gewerkschaftskampf auf der einen und dem parlamentarischen Kampf auf der anderen Seite der Fall gewesen war. Es gab keine klaren Direktiven von den politischen Parteien oder den Gewerkschaften. Zum ersten Mal schuf die Dynamik einer Bewegung Organe, die Sowjets (oder: Arbeiterräte), welche zur Form werden sollten, in der sich das revolutionäre Proletariat in Russland 1917 und während der revolutionären Welle, die Europa im Anschluss an den Oktober erschütterte, organisieren und Macht ausüben sollte.

1905 nahm die Arbeiterbewegung an, dass die bürgerliche Revolution in Russland noch immer auf der Tagesordnung stand, da die russische Bourgeoisie nicht die politische Macht hatte, sondern dem feudalen Zarismus unterjocht blieb. Doch sollte die führende Rolle, die die Arbeiterklasse in diesen Ereignissen übernahm, diese Idee auf den Kopf stellen. Die reaktionäre Orientierung, die der parlamentarische und gewerkschaftliche Kampf im Begriff war anzunehmen, entsprechend dem Periodenwechsel, der stattgefunden hatte, war beileibe nicht deutlich und sollte es für eine geraume Zeit auch nicht werden. Doch die zweitrangige oder völlig nicht-existente Rolle, die die Gewerkschaften und das Parlament in der Bewegung in Russland spielten, war ein erstes ersichtliches Anzeichen dafür. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die Leitung ihrer eigenen Zukunft zu übernehmen und sich selbst zu organisieren, weckte Zweifel an der Sichtweise der deutschen Sozialdemokratie und der internationalen Arbeiterbewegung, was die Aufgaben der Partei, ihre Funktion als Richtungsweisende Organisation der Arbeiterklasse anbelangte, und warf ein neues Licht auf die Verantwortlichkeiten der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse. Viele Elemente, die später entscheidende Positionen der Arbeiterbewegung in der Phase der kapitalistischen Dekadenz bilden sollten, waren 1905 bereits vorhanden.

Die Revolution von 1905 war Gegenstand vieler Schriften innerhalb der Arbeiterbewegung zu jener Zeit, und die Fragen, die sie stellte, wurden heiss debattiert. Innerhalb des Rahmens einer kleinen Reihe von drei Artikeln wollen wir uns auf bestimmte Lehren konzentrieren, die uns als zentral für die Arbeiterbewegung heute und immer noch als völlig relevant erscheinen: der revolutionäre Charakter der Arbeiterklasse und die ihr innewohnende Fähigkeit, sich dem Kapitalismus historisch entgegenzustellen und der Gesellschaft eine neue Perspektive zu geben; der Charakter der Sowjets, "Die endgültige Form der Diktatur des Proletariats", wie Lenin sagte; die Fähigkeit der Arbeiterklasse, aus der Erfahrung zu lernen, die Lehren aus ihren Niederlagen zu ziehen, die Kontinuität ihrer historischen Schlacht und die Reifung der Bedingungen für die Revolution. Um so zu verfahren, müssen wir zunächst kurz zu den Ereignissen von 1905 zurückkehren, wobei wir uns auf jene beziehen, die Zeugen und Protagonisten zu dieser Zeit waren, wie Trotzki, Lenin, Rosa Luxemburg, und die in ihren Schriften imstande waren, nicht nur die allgemeinen politischen Lehren zu ziehen, sondern auch die intensiven Emotionen, die durch den Kampf in jenen Monaten geweckt wurden, zu vermitteln.(1)

Das revolutionäre Wesen der Arbeiterklasse

Die Russische Revolution von 1905 ist eine besonders deutliche Veranschaulichung dessen, was der Marxismus meint, wenn er vom grundsätzlich revolutionären Charakter der Arbeiterklasse spricht. Sie zeigt die Fähigkeit des russischen Proletariats, von einer Situation, in der es ideologisch von den Werten der kapitalistischen Gesellschaft beherrscht wurde, zu einer Position zu gelangen, in welcher es durch eine massive Kampfbewegung sein Selbstvertrauen entfaltete, seine Solidarität entwickelte und seine historische Stärke entdeckte, bis hin zu dem Punkt, wo es Organe schuf, die es in die Lage versetzte, seine Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist ein lebendiges Beispiel für die materielle Kraft, zu der das Klassenbewusstsein des Proletariats wird, wenn es beginnt, sich zu regen. In den Jahren vor 1968 erzählte uns die westliche Bourgeoisie, dass das Proletariat "verbürgerlicht" sei, dass nichts mehr von ihm zu erwarten sei. Die Ereignisse in Frankreich 1968 und die gesamte internationale Welle von Kämpfen, die dem folgten, überführten dies als glatte Lüge. Sie beendeten die längste Periode einer Konterrevolution in der Geschichte, die durch die Niederlage der revolutionären Welle von 1917–23 eingeleitet worden war. Selbst nach dem Fall der Berliner Mauer hörte die Bourgeoisie nicht auf zu erklären, dass der Kommunismus tot und die Arbeiterklasse verschwunden sei – und die Schwierigkeiten, die Letztere erfuhr, schienen ihr Recht zu geben. Die Bourgeoisie hat stets ein Interesse, ihren eigenen Totengräber zu begraben. Doch die Arbeiterklasse existiert weiterhin – es gibt keinen Kapitalismus ohne Arbeiterklasse, und was 1905 in Russland stattfand, zeigt uns, wie sie von einer Situation der Unterwerfung und der ideologischen Konfusion unter dem kapitalistischen Joch in eine Lage gelangen kann, in welcher sie zum Subjekt der Geschichte wird, auf dem alle Hoffnungen ruhen, da sie die Zukunft der Menschheit in ihrem eigentlichen Dasein verkörpert.

Kurze Geschichte der ersten Schritte der Revolution

Bevor wir uns der Dynamik der russischen Revolution von 1905 widmen, müssen wir kurz den internationalen und historischen Kontext in Erinnerung rufen, der Ausgangspunkt der Revolution war. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren von einer besonders ausgeprägten wirtschaftlichen Entwicklung in ganz Europa gekennzeichnet. Es waren die Jahre, in denen sich der Kapitalismus am dynamischsten entwickelte. Die Länder, die im kapitalistischen Sinne fortgeschritten waren, versuchten, in die rückständigen Regionen zu expandieren, sowohl um billige Arbeitskräfte und Rohstoffe zu erschliessen als auch um neue Märkte für ihre Produkte zu schaffen. In diesem Kontext wurde das zaristische Russland, ein Land, dessen Wirtschaft noch sehr rückständig war, zu einem idealen Objekt für den Import grosser Summen ausländischen Kapitals, um eine mittelständische und Grossindustrie zu errichten. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die Wirtschaft vollständig umgewandelt: "Einen mächtigen Hebel der Industrialisierung des Landes bildeten die Eisenbahnen."2 Verglichen mit anderen Ländern mit soliderer Industriestruktur wie Deutschland und Belgien, zeigen die von Trotzki zitierten Daten der Industrialisierung Russlands, dass, obwohl die Zahl der Arbeiter im Verhältnis zur riesigen Bevölkerung immer noch relativ bescheiden war (1,9 Millionen verglichen mit 1,56 in Deutschland und 600'000 im winzigen Belgien), Russland dennoch eine moderne Industriestruktur hatte, ebenbürtig mit jener der anderen Weltmächte. Scheinbar aus dem Nichts wurde die kapitalistische Industrie Russlands nicht durch eine innere Dynamik, sondern mithilfe ausländischen Kapitals und ausländischer Technologie geschaffen. Trotzkis Daten zeigen, dass die Arbeitskraft in Russland weitaus konzentrierter als in anderen Ländern war, weil sie überwiegend zwischen den mittleren und grossen Unternehmen aufgeteilt war (38,5% in Unternehmen mit mehr als 1'000 Arbeitern und 49,5% in Unternehmen zwischen 51 und 1'000 Arbeitern, wohingegen es in Deutschland 10% resp. 46% waren). Diese Daten über die Wirtschaftsstruktur erklären die revolutionäre Vitalität eines Proletariats, das ansonsten unterging in einem zutiefst rückständigen Land, welches noch immer von der bäuerlichen Wirtschaft beherrscht wurde.

Darüber hinaus fielen die Ereignisse von 1905 nicht aus heiterem Himmel, sondern waren das Produkt von Ereignissen, die Russland vom Ende des 19. Jahrhunderts an fortlaufend schüttelten. Wie Rosa Luxemburg zeigt: "Dieser Januarmassenstreik in Petersburg spielte sich nun zweifellos unter dem unmittelbaren Eindruck jenes riesenhaften Generalstreiks ab, der kurz vorher, im Dezember 1904, im Kaukasus, in Baku, ausgebrochen war und eine Weile lang ganz Russland in Atem hielt. Die Dezemberereignisse in Baku waren aber ihrerseits nichts anderes als ein letzter und kräftiger Ausläufer jener gewaltigen Massenstreiks, die wie ein periodisches Erdbeben in den Jahren 1903 und 1904 ganz Südrussland erschütterten und deren Prolog der Massenstreik in Batum (im Kaukasus) im März 1902 war. Diese erste Massenstreikbewegung in der fortlaufenden Kette der jetzigen revolutionären Eruptionen ist endlich nur um vier bis fünf Jahre vor dem grossen Generalstreik der Petersburger Textilarbeiter in den Jahren 1896 und 1897 entfernt…"3

Der 9. Januar 20054 ist der 100. Jahrestag des so genannten "Blutigen Sonntags", der am Anfang einer Reihe von Ereignissen im alten zaristischen Russland stand, die das Jahr 1905 hindurch stattfanden und in einer blutigen Repression des Moskauer Aufstandes im Dezember mündeten. Die Aktivitäten der Klasse fanden praktisch pausenlos das ganze Jahr hindurch statt, obwohl die Kampfformen nicht immer dieselben waren und die Kämpfe nicht immer dieselbe Intensität besassen. Es gab drei bedeutende Momente während dieses revolutionären Jahres: die Monate Januar, Oktober und Dezember.

Januar

Im Januar 1905 wurden vier Arbeiter von den Putilow-Werken in St. Petersburg entlassen. Aus Solidarität mit ihnen begann eine Streikbewegung: Es wurde eine Petition für politische Freiheit, für das Recht auf Bildung und den Achtstundentag, gegen die Besteuerung etc. entworfen, die dem Zaren von einer Massendemonstration überreicht werden sollte. Es war die Repression dieser Demonstration, die zum Ausgangspunkt eines einjährigen revolutionären Grossbrandes werden sollte. In der Tat kam der revolutionäre Prozess in Russland auf einzigartige Weise in Fahrt. "Tausende von Arbeitern – wohlgemerkt keine Sozialdemokraten, sondern religionsfromme, kaiserfromme Leute – unter der Führung des Priesters Gapon gehen von allen Stadtteilen aus zum Zentrum der Hauptstadt, zum Platze vor dem Winterpalast, um dem Zaren eine Petition zu überreichen. Die Arbeiter gehen mit Heiligenbildern, und ihr damaliger Führer Gapon versichert dem Zaren schriftlich, er bürge ihm für die Unverletzlichkeit seiner Person und bitte ihn, vor dem Volk zu erscheinen."5 Im April 1904 war Pater Gapon der Spiritus Rector einer "Versammlung russischer Fabrik- und Büroarbeiter in der Stadt St. Petersburg", autorisiert von der Regierung und im geheimen Einverständnis mit dem Polizeioffizier Subatow.6 Wie Lenin sagte, bestand die Rolle dieser Organisation darin, die damalige Arbeiterbewegung zu umklammern und zu kontrollieren, so wie heute, wo dasselbe Ziel mit anderen Mitteln erreicht wird. Doch der Druck, der sich innerhalb des Proletariats aufgebaut hatte, hatte bereits den kritischen Punkt erreicht. "Der legale Arbeiterverein war Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit der Subatowleute. Und nun wächst die Subatowsche Bewegung über ihren Rahmen hinaus, und diese von der Polizei im Interesse der Polizei, zur Unterstützung der Selbstherrschaft, zur Demoralisierung des politischen Selbstbewusstsein der Arbeiter geschaffene Bewegung wendet sich gegen die Selbstherrschaft, wird zu einem Ausbruch des proletarischen Klassenkampfes."7 All dies nahm Gestalt an, als die Arbeiter am Winterpalast ankamen, um dem Zaren ihre Forderungen auszuhändigen, und von den Truppen attackiert wurden, die "die Menge mit der blanken Waffe an(greifen), es wird geschossen gegen die waffenlosen Arbeiter, die auf den Knien die Kosaken anflehten, sie zum Kaiser zu lassen. Nach polizeilichen Mitteilungen gab es mehr als tausend Tote, mehr als zweitausend Verwundete. Die Erbitterung der Arbeiter war unbeschreiblich."8 Die Petersburger Arbeiter hatten an den Zaren, den sie den "Kleinen Vater" nannten, appelliert, und sie waren ausser sich vor Zorn, als er ihre Petition mit bewaffneten Kräften beantwortete. Es war diese tiefe Empörung, die den revolutionären Kampf des Januars auslöste. Dieselbe Arbeiterklasse, die eben noch Pater Gapon und religiösen Ikonen gefolgt war und ihre Petition an den "Kleinen Vater des Volkes" gerichtet hatte, zeigte nun, im Moment der Revolution, eine unvorhergesehene Stärke. Der geistige Zustand des Proletariats veränderte sich in dieser Periode rapide; dies ist typisch für den revolutionären Prozess, in welchem die Proletarier, worin ihr Glauben und ihre Furcht auch immer bestand, entdecken und sich bewusst werden, dass ihre Einheit sie stark macht. "Von einem Ende bis zum anderen ging eine gewaltige Streikwoge über das Land, die seinen ganzen Körper erschütterte. Nach annähernder Schätzung umfasste der Streik 122 Städte und Dörfer, einige Bergwerke des Donezbassins und 10 Eisenbahnen. Die proletarischen Massen wurden bis in ihre Tiefen aufgewühlt. Der Streik zog gegen eine Million Menschen in seinen Bannkreis. Ohne Plan, oft ohne Forderungen, sich immer wieder erneuernd, nur dem Solidaritätsinstinkte gehorchend, beherrschte er fast zwei Monate lang das Land."9 Sich auf Streikaktionen aus Solidarität einzulassen, ohne eine spezifische Forderung zu stellen, da "der nach Millionen zählenden proletarischen Masse ganz plötzlich scharf und schneidend die Unerträglichkeit jenes sozialen und ökonomischen Daseins zum Bewusstsein kam.”10, war sowohl ein Ausdruck als auch ein aktiver Faktor bei der Reifung des Bewusstseins des russischen Proletariats darüber, dass es eine Klasse ist und dass es als solche seinen Klassenfeind konfrontieren muss.

Dem Generalstreik im Januar folgte eine Periode andauernder Kämpfe um ökonomische Forderungen, die überall im Land aufflackerten und wieder erloschen. Diese Periode war weniger spektakulär, aber ebenso wichtig. "Die verschiedenen Unterströme des sozialen Prozesses der Revolution durchkreuzen einander, hemmen einander, steigern die inneren Widersprüche der Revolution (…) nicht nur der Januarblitz des ersten Generalstreiks, sondern noch mehr das darauffolgende grosse Frühlings- und Sommergewitter der ökonomischen Streiks (spielten) eine grosse Rolle". Auch wenn es "keine Sensationsnachrichten vom russischen Kampfplatz" gab, "wird in der Wirklichkeit in der Tiefe des ganzen Reiches die ganze Maulwurfsarbeit der Revolution ohne Rast Tag für Tag und Stunde für Stunde fortgesetzt" (ebenda). In Warschau fanden blutige Konfrontationen statt. In Lodz wurden Barrikaden errichtet. Die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin meuterten auf dem Schwarzen Meer. Diese gesamte Periode bereitete die zweite, stärkere Periode der Revolution vor.

Oktober

"Diese zweite revolutionäre Hauptaktion des Proletariats trägt schon einen wesentlich anderen Charakter als die erste im Januar. Freilich war auch hier der erste Anlass zum Ausbruch des Massenstreiks ein untergeordneter und scheinbar zufälliger: der Konflikt der Eisenbahner mit der Verwaltung wegen der Pensionskasse. Allein die darauf erfolgte allgemeine Erhebung des Industrieproletariats wird vom klaren politischen Gedanken getragen. Der Prolog des Januarstreiks war ein Bittgang zum Zaren um politische Freiheit, die Losung des Oktoberstreiks lautete: ‚Fort mit der konstitutionellen Komödie des Zarismus!‘ Und dank dem sofortigen Erfolg des Generalstreiks, dem Zarenmanifest vom 30. Oktober, fliesst die Bewegung nicht nach innen zurück, wie im Januar, um erst die Anfänge des ökonomischen Klassenkampfes nachzuholen, sondern ergiesst sich nach aussen, in eine eifrige Bestätigung der frisch eroberten politischen Freiheit. Demonstrationen, Versammlungen, eine junge Presse, öffentliche Diskussionen und blutige Massaker als das Ende vom Lied, darauf neue Massenstreiks und Demonstrationen…" (ebenda)

Im Oktober fand eine qualitative Änderung statt, die in der Bildung eines Sowjets in Petersburg ihren Ausdruck fand, welcher zu einem Meilenstein in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung werden sollte. Mit der Ausweitung des Druckarbeiterstreiks auf die Eisenbahnen und Telegrafenämter trafen die Arbeiter auf einer allgemeinen Versammlung die Entscheidung, einen Sowjet zu bilden, der zum zentralen Nervensystem der Revolution wurde. "Der Arbeiter-Delegiertenrat entstand als die Erfüllung eines objektiven, durch den Gang der Ereignisse erzeugten Bedürfnisses nach einer Organisation, die die Autorität darstellen könnte, ohne Traditionen zu haben, einer Organisation, die mit einem Male die zerstreuten, nach Hunderttausenden zählenden Massen umfassen könnte, ohne ihnen viele organisatorische Hemmungen aufzuerlegen, nach einer Organisation, die die revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats vereinigen, die einer Initiative fähig und automatisch sich selbst kontrollieren könnte…".11 Bald darauf wurden Sowjets auch in vielen anderen Städten gegründet.

Die Bildung der ersten Sowjets verlief unbemerkt von einem grossen Teil der internationalen Bewegung. Rosa Luxemburg, die auf der Basis der Revolution von 1905 so meisterhaft die neuen Kennzeichen des Kampfes des Proletariats in der Morgendämmerung einer neuen historischen Epoche – den Massenstreik – analysiert hatte, betrachtete die Gewerkschaften noch immer als die Organisationsform der Klasse.12 Es waren die Bolschewiki (wenn auch nicht sofort) und Trotzki, die den Fortschritt erkannten, den die Bildung dieser Organe für die Arbeiterbewegung darstellte, denn sie begriffen, dass die Sowjets tatsächlich Organe für die Machtergreifung sind. Wir werden diesen Punkt hier nicht weiter ausführen, da wir ohnehin beabsichtigen, uns mit ihm in einem anderen Artikel näher zu befassen.13 Wir wollen nur darauf hinweisen, dass von dem Moment an, wo der Kapitalismus in seine Epoche des Niedergangs getreten war, das Proletariat mit der unmittelbaren Aufgabe des Sturzes des Kapitalismus konfrontiert war. So führten zehn Monate des Kampfes, der sozialistischen Agitation, der Reifung des Bewusstseins, der Änderung des Gleichgewichts der Kräfte zwischen den Klassen ganz "natürlich" zur Schaffung von Organen zur Ausübung von Macht.

"Insgesamt waren die Sowjets ganz simple Streikkomitees, gleich jenen, die stets während wilder Streiks gebildet worden waren. Da die Streiks in Russland in den grossen Fabriken ausbrachen und sich sehr schnell auf die Städte und Provinzen ausbreiteten, mussten die Arbeiter permanent in Kontakt bleiben. Sie trafen sich am Arbeitsplatz und diskutierten, (…) sie sandten Delegationen zu anderen Fabriken (…) Doch diese Aufgaben waren tatsächlich viel breiter gefächert als in den gegenwärtigen Streiks. Die Arbeiter mussten sich wirklich von der schlimmen Unterdrückung durch den Zarismus befreien und waren sich darüber bewusst, dass durch ihre Tat die eigentlichen Fundamente der russischen Gesellschaft umgewandelt wurden. Es ging nicht nur um Löhne, sondern auch um all die allgemeinen, die Gesellschaft betreffenden Probleme. Sie mussten für sich selbst einen zuverlässigen Weg in den vielen Gebieten finden und sich mit politischen Fragen befassen. Als sich der Streik intensivierte und übers ganze Land ausbreitete, was Industrie und Transport zum Erliegen brachte und die Behörden lähmte, waren die Sowjets mit neuen Problemen konfrontiert. Sie mussten das gesellschaftliche Leben organisieren, auf die Aufrechterhaltung der Ordnung wie auf die effiziente Funktionsweise des lebenswichtigen öffentlichen Dienstes achten, kurz: Funktionen erfüllen, die gewöhnlich Sache der Regierung sind. Die Arbeiter führten die von ihnen getroffenen Entscheidungen auch aus."14

Dezember

"Die Gärung nach dem kurzen Verfassungstraum und dem grausamen Erwachen führt endlich im Dezember zum Ausbruch des dritten allgemeinen Massenstreiks im ganzen Zarenreich. Diesmal sind der Verlauf und der Ausgang wieder ein ganz anderer als in den beiden früheren Fällen. Die politische Aktion schlägt nicht mehr in eine ökonomische um wie im Januar, sie erringt aber auch nicht mehr einen raschen Sieg wie im Oktober. Die Versuche der russischen Kamarilla mit der wirklichen politischen Freiheit werden nicht mehr gemacht, und die revolutionäre Aktion stösst somit zum ersten Male in ihrer ganzen Breite auf die starre Mauer der materiellen Gewalt des Absolutismus."15 Aufgeschreckt von der Bewegung des Proletariats, reihte sich die kapitalistische Bourgeoisie hinter dem Zaren ein. Der Regierung gelang es nicht, die liberalen Gesetze, die sie versprochen hatte, durch die Duma zu bringen. Die Führer des Petrograder Sowjet wurden inhaftiert. Doch in Moskau wurde der Kampf fortgesetzt: "Der Gipfel der Revolution 1905 bildete der Dezemberaufstand in Moskau. Die kleine Zahl der Aufständischen, nämlich der organisierten und bewaffneten Arbeiter – sie waren nicht zahlreicher als etwa achttausend – leistete während neun Tagen Widerstand der zaristischen Regierung, die der Moskauer Garnison kein Vertrauen schenken konnte, dieselbe vielmehr hinter Schloss und Riegel halten musste und nur dank der Ankunft des Semenowski-Regiments aus Petersburg den Aufstand zu unterdrücken imstande war".16

Der proletarische Charakter der Revolution von 1905 und die Dynamik des Massenstreiks

Das historische Hauptelement ist bereits umrissen worden, und wir wollen daher hier nur einen Punkt unterstreichen: Die Revolution von 1905 hatte nur einen Hauptprotagonisten, das russische Proletariat, und ihre ganze Dynamik folgte strikt der Logik dieser Klasse. Die gesamte internationale Arbeiterbewegung erwartete eine bürgerliche Revolution in Russland und glaubte, dass es die zentrale Aufgabe der Arbeiterklasse war, sich am Sturz des Feudalstaates zu beteiligen und auf eine Etablierung bürgerlicher Freiheiten zu drängen, wie dies in den Revolutionen von 1789 und 1848 der Fall gewesen war. Doch nicht nur, dass es der Massenstreik der Arbeiterklasse war, der das Ganze anschob, darüber hinaus führte seine Dynamik zur Schaffung von Machtorganen der Arbeiterklasse. Lenin selbst war sich klar genug darüber, als er sagte, dass es abgesehen von ihrem "bürgerlich demokratischen" Charakter und "nach ihrem sozialen Inhalt (…) eine proletarische (Revolution) war, nicht nur in dem Sinne, dass das Proletariat die führende Kraft, die Avantgarde der Bewegung darstellte, sondern auch in dem Sinne, dass das spezifische proletarische Kampfesmittel, nämlich der Streik, das Hauptmittel der Aufrüttelung der Massen und das am meisten Charakteristische im wellenmässigen Gang der entscheidenden Ereignisse bildete." (ebenda) Doch wenn Lenin vom Streik sprach, dürfen wir diesen nicht als 4, 8 oder 24-Stunden-Aktion verstehen, wie heute von den Gewerkschaften allerorten vorgeschlagen. Tatsächlich sollte das, was sich 1905 entwickelte und später Massenstreik genannt wurde, sollte dieses "Meer von Erscheinungen" – wie es Rosa Luxemburg bezeichnete – die spontane Ausweitung und Selbstorganisierung des Kampfes des Proletariats alle grossen Bewegungen von Kämpfen im 20. Jahrhundert charakterisieren. "Der rechte Flügel der Zweiten Internationalen, die Mehrheit, konnte, überrascht von der Gewalttätigkeit dieser Ereignisse, überhaupt nicht verstehen, was vor sich ging, sondern offenbarte seine lautstarke Missbilligung und Abscheu gegenüber der Entwicklung des Klassenkampfes – und liess somit den Prozess erahnen, der ihn in das Lager des Klassenfeindes führen sollte."17 Der linke Flügel, der die Bolschewiki, Rosa Luxemburg und Pannekoek mit einschloss, sah sich bald in seinen Positionen (gegen Bernsteins Revisionismus18 und den parlamentarischen Kretinismus) bestätigt, doch er musste grosse theoretische Anstrengungen unternehmen, um die veränderten Bedingungen im Leben des Kapitalismus vollständig zu begreifen – die Phase des Imperialismus und der Dekadenz – die den Wandel in den Zielen und Mitteln des Klassenkampfes bestimmten. Doch Luxemburg hatte bereits die Voraussetzungen dafür skizziert: "So erweist sich der Massenstreik also nicht als ein spezifisch russisches, aus dem Absolutismus entsprungenes Produkt, sondern als eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse ergibt (…) die heutige russische Revolution steht auf einem Punkt des geschichtlichen Weges, der bereits über den Berg, über den Höhepunkt der kapitalistischen Entwicklung hinweggeschritten ist."19

Der Massenstreik ist nicht einfach eine Bewegung der Massen, eine Art Volksaufstand, der "alle Unterdrückten" umfasst und als solcher positiv ist, wenn wir den Worten der linkskapitalistischen und anarchistischen Ideologie folgen. 1905 schrieb Pannekoek: "Nimmt man die Masse ganz im allgemeinen, das ganze Volk, so findet man, dass bei der gegenseitigen Aufhebung entgegengesetzter Auffassungen und Willen anscheinend nichts übrig bleibt als eine willenlose, launenhafte, zügellose, charakterlose, passive Masse, hin und her schwankend zwischen verschiedenen Antrieben, zwischen aufbäumendem Impuls und dumpfer Gleichgültigkeit – bekanntlich das Bild in dem die liberalen Schriftsteller am liebsten das Volk darstelle. (…) Denn zwischen der kleinsten Einheit, der Einzelpersonen, und dem ganzen Allgemeinen, in dem alle Unterschiede aufgehoben sind, der inerten Massen, kennen sie kein Zwischenglied; sie kennen nicht die Klassen. Demgegenüber ist es die Kraft der sozialistischen Geschichtslehre, dass sie in die unendliche Verschiedenheit der Persönlichkeiten Ordnung und System brachte durch die Verteilung der Gesellschaft in Klassen. (…) Unterscheidet man in der geschichtlichen Massenbewegung die besonderen Klassen, so tritt aus dem zuvor unentwirrbaren Nebelbild auf einmal ein übersichtlicher Kampf der Klassen hervor, mit seinen wechselnden Momenten, von Angriff, Rückzug, Verteidigung, Sieg und Niederlage."20

Während sich die Bourgeoisie und mit ihr die Opportunisten der Arbeiterbewegung mit Abscheu von der "unbegreiflichen" Bewegung in Russland 1905 abwandten, sei es an der revolutionären Linken gewesen, die Lehren aus der neuen Situation zu ziehen: "Daher sind die Massenaktionen eine natürliche folge der imperialistischen Entwicklung des modernen Kapitalismus und bilden immer mehr die notwendige Form des Kampfes gegen ihn. (...) Früher musste die Volkserhebung entweder das ganze Ziel erobern, oder sie waren gescheitert, wenn ihre Macht nicht dazu ausreichte. Unsere Massenaktionen (des Proletariats) können nicht scheitern; auch wenn das gesetzte Ziel nicht erreicht wird, sind sie nicht vergebens, und sogar zeitweilige Rückschläge bauen an dem zukünftigen Sieg mit."21

Der Massenstreik ist kein fertiges Rezept wie der von den Anarchisten propagierte "Generalstreik"22, er ist vielmehr der originäre Ausdruck der Arbeiterklasse, eine bestimmte Art, ihre Kräfte zu sammeln, um ihren revolutionären Kampf vorzubereiten. "Mit einem Wort: Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung des proletarischen Kampfes, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution."23 Heute haben wir keine direkte oder indirekte Vorstellung, was ein Massenstreik ist, mit der Ausnahme des für die Älteren unter uns wohl bekannten Kampfes der polnischen Arbeiter 1980.24 So wenden wir uns einmal mehr Rosa Luxemburg zu, die einen soliden und klaren Rahmen anbietet: "… dass die Massenstreiks, von jenem ersten grossen Lohnkampf der Petersburger Textilarbeiter im Jahre 1896/1897 bis zu dem letzten grossen Massenstreik im Dezember 1905, ganz unmerklich aus ökonomischen in politische übergehen, so dass es fast unmöglich ist, die Grenzen zwischen beiden zu ziehen. Auch jeder einzelne von den grossen Massenstreiks wiederholt sozusagen im Kleinen die allgemeine Geschichte des russischen Massenstreiks und beginnt mit einem rein ökonomischen oder jedenfalls partiellen gewerkschaftlichen Konflikt, um die Stufenleiter bis zur politischen Kundgebung zu durchlaufen (…) Der Januarmassenstreik 1905 entwickelt sich aus dem internen Konflikt in den Putilow-Werken, der Oktoberstreik aus dem Kampf der Eisenbahner um die Pensionskasse, der Dezemberstreik endlich aus dem Kampf der Post- und Telegraphenangestellten um das Koalitionsrecht. Der Fortschritt der Bewegung im ganzen äussert sich nicht darin, dass das ökonomische Anfangsstadium ausfällt, sondern vielmehr in der Rapidität, womit die Stufenleiter zur politischen Kundgebung durchlaufen wird, und in der Extremität des Punktes, bis zu dem sich der Massenstreik voranbewegt (…) bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschliessen (…), vielmehr nur zwei ineinander geschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in " 25 Hier greift Rosa Luxemburg einen wichtigen Aspekt des revolutionären Kampfes des Proletariats auf: die unzertrennliche Einheit zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf. Im Gegensatz zu jenen, die damals sagten, dass der politische Kampf hervorrage, dass er sozusagen der edle Aspekt in der Konfrontation des Proletariats mit der Bourgeoisie sei, erklärt Luxemburg klar und deutlich, wie sich der Kampf vom ökonomischen zum politischen Terrain entwickelt und dann mit Macht zum Terrain des ökonomischen Kampfes zurückkehrt. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Texte über die Revolution von 1905 und die Frühjahrs- und Sommerperiode liest. In der Tat sehen wir, wie das Proletariat am blutigen Sonntag mit einer politischen Demonstration begann, indem es um politische Rechte ersuchte, und sich dann, nach der schweren Repression, nicht etwa zurückzog, sondern vielmehr mit neuer Energie und Stärke auf die Bühne trat und sich für die Verteidigung seiner Arbeits- und Lebensbedingungen einsetzte. Aus diesem Grund gab es in den folgenden Monaten einen Anstieg in der Zahl der Kämpfe: "Hier wird um den Achtstundentag gekämpft, dort gegen die Akkordarbeit, hier werden brutale Meister auf dem Handkarren im Sack ‚hinausgeführt‘, anderswo gegen infame Strafsysteme, überall um bessere Löhne, hier und da um Abschaffung der Heimarbeit gekämpft." (ebenda). Diese Periode war auch von grosser Bedeutung, weil sie, wie Rosa Luxemburg betont, dem Proletariat die Gelegenheit gab, im Nachhinein all die Lehren des Prologs zum Januar zu verinnerlichen und ihre Ideen für die Zukunft zu klären. In der Tat: "Der plötzlich durch den elektrischen Schlag einer politischen Aktion wachgerüttelte Arbeiter greift im nächsten Augenblick vor allem zu dem Nächstliegenden: zur Abwehr gegen sein ökonomisches Sklavenverhältnis; die stürmische Geste des politischen Kampfes lässt ihn plötzlich mit ungeahnter Intensität die Schwere und den Druck seiner ökonomischen Ketten fühlen."(ebenda).

Der spontane Charakter der Revolution und das Vertrauen in die Arbeiterklasse

Ein besonders wichtiger Aspekt des revolutionären Prozesses in Russland 1905 war sein ausgesprochen spontaner Charakter. Die Kämpfe entstanden, entwickelten und verstärkten sich. Sie verhalfen neuen Kampfinstrumenten wie dem Massenstreik oder den Sowjets zur Entstehung, ohne dass es den revolutionären Parteien jener Zeit gelang, Schritt zu halten mit den Ereignissen oder gar zunächst die Folgen dessen völlig zu verstehen, was sich da ereignete. Die Stärke des Proletariats innerhalb der Bewegung zur Verteidigung seiner eigenen Interessen ist eindrucksvoll und enthält eine ausserordentliche Kreativität. Lenin erkannte dies in seiner Einschätzung der Revolution von 1905, die er ein Jahr darauf verfasste: "Vom Streik und von Demonstrationen zu einzelnen Barrikaden, von einzelnen Barrikaden zu massenweiser Errichtung von Barrikaden und zum Strassenkampf mit den Truppen. Über den Kopf der Organisationen hinweg ging der proletarische Massenkampf vom Streik zum Aufstand über. Darin liegt die allergrösste geschichtliche Errungenschaft der russischen Revolution, die im Dezember 1905 erreicht wurde, eine Errungenschaft, die wie alle vorangegangenen um den Preis des grössten Opfers erkauft wurde. Vom politischen Massenstreik wurde die Bewegung auf eine höhere Stufe gehoben. Sie zwang die Reaktion, in ihrem Widerstand bis zum letzten zu gehen, und brachte dadurch mit Riesenschritten den Augenblick nahe, in dem die Revolution im Gebrauch der Angriffsmittel ebenfalls bis zum letzten gehen wird. Die Reaktion kann nicht weiter gehen als bis zum Artilleriebeschuss von Barrikaden, Häusern und der Menschenmenge auf den Strassen. Die Revolution kann noch weiter gehen als bis zum Kampf der Moskauer Kampfgruppen, sie kann noch viel, viel weiter gehen, in die Breite und in die Tiefen (…) Den Wechsel in den objektiven Bedingungen des Kampfes, der den Übergang vom Streik zum Aufstand erforderte, hat das Proletariat früher als seine Führer gefühlt. Die Praxis ist, wie stets, der Theorie vorausgegangen."26

Diese Passage von Lenin ist besonders wichtig heute, wenn man bedenkt, dass viele Zweifel, die unter politisierten Elementen und, bis zu einem gewissen Umfang, auch innerhalb proletarischer Organisation vorhanden sind, mit dem Gedanken verknüpft sind, dass es dem Proletariat nie gelingen wird, sich aus seiner Apathie zu befreien, in die es manchmal zu fallen scheint. Was 1905 geschah, straft diesen Gedanken auf bemerkenswerte Weise Lügen, und das Erstaunen, das wir fühlen, wenn wir sehen, dass der Klassenkampf spontan war, drückt lediglich die Unterschätzung des tief greifenden Prozesses aus, der innerhalb der Klasse stattfindet, der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, von dem Marx sprach, wenn er den "alten Maulwurf" erwähnte. Das Vertrauen in die Arbeiterklasse, in ihre Fähigkeit, eine politische Antwort auf die Probleme zu geben, die die Gesellschaft heimsuchen, ist eine Grundfrage in der gegenwärtigen Periode. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der ihm folgenden bürgerlichen Kampagne rund um das Scheitern des Kommunismus, fälschlicherweise auf das berüchtigte stalinistische Regime gemünzt, hat die Arbeiterklasse Schwierigkeiten, sich selbst als Klasse anzuerkennen und mit einem Ziel, einer Perspektive, einem Ideal, für das es sich zu kämpfen lohnt, zu identifizieren. Dieser Mangel an Perspektive bewirkt automatisch eine Dämpfung des Kampfgeistes, er schwächt die Überzeugung, die notwendig ist, um zu kämpfen, denn man kämpft nicht für Nichts, sondern nur, wenn man etwas anstrebt. Aus diesem Grund sind heute die Abwesenheit von Klarheit über die Perspektive und der Mangel an Überzeugung in sich selbst eng miteinander verknüpft. Solch eine Situation kann im Wesentlichen nur in der Praxis überwunden werden, durch die direkte Erfahrung der Arbeiterklasse über ihre Fähigkeiten und über die Notwendigkeit, für eine Perspektive zu kämpfen. Genau dies geschah in Russland 1905, als "In einigen Monaten sah es vollständig anders aus! Hunderte revolutionäre Sozialdemokraten wuchsen ‚plötzlich‘ zu Tausenden, Tausende wurden zu Führern von 2 bis 3 Millionen Bauern, die Bauernbewegung erzeugte Sympathie im Heere und führte zu Militäraufständen, zu bewaffneten Kämpfen eines Teiles des Heeres gegen einen anderen Teil. "27 Dies war nicht nur für das Proletariat in Russland notwendig, sondern auch für das Weltproletariat, einschliesslich des höchst entwickelten deutschen Proletariats.

"In der Revolution, wo die Masse selbst auf dem politischen Schauplatz erscheint, wird das Klassenbewusstsein ein praktisches, aktives. Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene ‚Schulung‘ gegeben, welche dem deutschen Proletariat 30 Jahre parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich geben können (…) Ebenso sicher wird aber umgekehrt in Deutschland in einer Periode kräftiger politischer Aktionen das lebendige, aktionsfähige revolutionäre Klassengefühl die breitesten und tiefsten Schichten des Proletariats ergreifen, und zwar um so rascher und um so mächtiger, je gewaltiger das bis dahin geleistete Erziehungswerk der Sozialdemokratie ist."28 Wir können, indem wir Rosa Luxemburg sinngemäss wiedergeben, gleichermassen sagen dass auch heute, in dieser Periode der tiefen internationalen Wirtschaftskrise und angesichts der offenkundigen Unfähigkeit der Bourgeoisie, dem Bankrott des kapitalistischen Systems etwas entgegen zu setzen, ein aktives und lebendiges revolutionäres Gefühl die reifsten Teile des Proletariats ergreifen wird, und dies wird besonders in den entwickelteren kapitalistischen Ländern geschehen, wo der Erfahrungsschatz der Klasse am reichsten und am tiefsten verwurzelt ist und wo die revolutionären Kräfte, obschon noch immer schwach, präsenter sind. Dieses Vertrauen, das wir heute in der Arbeiterklasse ausdrücken, ist weder ein Glaubensbekenntnis noch ein blindes, mystisches Vertrauen, sondern beruht exakt auf der Geschichte der Klasse und auf ihre gelegentlich überraschende Fähigkeit, aus der offensichtlichen Trägheit zu erwachen. Wie wir versucht haben aufzuzeigen, ist, obwohl es zutrifft, dass die dynamischen Prozesse, durch welche ihr Bewusstsein reift, oftmals verborgen und schwer zu durchschauen sind, es gewiss, dass diese Klasse historisch wegen ihrer Stellung in der Gesellschaft sowohl als ausgebeutete als auch als revolutionäre Klasse gefordert ist, jene Klasse zu konfrontieren, die sie unterdrückt, die Bourgeoisie. Mit der Erfahrung dieser Auseinandersetzung wird sie das Selbstvertrauen wieder entdecken, dessen sie heute entbehrt:

"Hier sind die Massen schon vorher organisiert, ihre Aktion ist im voraus überlegt und vorbereitet, und nach deren Abschluss bleibt die Organisation zusammen. (…) In unseren Massenaktionen handelt es sich nun allerdings auch um die Eroberung der Herrschaft, aber wir wissen, dass sie nur durch eine hochorganisierte, sozialistische Volksmasse möglich ist. (…) Die Befestigung der Klassenherrschaft, die wir ins Auge fassen, ist nur dadurch möchlich, das jetzt eine bleibende Volksmacht allmählich und unerschütterlich aufgebaut wird, bis zu dem Grade, dass sie die Staatsgewalt der Bourgeoisie durch ihre Wucht einfach zerdrückt und in nichts auflöst."29

Neben der Entwicklung des Selbstvertrauens der Arbeiterklasse gibt es ein weiteres entscheidendes Element im proletarischen Kampf: die Solidarität innerhalb ihrer Reihen. Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die einen wirklichen Sinn für Solidarität besitzt, da es in ihr keine divergierenden wirtschaftlichen Interessen gibt – anders als die Bourgeoisie, eine Klasse der Konkurrenz, für die sich die Solidarität lediglich innerhalb des nationalen Rahmens oder gegen ihren historischen Gegner, das Proletariat, ausdrückt. Die Konkurrenz innerhalb des Proletariats wird ihm vom Kapitalismus aufgezwungen, doch die Gesellschaft, die es mit seiner Zeugungskraft und mit seinem Dasein in die Welt setzt, ist eine Gesellschaft, die mit allen Teilungen Schluss macht, eine wirkliche menschliche Gemeinschaft. Die proletarische Solidarität ist eine fundamentale Waffe im proletarischen Kampf; sie stand am Anfang der riesigen Erhebungen in Russland 1905: "Der Funke, der den Brand entfachte, war einer der alltäglichen Zusammenstösse zwischen Arbeit und Kapital – ein Streik in einem Werk. Interessant jedoch ist, dass dieser Streik der 12'000 Putilow-Arbeiter, der am Montag dem, 3. Januar ausbrach, vor allem ein Streik der proletarischen Solidarität war. Der Anlass war die Entlassung von vier Arbeitern. ‚Als die Forderung, sie wieder einzustellen, nicht erfüllt wurde‘ schreibt uns am 7. Januar ein Genosse aus Pertersburg, ‚wurde die Arbeit sofort und sehr einmütig niedergelegt‘"30

Es ist kein Zufall, dass die Bourgeoisie heute versucht, den Begriff der Solidarität zu verzerren, indem sie ihn in einer "humanitären" Form präsentiert oder als "ökonomische Solidarität" aufbereitet, einer der Tricks der neuen, "alternativen" Antiglobalisierungsbewegung, die versucht, der allmählichen Bewusstwerdung entgegenzuwirken, die sich in der Tiefe der Gesellschaft über die Sackgasse, die der Kapitalismus für die Menschheit repräsentiert, entwickelt. Auch wenn die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit sich noch nicht über die Macht ihrer Solidarität bewusst ist, die Bourgeoisie selbst hat die Lehren nicht vergessen, die das Proletariat in die Geschichte geprägt hat.

1905 war eine grosse Arbeiterbewegung, die aus den Tiefen der revolutionären Seele des Proletariats emporkam und die die schöpferische Macht der revolutionären Klasse zeigte. Heute hat das Proletariat trotz aller Schläge, die die Bourgeoisie in ihrem Todeskampf ausgeteilt hat, seine Fähigkeiten immer noch erhalten. Es liegt an den Revolutionären, ihre Klasse in die Lage zu versetzen, sich die grossen Erfahrungen ihrer vergangenen Geschichte wiederanzueignen und unermüdlich das theoretische und politische Terrain für die Entwicklung des Kampfes sowie des Bewusstseins der Klasse heute und morgen zu bereiten.

"Aber im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen ‚Revolutionsromantiker‘, für den sogar das höchste Gut, nämlich das Leben, geschweige das materielle Wohlsein im Vergleich mit den Kampfidealen geringen Wert besitzt. Wenn aber die Leitung der Massenstreiks im Sinne des Kommandos über ihre Entstehung und im Sinne der Berechnung und Deckung ihrer Kosten Sache der revolutionären Periode selbst ist, so kommt dafür die Leitung bei Massenstreiks in einem ganz anderen Sinne der Sozialdemokratie und ihren führenden Organen zu (…) ist die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu übernehmen. Die Parole, die Richtung dem Kampfe zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, dass in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des Proletariats realisiert wird…"31 1905 waren die Revolutionäre (zu jener Zeit Sozialdemokraten genannt) oft überrascht, überfordert von der Heftigkeit der Bewegung, von ihrer Neuheit sowie von ihren schöpferischen Einfällen. Sie waren nicht immer in der Lage, die passenden Losungen für, wie Rosa Luxemburg sagt, "jede Phase, jeden Moment" zu finden, und sie begingen sogar ernste Fehler. Doch die grundlegende revolutionäre Arbeit, die sie vor und während der Bewegung leisteten, die sozialistische Agitation, die aktive Beteiligung an den Kämpfen ihrer Klasse waren unerlässliche Faktoren der Revolution von 1905. Ihre Fähigkeit, im Anschluss daran die Lehren aus diesen Ereignissen zu ziehen, bereitete den Boden für den Sieg von 1917.
Ezechiele (5.12.2004)

Fußnoten:

1 Es ist innerhalb des Rahmens dieser Artikel nicht möglich, den ganzen Reichtum dieser Ereignisse oder sämtliche aufgeworfene Fragen zu schildern, und wir verweisen den Leser auf die historischen Dokumente selbst. Ausserdem haben wir eine Reihe von Punkten ausser Acht gelassen, wie die Diskussion über die bürgerlichen Aufgaben (gemäss der Menschewiki), den "demokratisch-bürgerlichen" Charakter (gemäss der Bolschewiki) der Russischen Revolution oder die "Theorie der permanenten Revolution" (laut Trotzki), die alle mehr oder weniger dazu neigen, die Aufgaben des Proletariats innerhalb des nationalen Rahmens und unter den Vorzeichen der Aufstiegsphase des Kapitalismus zu betrachten. Des Gleichen können wir nicht auf die Diskussion in der deutschen Sozialdemokratie, insbesondere zwischen Kautsky und Rosa Luxemburg über den Massenstreik, eingehen

2 Leo Trotzki: 1905.

3 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.103.

4 22. Januar, entsprechend dem alten Julianischen Kalender, der damals in Russland noch gültig war.

5 V. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 244.

6 Subatow war ein hochrangiger Polizeioffizier, der in Übereinstimmung mit der Regierung Arbeiterassoziationen gründete und damit bezweckte, die Konflikte innerhalb eines strikt ökonomischen Rahmens zu halten und sie von jeder Kritik an der Regierung abzuhalten.

7 V. I. Lenin: Der Petersburger Streik, in: LW Bd. 8,

S. 78.

8 V. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 244.

9 L. Trotzki: 1905.

10 R. Luxemburg: Massenstreik Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.112.

11 L. Trotzki: 1905

12 s. unseren Artikel Notes on the mass strike, in: International Review, Nr. 27 (frz., engl., span. Ausgabe).

13 s. unseren Artikel 1905 Revolution: Fundamental Lessons for the Proletariat, in: International Review, Nr. 43, (frz., engl., span. Ausgabe).

14 A. Pannekoek: Die Arbeiterräte (Entwurf von 1941–42), eigene Übersetzung.

15 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.123.

16 V. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 258.

17 s. Die historische Bedingung der Generalisierung des Klassenkampfes, in: International Revue, Nr. 7.

18 Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie förderte Bernstein die Idee vom friedlichen Übergang zum Sozialismus. Seine Strömung wurde als revisionistisch bezeichnet. Rosa Luxemburg kämpfte gegen sie als ein Ausdruck einer gefährlichen opportunistischen Verirrung, die die Partei betraf, in ihrem Pamphlet Sozialreform oder Revolution an.

19 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.149.

20 A. Pannekoek: Marxismus und Theologie, veröffentlicht in der Neuen Zeit 1905, zitiert in: Massenaktion und Revolution.

21 A. Pannekoek: Massenaktion und Revolution, Neue Zeit, 1912.

22 s. Die historischen Bedingungen der Generalisierung des Klassenkampfes, in: International Revue, Nr. 7.

23 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S. 128.

24 s. Polen 1980: Perspektive und Bedeutung der Kämpfe, in: Internationalen Revue Nr. 6.

25 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S. 127/128.

26 V. I. Lenin: Die Lehren des Moskauer Aufstand, in: LW Bd. 11, S. 158/159.

27 V.I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 244.

28 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S. 145.

29 A. Pannekoek: Massenaktion und Revolution, Neue Zeit, 1912.

30 V.I. Lenin: Revolutionstage, in: LW Bd. 8, S. 102

31 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.133/134.

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1905 - Revolution in Russland [22]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [23]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarische Revolution [24]

Internationale Revue 36

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16. Kongress der IKS: Resolution über die Internationale Situation

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1. Rosa Luxemburg  schrieb 1916 in der Einleitung der Juniusbroschüre zur historischen Bedeutung des 1. Weltkriegs: „Friedrich Engels sagt einmal: ‘Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.’ Was bedeutet ein ‘Rückfall in die Barbarei’ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor 40 Jahren, vorhersagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein grosser Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode; den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder – Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.“ (Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 62)

Der Krieg im dekadenten Kapitalismus

2. Fast 90 Jahre später bestätigt der Verlauf der Geschichte die Klarheit und Genauigkeit der  Diagnose Luxemburgs. Rosa behauptete, dass der Konflikt, der im Jahr 1914 begann, eine Periode der Weltkriege eröffnet hatte, die, wenn sie ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte,  zur Zerstörung der Zivilisation führt. Nur 20 Jahre, nachdem die erhoffte Rebellion des Proletariats den  Krieg gestoppt hatte, aber es nicht geglückt war, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten, brach ein zweiter imperialistischer Weltkrieg aus, der den ersten in der Intensität und dem Ausmass seiner Barbarei weit übertraf, die sich nun nicht nur in einer industrialisierten Massenvernichtung der Menschen auf den Schlachtfeldern zeigte, sondern vor allem im Genozid ganzer Völker, in Massakern grossen Ausmasses an Zivilisten, ob in den Todeslagern von  Auschwitz und Treblinka oder in den Feuerstürmen von Coventry, Hamburg, Dresden, Hiroshima und Nagasaki. Allein die Geschehnisse  der Periode 1914–45 reichen aus, um zu bestätigen, dass die kapitalistische Gesellschaft unumkehrbar in ihre Epoche des Niedergangs  eingetreten war, dass sie ein grundlegendes Hindernis für die Bedürfnisse der Menschheit geworden war.

 

3. Entgegen der Propaganda der herrschenden Klasse haben die 60 Jahre seit1945 in keiner Weise diese Schlussfolgerung entkräftet – so als könne der Kapitalismus in dem einen Jahrzehnt sich auf seinem historischen Abstieg befinden und ihm im nächsten Jahrzehnt wie durch ein Wunder wieder entwischen. Noch vor Ende des zweiten imperialistischen Gemetzels begannen neue militärische Blöcke um die Kontrolle des Erdballs  zu rangeln; die USA zögerten das Ende des Kriegs gegen Japan sogar absichtlich hinaus, nicht um das Leben ihrer Soldaten zu schonen, sondern um  in spektakulärer Weise ihre Furcht erregende  militärische Stärke zur Schau zu stellen, indem sie Hiroshima und Nagasaki auslöschten – eine Zurschaustellung, die sich nicht in erster Linie gegen das besiegte Japan richtete, sondern gegen den neuen russischen Feind. Doch innerhalb kurzer Zeit hatten beide neuen Blöcke sich mit Waffen ausgerüstet, die nicht nur fähig waren, die Zivilisation zu zerstören, sondern das gesamte Leben auf unserem Planeten auszulöschen. Die nächsten fünf Jahrzehnte lebte die Menschheit im Schatten der gegenseitig angedrohten Zerstörung (Mutually Assured Destruction – MAD). In den „unterentwickelten“ Regionen der Welt hungerten Millionen, aber die Kriegsmaschinerie der grossen imperialistischen Mächte wurde mit allen Ressourcen der menschlichen Arbeit und Genialität versorgt, die ihr unersättlicher Schlund forderte; Millionen starben in den „nationalen Befreiungskriegen“ in Korea, Vietnam, auf dem indischen Subkontinent, in Afrika und im Nahen Osten, durch welche die Supermächte ihre mörderischen Rivalitäten austrugen.

 

4. MAD war der von der Bourgeoisie vorgeschobene Hauptgrund dafür, dass die Welt von einem dritten und wahrscheinlich letzten imperialistischen Holocaust verschont blieb. Wir sollten also die Bombe lieben lernen. In Tat und Wahrheit wurde ein 3. Weltkrieg aus anderen Gründen verhindert:

–   In einer Anfangsphase war es für die neu gebildeten imperialistischen Blöcke notwendig, sich zu ordnen und neue ideologische Themen einzuführen, um die Bevölkerung gegen einen neuen Feind zu mobilisieren. Darüber hinaus ermöglichte der Wirtschaftsboom, der mit dem Wiederaufbau der im 2. Weltkrieg zerstörten Länder verbunden war – finanziert durch den Marshall-Plan –, eine gewisse Beruhigung der imperialistischen Spannungen.

–   In einer weiteren Phase, als der durch den Wiederaufbau eingeleitete Boom Ende der 1960er Jahre zu Ende ging, stand der Kapitalismus nicht mehr einem besiegten Proletariat gegenüber wie in der Krise der 30er Jahre, sondern einer neuen Generation von Arbeitern, die durchaus bereit war, ihre eigenen Klasseninteressen gegen die Forderungen ihrer Ausbeuter zu verteidigen. In der Zeit des dekadenten Kapitalismus erfordert ein Weltkrieg eine totale und aktive Mobilisierung des Proletariats: Die internationalen Wellen von Arbeiterkämpfen, die mit dem Generalstreik in Frankreich im Mai 1968 begannen, zeigten, dass die Bedingungen für solch eine Mobilisierung in den 1970er und 1980er Jahren fehlten.

 

5. Das Endergebnis der langen Rivalität zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Block war somit nicht ein Weltkrieg, sondern der Zusammenbruch des Ostblocks. Ausserstande, wirtschaftlich mit den weit mächtigeren USA zu konkurrieren, unfähig seine starren politischen Institutionen zu reformieren, militärisch eingekreist von seinem Rivalen  und – wie die Massenstreiks in Polen 1980 zeigten – nicht in der Lage, das  Proletariat hinter seinen Kurs zum  Krieg zu ziehen, implodierte der imperialistische russische Block 1989. Dieser Triumph des Westens wurde sofort als die Morgendämmerung einer neuen Periode des Weltfriedens und Wohlstands bejubelt; doch die weltweiten imperialistischen Konflikte nahmen lediglich eine neue Form an, da an die Stelle der Einheit des westlichen Blocks heftige Rivalitäten zwischen seinen früheren Bestandteilen traten und ein wiedervereinigtes Deutschland seine Kandidatur für eine grosse Weltmacht stellte, welche künftig mit den USA konkurrieren wollte. In dieser neuen Phase imperialistischer Konflikte war ein Weltkrieg noch weniger auf der Tagesordnung der Geschichte, und zwar aus folgenden Gründen:

–   Die Formierung neuer militärischer Blöcke wurde durch die internen Spannungen  zwischen jenen Mächten verzögert, die die logischen Mitglieder eines neuen Blocks gegen die USA wären, insbesondere durch die Spannungen  zwischen den wichtigsten europäischen Mächten Deutschland, Frankreich und Grossbritannien. Grossbritannien hat seine traditionelle Politik nicht aufgegeben, mit der es versucht sicherzustellen, dass keine Grossmacht eine Vorherrschaft über Europa aufbauen kann, während Frankreich aus triftigen historischen Gründen den Versuchen Deutschlands, es zu unterwerfen, Grenzen setzt. Mit dem Zusammenbruch der Disziplin in den alten beiden Blöcken geht der vorherrschende Trend in den internationalen Beziehungen in Richtung des „Jeder-für-sich“.

–   Hinzu kommt die überwältigende militärische Überlegenheit der USA, verglichen besonders mit Deutschland, die es den Rivalen Amerikas verunmöglicht, die USA direkt herauszufordern.

–   Weiter bleibt das Proletariat unbesiegt. Obwohl die Periode, die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eröffnet wurde, das Proletariat in beträchtliche Verwirrung stürzte (im Besonderen durch die Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“ und das „Ende des Klassenkampfes“), ist die Arbeiterklasse der kapitalistischen Grossmächte noch immer nicht bereit, sich für ein neues weltweites Blutbad zu opfern.

Aus diesen Gründen nahmen die militärischen Hauptkonflikte in der Periode seit 1989 die Form verlagerter kriegerischer Konflikte an.  Das bestimmende Merkmal dieser Kriege ist, dass die führende Weltmacht versuchte, sich der wachsenden Herausforderung ihrer globalen Autorität durch spektakuläre Demonstrationen ihrer Stärke gegenüber viertklassigen Mächten entgegenzustemmen; dies war der Fall beim ersten Golfkrieg 1991, bei der Bombardierung Serbiens 1999 und den „Anti-Terror-Kriegen“ in Afghanistan und im Irak, die dem Angriff von 2001 auf die Twin Towers folgten. Gleichzeitig haben sich diese Kriege zusehends klar als eine globale Strategie seitens  der USA offenbart: mit dem Ziel, die totale Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien sowie die militärische Umzingelung aller ihrer Hauptrivalen (Europa und Russland) zu erreichen, um ihnen den Zugang zu den Weltmeeren zu versperren und sich in die Lage zu versetzen, ihnen den Ölhahn zuzudrehen.

Neben dieser grossen globalen Strategie war –  ihr manchmal untergeordnet, sie manchmal behindernd – die Welt nach 1989 auch Zeuge einer Explosion von lokalen und regionalen Konflikten, die Tod und Vernichtung über ganze Kontinente gebracht haben. Diese Konflikte haben Millionen Tote, Behinderte und Obdachlose in einer ganzen Reihe von afrikanischen Ländern wie dem Kongo, Ruanda, Sudan, Somalia, Liberia oder Sierra Leone hinterlassen. Und jetzt drohen sie, viele Länder im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien in eine Art permanenten Bürgerkrieg zu stürzen. Das weiter wachsende Phänomen des Terrorismus, das oft Intrigen zwischen bürgerlichen Fraktionen ausdrückt, die nicht mehr länger von einem besonderen staatlichen Regime kontrolliert werden, hat die Instabilität weiter anschwellen lassen und bewirkt, dass diese mörderischen Konflikte zurück in die Zentren des Kapitalismus getragen werden (11. September, Bombenanschlag in Madrid...)

 

6. Deshalb bleibt, auch wenn der Weltkrieg gegenwärtig keine konkrete Bedrohung für die Menschheit ist, wie das für den grösseren Teil des 20. Jahrhunderts der Fall war, das Dilemma zwischen Sozialismus und Barbarei genauso akut wie früher. In gewisser Weise ist die Situation heute noch brenzliger; während ein Weltkrieg die aktive Mobilisierung der Arbeiterklasse erfordert, sieht sich Letztere nun der Gefahr gegenüber, Schritt für Schritt und heimtückisch von einer schleichenden Barbarei überschwemmt zu werden:

–   Die Ausbreitung von lokalen und regionalen Kriegen könnte ganze Gebiete des Planeten verwüsten und somit das Proletariat jener Regionen unfähig machen, weiter zum Klassenkampf beizutragen. Dies betrifft sehr deutlich die extrem gefährliche Rivalität zwischen den beiden grossen Nuklearmächten auf dem indischen Subkontinent; aber es trifft ebenso auf die Spirale der militärischen Abenteuer der USA zu. Trotz ihrer Absicht, eine neue Weltordnung unter Aufsicht von Uncle Sam zu schaffen, hat jeder ihrer Kriege das Chaos und die Zersplitterung nur vermehrt, und die historische Krise der US-Führungsrolle hat an Tiefe und Schärfe nur zugenommen. Der Irak liefert heute einen klaren Beweis dafür; ohne auch nur den Anschein eines Wiederaufbaus im Irak zu erwecken, werden die USA zu neuen Angriffen gegen Syrien und den Iran getrieben. Diese Perspektive wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die US-Diplomatie in jüngster Zeit versucht hat, in Bezug auf Länder wie Syrien, Iran und Irak „Brücken zu Europa zu schlagen“. Im Gegenteil: Die gegenwärtige Krise im Libanon ist ein klarer Beweis dafür, dass die USA keine Verzögerung hinnehmen können bei ihrem Versuch, eine vollständige Kontrolle über den Nahen und Mittleren Osten zu erreichen. Dieses Bestreben kann aber die imperialistischen Spannungen auf der ganzen Welt nur noch weiter verschärfen, da keiner der Hauptrivalen der USA es zulassen kann,  dass diese in dieser strategisch lebenswichtigen Zone freie Hand haben. Diese Perspektive wird ebenfalls durch die zunehmend dreiste Intervention gegen den russischen Einfluss in den Ländern der ehemaligen UdSSR (Georgien, Ukraine, Kirgisien) und durch die grossen Differenzen hinsichtlich der Waffenlieferung an China bestätigt. Zu einer Zeit, wo China seine wachsenden imperialistischen Ambitionen untermauert, indem es seine Faust gegenüber Taiwan ballt, und dadurch Spannungen mit Japan entfacht, stehen Deutschland und Frankreich an vorderster Stelle bei den Versuchen, das gegenüber China nach dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz verhängte Waffenembargo aufzuheben.

–   Die gegenwärtige Periode ist nicht nur auf der Ebene der imperialistischen Rivalitäten, sondern auch im Herzen der Gesellschaft von der Philosophie des „Jeder-für-sich“ gekennzeichnet. Die Beschleunigung der gesellschaftlichen Atomisierung und der ganze ideologische Dreck, den diese Philosophie mit sich führt (Gangstertum, die Flucht in den Selbstmord, in die Irrationalität und Verzweiflung), gehen mit der Gefahr einher, die Fähigkeit der Arbeiterklasse dauerhaft zu untergraben, ihre Klassenidentität und so ihre grossartige Klassenperspektive einer anderen Welt wiederzuerlangen, die nicht auf der gesellschaftlichen Auflösung beruht, sondern auf einer wahrhaften Gemeinschaft und Solidarität. 

–   Neben der Bedrohung durch imperialistische Kriege hat die Aufrechterhaltung einer kapitalistischen Produktionsweise, die schon längst ihr Verfallsdatum überschritten hat, eine neue Bedrohung offenbart, eine, die gleichermassen in der Lage ist, die Möglichkeit eines neuen und menschlichen Projektes zu zerstören: die wachsende Bedrohung für die globale Umwelt. Obwohl eine wissenschaftliche Konferenz nach der anderen vor der steigenden Gefahr insbesondere durch die globale Erwärmung warnt, zeigt sich die Bourgeoisie völlig unfähig, auch nur die geringsten Massnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. Der Tsunami in Südostasien zeigte den Widerwillen der Bourgeoisie, auch nur einen Finger zu rühren, um die Gattung Mensch vor  der verheerenden  Kraft der unkontrollierten Natur zu schützen; die vorhergesagten Folgen der globalen Erwärmung wären weitaus zerstörerischer und weitreichender. Darüber hinaus ist es äusserst schwierig für die Mehrheit des Proletariats, die Umweltzerstörungen als einen Anlass zu betrachten, um gegen das kapitalistische System zu kämpfen, weil die schlimmsten Konsequenzen noch immer weit entfernt zu sein scheinen.

 

7. Aus all diesen Gründen ist es gerechtfertigt, wenn Marxisten nicht nur zum Schluss kommen, dass die Wahl zwischen Sozialismus oder  Barbarei heute so gültig ist wie 1916, sondern auch wenn sie sagen, dass die wachsende Intensität der Barbarei heute die Grundlagen des Sozialismus unterminieren könnte. Sie haben nicht nur Recht, wenn sie sagen, dass der Kapitalismus schon lange eine geschichtlich überholte Gesellschaftsform ist, sondern auch wenn sie den Schluss ziehen, dass seine Niedergangsphase, die mit dem Ersten Weltkrieg begann, heute in ihre Endphase getreten ist, in die Phase des Zerfalls. Es handelt sich nicht um die Verwesung eines Organismus, der schon tot ist; der Kapitalismus verrottet bei lebendigem Leib. Er geht durch einen langen und schmerzhaften Todeskampf, und in seinen Todeszuckungen droht er, die ganze Menschheit mit in den Abgrund zu reissen.

Die Krise

8. Die Kapitalistenklasse kann der Menschheit keine Zukunft mehr anbieten. Sie ist durch die Geschichte bereits verurteilt worden. Und genau aus diesem Grund muss sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um dieses Urteil zu verheimlichen und zu bestreiten, um die marxistische Vorhersage zu entwerten, wonach der Kapitalismus wie schon die früheren Produktionsweisen dazu verurteilt ist, dekadent zu werden und zu verschwinden. Die Bourgeoisie hat deshalb eine Reihe von ideologischen Antikörpern entwickelt, die alle danach streben, diese grundlegende Schlussfolgerung der historisch-materialistischen Methode zu widerlegen:

–   Noch bevor die Epoche des Niedergangs wirklich begann, fing der revisionistische Flügel der Sozialdemokratie an, Marxens „katastrophistische“ Sichtweise zu bestreiten und zu argumentieren, dass der Kapitalismus unendlich lange weiter bestehen könnte und dass infolgedessen der Sozialismus nicht mittels revolutionärer Gewalt, sondern durch einen Prozess der ruhigen demokratischen Veränderung kommen würde.

–   In den zwanziger Jahren verleitete die erstaunliche Rate des industriellen Wachstums in den USA den „genialen“ Calvin Coolidge dazu, den Triumph des Kapitalismus zu verkünden – am Vorabend des grossen Krachs von 1929.

–   Während der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg erklärten bürgerliche Führer wie Macmillan den Arbeitern, sie hätten es „noch nie so gut“ gehabt; Soziologen spintisierten über die „Konsumgesellschaft“ und über die „Verbürgerlichung“ der Arbeiterklasse, während Radikale wie Marcuse „neue Avantgarden“ suchten, die die apathischen Proletarier ablösen sollten. 

–   Seit 1989 haben wir eine reale Überproduktionskrise der neuen Theorien erlebt, die darauf abzielen, zu erklären, wie anders heute alles sei und wie alles, was Marx dachte, widerlegt worden sei: das Ende der Geschichte, der Tod des Kommunismus, das Ende der Arbeiterklasse, die Globalisierung, die Mikroprozessor-Revolution, die Internet-Wirtschaft, der Aufstieg der neuen wirtschaftlichen Riesen im Mittleren und Fernen Osten, unter denen die neusten China und Indien sind. Diese Ideen sind so aufdringlich, dass sie eine ganze neue Generation von Leuten angesteckt haben, die sich die Frage stellen, welche Zukunft der Kapitalismus dem Planeten anzubieten hat, und – was noch besorgniserregender ist – selbst von Teilen der Kommunistischen Linken aufgegriffen worden sind.

Kurz gesagt, muss der Marxismus immer wieder gegen alle ankämpfen, die bei jedem geringsten Lebenszeichen im kapitalistischen System zu argumentieren beginnen, dass es eine leuchtende Zukunft vor sich habe. Aber der Marxismus, der entgegen diesen Kapitulationen vor dem unmittelbaren Schein an der langfristigen und historischen Sichtweise festgehalten hat, ist in seinem Kampf auch immer wieder durch die harten Schläge der historischen Bewegung unterstützt worden: 

–   Der selige „Optimismus“ der Revisionisten wurde durch die wirklich katastrophalen Ereignisse von 1914–1918 und durch die revolutionäre Antwort der Arbeiterklasse darauf zerschlagen.

–   Calvin Coolidge & Co. wurden hart vor die Realität der tiefsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus gestellt, welche die unzweideutige Katastrophe des zweiten imperialistischen Weltkrieges nach sich zog.

–   Diejenigen, die erklärten, die Wirtschaftskrise sei eine Sache der Vergangenheit gewesen, wurden durch die Rückkehr der Krise Ende der 60er Jahre widerlegt; und das internationale Wiederaufleben der Arbeiterkämpfe in Erwiderung auf diese Krise erschwerte es ungemein, an der Legende festzuhalten, wonach die Arbeiterklasse mit der Bourgeoisie eins geworden sei.

Die gegenwärtige Schwemme von Theorien über einen „Neuen Kapitalismus“, „die postindustrielle Gesellschaft“ und dergleichen sind ebenso hinfällig. Bereits sind eine Anzahl von Schlüsselelementen dieser Ideologie durch die gnadenlose Entwicklung der Krise blossgestellt worden: die in die asiatischen Tiger und Drachen gesetzten Hoffnungen lösten sich durch das plötzliche Abgleiten dieser Länder im Jahre 1997 in Luft auf; die Dot.com-Revolution entlarvte sich als ein Trugbild, kaum war sie verkündet worden; die „neuen Industrien“, die um Computer und Kommunikationen aufgebaut wurden, erwiesen sich ebenso anfällig für Rezessionen wie die „alten Industrien“, beispielsweise die Stahlproduktion und der Schiffbau. Und obwohl sie immer wieder totgesagt worden ist, erhebt die Arbeiterklasse weiterhin ihren Kopf wie zum Beispiel 2003 in den Bewegungen in Österreich und Frankreich oder 2004 in den Kämpfen in Spanien, Grossbritannien und Deutschland. 

 

9. Es wäre dennoch ein Fehler, die Wirkungen dieser Ideologien in der gegenwärtigen Periode zu unterschätzen, denn sie beruhen wie alle Mystifikationen auf einer Reihe von Halbwahrheiten, beispielsweise:

–   Angesichts der Überproduktionskrise und der unbarmherzigen Anforderungen der Konkurrenz hat der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten mitten in den wichtigsten Zentren seines Systems grosse industrielle Wüsten geschaffen und Millionen von Arbeitern entweder in andauernde Arbeitslosigkeit oder in unproduktive, schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungssektor geworfen; aus dem gleichen Grund hat er grosse Mengen der industriellen Arbeitsplätze in die Niedriglohnzonen der „Dritten Welt“ verlagert. Viele traditionelle Sektoren der industriellen Arbeiterklasse sind durch diesen Prozess dezimiert worden, was die Schwierigkeiten des Proletariats vergrössert hat, seine Klassenidentität zu erhalten.

–   Die Entwicklung der neuen Technologien ermöglichte es, sowohl den Ausbeutungsgrad wie auch die Geschwindigkeit der Zirkulation von Kapital und Waren weltweit zu erhöhen.

–   Der Rückfluss im Klassenkampf in den letzten zwei Jahrzehnten erschwerte es der neuen Generation, die Arbeiterklasse als das einzige Subjekt der gesellschaftlichen Änderung wahrzunehmen.

–   Die Kapitalistenklasse zeigte eine bemerkenswerte Fähigkeit, die Krise ihres Systems zu „handhaben“, indem sie die Gesetze seiner Funktionsweise manipulierte und sogar entstellte.

Andere Beispiele könnten erwähnt werden. Aber keines von ihnen stellt die grundsätzliche Altersschwäche des kapitalistischen Systems in Frage. 

 

10. Die Dekadenz des Kapitalismus bedeutete nie einen endgültigen und brutalen Kollaps des Systems, wie einige Genossen aus dem deutschen Linkskommunismus in den 20er Jahren vorhersagten. Auch nicht einen totalen Stopp in der Entwicklung der Produktivkräfte, wie Trotzki in den 30er Jahren fälschlicherweise dachte. Wie schon Marx bemerkt hatte, zeigt sich die herrschende Klasse in Zeiten der Krise als sehr intelligent, und sie kann aus ihren Fehlern lernen. Die 20er Jahre waren die letzte Periode, in der die Bourgeoisie noch daran glaubte zum Liberalismus und zur „Laisser-faire“-Politik des 19. Jahrhunderts zurückkehren zu können. Und dies aus dem simplen Grund, weil der Erste Weltkrieg, der zwar an sich ein Produkt der ökonomischen Widersprüche des Systems war, ausbrach, bevor sich diese Widersprüche auf einer „rein“ ökonomischen Ebene entfalten konnten. Die Krise von 1929 war die erste Weltwirtschaftskrise in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus. Und mit dieser gewonnenen Erfahrung erkannte die herrschende Klasse die Notwendigkeit zu einer grundlegenden Veränderung. Trotz vorgeschützter ideologischer Vorbehalte zweifelte keine ernsthafte Fraktion der herrschenden Klasse mehr daran, dass der Staat die generelle Kontrolle über die Wirtschaft übernehmen sollte; die Notwendigkeit zur Abschaffung jeglichen „Zahlengleichgewichts“ zugunsten von Verschuldung und zahlreichen Finanzschiebereien; die Notwendigkeit, einen enormen Rüstungssektors im Zentrum der Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Aus demselben Grund gab sich der Kapitalismus später alle Mittel, um die wirtschaftliche Autarkie der 30er Jahre zu verhindern. Trotz steigender Tendenz hin zum Wirtschaftskrieg und zum Zusammenbrechen von internationalen Institutionen aus der Zeit der beiden grossen Blöcke haben diese Institutionen mehrheitlich überlebt, weil die grössten kapitalistischen Mächte die Notwendigkeit verstanden haben, der ökonomischen Konkurrenz unter den verschiedenen nationalen Kapitalen gewisse Grenzen zu setzen.

Der Kapitalismus erhält sich durch die bewusste Intervention der Bourgeoisie am Leben, die es sich nicht länger leisten kann, der unsichtbaren Hand des Marktes zu trauen. Doch die Lösungen werden auch zu Problemen:

–   Die zunehmende Verschuldung produziert einen Berg von Problemen für die Zukunft;

–   das Aufblähen des Staates und des Rüstungssektors erzeugt einen enormen inflationären Druck.

Seit den 70er Jahren haben diese Probleme zu verschiedenen Wirtschaftsstrategien geführt, die abwechslungsweise auf den „Keynesianismus“ und den „Neo-Liberalismus“ setzten, doch keine kann die bestehenden Probleme in den Griff bekommen, geschweige denn eine endgültige Lösung herbeiführen. Bemerkenswert ist jedoch die Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre Wirtschaft um jeden Preis am Leben zu erhalten und ihre Fähigkeit, die Tendenz zum Zusammenbruch durch eine gigantische Verschuldung zu bremsen. Während der 90er Jahre war die US-amerikanische Wirtschaft wegweisend für diese Richtung. Heute, da dieses künstliche „Wachstum“ eingebrochen ist, ist die chinesische Bourgeoisie an der Reihe, die Welt zu überraschen: In Anbetracht der Unfähigkeit der ehemaligen UdSSR und der anderen stalinistischen Staaten Osteuropas, politisch die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Reformen zu verstehen, hat es die chinesische Bürokratie (das Aushängeschild des gegenwärtigen „Booms“) fertig gebracht, sich über Wasser zu halten. Gewisse Kritiker der Dekadenzauffassung weisen auf dieses Phänomen hin und wollen damit beweisen, dass das kapitalistische System immer noch in der Lage sei, sich zu entwickeln und ein reelles Wachstum hervorzubringen.

In Tat und Wahrheit aber stellt der gegenwärtige chinesische „Boom“ keineswegs den generellen Niedergang der kapitalistischen Weltwirtschaft in Frage. In Gegensatz zur aufsteigenden Phase des Kapitalismus:

–   ist das industrielle Wachstum in China nicht Teil eines globalen Ausdehnungsprozesses; im Gegenteil, es hat einen direkten Zusammenhang mit der Desindustrialisierung und Stagnation der entwickeltsten Ökonomien, welche sich auf der Suche nach billigen Lohnkosten nach China ausgelagert haben;

–   hat die chinesische Arbeiterklasse nicht die Perspektive eines stetigen Anstieges des Lebensstandarts, vielmehr ist sie enormen Angriffen auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt und mit einer zunehmenden Verarmung von grossen Teilen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft ausserhalb der grössten Boom-Zonen konfrontiert;

–   ist das frenetische Wachstum nicht Teil einer globalen Expansion des Weltmarktes, sondern Teil der vertieften Überproduktionskrise: Wegen der beschränkten Konsumptionskraft der chinesischen Massen ist der Grossteil der Produktion auf den Export in die höchstentwickelten kapitalistischen Staaten ausgerichtet;

–   ist die grundlegende Irrationalität der wachsenden chinesischen Wirtschaft ersichtlich durch die grauenhafte Verschmutzung der Umwelt – ein Zeichen dafür, dass der Planet zerstört wird durch den Druck, der auf jeder Nation lastet, ihre natürlichen Ressourcen bis zum Limit auszubeuten, nur um auf dem Weltmarkt bestehen zu können;

–   basiert das chinesische Wachstum, gleich wie das ganze System, lediglich auf einem Schuldenberg, welcher niemals durch eine tatsächliches Wachstum des Weltmarktes wieder wett gemacht werden kann.

Die Bourgeoisie ist sich der Zerbrechlichkeit solcher Wachstumsschübe wohl bewusst und durch die chinesische Blase alarmiert. Dies natürlich nicht wegen der schrecklichen Ausbeutung auf der sie beruht – im Gegenteil ist dies ja genau das, was China für Investitionen so attraktiv macht – sondern weil die Weltwirtschaft allzu abhängig wird vom chinesischen Markt und weil die Folgen eines chinesischen Kollapses allzu katastrophal wären, nicht nur für China, das damit in die Anarchie der 30er Jahre zurückgeworfen würde, sondern für die Weltwirtschaft als Ganzes.

 

11. Das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft widerlegt nicht die Realität der Dekadenz, sondern bestätigt sie im Gegenteil. Dieses Wachstum hat nichts Gemeinsames mit den Akkumulationszyklen im 19. Jahrhundert, welche auf einer realen Expansion der Produktion in die peripheren Zonen beruhte, auf der Suche nach neuen, ausserkapitalistischen Absatzmärkten. Es ist wahr, dass die Dekadenz begann, bevor diese Märkte ausgeschöpft waren und bevor sich der Kapitalismus solche übrig gebliebenen wirtschaftlichen Gebiete durch Produktionsauslagerungen maximal zu Nutzen machte. Das Wachstum in Russland während der 30er Jahre und die Integration der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft in der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg sind Beispiele dafür. Doch der vorherrschende Trend in der gesamten Epoche der Dekadenz ist die Bildung von künstlichen Märkten, welche auf Verschuldung aufbauen.

Es ist heute offensichtlich, dass die frenetische „Konsumption“ der letzten zwei Jahrzehnte ausschliesslich auf einer Verschuldung der Haushalte basierte: eine Billion Pfund in Grossbritannien, 25% des Bruttosozialproduktes in den USA, während die Regierungen eine solche Verschuldung nicht nur anheizen, sondern sie auf einer höheren Ebene auch selber betreiben.

 

12. In einem gewissen Sinne ist das heutige Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft das, was Marx als das „Wachstum im Niedergang“ bezeichnete (Grundrisse): es ist der Hauptfaktor in der weltweiten Umweltzerstörung. Das unkontrollierbare Niveau an Verschmutzung in China, der riesige Anteil der USA am Ausstoss von Treibhausgasen, die brutale Abholzung von noch bestehenden Regenwäldern... je mehr der Kapitalismus „wächst“, desto mehr wird klar, dass er nicht die geringste Lösung für die ökologische Krise hat. Diese kann nur gelöst werden, wenn die Menschheit auf einer neuen Grundlage produziert, „einem Lebensplan für die menschliche Gattung“ (Bordiga), in Einklang mit der Natur.

 

13. Sei es ein „Boom“ oder eine „Rezession“, die Realität ist dieselbe: Der Kapitalismus kann sich nicht mehr länger von selbst erholen. Es gibt keinen natürlichen Akkumulationszyklus mehr. In der ersten Phase der Dekadenz zwischen 1914 und 1968 ersetzte der Zyklus von Krise – Krieg – Wiederaufbau den alten Zyklus von Expansion und Rückfluss. Doch die GCF (Französische Kommunistische Linke) hatte Recht, als sie 1945 behauptete, dass es keine automatische Tendenz zum Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Weltkrieges gab. Was die amerikanische Bourgeoisie dazu brachte, die europäische und japanische Wirtschaft mit dem Marshall-Plan wieder zu beleben, war ihr Bedürfnis, sich diese Zonen der eigenen imperialistischen Einflusssphäre unterzuordnen und zu verhindern, dass diese Länder in die Hände des rivalisierenden Blocks fallen könnten. Der grösste wirtschaftliche „Boom“ des 20. Jahrhunderts war vor allem Resultat der imperialistischen Konkurrenz.

 

14. In der Dekadenz treiben die ökonomischen Widersprüche den Kapitalismus in den Krieg, doch der Krieg kann diese Widersprüche nicht lösen. Im Gegenteil vertieft er sie. Auf jeden Fall ist der Zyklus von Krise – Krieg – Wiederaufbau heute vorüber, und die heutige Krise, unfähig sich in einem Weltkrieg zu entladen, ist der Hauptfaktor beim Zerfall dieses Systems. Sie führt das System in die Selbstzerstörung.

 

15. Die Sichtweise, dass der Kapitalismus ein dekadentes System ist, wurde oft als fatalistische Auffassung kritisiert – als Idee eines automatischen Zusammenbruchs und einer spontanen Überwindung durch die Arbeiterklasse, welche die Notwendigkeit der Arbeit einer revolutionären Organisation verneinen würde. Doch die herrschende Klasse hat bewiesen, dass sie ihr System nicht ökonomisch zusammenbrechen lässt. Aber der Kapitalismus wird sich durch seine eigene Dynamik durch Kriege und andere Desaster selber zerstören. In diesem Sinne ist er tatsächlich dazu „bestimmt“ zu verschwinden. Doch die Antwort der Arbeiterklasse ist alles andere als fatalistisch. So formulierte es Rosa Luxemburg 1916 in der Einleitung der schon oben zitierten Juniusbroschüre: „Der Sozialismus ist die erste Volksbewegung der Weltgeschichte, die sich zum Ziel setzt und von der Geschichte berufen ist, in das gesellschaftliche Tun der Menschen einen bewussten Sinn, einen planmässigen Gedanken und damit den freien Willen hineinzutragen. Darum nennt Friedrich Engels den endgültigen Sieg des sozialistischen Proletariats einen Sprung der Menschheit aus dem Tierreich in das Reich der Freiheit. Auch dieser „Sprung“ ist an eherne Gesetze der Geschichte, an tausend Sprossen einer vorherigen qualvollen und allzu langsamen Entwicklung gebunden. Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewussten Willens der grossen Volksmasse aufspringt. Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Himmel herabfallen. Er kann nur durch eine lange Kette gewaltiger Kraftproben zwischen den alten und neuen Mächten erkämpft werden, Kraftproben, in denen das internationale Proletariat unter der Führung der Sozialdemokratie lernt und versucht, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, sich des Steuers des gesellschaftlichen Lebens zu bemächtigen, aus einem willenlosen Spielball der eigenen Geschichte zu ihrem zielklaren Lenker zu werden.“

Der Kommunismus wird die erste Gesellschaft sein, in welcher der Mensch über eine bewusste Kontrolle seiner Produktivkräfte verfügt. Und deshalb gibt es im Kampf der Arbeiterklasse keine Trennung zwischen Zielen und Mitteln, die Bewegung hin zum Kommunismus kann nur eine „bewusste Bewegung der grossen Mehrheit“ sein (Kommunistisches Manifest): Die Vertiefung und Ausbreitung des Klassenbewusstseins ist unverzichtbar für den Erfolg der Revolution und die endgültige Überwindung des Kapitalismus. Dieser Prozess ist von Natur aus sehr schwierig, ungradlinig und heterogen, denn er ist das Produkt einer ausgebeuteten Klasse, welche in der alten Gesellschaft über keine ökonomische Macht verfügt und ständig der ideologischen Dominanz und den Manipulationen der herrschenden Klasse ausgesetzt ist. Keinesfalls gibt es eine Garantie: Im Gegenteil besteht die reale Gefahr, dass die Arbeiterklasse angesichts der immensen Aufgaben ihre historische Verantwortung nicht durchsetzen kann. Dies hätte für die gesamte Menschheit schreckliche Konsequenzen.

Der Klassenkampf

16. Der höchste bisher erreichte Stand des Klassenbewusstseins war der Aufstand vom Oktober 1917. Dies wurde durch die Geschichtsschreibung der Bourgeoisie und all ihre blassen anarchistischen und anderweitig verwandten ideologischen Abklatsche verleugnet, für die der Oktober lediglich ein Putsch machthungriger Bolschewiki gewesen sein soll. Doch der Oktober stellte die grundlegende Erkenntnis für die Arbeiterklasse dar, dass für die Menschheit kein Weg an einer weltweiten Revolution vorbeiführt. Dennoch erfasste dieses Verständnis das Proletariat nicht in genügender Tiefe und Ausdehnung. Die Revolution scheiterte, weil die Weltarbeiterklasse vor allem in Europa unfähig war, ein umfassendes politisches Verständnis zu entwickeln, welches ihr erlaubt hätte, eine angemessene Antwort auf die Aufgaben der neuen Epoche von Kriegen und Revolutionen zu geben, die 1914 angebrochen war. Resultat davon war ab Ende der 20er Jahre der längste und tiefgreifendste Rückschritt, den die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte kannte. Dies nicht hauptsächlich auf der Ebene der Kampfbereitschaft, denn die 30er und 40er Jahre erlebten punktuelle Ausbrüche der Kampfbereitschaft der Klasse, sondern vielmehr auf der Ebene des Bewusstseins. Die Arbeiterklasse liess sich aktiv in die antifaschistischen Kampagnen der Bourgeoisie einbinden, so in Spanien zwischen 1936 und 1939, in Frankreich 1936, und in die Verteidigung der Demokratie und des „sozialistischen Vaterlandes“ während dem Zweiten Weltkrieg. Dieser tiefgreifende Rückschritt im Bewusstsein drückte sich durch ein fast totales Verschwinden revolutionärer Minderheiten während den 50er Jahren aus.

 

17. Das historische Wiederaufbrechen von Kämpfen 1968 zeigte erneut die langfristige Perspektive einer proletarischen Revolution. Doch dies war nur einer kleinen Minderheit der Klasse bewusst, und es drückte sich durch die Wiedergeburt einer internationalen revolutionären Bewegung aus. Die Kampfwellen zwischen 1968 und 1989 stellten bedeutende Fortschritt auf der Ebene des Bewusstseins dar, doch sie tendierten alle dazu, auf den unmittelbaren Kampf ausgerichtet zu sein (die Fragen der Ausbreitung und Organisierung, usw.). Ihr schwächster Punkt war der Mangel an politischer Tiefe, allem voran eine Politikfeindlichkeit, die Resultat der stalinistischen Konterrevolution war. Auf der politischen Ebene war die Bourgeoisie weitgehend fähig, den Takt anzugeben, erst durch das Vorgaukeln einer möglichen Veränderung durch das Einsetzen von linken Regierungen in den 70er Jahren, dann durch eine Sabotage der Kämpfe von innen her, durch eine Linke in der Opposition in den 80er Jahren. Auch wenn die Kampfwellen von 1968 bis 1989 fähig waren, den Kurs Richtung Weltkrieg zu verhindern, so begünstigten ihre Schwächen in einer historischen und politischen Dimension den Übergang zur Phase des Zerfalls des Kapitalismus. Das historische Ereignis, welches diesen Übergang kennzeichnete – der Zusammenbruch des Ostblocks – war einerseits Resultat des Zerfalls, und andererseits ein Faktor seiner Beschleunigung. Die dramatischen Veränderungen Ende der 80er Jahre waren gleichzeitig Produkt der politischen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse und – da sie eine Propagandawelle über das Ende des Kommunismus und des Klassenkampfes erlaubten – ein Schlüsselelement eines ernsthaften Rückflusses im Klassenbewusstsein – bis zum Punkt, an dem die Arbeiterklasse selbst ihre grundlegende Klassenidentität aus den Augen verlor. Die Bourgeoisie deklarierte ihren endgültigen Sieg über die Arbeiterklasse, und diese war bis heute nicht fähig, eine wirklich ausreichende Antwort darauf zu geben, um dies zu widerlegen.      

18. Trotz all ihrer Schwierigkeiten bedeutete die Rückzugsperiode keineswegs das „Ende des Klassenkampfes“. Die 1990er Jahre waren durchsetzt mit einer ganzen Anzahl von Bewegungen, die zeigten, dass die Arbeiterklasse immer noch über unversehrte Reserven an Kampfbereitschaft verfügte (beispielsweise 1992 und 1997). Doch stellte keine dieser Bewegungen eine wirkliche Änderung auf der Ebene des Klassenbewusstseins dar. Deshalb sind die jüngeren Bewegungen so wichtig; auch wenn es ihnen am spektakulären und sofortigen Einfluss mangelt, den diejenige von 1968 in Frankreich hatte, sind sie doch ein Wendepunkt im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Die Kämpfe von 2003–2005 wiesen die folgenden wesentlichen Eigenschaften auf:

–   Sie bezogen bedeutende Sektoren der Arbeiterklasse in Ländern im Zentrum des weltumspannenden Kapitalismus mit ein (wie in Frankreich 2003);

–   sie traten mit Sorgen auf, die ausdrücklicher auch politische Fragen in den Vordergrund stellten;

–   zum ersten Mal seit der revolutionären Welle stand Deutschland wieder als Schwerpunkt der Arbeiterkämpfe da;

–   die Frage der Klassensolidarität wurde nun breiter und ausdrücklicher aufgeworfen denn je in den Kämpfen der 80er Jahre, insbesondere in den jüngsten Bewegungen in Deutschland;

–   sie wurden begleitet vom Auftauchen einer neuen Generation von Leuten, die nach politischer Klarheit suchen. Diese neue Generation hat sich einerseits im Auftreten von offen politisierten Leuten gezeigt, andererseits in neuen Schichten von Arbeitern, die zum ersten Mal in den Kampf getreten sind. Wie bestimmte wichtige Demonstrationen bewiesen haben, wird das Fundament gelegt für die Einheit zwischen der neuen Generation und derjenigen „von 68“ – sowohl der politischen Minderheit, welche die kommunistische Bewegung in den 60er und 70er Jahren aufgebaut hat, als auch den breiteren Schichten der Arbeiter, welche die reiche Erfahrung der Klassenkämpfe zwischen 68 und 89 in sich tragen.

 

19. Die unterirdische Reifung des Bewusstseins, die von den empiristischen Fälschern des Marxismus geleugnet werden, die nur die Oberfläche der Wirklichkeit sehen und nicht ihre tieferen, grundlegenden Tendenzen, ist nicht vom allgemeinen Rückfluss im Bewusstsein seit 1989 aufgehoben worden. Es ist ein Merkmal dieses Prozesses, dass er lediglich in einer Minderheit manifest wird. Doch das Wachstum dieser Minderheit ist Ausdruck der fortschreitenden Weiterentwicklung eines breiteren Phänomens in der Klasse. Bereits nach 1989 sahen wir eine kleine Minderheit von politisierten Elementen, welche die bürgerliche Kampagne über den „Tod des Kommunismus“ in Frage stellten. Diese Minderheit ist nun von einer neuen Generation verstärkt worden, die sich mit der ganzen Richtung der bürgerlichen Gesellschaft kritisch auseinandersetzt. Auf allgemeiner Ebene drückt dies den ungeschlagenen Zustand des Proletariats, die Aufrechterhaltung des historischen Kurses zu massiven Klassenkonfrontationen aus, der 1968 eröffnet worden war. Doch auf einer spezifischeren Ebene sind die „Wende“ von 2003 und das Auftreten einer neuen Generation von suchenden Elementen Beweis dafür, dass das Proletariat am Anfang eines zweiten Anlaufs steht, das kapitalistische System zu stürmen, nach dem Scheitern des ersten Versuchs von 1968 bis 1989. Obgleich sich das Proletariat im Alltag mit der scheinbar selbstverständlichen Aufgabe auseinandersetzen muss, sich seiner Klassenidentität wieder zu bemächtigen, liegt hinter diesem Problem auch die Aussicht auf eine viel engere Verknüpfung des unmittelbaren Kampfes mit dem politischen Kampf. Die Fragen, die von den Kämpfen in der Zerfallsphase aufgeworfen werden, scheinen immer abstrakter zu werden, doch tatsächlich drehen sie sich um allgemeinere Fragen wie die Notwendigkeit einer Klassensolidarität gegen die allgegenwärtige Atomisierung, die Angriffe auf den gesellschaftlichen Lohn, die Omnipräsenz des Krieges, die Bedrohung der natürlichen Umwelt des Planeten – kurz: um die Frage, was die Zukunft für diese Gesellschaft bereithält und somit um die Frage einer anderen Art von Gesellschaft.

 

20. Innerhalb dieses Prozesses der Politisierung sind zwei Elemente, die bis jetzt eine eher hemmende Wirkung auf den Klassenkampf ausübten, dazu bestimmt, zu einer immer wichtigeren Stimulans der künftigen Bewegungen zu werden: die Frage der Massenarbeitslosigkeit und die Frage des Krieges.

Während der Kämpfe der 1980er Jahre, als die Massenarbeitslosigkeit immer unübersehbarer wurde, erlangte weder der Kampf der beschäftigten Arbeiter gegen drohende Entlassungen noch der Widerstand der Arbeitslosen auf den Strassen ein bedeutsames Ausmass. Es gab keine Bewegung von Arbeitslosen, die an das Niveau heranreichte, das in den 30er Jahren erreicht worden war, obwohl diese Zeit eine Periode der tiefen Niederlage der Arbeiterklasse gewesen war. In den Rezessionen der 80er Jahre sahen sich die Arbeitslosen einer fürchterlichen Atomisierung gegenüber; insbesondere grosse Teile der jüngeren Generation von Proletariern hatte nie die Erfahrung des kollektiven Arbeitens und Kämpfens gemacht. Und wenn beschäftigte Arbeiter weitreichende Kämpfe gegen Entlassungen ausfochten, wie in der britischen Bergbauindustrie, dann wurde der negative Ausgang dieser Bewegungen von der herrschenden Klasse benutzt, um Gefühle der Passivität und Hoffnungslosigkeit zu verstärken, was kürzlich durch die Reaktion auf den Bankrott von Rover demonstriert wurde, als den Arbeitern als einzige „Wahl“ jene zwischen der einen oder anderen Führungsriege präsentiert wurde, um das Unternehmen am Leben zu erhalten. Dennoch ist angesichts der Verengung des Manöverspielraums für die Bourgeoisie und ihrer wachsenden Unfähigkeit, den Arbeitslosen auch nur ein Minimum an Unterstützung zu gewähren, die Frage der Arbeitslosigkeit darauf angelegt, eine weitaus subversivere Seite zu entwickeln, indem sie die Solidarität zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen erleichtert und die Klasse insgesamt dazu drängt, tiefer und aktiver über den Bankrott des Systems nachzudenken.

Dieselbe Dynamik kann an der Frage des Krieges beobachtet werden. In den frühen 90er Jahren bewirkten die ersten grossen Kriege in der Zerfallsphase (Golf, Balkan), dass das Gefühl der Machtlosigkeit gestärkt wurde, welches uns durch die Kampagnen rund um den Zusammenbruch des Ostblocks eingeimpft worden war, während der Vorwand der „humanitären Intervention“ in Afrika und auf dem Balkan noch immer den Anschein von Glaubwürdigkeit erwecken konnte. Seit 2001 und dem „Krieg gegen den Terrorismus“ wurde jedoch die Verlogenheit und Heuchelei bei der Rechtfertigung des Krieges durch die Bourgeoisie immer augenscheinlicher, auch wenn das Wachstum riesiger pazifistischer Bewegungen die politische Infragestellung, die dadurch provoziert worden war, grösstenteils verwässert hat. Darüber hinaus haben die jüngsten Kriege einen weitaus grösseren Einfluss auf die Arbeiterklasse, selbst wenn dies noch immer hauptsächlich auf jene Länder begrenzt geblieben ist, die in diesen Konflikten verwickelt sind. In den USA hat sich dies in der Zahl von Arbeiterfamilien manifestiert, die von Tod und Verwundung der Proletarier in Uniform, aber noch schwerwiegender von den furchteinflössenden ökonomischen Kosten der militärischen Abenteuer betroffen sind, die proportional zu den Kürzungen der gesellschaftlichen Löhne gestiegen sind. Und indem immer deutlicher wird, dass die militaristischen Tendenzen des Kapitalismus nicht nur eine ständig wachsende Spirale sind, sondern dazu noch eine, über die die herrschende Klasse immer weniger Kontrolle besitzt, wird das Problem des Krieges und seine Verbindung zur Krise auch zu einem weit tieferen und weiterreichenden Nachdenken darüber führen, was historisch auf dem Spiel steht.

 

21. Paradoxerweise ist die Brisanz dieser Fragen einer der Hauptgründe dafür, warum die aktuelle Wiederbelebung der Kämpfe so beschränkt und unspektakulär im Vergleich zu jenen Bewegungen ist, die das Wiedererscheinen des Proletariats Ende der 60er Jahre ausgezeichnet hatten. Angesichts der unermesslichen Probleme, wie die Weltwirtschaftskrise, die Zerstörung der globalen Umwelt oder die Spirale des Militarismus mag der tägliche Verteidigungskampf unbedeutend und ohnmächtig erscheinen. Und in einem gewissen Sinn reflektiert dies ein wirkliches Verständnis dafür, dass es keine Lösung für die Widersprüche gibt, die den Kapitalismus heute befallen haben. Doch während in den 70ern die Bourgeoisie eine ganze Palette an Mystifikationen über die Möglichkeiten eines besseren Lebens zur Auswahl hatte, erinnern die jüngsten Versuche der Bourgeoisie, vorzutäuschen, dass wir in einer Epoche des beispiellosen Wachstums und Wohlstands leben, immer mehr an die verzweifelten Versuche eines alten Mannes, den bald bevorstehenden Tod zu bestreiten. Die Dekadenz des Kapitalismus ist die Epoche der sozialen Revolution, weil die Kämpfe der Ausgebeuteten nicht mehr zu einer tatsächlichen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen führen können. Und wie schwer es auch sein mag, von der Defensive in die Offensive überzugehen, die Arbeiterklasse wird keine andere Wahl haben, als diesen schwierigen und beängstigenden Sprung zu wagen. Und wie allen solchen qualitativen Sprüngen gehen auch ihm alle Arten von kleinen vorbereitenden Schritten voraus, von Streiks rund um die Brot-und-Butter-Frage bis hin zu winzigen Diskussionsgruppen überall auf dem Globus.

 

22. Angesichts der Perspektive einer Politisierung des Kampfes spielen revolutionäre politische Organisationen eine einmalige und unersetzliche Rolle. Leider hat die Kombination der wachsenden Auswirkungen des Zerfalls mit seit langer Zeit bestehenden theoretischen und organisatorischen Schwächen und dem Opportunismus in der Mehrheit der politischen Organisationen des Proletariats die Unfähigkeit dieser Gruppen enthüllt, sich der Herausforderung durch die Geschichte zu stellen. Dies wird am deutlichsten von der negativen Dynamik veranschaulicht, in der das IBRP schon seit geraumer Zeit gefangen ist. Nicht nur, dass das Büro total unfähig ist, die Bedeutung der neuen Phase des Zerfalls zu begreifen, schlimmer noch, solchen Schlüsselkonzepten wie jenem der Dekadenz des Kapitalismus den Rücken kehrt; noch viel katastrophaler ist seine Verhöhnung der grundlegenden Regeln der proletarischen Solidarität und Verhaltensweisen durch seinen Flirt mit dem Parasitismus und Abenteurertum. Diese Regression ist um so ernster, als nun die Voraussetzungen für den Aufbau der kommunistischen Weltpartei gelegt werden. Gleichzeitig wirft die Tatsache, dass die Gruppen des proletarischen Milieus sich selbst immer mehr aus dem Prozess ausschliessen, der zur Bildung der Klassenpartei führt, ein Schlaglicht auf die eminent wichtige Rolle, welche die IKS zwangsläufig in diesem Prozess ausüben muss. Es wird immer klarer, dass die künftige Partei nicht das Resultat einer „demokratischen“ Addition der verschiedenen Gruppen des Milieus sein wird, sondern dass die IKS bereits das Skelett der künftigen Partei bildet. Doch damit die Partei Wirklichkeit wird, muss sich die IKS als den Aufgaben gewachsen erweisen, die ihr durch die Entwicklung des Klassenkampfes und das Auftreten einer neuen Generation von suchenden Elementen aufgetragen werden.

 

IKS

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [25]

Theoretische Fragen: 

  • Krieg [26]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [17]

Bilanz des 16. Kongress der IKS: Sich auf den Klassenkampf und das Auftauchen neuer kommunistischer Kräfte vorbereiten

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Die IKS führte im letzten Frühjahr ihren 16. Kongress durch. „Der internationale Kongress ist das höchste Organ der IKS“, wie unsere Statuten sagen. Deshalb ist es wie immer nach solchen Ereignissen unsere Aufgabe, der Arbeiterklasse über diesen Kongress zu berichten und seine wichtigsten Orientierungen hervorzuheben.[1]

Die Arbeit dieses Kongresses drehte sich um die Analyse der Wiederbelebung des Kampfes der Arbeiterklasse und die entsprechende Verantwortung, vor die diese Entwicklung unsere Organisation stellt, insbesondere angesichts einer auftauchenden neuen Generation von Leuten, die sich einer revolutionären politischen Perspektive zuwenden.

Gleichzeitig setzt sich offensichtlich die Barbarei des Krieges fort in einer kapitalistischen Welt, die einer unüberwindlichen Wirtschaftskrise gegenübersteht; besondere Berichte über die Krise und die imperialistischen Konflikte wurden am Kongress diskutiert und verabschiedet. Die wesentlichen Elemente dieser Berichte sind in der Resolution zur internationalen Lage enthalten, die wir nachstehend auch veröffentlichen.

Diese Resolution ruft in Erinnerung, dass die gegenwärtige historische Periode nach der Analyse der IKS die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus ist, die Zerfallsphase, in der die bürgerliche Gesellschaft am lebendigen Leib verrottet. Wie wir bereits bei zahlreichen Gelegenheiten hervorgehoben haben, rührt dieser Zerfall daher, dass angesichts des unabwendbaren historischen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft keine der beiden sich gegenüberstehenden Klassen in der Gesellschaft, weder die Bourgeoisie noch das Proletariat, es schaffen, ihre eigene Antwort durchzusetzen: den Weltkrieg als Antwort der Bourgeoisie, die kommunistische Revolution als diejenige des Proletariats. Diese historischen Bedingungen bestimmen die wesentlichen Eigenschaften der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. Insbesondere kann man nur mit diesem Rahmen der Analyse über den Zerfall die Fortdauer und Verschlimmerung einer ganzen Reihe von Plagen vollständig verstehen, die heute die Menschheit heimsuchen, wobei an erster Stelle die Kriegsbarbarei zu nennen ist, aber auch die unabwendbare Zerstörung der Umwelt oder die schrecklichen Folgen von Naturkatastrophen, wie des Tsunamis im letzten Winter. Die historischen Bedingungen, die der Zerfall nach sich zieht, stellen für das Proletariat eine ebenso schwere Last dar wie für seine revolutionären Organisationen, und sie sind eine der Hauptursachen der Schwierigkeiten, die unsere Klasse und unsere Organisation seit Beginn der 90er Jahre angetroffen haben, wie wir dies in früheren Artikeln bereits aufgezeigt haben.

 

Die Wiederbelebung des Klassenkampfes

 

Der 15. Kongress hatte festgestellt, dass die IKS die Krise überwunden hatte, die sie 2001 durchgemacht hatte, und zwar insbesondere deshalb, weil sie verstanden hatte, dass und wie diese Krise ein Ausdruck der schädlichen Effekte des Zerfalls war. Jener Kongress erkannte auch die Schwierigkeiten, die die Arbeiterklasse weiterhin in ihren Kämpfen gegen die Angriffe des Kapitals hatte – vor allem ihr Mangel an Selbstvertrauen.

Doch seit diesem Kongress, der im Frühjahr 2003 tagte, fand eine Änderung statt, wie dies an der Plenarsitzung des Zentralorgans der IKS im Herbst desselben Jahres unterstrichen wurde: „Die breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich stellen in den Klassenkämpfen seit 1989 einen Wendepunkt dar. Sie sind ein erster wichtiger Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach der längsten Rückflussperiode seit 1968.“ (vgl. Internationale Revue Nr. 34).

Ein solcher Wendepunkt war für die IKS keine Überraschung, da diese Perspektive bereits am 15. Kongress angekündigt wurde. Die Resolution zur internationalen Lage, die der 16. Kongress verabschiedet hatte, präzisierte dies mit den folgenden Worten: „Die Kämpfe von 2003–2005 wiesen die folgenden wesentlichen Eigenschaften auf:

–   Sie bezogen bedeutende Sektoren der Arbeiterklasse in Ländern im Zentrum des weltumspannenden Kapitalismus mit ein (wie in Frankreich 2003);

–   sie traten mit Sorgen auf, die ausdrücklicher auch politische Fragen in den Vordergrund stellten;

–   zum ersten Mal seit der revolutionären Welle stand Deutschland wieder als Schwerpunkt der Arbeiterkämpfe da;

–   die Frage der Klassensolidarität wurde nun breiter und ausdrücklicher aufgeworfen denn je in den Kämpfen der 80er Jahre, insbesondere in den jüngsten Bewegungen in Deutschland.“

Diese Resolution des 16. Kongresses stellte auch fest, dass die unterschiedlichen Anzeichen des Wendepunktes im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen begleitet wurden „vom Auftauchen einer neuen Generation von Leuten, die nach politischer Klarheit suchen. Diese neue Generation hat sich einerseits im Auftreten von offen politisierten Leuten gezeigt, andererseits in neuen Schichten von Arbeitern, die zum ersten Mal in den Kampf getreten sind. Wie bestimmte wichtige Demonstrationen bewiesen haben, wird das Fundament gelegt für die Einheit zwischen der neuen Generation und derjenigen „von 68“ – sowohl der politischen Minderheit, welche die kommunistische Bewegung in den 60er und 70er Jahren aufgebaut hat, als auch den breiteren Schichten der Arbeiter, welche die reiche Erfahrung der Klassekämpfe zwischen 68 und 89 in sich tragen.“

Die Verantwortung der IKS gegenüber dem Auftauchen der neuen revolutionären Kräfte

 

Die andere wesentliche Sorge des 16. Kongresses war folglich zu gewährleisten, dass unsere Organisation auf der Höhe ihrer Fähigkeiten ist, um die Verantwortung gegenüber den auftauchenden neuen Kräfte wahrzunehmen, die sich auf linkskommunistische Klassenpositionen zu bewegen. Dieses Anliegen drückte sich insbesondere in der Aktivitätenresolution aus, die der Kongress ebenfalls verabschiedete: „Der Kampf darum, die neue Generation für Klassenpositionen und die Organisierung zu gewinnen, steht heute im Zentrum all unserer Aktivitäten. Dies betrifft nicht nur unsere Intervention, sondern die Gesamtheit unserer politischen Reflexion, unserer Diskussionen und militanten Anliegen. (...)“

Diese Arbeit der Umgruppierung der neuen militanten Kräfte schliesst notwendigerweise ihre Verteidigung gegen alle Versuche ein, sie zu zerstören oder in Sackgassen zu führen. Diese Verteidigung kann nur erfolgreich sein, wenn die IKS sich auch gegen diejenigen Angriffe verteidigen kann, deren Zielscheibe sie selber ist. Der vorangehende Kongress hatte bereits festgestellt, dass unsere Organisation fähig gewesen war, die hinterlistigen Angriffe der IFIKS[2] abzuwehren, indem wir verhindert hatten, dass diese ihr erklärtes Ziel erreichte, nämlich die IKS oder mindestens die grösstmögliche Anzahl von Sektionen zu zerstören. Im Oktober 2004 unternahm die IFIKS eine neue Offensive gegen unsere Organisation, wobei sie sich auf verleumderische Stellungnahmen eines „Circulo de Comunistas Internacionalistas“ aus Argentinien stützte, der vorgab, Nachfolger des Nucleo Comunista Internacional zu sein, einer Gruppe, mit der die IKS ab Ende 2003 Kontakte gepflegt und Diskussionen geführt hatte. Leider leistete das IBRP seinen eigenen Beitrag zu diesem peinlichen Manöver, indem es auf seiner Website während mehrerer Monate und in verschiedenen Sprachen eine der hysterischsten und lügenhaftesten Erklärungen des Circulos gegen unsere Organisation veröffentlichte. Mit Dokumenten, die wir umgehend auf unsere Website stellten, wehrten wir diesen Angriff ab; seither ist von dieser Seite nichts mehr zu vernehmen. Der „Circulo“ entlarvte sich als das, was er war: eine Erfindung des Bürgers B., eines armseligen Abenteurers in Argentinien. Dieser Kampf gegen die Offensive der „Dreierallianz“ von Abenteurertum (B.), Parasitismus (IFIKS) und Opportunismus (IBRP) war auch ein Kampf für die Verteidigung des NCI, der für das Streben eines kleinen Kerns von Genossen steht, sich den Positionen der Kommunistischen Linken in Zusammenarbeit mit der IKS anzunähern.[3]

„(...) Angesichts dieser Arbeit gegenüber den suchenden Leuten muss die IKS eine entschlossene Intervention umsetzen. Gleichzeitig muss sie ihre ganze Aufmerksamkeit auch auf die Tiefe der Argumentation, die sie in die Diskussionen einbringt, und auf die Frage des politischen Verhaltens richten. Das Hervortreten der neuen kommunistischen Kräfte muss ein starker Ansporn sein, der die Reflexion und die Energien nicht nur der Militanten anregt, sondern auch jener Leute, die durch den Rückfluss im Klassenkampf nach 1989 beeinflusst wurden:  Die Auswirkungen der gegenwärtigen historischen Entwicklung werden einen Teil der Generation von 1968 wieder politisieren, die seinerzeit durch die bürgerliche Linke abgelenkt und vergiftet wurde. Sie haben bereits angefangen, ehemalige Militante nicht nur der IKS, sondern auch anderer proletarischer Organisationen wieder zu beleben. Jede dieser Äusserungen dieser Gärung stellt ein kostbares Potential für die Wiederaneignung der Klassenidentität, die Kampferfahrung und für die historische Perspektive des Proletariats dar. Aber diese unterschiedlichen Potentiale können nur umgesetzt werden, wenn sie durch eine Organisation zusammengefasst werden, die das historische Bewusstsein, die marxistische Methode und die organisatorische Herangehensweise hat, welche heute nur die IKS anbieten kann. Dies führt dazu, dass die konstante und langfristige Entwicklung der theoretischen Fähigkeiten, des militanten Verständnisses und der Zentralisierung der Organisation zu entscheidenden Faktoren der historischen Perspektive werden.“

Der Kongress hob die Bedeutung der theoretischen Arbeit in der derzeitigen Situation hervor: „Die Organisation kann ihre Verantwortung sowohl gegenüber den revolutionären Minderheiten als auch gegenüber der Klasse als Ganze nur wahrnehmen, wenn sie fähig ist, den Prozess zu verstehen, der die zukünftige Partei im grösseren Kontext der allgemeinen Entwicklung des Klassenkampfes vorbereitet. Die Fähigkeit der IKS, das veränderte Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu analysieren und in den Kämpfen wie auch gegenüber der politischen Reflexion in der Klasse zu intervenieren, ist langfristig für die Entwicklung des Klassenkampfes wichtig. Aber bereits jetzt, kurzfristig, ist sie entscheidend für die Übernahme unserer führenden Rolle gegenüber der neuen politisierten Generation. Die Organisation muss diese theoretische Reflexion fortsetzen und dabei die grösstmögliche Anzahl von konkreten Lehren aus ihrer Intervention ziehen und die Schemata der Vergangenheit überwinden.“

Schliesslich konzentrierte sich der Kongress auch auf die Frage, mit der unsere Plattform endet: „Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation und die Beziehungen zwischen den Militanten tragen notwendigerweise die Narben der kapitalistischen Gesellschaft mit sich, und deshalb können diese Beziehungen keine Inseln der kommunistischen Beziehungen innerhalb des Kapitalismus darstellen. Sie dürfen jedoch nicht in offenkundigem Widerspruch stehen zu dem von den Revolutionären verfolgten Ziel, und sie müssen notwendigerweise auf der Solidarität und dem gegenseitigen Vertrauen beruhen, die ein Kennzeichen der Zugehörigkeit zu der Klasse sind, die den Kommunismus verwirklichen wird.“

Eine solche Aufgabe, wie auch alle anderen, vor die eine marxistische Organisation gestellt wird, erfordert eine theoretische Arbeit: „In dem Masse, wie die Fragen der Organisation und des Verhaltens heute im Zentrum der Debatten sowohl innerhalb wie auch ausserhalb der Organisation stehen, wird eine zentrale Achse unserer theoretischen Arbeit in den kommenden zwei Jahren die Diskussion über die unterschiedlichen Orientierungstexte sein [die diese Themen behandeln]. Diese Fragen führen uns zu den Wurzeln der jüngsten organisatorischen Krisen, berühren die Grundlage unseres militanten Engagements und sind Schlüsselfragen der Revolution in der Epoche des Zerfalls. Sie werden deshalb eine zentrale Rolle bei der Wiedergewinnung der militanten Überzeugung und des Geschmacks für Theorie und die marxistische Methode spielen, die jede Frage mit einer historischen und theoretischen Sichtweise angeht.“

Begeisternde Perspektiven

Die Kongresse der IKS sind für die Gesamtheit der Mitglieder immer Momente der Begeisterung. Wie könnte es auch anders sein, wenn Militante aus drei Kontinenten und aus 13 Ländern zusammen kommen, die alle von den gleichen Überzeugungen beseelt sind und nun alle Aspekte der Perspektiven der historischen Bewegung des Proletariats diskutieren? Doch der 16. Kongress war noch begeisternder als die meisten der früheren.

Fast die Hälfte ihres dreissigjährigen Bestehens der IKS fiel in eine Zeit, in welcher das Proletariat unter einem Rückfluss seines Bewusstseins litt, unter einer Erstickung seiner Kämpfe und einem Versiegen beim Hervortreten neuer militanter Kräfte. Während mehr als einem Jahrzehnt galt in der Organisation die Durchhalteparole. Dies war eine schwierige Prüfung, und eine ganze Anzahl von ihren „alten“ Militanten bestanden sie nicht (insbesondere diejenigen, welche die IFIKS bildeten, und jene, die den Kampf während der Krisen, die wir in dieser Zeit durchmachten, aufgaben).

Heute, wo die Perspektive aufheitert, können wir sagen, dass die IKS insgesamt diese Probe bestanden hat. Und sie ist gestärkt daraus hervorgegangen. Sie hat sich politisch verstärkt, worüber sich die Leser und Leserinnen unserer Presse selber ein Urteil bilden können (und wir erhalten je länger je mehr ermunternde Briefe von ihnen). Aber auch numerisch hat sie sich verstärkt, denn schon heute ist die Zahl der Neubeitritte grösser als diejenige der Austritte, die wir mit der Krise von 2001 erlebten. Und bemerkenswert ist, dass eine bedeutende Anzahl von diesen neuen Mitgliedern junge Leute sind, die nicht die Verbildung erleiden und überwinden mussten, die die Mitgliedschaft in linksbürgerlichen Organisationen nach sich zieht. Junge Leute, deren Dynamik und Begeisterung hundertfach die müden und verbrauchten „militanten Kräfte“ ersetzt, die uns verlassen haben.

Diese Begeisterung, die am 16. Kongress zu spüren war, hatte ein klares Bewusstsein. Sie hatte nichts mit der trügerischen Hochstimmung zu tun, die andere Kongresse unserer Organisation mitgerissen hatte (eine Euphorie, die besonders häufig bei jenen anzutreffen war, die uns mittlerweile verlassen haben). Nach 30 Jahren des Bestehens hat die IKS (manchmal schmerzhaft) gelernt, dass der Weg zur Revolution keine Autobahn ist, sondern vielmehr manche Windung aufweist, voller Hinterhalte und Fallen ist, die die herrschende Klasse ihrem Todfeind, der Arbeiterklasse, aufstellt, um sie von ihrem historischen Ziel abzulenken.[4] Die Mitglieder unserer Organisation wissen heute sehr gut, dass es nicht einfach ist, Militante oder Militanter zu sein; dass es nicht nur eine feste Überzeugung, sondern auch viel Selbstlosigkeit, Hartnäckigkeit und Geduld verlangt.

Das Bewusstsein über die Schwierigkeiten unserer Aufgabe soll uns nicht entmutigen. Es ist vielmehr ein zusätzlicher Aspekt unserer Begeisterung. In letzter Zeit steigt die Zahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen an unseren öffentlichen Veranstaltungen spürbar, und wir erhalten je länger je mehr Briefe aus Griechenland, Russland, Moldavien, Brasilien, Argentinien und Algerien, in denen Kontakte direkt fragen, wie sie der Organisation beitreten können, oder vorschlagen, eine Diskussion zu beginnen oder ganz einfach nach Publikationen fragen – alles jeweils mit einer militanten Sorge. All diese Zeichen erlauben es uns davon auszugehen, dass es eine Ausbreitung von kommunistischen Positionen auch in denjenigen Ländern gibt, wo die IKS noch keine Sektion hat, oder lässt sogar die Hoffnung auf die Gründung neuer Sektionen in diesen Ländern zu. Wir heissen diese Genossinnen und Genossen, die sich den kommunistischen Positionen und unserer Organisation zuwenden, willkommen. Wir rufen ihnen zu: „Ihr habt eine gute Wahl getroffen, die einzig mögliche, wenn ihr im Sinn habt, euch in den Kampf für die proletarische Revolution einzureihen. Aber es ist keine einfache Wahl: Ihr werdet nicht sofort Erfolg ernten, ihr werdet Geduld und Hartnäckigkeit brauchen und lernen müssen, nicht aufzugeben, wenn die erreichten Resultate noch nicht den gehegten Hoffnungen entsprechen. Aber ihr seid nicht allein: Die Militanten der IKS sind an eurer Seite und sie sind sich der Verantwortung bewusst, die eure Annäherung ihnen auferlegt. Ihr Wille, der am 16. Kongress zu Ausdruck kam, ist, auf der Höhe dieser Verantwortung zu sein.“

 

IKS, 2.07.2005


[1] Ein vollständigerer Bericht über die Arbeit des Kongresses wurde in International Review 122 (engl./frz./span. Ausgabe) veröffentlicht.

[2] Die so genannte “interne Fraktion der IKS”, bestehend aus ehemaligen, langjährigen Mitgliedern unserer Organisation, die sich zunächst wie hysterische Fanatiker auf der Suche nach Sündenböcken, später wie Schurken und schliesslich wie Spitzel benahmen.

[3] s. unseren Artikel „Der Nucleo Comunista Internacional, Eine Episode im Streben des Proletariats nach Bewusstsein“, in: Internationale Revue Nr. 35.

[4] Oder besser gesagt: wieder gelernt, da es sich dabei um eine Lehre handelt, derer sich die kommunistischen Organisationen der Vergangenheit sehr bewusst waren, insbesondere die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken, auf welche sich die IKS bezieht.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [25]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [16]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [17]

Die Attentate vom 7. Juli in London und der wilde Streik der Beschäftigten auf dem Londoner Flughafen am 11. August 05

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Welche Zukunft für die Menschheit? Imperialistischer Krieg oder Klassensolidarität?

1867 stellte Marx im Vorwort der ersten Ausgabe des berühmten „Kapital“ fest, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Grossbritannien, der fortgeschrittensten Industrienation, das Vorbild für die Entwicklung des Kapitalismus in allen anderen Ländern darstellte. Grossbritannien war das „führende Land“ bezüglich der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Ab dieser Zeit beherrschte das aufstrebende kapitalistische System zunehmend die ganze Welt. Hundert Jahre später, 1967, befand sich Grossbritannien erneut in einer bedeutenden symbolischen und wegweisenden Situation, und zwar mit der Entwertung des Sterlings – doch diesmal während des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise und angesichts ihres zunehmenden Scheiterns. Die Ereignisse vom Sommer 2005 in London haben gezeigt, dass Grossbritannien erneut ein Indikator für die Lage des Weltkapitalismus darstellt. Dieser Sommer in London war einerseits geprägt von den imperialistischen Spannungen, konkret einem tödlichen Konflikt zwischen den verschiedenen Nationalstaaten, und andererseits vom internationalen Klassenkampf, konkret vom Konflikt zwischen den zwei entscheidenden Klassen der Gesellschaft: der Bourgeoisie und dem Proletariat.

Die Anschläge vom 7. Juli in London wurden von Al Kaida als Rache für die Beteiligung britischer Truppen an der Besetzung des Iraks in Anspruch genommen. An diesem Dienstagmorgen, als die Explosionen zu einer Stosszeit des öffentlichen Verkehrs erfolgten, erinnerte dies die Arbeiterklasse erneut brutal daran, dass sie diejenige ist, welche im Kapitalismus den Kopf hinhalten muss. Nicht nur durch Lohnarbeit und die sich ausbreitende Armut, sondern auch mit ihrem Fleisch und Blut. Die vier Bomben in der Londoner U-Bahn und in einem Bus haben 52[1] Arbeiter, meist junge, getötet und Dutzende verstümmelt und traumatisiert. Doch diese Attentate haben eine viel weiterreichende Auswirkung gehabt. Sie vermittelten Millionen von Arbeitern die Botschaft, dass ihre nächste Fahrt zur Arbeit, oder diejenige ihrer Freunde und Angehörigen, möglicherweise die letzte in ihren Leben ist. All die Sympathieparolen der Regierung Blair, des Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone (Repräsentant des linken Flügels der Labour Party), der Medien und Chefetagen waren kaum zu übertreffen. Doch mit den Schlagworten „Wir beugen uns nicht vor den Terroristen“ und „London bleibt einig“ versuchte die herrschende Klasse lediglich zu vermitteln, dass das Business weiterlaufen solle, als wäre nichts gewesen. Die Arbeiter müssten eben das Risiko weiterer Explosionen in den Verkehrsmitteln in Kauf nehmen, wenn sie weiterhin von ihrem „bisherigen Lebensstandard“ profitieren wollen.

 

Der Imperialismus erschüttert das Herz des Kapitalismus

 

Diese Anschläge waren die blutigsten gegen die Zivilbevölkerung Londons seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich mit der imperialistischen Schlächterei von 1939–45 ist mehr als gerechtfertigt. Die Anschläge von London, welche auf den 11. September in New York und den März 2004 in Madrid folgten, zeigen, dass der Imperialismus „zurückschlägt“, und zwar in seine wichtigsten Metropolen.

Es dauerte jedoch nicht wirklich 60 Jahre, bis erneut militärische Anschläge gegen die Bewohner Londons erfolgten. Die Stadt war ab 1972 während beinahe 20 Jahren Ziel von Bomben der „Provisionals“ der IRA.[2] Die Bevölkerung hatte damit schon einen Vorgeschmack des imperialistischen Terrors erhalten. Doch die Grausamkeiten vom 7. Juli 2005 sind keine simple Wiederholung dieser Erfahrungen: Sie wiederspiegeln eine verschärfte Bedrohung und sind Ausdruck der aktuellen, mörderischen Phase des imperialistischen Krieges.

Selbstverständlich waren die terroristischen Attentate der IRA ein Vorläufer der Barbarei der Anschläge von Al Kaida. Sie waren schon ein Zeichen für die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkende Tendenz, den Terror gegen die Zivilbevölkerung immer mehr zur bevorzugten Methode des imperialistischen Krieges werden zu lassen.

Dennoch, während der meisten Zeit der IRA-Attentate war die Welt noch in zwei imperialistische Blöcke unter der jeweiligen Kontrolle der USA und Russlands aufgeteilt. Diese Blöcke steuerten mehrheitlich die zweitrangigen, isolierten imperialistischen Konflikte zwischen einzelnen Staaten im selben Lager, wie denjenigen zwischen Irland und Grossbritannien im amerikanischen Block. Der amerikanische Block konnte und durfte nicht zulassen, dass ein solcher Konflikt ein Ausmass annahm, welches die militärische Hauptfront gegenüber dem Rivalen Russland und seinen Satelliten schwächen würde. In Wahrheit waren (und blieben) die Kampagnen der IRA mit dem Ziel, Grossbritannien aus Nordirland zu verjagen, von der finanziellen Unterstützung der USA an die IRA abhängig. Die terroristischen Anschläge der IRA in London stellten zur damaligen Zeit in den Metropolen der hochentwickelten Länder eine Ausnahme dar. Hauptbühne der imperialistischen Auseinandersetzung zwischen den zwei Blöcken durch ihre stellvertretenden Nationen war vielmehr die Peripherie: Vietnam, Afghanistan, Naher Osten.

Die Opfer der IRA waren ebenfalls wehrlose Zivilisten, doch folgten die Ziele dieser Bomben – ausserhalb Irlands – im Allgemeinen einer eher klassischen imperialistischen Logik. Es waren militärische Anlagen wie die Chelsea Barracks 1981 oder der Hyde Park 1982,[3] welche ausgewählt wurden, oder Symbole der wirtschaftlichen Macht wie Bishopsgates in der Londoner City[4] und Canary Wharf 1996.[5] Im Gegensatz dazu sind die Anschläge der Al Kaida auf öffentliche Transportmittel symptomatisch für eine gefährlichere imperialistische Situation auf Weltebene und typisch für die neue internationale Tendenz. Diese ist ein Resultat der Situation, dass es keine imperialistischen Blöcke mehr gibt, welche eine gewisse Ordnung über den kapitalistischen Militarismus bewahren. „Jeder für sich“ ist das Leitmotiv des Imperialismus geworden, gewalttätig und unerbittlich angeführt von den USA in ihrem Bestreben, die Kontrolle über den Globus aufrecht zu erhalten. Die selbstherrliche Strategie Washingtons, vor allem bei der Invasion und Besetzung des Iraks, hat dieses militärische Chaos lediglich zugespitzt. Der ansteigende weltweite Einfluss von Al Kaida und anderen Kriegsherren des Imperialismus im Nahen Osten ist das Produkt dieser alltäglich gewordenen imperialistischen Querelen, über welche die führenden Staaten die Kontrolle verlieren, weil sie alle gegeneinander arbeiten. Die Grossmächte, inklusive Grossbritannien, haben selber aktiv an der Entfaltung des Terrorismus mitgewirkt, in dem sie ihn selber benutzten und manipulierten, um Profit daraus zu schlagen.

Der britische Imperialismus war gezwungen, sich an der amerikanischen Invasion im Irak zu beteiligen. Er erhoffte sich, seine eigenen Interessen in der Region verteidigen und sein Ansehen als gewichtige militärische Macht aufrechterhalten zu können. Indem zur Rechtfertigung einer Beteiligung an der amerikanischen „Koalition“ mit dem berühmten Dossier über die angeblichen Massenvernichtungswaffen der Weg geebnet wurde, spielte der britische Imperialismus seine eigene Rolle, um den Irak in das blutige Chaos zu stürzen. Der britische Staat hat auch die terroristische Kampagne der Al Kaida gegen den westlichen Imperialismus genährt. Sicherlich hat dieser terroristische Feldzug schon vor der Invasion des Irak begonnen, und es sind die Grossmächte, welche ihn zum Leben erweckt hatten. Konkret hat Grossbritannien, genau wie die USA, in den 80er Jahren die Guerilla von Bin Laden geschult und bewaffnet, um die russische Besatzung Afghanistans zu bekämpfen.

Nach dem 7. Juli haben die wichtigsten „Verbündeten“ Grossbritanniens (in Wirklichkeit seine Rivalen) sich nicht gescheut, die Kapitale des Landes als „Londonistan“ zu bezeichnen – ein Refugium für verschiedene radikale islamistische Gruppen, die in Verbindung mit den Terrororganisationen des Nahen Ostens stünden. Der britische Staat hatte sie auf seinem Boden toleriert und gewisse Figuren beschützt in der Hoffnung, sie im Nahen Osten für seine eigenen Zwecke gegen die anderen „verbündeten“ Grossmächte einsetzen zu können. So hat Grossbritannien zum Beispiel 10 Jahre lang den Antrag Frankreichs auf Auslieferung Rachid Ramdas abgeschlagen, der im Zusammenhang mit den Bombenanschlägen auf die Pariser Metro verdächtigt wird! Die Zentralbehörde des französischen Nachrichtendienstes (laut International Herald Tribune vom 9.8.2005) unterliess es im Gegenzug, ihren britischen Kollegen den Rapport ihres Geheimdienstes vom Juni zukommen zu lassen, in dem über ein geplantes Bombenattentat pakistanischer Al-Kaida-Sympathisanten in London berichtet wurde.

Die imperialistische Politik Grossbritanniens hat mit ihren „Prinzipien“ – „Lasst sie auf die Anderen los, bevor sie uns an den Kragen gehen“ – lediglich die terroristischen Attentate auf eigenem Boden geschürt.

In der gegenwärtigen Phase ist der Terrorismus keine Ausnahme mehr im Krieg zwischen Staaten, sondern zur bevorzugten Methode geworden. Die Ausbreitung des Terrorismus geht grösstenteils einher mit dem Verschwinden stabiler Bündnisse zwischen den imperialistischen Mächten und ist charakteristisch für eine Zeit, in welcher jeder Staat versucht, den Einfluss der anderen zu untergraben und zu sabotieren.

In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Geheimdienstaktionen und des psychologischen Krieges durch die mächtigsten imperialistischen Staaten nicht zu unterschätzen, wenn es darum geht, die Rivalen eines bestimmten Staates vor dessen Bevölkerung zu diskreditieren und damit die militärischen Operationen vorzubereiten. Auch wenn keine offiziellen Beweise vorliegen – die wohl auch kaum jemals auftauchen werden – gibt es starke Vermutungen, dass das Attentat auf die Twin Towers und dasjenige gegen die Wohnblöcke in Moskau, die beide jeweils für die USA und Russland die Türe für ein militärisches Abenteuer geöffnet haben, unter Mitwirkung der eigenen Geheimdienste zustande kamen. Auch der britische Imperialismus ist keineswegs ein Unschuldslamm. Sein verdecktes Engagement auf beiden Seiten des terroristischen Konfliktes in Nordirland ist wohlbekannt, so auch die Präsenz seiner Agenten innerhalb der „Real IRA“, der Organisation, die sich zum Attentat von Omagh bekannte.[6] Kürzlich, im September 2005, wurden zwei Mitglieder der SAS (der britischen Sondereinheiten) in Basra von der irakischen Polizei festgenommen, weil sie, laut einigen Journalisten, ein terroristisches Attentat ausführen wollten.[7] Diese Geheimagenten wurden später durch einen Überfall britischer Truppen auf das Gefängnis, in dem sie inhaftiert waren, befreit. Betrachtet man solche Ereignisse, so liegt der Gedanke auf der Hand, dass der britische Imperialismus selber in die tagtägliche Schlächterei im Irak involviert ist: mit der Absicht, seine eigene „stabilisierende“ Präsenz als Besatzungsmacht zu rechtfertigen. Es ist der britische Imperialismus selber, welcher als erster unter den alten Kolonialmächten das Prinzip des „Teile und Herrsche“ einführte, das man im Irak erneut hinter seiner Taktik des Terrors erkennen kann.

Die sich zuspitzende Tendenz zum Einsatz des Terrorismus innerhalb imperialistischer Konflikte trägt alle Zeichen der letzten Phase des niedergehenden Kapitalismus, der Phase des sozialen Zerfalls und der mangelnden langfristigen Perspektive.

Bezeichnend für diese Situation ist, dass die Attentate vom 7. Juli von Kamikazes britischer Herkunft ausgeführt wurden, die in Grossbritannien geboren und aufgewachsen waren. Diese Attentate offenbaren eine selbstzerstörerische Irrationalität, die zunehmend auch im „Herzen“ des Kapitalismus vor allem unter jungen Leuten ihre Früchte treibt. Ob der britische Staat selbst auch in die Attentate verwickelt war, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden.

Die willkürliche Grausamkeit des imperialistischen Krieges schlägt somit zurück in die kapitalistischen Kernländer, in Sektoren mit der höchsten Konzentration der Arbeiterklasse. New York, Washington, Madrid, London: Zielscheiben sind nicht mehr ausschliesslich Drittweltländer, sondern zunehmend Industriemetropolen. Und die Ziele sind nicht mehr ausdrücklich wirtschaftlicher oder militärischer Natur. Vielmehr geht es um die grösstmögliche Zahl an Zivilopfern.

Schon in den 90er Jahren zeigte sich in Ex-Jugoslawien dieser tendenzielle Rückschlag des imperialistischen Krieges in die kapitalistischen Kernländer. Dann traf es Spanien und jetzt Grossbritannien. 

Der Terror des bürgerlichen Staates

Im Juli 2005 wurde die Londoner Bevölkerung von der tödlichen Bedrohung durch terroristische Attentate getroffen. Dabei ist es aber nicht geblieben. Am 22. Juli wurde an der U-Bahnstation Stockwell ein junger brasilianischer Elektriker, Jean Charles de Menezes, auf dem Weg zu seiner Arbeit von der britischen Polizei mit acht Schüssen hingerichtet. Nach offizieller Erklärung hatte ihn die Polizei für einen Selbstmordattentäter gehalten. All dies geschah in einem Land, indem die Polizei ihr integres Bild von Scottland Yard als Garanten für die demokratische Gemeinschaft, für den Frieden und als Hüter der Bürgerrechte pflegt. Dazu passte der nette „Bobby“ von nebenan, der alten Damen über die Strasse hilft. Aber in Wirklichkeit – und dies wurde durch diese jüngsten Ereignisse offensichtlich – unterscheidet sich die britische Polizei nicht grundsätzlich von derjenigen irgendwelcher Diktaturen der so genannten Dritten Welt, wo „Todesschwadronen“ ohne Umschweife für Staatsinteressen eingesetzt werden. In offiziellen Erklärungen wurde die Ermordung von Jean Charles als tragischer Irrtum bezeichnet. Tatsächlich aber erhielten die bewaffneten Einheiten der U-Bahnpolizei seit dem 7. Juli die Anweisung, auf jeden Kamikazeverdächtigen zu „schiessen um zu töten“. Und sogar nach der Ermordung von Jean Charles wurde diese Politik weiterhin energisch verteidigt. Da es aber nahezu unmöglich ist, einen Kamikaze vor der Sprengstoffzündung zu identifizieren oder sich ihm anzunähern, ist die Polizei durch eine derartige Anweisung ermächtigt, auf irgendwelche Personen zu schiessen, und zwar eigentlich ohne Warnung. Unbestreitbar erlaubten die höchsten Etagen der britischen Polizei solche „tragischen Fehler“, in ihrem Verständnis unvermeidbare Nebenwirkungen auf dem Weg zu einer stärkeren Staatsmacht.

Die Ermordung von Jean Charles ist daher kaum als tragischer Unfall zu verstehen. Sie muss im Zusammenhang mit der Funktion des Staates und seiner Repressionsorgane betrachtet werden: Diese Funktion besteht nicht wie vorgegeben im Schutz der Bevölkerung, und der Staat steht auch nicht vor der angeblich schwierigen Wahl zwischen der Verteidigung seiner Bürger und dem Schutz seiner Rechte. In Wahrheit ist die Hauptfunktion des Staates eine andere: die Verteidigung der herrschenden Ordnung für die Interessen der Herrschenden. Das heisst vor allem, dass der Staat sein Monopol der bewaffneten Macht erhalten und zum Ausdruck bringen will. Besonders wichtig ist dies in Kriegszeiten aufgrund der Notwendigkeit, die Staatsmacht zur Schau zu stellen und Repressionsakte durchzuführen. Die Antwort des britischen Staates auf Attentate wie jene vom 7. Juli ist daher vor allem eine Machtdemonstration. Die angebliche Aufgabe, die Verteidigung der Bevölkerung, ist sowieso nur für eine kleine Minderheit hoher Funktionäre realisierbar. Die Demonstration des staatlichen Gewaltmonopols ist ein absolutes Muss, soll die Unterwerfung der eigenen Bevölkerung gesichert und den anderen Staaten Respekt eingeflösst werden. Unter solchen Umständen ist die Verhaftung der wirklichen Täter und Kriminellen nebensächlich oder hat sogar mit dem Hauptanliegen des Staates nichts zu tun.

An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Attentaten der IRA 1974 hilfreich. Infolge dieser Attentate gegen Pubs in Birmingham und Guildford[8] hatte die Polizei zehn verdächtige Iren festgenommen. Die Verhafteten wurden zu falschen Geständnissen gezwungen, willkürliches Material wurde in Beweisstücke gegen sie verwandelt und schliesslich wurden sie zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Erst fünfzehn Jahre später gestand die Regierung einen „tragischen Justizirrtum“ ein. Solche Beispiele lassen darauf schliessen, dass diese Massnahmen doch eher Repressalien gegen die „fremde“ und „feindliche“ Bevölkerung sind.

Der 22. Juli hat gezeigt, welche Realität sich hinter der demokratischen und humanitären Fassade des Staates verbirgt – einer Fassade, die in Grossbritannien sehr gut bestückt ist. In seiner Hauptrolle als Zwangsapparat kann der Staat nicht für die Mehrheit der Bevölkerung oder an ihrer Stelle handeln, sondern nur gegen sie.

Das eben Gesagte findet seine Bestätigung in einer ganzen Reihe „antiterroristischer“ Massnahmen, welche von der Regierung Blair im Zuge der Attentatsserie beantragt wurden. Derartige Massnahmen sind gegenüber dem islamischen Terrorismus chancenlos, sie dienen einzig der verschärften Staatskontrolle über die Bevölkerung als Ganzes: die Einführung der Identitätskarte; eine zeitlich unbegrenzte Politik des „Schiessens um zu töten“; Kontrollweisungen, die zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung führen; die offizielle Anerkennung der Überwachung von Telefongesprächen und Internet; eine dreimonatige Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklage; Spezialgerichte, wo Zeugenaussagen hinter verschlossenen Türen und ohne Geschworene erzwungen werden.

Die terroristischen Attentate vom letzten Sommer wurden also vom britischen Staat als Vorwand benutzt, um – wie schon oftmals zuvor – seinen Repressionsapparat zu verstärken. Dieser Ausbau dient der Vorbereitung eines viel allgemeineren und wichtigeren Angriffs gegen einen viel gefährlicheren Staatsfeind: das wieder erstarkende Proletariat.

Die Antwort der Arbeiter

Anders als am 7. Juli blieben am 21. Juli offiziell nur die U-Bahnlinien Victoria und Metropolitan geschlossen. Tatsächlich aber waren wegen Arbeiterprotesten auch die Linien Bakerloo und Northern geschlossen. Die Fahrer hatten sich wegen der unsicheren Lage und mangelnden Sicherheitsgarantien geweigert, ihre Arbeit fortzusetzen. Dieser Protest war immerhin ein punktueller Ausdruck einer längerfristige Perspektive zur Lösung dieser unerträglichen Situation: Die Arbeiter müssen ihre Sache in die eigenen Hände nehmen. Aber die Gewerkschaften reagierten auf dieses Aufflammen der Klasseneigenständigkeit ebenso schnell wie die Notdienste auf die Attentate. Unter gewerkschaftlicher Führung mussten die Fahrer ihre Arbeit wieder aufnehmen, bis dass die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Leitung zu einer Vereinbarung kommen würden. Die Gewerkschaftsseite versicherte zwar, dass jeder Fahrer in seiner Arbeitsverweigerung unterstützt würde – das hiess jedoch nichts anderes, als dass er seinem eigenen Schicksal überlassen wurde.

In den ersten Augustwochen nahm der Widerstand der Arbeiter grössere Ausmasse an: Auf dem Londoner Flughafen Heathrow begann ein wilder Streik, ausgelöst von den Angestellten des Catering-Unternehmens Gate Gourmet, das die Mahlzeiten für British Airways zubereitet. Schnell griff der Streik auf andere Beschäftigte über und löste bei den Gepäckarbeitern von British Airways eine spontane Solidaritätsaktion aus. Etwa 1.000 Arbeiter beteiligten sich insgesamt an dieser Aktion. British Airways musste zusehen, wie ihre Flugzeuge während mehreren Tagen am Boden stehen blieben. Weltweit wurden Bilder von massenhaft gestrandeten und blockierten Passagieren ausgestrahlt.

Der Ungehorsam der Arbeiter und ihre Anknüpfung an die Taktik des Solidaritätsstreiks wurden von den britischen Medien scharf verurteilt. Die Arbeiter hätten angeblich wissen müssen, dass derartige Solidaritätsaktionen „veraltet“ sind, dass nach einstimmiger Meinung der „Experten“ (Juristen und andere Spezialisten der Arbeitswelt) solche Aktionen gänzlich den Geschichtsbüchern angehören und daher auch als illegal erklärt wurden.[9] Indem die Medien die schädlichen Folgen für die Passagiere hervorhoben, versuchten sie den beispielhaften Mut dieser Arbeiter herabzusetzen.

Im Übrigen war von den Medien auch ein etwas versöhnlicherer Ton zu vernehmen, jedoch nicht minder feindlich gegenüber der Sache der Arbeiter. Dabei wurde der Flughafenstreik als ein Resultat der rücksichtslosen Taktik der amerikanischen Eigentümer von Gate Gourmet dargestellt. Diese hatten per Lautsprecher den Arbeitern mit massiven Kündigungen gedroht. Der Streik sei also Ausdruck eines Irrtums gewesen. Er sei die Antwort auf ein unfähiges Management gewesen; die Streikaktionen seien demzufolge eine Ausnahmeerscheinung im Gange der regulären und zivilisierten Industrieverhältnisse und der Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Geschäftsführung, die im Normalfall solche Solidaritätsaktionen überflüssig werden liessen. Tatsächlich aber liegt die Hauptursache des Streiks nicht in der Arroganz des kleinen Arbeitgebers. An der brutalen Taktik von Gate Gourmet ist nichts Aussergewöhnliches. Nennen wir nur ein Beispiel unter vielen: Auch Tesco, die grösste und rentabelste Supermarktkette in Grossbritannien hat erst kürzlich angekündigt, dass Absenztage aus Krankheitsgründen zukünftig unbezahlt bleiben. Ebenso sind massive Entlassungen keineswegs ein typisches Zeichen fehlender gewerkschaftlicher Aktivität. Die Zeilen der International Herald Tribune vom 19.8.2005 enthalten folgende Meinung von Sophie Greenyer, Mediensprecherin von British Airways. „Sie sagte, dass es dem Unternehmen im Laufe der Vergangenheit dank der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gelungen ist, sowohl die Anzahl Arbeitsplätze als auch Kosten zu senken. British Airways hat in den letzten drei Jahren 13.000 Stellen gestrichen und seine Kosten um 850 Millionen Sterling vermindert. ‚Wir haben es geschafft, in vernünftiger Weise mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, um diese Ersparnisse zu erreichen’, meinte sie.“

Das Ziel, die Betriebskosten zu senken, hatte British Airways dazu veranlasst, die Gehälter und Lebensbedingungen der Angestellten zu verschlechtern. Gate Gourmet seinerseits wollte es mit bedachten Provokationen möglich machen, gegenwärtige Angestellte durch Arbeitskräfte aus dem osteuropäischen Raum zu ersetzen, welche zu noch tieferen Löhnen und schlechteren Bedingungen arbeiten.

Die von British Airways angestrebten Kostensenkungen sind nichts Aussergewöhnliches. Im Gegenteil: Sei es in der Luftfahrt oder in einem anderen Sektor, die verschärfte Konkurrenz aufgrund zunehmender Marktsättigung ist die normale Antwort des Kapitalismus auf eine sich zuspitzende Wirtschaftskrise.

Der Streik in Heathrow war also kein Zufall, sondern ein Beispiel des Verteidigungskampfes der Arbeiter gegen die zunehmenden Angriffe der Bourgeoisie insgesamt. Der Kampfeswille der Arbeiter ist aber nicht der einzige Aspekt von Belang in diesem Streik. Noch wichtiger sind die illegalen Solidaritätsaktionen anderer Teile der Flughafenbeschäftigten. Diese Arbeiter setzten nämlich ihre eigene Existenzgrundlage aufs Spiel, indem sie den Kampf ausdehnten.

Diese Solidaritätsbekundung war zwar von kurzer Dauer und blieb embryonal. Aber angesichts der von der Bourgeoisie als Antwort auf die Attentate erzeugten Atmosphäre der nationalen Unterordnung war dieser Solidaritätsausdruck dennoch ein kontrastreicher Lichtblick. Zumindest wurde bestätigt, dass sich die Londoner Bevölkerung nicht mehr nur demütig den Interessen des imperialistischen Krieges unterordnet. Zeiten wie 1940, als die nächtlichen „Blitz“-Bombardierungen der deutschen Luftwaffe passiv erduldet wurden, sind vorbei.

Der Streik von Heathrow ist vielmehr Teil einer ganzen Reihe von Arbeitskämpfen seit 2003, die in verschiedenen Erdteilen aufflackerten, so z.B. die Solidaritätsaktion der Arbeiter von Opel in Deutschland oder der Angestellten von Honda in Indien.[10] Nach einer langen, von Desorientierung geprägten Phase seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 findet die weltweite Arbeiterklasse nun ganz langsam und fast unmerklich ihre Kraft wieder. Allmählich tastet sich das Proletariat zu einer deutlicheren Klassenperspektive vor.

Die Schwierigkeiten, welche mit der Entwicklung dieser Perspektive verbunden sind, zeigten sich schnell durch die Sabotage der Gewerkschaften an der Solidaritätsaktion in Heathrow. Die Transport and General Worker’s Union setzte dem Streik der Gepäckarbeiter ein schnelles Ende und die von Gate Gourmet entlassenen Arbeiter sahen sich schliesslich gezwungen, den Ausgang der verlängerten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmensführung abzuwarten.

Trotzdem bleibt dieses Zeichen vom mühevollen Wiedererstarken des Klassenkampfes in Grossbritannien von grosser Bedeutung. Denn die englische Arbeiterklasse hat eine längere Zeit der Kampfesschwäche hinter sich. Nach der Konjunktur der Klassenkämpfe des englischen Proletariats 1979 mit dem massiven Streik im öffentlichen Sektor und 1984/85 mit dem Streik der Bergarbeiter folgte eine längere Zeit der Kampfesschwäche. Die englische Arbeiterklasse litt stark unter der Niederlage der oben genannten Streiks von 1984/85, und diese Situation wurde von der Regierung Thatcher bis aufs Äusserste ausgenutzt, indem unter anderem Solidaritätsstreiks als illegal erklärt wurden. Daher ist das Wiederaufkommen von solchen Streiks in Grossbritannien mehr als erfreulich.

Grossbritannien war nicht nur das erste kapitalistische Land. In Grossbritannien zeigten sich auch die ersten Ausdrücke einer weltweiten Arbeiterklasse und ihre ersten politischen Organisationen in Form der Chartisten; in Grossbritannien befand sich auch der Sitz des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation. Heute ist Grossbritannien nicht mehr die Drehachse der Weltwirtschaft, spielt aber noch immer eine Schlüsselrolle in der Weltindustrie. Der Flughafen Heathrow ist der grösste Flughafen der Welt. Die britische Arbeiterklasse hat weiterhin ein bedeutendes Gewicht im weltweiten Klassenkampf.

In Grossbritannien wurde im vergangenen Sommer die politische Situation auf Weltebene aufgedeckt: auf der einen Seite die Tendenz des Kapitalismus zu immer schärferer Barbarei und Chaos, wo es keinen Platz für gesellschaftliche Werte gibt; auf der anderen Seite hat der Flughafenstreik in London zumindest für eine kurze Zeit gezeigt, dass andere gesellschaftliche Prinzipien durchaus existieren, Prinzipien, die auf der unbeschränkten Solidarität der Produzenten gründen – Prinzipien des Kommunismus.

 

                                               Como


[1] Ohne die vier Kamikaze-Attentäter, die sich in die Luft gejagt haben.

[2] Die „IRA-Provisionals“ nannten sich so, um sich von der sogenannten „offiziellen IRA“ zu unterscheiden, von der sie sich getrennt hatten. Die „offizielle IRA“ spielte im Bürgerkrieg in Nordirland ab den 70er Jahren keine wesentliche Rolle.

[3] Chelsea Barracks ist eine Kaserne mitten in London, in welcher damals das Regiment der Irish Guards stationiert war. Das Attentat im Hyde Park richtete sich gegen eine Militärparade der königlichen Garde.  

[4] Die Londoner City ist das Finanzzentrum, mit einer Fläche von ca. einem Quadratkilometer in Central London, einem Teil von Gross-London. Canary Wharf ist ein Wolkenkratzer, Symbol für das neue Geschäftsquartier, das in den alten Londoner Hafenanlagen errichtet wurde.   

[5] Eines der mörderischsten Attentate der IRA – gegen das Arndale-Handelszentrum im Zentrum von Manchester 1996 – in einer Zeit, in der die IRA vor allem als Instrument der amerikanischen Bourgeoisie diente, um die britischen Versuche nach einer selbständigeren imperialistischen Politik einzudämmen – gehört schon in die Epoche des Chaos, in der auch die Al Kaida gross geworden ist. 

[6] Die „Real IRA“ ist eine Abspaltung der IRA, die sich auf die Fortführung des Kampfes gegen die Briten beruft. Die Gruppe war verantwortlich für einen Bombenanschlag in der Stadt Omagh in Nordirland, bei dem am 15. August 1998 29 Zivilisten getötet wurden.  

[7] Siehe die Internetseite: http//www.prisonplanet.com/articles/september2005/270905plantinbombs.html [27].

[8] Die Begründung für diese Attentate lautete, dass die betroffenen Pubs vor allem von Militärangehörigen besucht worden seien.

[9] In Grossbritannien sind Solidaritätsstreiks tatsächlich illegal. Ein entsprechendes Gesetz wurde unter der Regierung Thatcher in den 80er Jahren eingeführt und findet seine Fortsetzung unter der Labour-Regierung Blair.

[10] s. den Artikel auf unserer Website veröffentlicht von der indischen Sektion der IKS: welt/132_indien

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [25]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [16]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [28]

Jahresfeiern zum II. Weltkrieg: Kapitalistische Barbarei und ideologische Manipulationen

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Der Frühjahr dieses Jahres stand, besonders in Deutschland, ganz im Zeichen der Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der sog. Befreiung vom Hitlerfaschismus. Alle bürgerlichen Medien berichteten ausgiebig über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Fernsehsender übertrafen sich einander mit altem Filmmaterial über die einstigen Nazigrößen oder über den „Kampf um Berlin“. Spielfilme wie „Der Untergang“ u.a. schilderten plastisch die letzten Tage des Nationalsozialismus. Und in den Printmedien stritten sich bürgerliche Historiker über die Frage, wie es einem Parvenü wie Hitler gelingen konnte, ein ganzes Volk zu verführen.

Was uns angeht, so haben wir hier nicht die Absicht, in diesen vielstimmigen Chor der Antifaschisten mit einzustimmen – einem Chor, dessen hysterischer Refrain uns weismachen will, dass das „Dritte Reich“ sozusagen außerhalb der Geschichte stünde, dass es allein das Werk pathologischer Dämonen vom Schlage eines Hitlers, Goebbels oder Himmlers gewesen sei. Ganz im Gegenteil: wir wollen hier und heute unsere Meinung kundtun, dass das Hitlerregime und der angeblich von ihm allein angezettelte 2. Weltkrieg ganz in der Logik eines Gesellschaftssystems steht, das weltweit – und nicht nur in Deutschland – die Menschheit in die schlimmsten Formen der Barbarei geführt hat. Wir wollen hier und heute deutlich machen, dass der II. Weltkrieg keinesfalls außerhalb der blutigen Tradition des dekadenten Kapitalismus steht, die im I. Weltkrieg ihren Anfang genommen hat und noch heute, 60 Jahre nach dem Sieg der Alliierten über den deutschen Imperialismus, die Menschheit von einem Massaker ins nächste stürzt. Und wir wollen vor allem eins deutlich machen: Entgegen der Propaganda der bürgerlichen Demokraten wie auch der Stalinisten und Trotzkisten war der Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland kein Triumph der Humanität über die Bestialität eines quasi außerhalb der Geschichte stehenden Regimes. Vielmehr steht der 8. Mai 1945 für das (nur vorläufige) Ende eines imperialistischen Bandenkrieges, in dem beide Seiten, ob das verbrecherische Naziregime oder die unheilvolle Allianz zwischen Stalin, Roosevelt und Churchill, bedenkenlos Millionen von Menschen auf dem Altar ihrer imperialistischen Interessen opferten. Der II. Weltkrieg war, um es in einem Satz zu sagen, eine weitere Eskalation im Überlebenskampf des internationalen Kapitals, dessen historische Legitimation spätestens mit dem Ausbruch des I. Weltkrieges verwirkt war.

Ermöglicht wurde der II. Weltkrieg erst durch die blutige Niederschlagung des Proletariats, dem es durch seine revolutionäre Erhebung 1917/18 gelungen war, dem I. Weltkrieg ein Ende zu bereiten. Erst durch die Massakrierung des revolutionären Proletariats in Russland und Deutschland und durch die Enthauptung seiner revolutionären Elite wurde der Weg frei gemacht für die lange Nacht der Konterrevolution, deren schlimmster Alptraum der Triumph des Stalinismus in Russland und des Nationalsozialismus in Deutschland war und die erst mit dem Wiedererwachen der internationalen Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts ein Ende fand.

Uns geht es in dieser Veranstaltung nicht vornehmlich darum, die zweifellos barbarischen Untaten des Naziregimes zu thematisieren. Dies ist zu weiten Teilen und teilweise bis zum Erbrechen von den bürgerlichen Historikern getan worden. Und schon gar nicht wollen wir das Ausmaß des nationalsozialistischen Horrors verharmlosen oder gar negieren. Nur die ewiggestrigen Neonazis können so dummdreist sein, den Holocaust an den Juden durch die nazistische Vernichtungsmaschinerie zu leugnen. Uns geht es stattdessen darum:

·         dass bei allem Entsetzen über die Verbrechen der Nazis nicht der Blick darüber verloren geht, dass der Zynismus solcher Massenmörder wie Roosevelt, Churchill oder Stalin der Barbarei eines Hitlers, Himmlers oder Eichmanns in nichts nachstehen,

·         dass Erstere nicht nur Brüder im Geiste der Nazis, sondern auch faktisch deren Komplizen und Wegbereiter waren und

·         dass die einzig angemessene proletarische Reaktion darauf nicht die Parteinahme für die eine oder andere imperialistische Seite sein kann, sondern allein der bedingungslose internationalistische Kampf des Weltproletariats gegen alle imperialistischen Lager.

Ehe wir uns jedoch diesen Fragen zuwenden, ist es wichtig, festzuhalten, dass – wie wir bereits angedeutet haben – der II. imperialistische Weltkrieg eine weitere blutige Etappe des Kapitalismus in seine historische Sackgasse war. Ebenso wenig wie sein historischer Vorläufer, der Krieg 1914-18 zwischen dem imperialistischen Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm einerseits und den nicht minder imperialistischen Demokratien Großbritanniens, Frankreichs und der USA andererseits, lässt sich auch der Krieg des „Dritten Reichs“ gegen den Rest der Welt auf die simplen Kategorien von Angriffs- bzw. Verteidigungskriegen reduzieren. Bereits Franz Mehring stellte in seinem Artikel „Eine Schraube ohne Ende“ in der sozialdemokratischen Zeitschrift Die Neue Zeit sieben Jahre vor Ausbruch des I. Weltkrieges fest: „Das historische Wesen des Krieges hat (die Arbeiterklasse) aber erst in unvollkommener Weise begriffen, solange sie zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterscheidet und diesen Unterschied in irgendwelcher Weise zur Richtschnur ihrer praktischen Politik macht. Der Krieg ist nach dem bekannten Worte von Clausewitz die Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln; er ist die ultima ratio, der letzte Vernunftgrad, die unzertrennliche Begleiterscheinung der kapitalistischen wie jeder Klassengesellschaft; er ist die Entladung historischer Gegensätze, die sich dermaßen zugespitzt haben, dass es kein anderes Mittel mehr gibt, sie auszugleichen. Damit ist im Grunde schon gesagt, dass der Krieg mit Moral oder Recht überhaupt nichts zu schaffen hat (...) deshalb haben moralische oder rechtliche Gesichtspunkte, wie sie mit der Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen hervorgehoben werden, mit dem Kriege nichts zu tun. Jeder Krieg ist ein Angriffs- und ein Verteidigungskrieg, nicht etwa so, dass der eine der beiden Gegner angreift und der andere sich verteidigt, sondern so, dass jeder der beiden Gegner sowohl angreift als auch sich verteidigt.“

Was schon für die Kriege im aufsteigenden Kapitalismus galt, trifft auch und noch viel mehr auf die weltweiten Gemetzel im dekadenten Kapitalismus zu. Die Eröffnung des II. Weltkrieges durch Deutschland war nicht die Ausgeburt eines kranken Hirns, sondern schlicht eine Frage des Überlebens für den deutschen Imperialismus und die direkte Folge des I. Weltkrieges. Stranguliert durch die Auflagen des sog. Versailler Friedensvertrages, den die Siegermächte nach Ende des I. Weltkrieges ihm aufzwangen, und isoliert vom Weltmarkt, fristete er lange Zeit ein Pariadasein. Der einzige Ausweg für ihn bestand allein in einem neuerlichen Versuch, die Welt mit kriegerischen Mitteln neu aufzuteilen und neuen Lebensraum für sich selbst zu schaffen.

Dabei konnte sich der Nationalsozialismus als entschlossenster Vertreter des Kurses zum Krieg nicht nur der Unterstützung der deutschen Bourgeoisie sicher sein. Der Siegeszug der NSDAP, der 1933 schließlich zu ihrer Machtergreifung in Deutschland führte, wurde vom britischen Imperialismus – um es vorsichtig auszudrücken – mit Wohlwollen betrachtet. Ging es doch Großbritannien, dessen Machtpolitik stets darin bestand, die Großmächte auf dem europäischen Festland gegenseitig auszuspielen, darum, eine Gegenmacht zum aufstrebenden russischen Imperialismus unter Stalin zu etablieren. Und Letztgenannter scherte sich einen Teufel um die ideologischen Differenzen mit dem Hitlerfaschismus, als er in Gestalt des Hitler-Stalin-Paktes 1939 gemeinsame Sache mit dem deutschen Imperialismus bei der Aufteilung Polens machte.

Selbst in den USA, der Hauptkontrahent Deutschlands, gab es nicht unerhebliche Kreise in der Bourgeoisie, die offen ihre Sympathie für das nazistische Regime in Deutschland bekundeten.

Es war Rosa Luxemburg, die mehr als zwei Jahrzehnte vor Ausbruch des II. Weltkrieges feststellte, dass ein entfesselter Imperialismus zum „Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, (zu) Verödung, Degeneration“, ja zu einem „großen Friedhof“ führt. Nun, ihre Worte erwiesen sich angesichts der rund 60 Millionen Toten des II. Weltkriegs als geradezu prophetisch. Beschränkte sich im I. Weltkrieg der Blutzoll auf die Arbeiter in Uniform, also auf die Frontsoldaten, die zu Hunderttausenden dem Stellungskrieg in Verdun und an der Maas zum Opfer fielen, so erlaubte die sich rasant weiterentwickelnde Militärtechnologie dem Imperialismus, nun auch die Zivilbevölkerung millionenfach zu massakrieren. Dabei waren der Holocaust an den Juden und die Einäscherung Rotterdams und Coventrys durch Nazischergen und durch die deutsche Militärmaschinerie nur die eine Seite der Medaille. Wie wir bereits in unserem Artikel zum „60. Jahrestag der Befreiung der KZs, der Bombardierung Dresdens, Hiroshimas und der Kapitulation Deutschlands“ in der letzten Ausgabe der Weltrevolution geschildert haben, zeigten sich die Alliierten der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion in ihrer Menschenverachtung den nazistischen Massenmördern als durchaus ebenbürtig.

Selbst als die japanischen und deutschen Kriegsgegner militärisch schon am Boden lagen, ließen sie nicht davon ab, eine deutsche Stadt nach der anderen in wahre Feuerhöllen sowie Hiroshima und Nagasaki in radioaktive Wüsten zu verwandeln. Noch heute wollen sie uns weismachen, dass der Bombardierung Dresdens und dem Abwurf der beiden Atombomben auf Japan militärstrategische Erwägungen zu Grunde lagen. Dies ist eine glatte Lüge! Die Gründe für das von den Alliierten angerichtete Inferno unter der Zivilbevölkerung und den Flüchtlingsströmen liegen woanders. So galten die Bombenangriffe auf Dresden, Hamburg, Köln usw. keinesfalls dem Zweck, die deutsche Bevölkerung gegen das Hitlerregime aufzuwiegeln, wie die hanebüchene Begründung der Alliierten lautete. Wenn Bomber-Harris und andere Epigonen des Luftkriegs es vorzogen, die Arbeiterviertel in den deutschen Städten dem Erdboden gleichzumachen, dann geschah dies nicht nur, um die Bevölkerung zu zermürben, sondern auch aus Furcht vor einer Wiederauflage der Novemberrevolution von 1918. Und wenn Roosevelt sich veranlasst sah, Hiroshima und Nagasaki zum Ziel für seine Atombomben auszuwählen, so nicht, weil er etwa das Leben seiner Soldaten schonen wollte, die er zuvor skrupellos seinem imperialistischen Kalkül geopfert hat (siehe z.B. Pearl Harbor). Vielmehr ging es dem US-Imperialismus nach der Niederringung seiner alten Rivalen, Deutschland und Japan, um eine Demonstration der Stärke und einen Einschüchterungsversuch gegenüber seinem neuen Rivalen, der stalinistischen Sowjetunion.

Alles in allem zeigt sich, dass der II. Weltkriegs trotz seiner Exzesse in keiner Weise außerhalb des blutigen Reigens imperialistischer Konflikte vor und nach ihm steht, wie uns besonders die Linksextremisten vorgaukeln, angefangen bei den Trotzkisten bis hin zu den Antideutschen, einer besonders frenetischen Form des Antifaschismus. Wir wissen, dass wir mit dieser Position und all ihren Konsequenzen noch ziemlich allein auf weiter Flur stehen. Doch nicht nur, dass in den letzten Jahren immer mehr suchende Elemente der Arbeiterklasse bereit sind, sich von den Scheuklappen des Antifaschismus zu befreien; wir wissen uns darüber hinaus in der Tradition der Internationalisten der 30er und 40er Jahre, die selbst inmitten des imperialistischen Orkans nie den Kopf verloren und beharrlich die Fahne des internationalen Proletariats hochhielten. In diesem Sinne stimmen wir dem „Manifest der Kommunistischen Linken an die Proletarier Europas“ zu, das im Juni 1944 erstmals veröffentlicht und von der IKS (in Deutschland in der Weltrevolution Nr. 13) wiederveröffentlicht wurde und das mit folgenden Worten beginnt:

„Seit fast fünf Jahren wütet der imperialistische Krieg in Europa mit all seinen Erscheinungen von Elend, Massakern und Zerstörung. An der russischen, französischen und italienischen Front sind Abermillionen Arbeiter und Bauern dabei, sich gegenseitig für die ausschließlichen Interessen eines schmutzigen und blutigen Kapitalismus abzuschlachten, der nur seinen Gesetzen des Profits und der Akkumulation gehorcht. Während der fünf Kriegsjahre, vor allem während des letzten, dem Jahr der Befreiung aller Völker, wie es Euch gesagt wurde, sind die Täuschungsprogramme und viele Illusionen verschwunden und brachten die Maske zu Fall, hinter der sich das widerwärtige Gesicht des internationalen Kapitalismus versteckte. In jedem Land hat man Euch für verschiedene Ideologien mobilisiert, aber mit dem gleichen Ziel und mit dem gleichen Ergebnis: Euch in ein Blutbad zu stürzen, die die einen gegen die anderen, Leidensgenossen gegen Leidensgenossen, Arbeiter gegen Arbeiter.

Der Faschismus und Nationalsozialismus fordern Lebensraum für ihre ausgebeuteten Massen, aber damit machen sie nichts anderes, als ihren fanatischen Willen zu verstecken, sich selbst der tiefgreifenden Krise zu entwinden, die sie von Grund auf untergräbt.

Der britisch-russisch-amerikanische Block will Euch angeblich vom Faschismus erlösen, um Euch Eure Freiheiten und Rechte wiederzugeben. Aber diese Versprechungen sind nur die Köder, um Euch zur Teilnahme am Krieg zu bewegen, um den großen imperialistischen Konkurrenten, nachdem man ihn erzeugt hatte, den Faschismus, zu vernichten, als nicht mehr zeitgemäße Herrschafts- und Existenzform des Kapitalismus.“

 

                                        IKS im Juni 2005

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [29]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [2]

Polemik mit dem IBRP: Eine opportunistische Politik der Umgruppierung führt lediglich zu „Fehlgeburten“

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Im letzten Artikel dieser Serie („Der Nucleo Comunista Internacional, eine Episode im Streben des Proletariats nach Bewusstsein“,    Internationale Revue Nr. 35) haben wir den Weg eines kleinen Kerns von revolutionären Genossen geschildert, welche sich im „Nucleo Comunista Internacional (NCI) zusammengefunden hatten.

Wir haben die Probleme aufgezeigt, auf welche diese kleine Gruppe gestossen ist. Eines ihrer Mitglieder, Bürger B., hatte seine Informatik-Kenntnisse (vor allem über das Internet) benutzt, um die anderen Mitglieder zu isolieren, indem er die Korrespondenz mit Gruppen des politischen proletarischen Milieus monopolisierte. Er zwang ihnen seine Entscheidungen auf oder fällte sie gar hinter ihrem Rücken. Auch versteckte er sein Vorgehen bewusst, da die anderen Mitglieder dieses nicht genehmigen würden, weil er eine Politik entwickelte, welche von einem Tag auf den anderen die Richtung änderte. Genauer gesagt, nachdem er bis zum Sommer 2004 seinen Willen zur sofortigen Integration in die IKS1 gezeigt und behauptet hatte, mit allen programmatischen Positionen und Analysen einverstanden zu sein, und gleichzeitig die Positionen des IBRP verworfen und das unverschämte, verleumderische Verhalten der so genannten „Internen Fraktion der IKS“ (IFIKS) kritisiert hatte, machte er eine unvermittelte Kehrtwende.

Während noch eine Delegation der IKS in Argentinien weilte und eine Reihe von Diskussionen mit dem NCI führte, nahm er Kontakt mit der IFIKS und dem IBRP auf, um ihnen das Angebot einer gemeinsamen Arbeit zu machen und den Namen der Gruppe in „Circulo de Comunistas Internacionalistas“ umzutaufen (und dies alles, ohne der Delegation der IKS oder den anderen Gruppenmitgliedern nur ein Wort zu sagen). „Es ist bemerkenswert, dass Bürger B.s plötzliche Leidenschaft für das IBRP und dessen Positionen sowie für die IFIKS erst begann, als diesem kleinen Abenteurer gewahr wurde, dass er mit seinen Manövern bei der IKS auf Granit beissen würde. Diese Konvertierung, die noch schneller stattfand als die des St. Paulus auf dem Weg nach Damaskus, veranlasste das IBRP, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, sich hastig zum Sprecher von Bürger B. zu machen. Das IBRP sollte sich selbst einst fragen, wie es kommt (und das nicht nur einmal), dass Elemente, die ihre Unfähigkeit bewiesen haben, sich in die Kommunistische Linke zu integrieren, sich stets dem IBRP zuwandten, nachdem sie mit ihrer „Annäherung“ an die IKS gescheitert sind.“ (ebenda)

Soviel wir wissen, hat sich das IBRP diese Frage bisher noch nicht gestellt (auf jeden Fall ist nie etwas in seiner Presse darüber veröffentlicht worden).

Ein Ziel dieses Artikels ist es, unter anderem auf genau diese Frage eine Antwort zu geben, was für das IBRP von Nutzen sein könnte sowie für Elemente, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken annähern und beeindruckt sind von der Behauptung des IBRPs,  „der alleinige Erbe der Italienischen Kommunistischen Linken“ zu sein. Ganz generell erlaubt es uns zu verstehen, weshalb diese Organisation eine anhaltende Serie von Niederlagen in seine Umgruppierungspolitik der revolutionären Kräfte auf internationaler Ebene erlitten hat.

Die für konfuse Elemente unwiderstehliche Anziehungskraft der Sirenengesänge des IBRP
 Die Haltung des Bürgers B., auf einen Schlag eine vollständige Übereinstimmung mit den Positionen des IBRP und mit den (total verleumderischen) Anklagen der IFIKS gegen die IKS zu entdecken, ist nichts mehr als eine Karikatur einer Herangehensweise, die wir schon vorher bei zahlreichen Elementen sehen konnten, die sich erst in eine Diskussion mit unserer Organisation begaben und dann feststellten, dass sie sich in der Türe geirrt hatten. Entweder weil sie unsere Positionen nicht teilten, weil die Anforderungen der Militanz in der IKS für sie allzu eingeengt erschienen, oder weil sie realisierten, dass sie ihre persönliche Politik innerhalb der IKS nicht weiterführen könnten. Oft wandten sich solche Elemente dem IBRP zu, weil ihnen diese Organisation ihre Erwartungen eher erfüllen konnte. Wir haben dies schon verschiedentlich in unserer Presse aufgezeigt. Dennoch ist es die Mühe wert, darauf zurück zu kommen, da es sich nicht um Ausnahmen oder Zufälligkeiten handelt, sondern um ein sich wiederholendes Phänomen, welches bei den Mitgliedern des IBRP eigentlich Fragen aufwerfen sollte.

 

Schon vor der Geburt des IBRP...
 Man findet schon in der Vorgeschichte des IBRP (und auch der IKS) ein Beispiel welches sich mehrmals wiederholen sollte. Wir sind im Jahre 1973-74: Auf einen Aufruf hin einer amerikanischen Gruppe mit dem Namen Internationalism (welche später die Sektion der IKS in den USA wurde) zu einer internationalen Korrespondenz wurde eine Reihe von Treffen unter Gruppen abgehalten, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen. Die regelmässigsten Teilnehmer an diesen Treffen waren Révolution Internationale (RI) aus Frankreich und drei Gruppen aus Grossbritannien: World Revolution (WR), Revolutionary Perspectives (RP) und Workers’ Voice (WV) (benannt nach ihren Publikationen). WR und RP stammten aus Abspaltungen der Gruppe Solidarity, welche anarcho-rätistische Positionen vertrat. WV hingegen war eine kleine Gruppe von Arbeitern aus Liverpool, die mit dem Trotzkismus gebrochen hatten. Durch diese Diskussionen näherten sich die drei englischen Gruppen den Positionen von Révolution Internationale und Internationalism an (welche im Jahr darauf die IKS gründeten). Doch der Vereinigungsprozess dieser drei Gruppen endete in einer Niederlage. Einerseits beschlossen die Elemente von Worker’s Voice mit World Revolution zu brechen, weil sie das Gefühl hatten, von WR betrogen worden zu sein. Diese hatte halb rätistische Positionen zur Russischen Revolution 1917 aufrecht erhalten: Sie sagte zwar, dass es sich um eine proletarische Revolution gehandelt habe, die Bolschewiki jedoch eine bürgerliche Partei gewesen seien, eine Position, von der sie die Genossen von WV überzeugt hatte. Und weil WR nach dem Treffen vom Januar 1974 diese letzten Reste des Rätismus abgeschüttelt hatte und die Position von Révolution Internationale angenommen hatte, bekamen jene Genossen das Gefühl, „betrogen“ worden zu sein, und entwickelten eine starke Ablehnung gegenüber WR (mit der Beschuldigung „vor RI kapituliert zu haben“), was sie dazu führte, im November 1974 eine „Stellungnahme“ zu veröffentlichen, in der die Gruppen, welche kurz darauf die IKS gründen sollten als „konterrevolutionär“ bezeichnet wurden2. RP hingegen hatte die IKS angefragt, als „Tendenz“ mit einer eigenen Plattform integriert zu werden (weil es immer noch Differenzen zwischen dieser Gruppe und der IKS gab). Wir antworteten darauf, dass es nicht unsere Vorgehensweise sei, „Tendenzen“ als solche mit einer eigenen Plattform zu integrieren, auch wenn es in der Organisation unterschiedliche Positionen zu zweitrangigen Fragen der programmatischen Dokumente geben kann. Wir hatten die Türe zu einer Debatte für RP nicht verschlossen, doch diese Genossen begannen sich von der IKS zu entfernen. Sie begannen eine „alternative“ internationale Umgruppierung zu derjenigen der IKS zu starten, und zwar mit WV, der französischen Gruppe „Pour une Intervention Communiste“ (PIC) und der „Revolutionary Workers Group“ (RWG) aus Chicago. Dieser „Block ohne Prinzipien“ (ein Ausdruck Lenins) hatte einen kurzen Atem. Es konnte auch kaum anders sein, denn was die drei Gruppen als einziges verband, war ihre zunehmende Feindschaft gegenüber der IKS. Schlussendlich kam es doch noch zu einer Vereinigung in Grossbritannien zwischen RP und WV (September 1975), welche die „Communist Workers’ Organisation“ (CWO) gründeten. Diese Vereinigung hatte für RP einen hohen Preis: Ihre Mitglieder mussten die Position von WV akzeptieren, nach der die IKS „konterrevolutionär“ sei. Eine Weile lang wurde diese Position auch aufrecht erhalten, auch noch ein Jahr später, als die alten Mitglieder von WV sich von der CWO verabschiedeten und diejenigen, welche von RP stammten - der Intoleranz anderen Gruppen gegenüber bezichtigten!3 Diese „Analyse“ der CWO, welche die IKS als „konterrevolutionär“ bezeichnete, basierte auf folgenden „gewichtigen Argumenten“:

„- die IKS verteidigt das staatskapitalistische Russland nach 1921 und die Bolschewiki;

- sie bezeichnet eine staatskapitalistische Bande wie die trotzkistische Linksopposition als proletarische Gruppe“ (Revolutionary Perspectives Nr. 4).

Kurz darauf, als die CWO mit dem Partito Comunista Internazionalista aus Italien (Battaglia Comunista) zu diskutieren begann, widerrief sie die Bezeichnung der IKS als „konterrevolutionär“ (hätte sie die ehemaligen Kriterien aufrecht erhalten, so hätte sie BC ebenfalls als eine bürgerliche Organisation bezeichnen müssen!).

Ausgangspunkt der Wanderschaft der CWO war die Tatsache, dass die IKS sich geweigert hatte, RP mit einer eigenen Plattform zu integrieren. Diese Wanderschaft endete 1984 in der Gründung des IBRP: Die CWO durfte nach all den vorangegangenen Niederlagen schlussendlich doch noch an einer internationalen Umgruppierung teilhaben.

 

 

Die Enttäuschung mit den SUCM 
Selbst der Prozess der Formierung des IBRP war demnach schon davon geprägt, dass „von der IKS Enttäuschte“ sich dem IBRP zuwandten. Wir kommen hier nicht auf die drei Konferenzen linkskommunistischer Gruppen zurück, die zwischen 1977 und 1980 nach einem Aufruf von BC im April 1976 stattfanden4. Unsere Presse hat jedoch mehrmals hervorgehoben, dass es total unverantwortlich und nur vom Interesse um ihre eigene kleine Kapelle getrieben war, als BC und die CWO diese Anstrengung abgewürgten, indem sie am Ende der 3. Konferenz eine Abstimmung darüber erzwangen, dass die Frage der Rolle und Funktion der Partei ein zusätzliches Teilnahmekriterium sein solle. Ziel dabei war es, die IKS von zukünftigen Konferenzen auszuschliessen5. Betrachten wir nun die „Konferenz“ von 1984, welche von BC und der CWO als Fortsetzung der drei Konferenzen zwischen 1977 und 1980 dargestellt wurde. Auf dieser „Konferenz“ war neben BC und der CWO die Gruppe „Supporters of the Unity of Communist Militants“ (SUCM), eine Gruppe iranischer Studenten vor allem aus England, welche die IKS gut kannte: Wir hatten mit ihnen schon zuvor diskutiert und erkannt, dass sie trotz allen Beteuerungen, mit der Kommunistischen Linken einverstanden zu sein, im Grunde eine linke Gruppe waren, die dem Maoismus entstammte. Die SUCM wandte sich danach an die CWO, die aber keine Notiz nahm von den Warnungen unserer Genossen in England vor dieser Gruppe. Dank diesen wunderbaren neuen „Rekruten“ konnten die CWO und BC jegliche Auseinandersetzung auf dieser gloriosen 4. Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken verhindern, da sie nun die IKS nicht mehr mit ihrem „Rätismus“ verseuchen konnte, und sich endlich den wichtigen Fragen des Aufbaus der zukünftigen Weltpartei der Revolution widmen6. Realität war aber Folgendes: All die anderen „Kräfte“, welche vom Tandem BC-CWO mit „Seriosität und Klarheit ausgewählt“ wurden (um die Formulierung von BC zu benutzen), sagten ab oder konnten nicht kommen, wie die Gruppe „Kommunistische Politik“ aus Österreich und L`Éveil Internationaliste, oder sie waren zum Zeitpunkt der „Konferenz“ gar schon verschwunden, wie die beiden amerikanischen Gruppen „Marxist Worker“ und „Wildcat“. Absurderweise schien letztere trotz ihrer rätistischen Positionen den „Teilnahmekriterien“, die von BC und der CWO aufgestellt worden waren, zu entsprechen7.

Der Flirt mit der SUCM dauerte nicht lange. Dies jedoch nicht wegen der Klarheit der Genossen von BC und der CWO, sondern ganz simpel deshalb, weil diese Gruppe ihren wahren Charakter nicht lange verbergen konnte und sich in die iranische Kommunistische Partei, eine stalinistische Organisation, eingliederte.

BC und die CWO luden keine anderen Gruppen ein wie zu den Konferenzen der Kommunistischen Linken, um sich nicht mit einem neuen Fiasko lächerlich zu machen8.

 

Zwei verschiedene Karrieren
Die Anziehungskraft des IBRP für „von der IKS Enttäuschte“ zeigte sich zur selben Zeit auch bei einem Element, das wir hier L. nennen und für einige Zeit sein einziger Repräsentant in Frankreich war. Dieses Element, welches seine Schule bei einer trotzkistischen Organisation gemacht hatte, näherte sich der IKS zu Beginn der 80er Jahre an und wollte in unsere Organisation eintreten. Wir führten mit ihm genaue Diskussionen, baten ihn aber auch um Geduld, weil er trotz voller Übereinstimmung mit unseren Positionen noch starke Überreste seiner linken Vergangenheit zeigte, vor allem einen ausgeprägten Immediatismus. Geduld hatte er aber gerade deshalb sehr wenig: Weil die Diskussionen für seinen Geschmack zu lange dauerten, brach er sie ab und wandte sich den Gruppen zu, die das IBRP bildeten. Von einem Tag auf den anderen übernahm er die Positionen des IBRP, welches auch nicht dieselbe Geduld für eine Integration forderte. Die Überzeugung dieses Elements war denn auch keinesfalls solide, und so verliess er das IBRP auch wieder, um zwischen den verschiedenen bordigistischen Gruppen in der Kommunistischen Linken hin und her zu segeln und danach Mitte der 90er Jahre wieder zum IBRP zurückzukehren. Wir hatten damals das IBRP auf die mangelnde politische Verlässlichkeit dieses Elements aufmerksam gemacht. Doch sie hatten unsere Warnung nicht zur Kenntnis genommen und ihn wieder in ihre Organisation integriert. Und so ist er denn auch, wen wundert es, nicht lange im IBRP geblieben: Ab dem Jahr 2000 „entdeckte“ er ein zweites Mal, dass die angenommenen Positionen ihn doch nicht vollständig überzeugten, und er tauchte an mehreren öffentlichen Diskussionsveranstaltungen der IKS auf, um das IBRP in den Dreck zu ziehen. Die IKS hielt es für notwendig, seine Verunglimpfungen zurückzuweisen und das IBRP dagegen zu verteidigen.

Die Serie von Flirts des IBRP mit von der IKS enttäuschten Elementen beschränkt sich jedoch nicht auf das beschriebene Beispiel.

Ein anderes Element, das ebenfalls aus der Linken kam und wir hier E. nennen, schlug eine ähnliche Laufbahn ein. Mit ihm entwickelte sich der Prozess der Integration in die IKS weiter als mit L., und er wurde nach langen Diskussionen Mitglied unserer Organisation. Es ist eine Sache, mit den Positionen einer Organisation einverstanden zu sein, jedoch eine andere, sich auch in eine kommunistische Organisation zu integrieren. Auch wenn die IKS diesem Element lange erklärt hatte, was es heisst, ein Militanter einer kommunistischen Organisation zu sein, und er dies anerkannt hatte, so erfordert die praktische Erfahrung der Militanz eine permanente Anstrengung zur Überwindung des Individualismus. Wir mussten bald feststellen, dass er keinen Platz in unserer Organisation fand, sondern eine feindselige  Haltung gegenüber der IKS entwickelte. Schliesslich verliess er die IKS, ohne jegliche Divergenz gegenüber unserer Plattform zu formulieren (trotz unserer Aufforderung, eine seriöse Diskussion über seine „Vorwürfe“ aufzunehmen). Dies hinderte ihn nicht, kurz darauf seine Übereinstimmung mit den Positionen des IBRP zu entdecken, und dessen Presse veröffentlichte sogar einen Artikel von ihm, der eine Polemik gegen die IKS darstellen sollte.

Um auf die Gruppen zurück zu kommen, welche einen solchen Weg einschlugen: Die Liste der oben angeführten Beispiele ist noch nicht vollständig. Wir möchten noch die Beispiele der „Communist Bulletin Group“ (CBG) in Grossbritannien, Kamunist Kranti in Indien, Comunismo in Mexiko, „Los Angeles Workers’ Voice“ und Notes Internationalistes in Kanada beleuchten.

 

Die unglückliche Liebe zwischen der CBG und der CWO 
In unserer Presse sind schon verschiedenste Artikel zur CBG erschienen9. Wir entwickeln hier nicht eine umfassende Analyse von diesem parasitären Grüppchen, welches von ehemaligen Mitgliedern unserer Organisation gegründet wurde, die 1981 ausgetreten waren und uns dabei Material und Geld gestohlen hatten. Ihr einzige Ziel war es, die IKS in den Dreck zu ziehen. Ende 1983 hatte diese Gruppe folgendermassen auf eine „Adresse an die politischen proletarischen Gruppen“ geantwortet, die vom 5. Kongress der IKS verabschiedet worden war, um „eine bewusste Zusammenarbeit unter allen Gruppen aufzubauen10“: “Wir wollen gegenüber der in dieser Adresse formulierten Stossrichtung und den Anliegen unsere Solidarität ausdrücken ...“. Doch sie übten nicht die geringste Kritik an ihrem Verhalten als Diebe. Wir schrieben ihnen: „So wie wir die grundlegenden Fragen der Verteidigung der politischen Organisationen des Proletariates verstehen, sind wir gezwungen, auf den Brief der CBG zu antworten, dass er für uns wertlos ist. Sie hat sich wohl in der Adresse getäuscht.“

Vermutlich enttäuscht über die Zurückweisung der IKS und sichtbar unter ihrer Isolation leidend, hat sich die CBG schlussendlich der CWO zugewandt, der britischen Organisation des IBRP. Es fand ein Treffen in Edinburgh im Dezember 1992 statt, nachdem schon „eine praktische Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern der CWO und der CBG stattgefunden hatte“. „Eine Vielzahl von Missverständnissen konnte beidseitig geklärt werden. Es wurde beschlossen, die Zusammenarbeit formeller weiterzuführen. Eine Übereinkunft wurde getroffen, welche die CWO im Januar noch innerhalb der gesamten Organisation bestätigen muss (nachdem ein Bericht erstellt worden ist) und der die folgenden Punkte enthält...“ Darauf folgte eine Liste von Übereinstimmungen zur Zusammenarbeit und speziell: „Die beiden Gruppen werden einen Entwurf für eine vorgeschlagene „populäre Plattform“ diskutieren, der von einem Mitglied der CWO verfasst wird und als Werkzeug zur Intervention dient.“ (Workers’ Voice Nr. 64, Januar-Februar 1996)

Offenbar folgte auf diesen Flirt nichts mehr, da wir seither nie mehr etwas von einer Zusammenarbeit zwischen der CBG und der CWO erfahren haben. Ebenso wenig haben wir je etwas darüber gelesen, weshalb diese Zusammenarbeit scheiterte.

 

Der Kummer des IBRP in Indien
Ein anderes unglückliches Abenteuer mit „von der IKS Enttäuschten“ war das mit der Gruppe in Indien, die Kamunist Kranti veröffentlichte. Dieser kleine Kern entstammte einer Gruppe von Elementen, mit denen die IKS während der 80er Jahre diskutiert hatte und von denen sich einige an unsere Organisation annäherten und enge Sympathisanten wurden, wobei einer auch in die IKS eintrat. Doch eines dieser Elemente, das wir hier S. nennen und das eine wichtige Rolle in den ersten Diskussionen mit der IKS spielte, schlug einen anderen Weg ein. Möglicherweise aus Angst davor, durch eine Integration in die IKS seine Individualität zu verlieren, gründete er seine eigene Gruppe mit der Zeitschrift Kamunist Kranti.

Das IBRP hatte schon seine Erfahrung mit Rückschlägen in Indien hinter sich. Für diese Organisation machen die Bedingungen, wie sie in Ländern der Peripherie existieren „die Existenz von kommunistischen Massenorganisationen möglich“ (Communist Revue Nr. 3), was für sie offenbar auch heisst, dass es dort leichter sei, kleine kommunistische Gruppen zu bilden, als in den zentralen Ländern des Kapitalismus. Das IBRP leidet aber darunter, dass seine These nicht bestätigt wird durch Gruppen, die seine Plattform annehmen würden. Dieses Leiden war zu jener Zeit besonders gross, da gerade die IKS, deren Analyse als „eurozentristisch“ bezeichnet wurde, eine Sektion in einem dieser Länder der Peripherie hatte, in Venezuela. Offenbar hatte der misslungene Flirt mit der SUCM die Verbitterung des IBRP noch verstärkt. Als das IBRP Diskussionen mit der Gruppe Lal Pataka in Indien aufnehmen konnte, dachte es das grosse Los gezogen zu haben. Doch Lal Pataka war, wie die SUCM, eine vom Maoismus kommende Gruppe, die nicht wirklich mit ihren Wurzeln brechen konnte, trotz Sympathiebekundungen gegenüber den Positionen der Kommunistischen Linken. Auf die Warnungen der IKS gegenüber dieser Gruppe (die genau genommen nur aus einer Person bestand) antwortete das IBRP: „Einige zynische Geister [es handelt sich dabei um die Geister der IKS] denken, dass wir diesen Genossen allzu schnell in das IBRP aufgenommen hätten.“ Während einer gewissen Zeit trat Lal Pataka als der Vertreter des IBRP in Indien auf. Doch 1991 verschwand dieser Name aus der Presse des IBRP und wurde durch Kamunist Kranti ersetzt. Das IBRP setzte viel auf diese „von der IKS Enttäuschten“: Wir hoffen das in der Zukunft ein produktives Verhältnis zwischen dem IBRP und Kamunist Kranti aufgebaut werden kann“. Doch diese Hoffnungen schwanden bald, und man konnte zwei Jahre später in Communist Review Nr. 11 lesen: „Es ist eine Tragödie, dass trotz viel versprechenden Elementen in Indien kein solider Kern von Kommunisten mehr besteht.“ Seither ist Kamunist Kranti vom Erdboden verschwunden. Es existiert aber sehr wohl ein kleiner kommunistischer Kern in Indien der die Zeitschrift Communist Internationalist herausgibt, doch er ist Teil der IKS, und das IBRP „vergisst“, auch nur einmal darauf hinzuweisen.

 

Mexikanische Enttäuschungen
Zu derselben Zeit, als sich einige Elemente in Indien den Positionen der Kommunistischen Linken annäherten, hatte die IKS eine Diskussion mit einer kleinen Gruppe in Mexiko aufgenommen, dem „Colectivo Comunista Alptraum“ (CCA), das 1986 die Zeitschrift Comunismo herauszugeben begann11. Wenig später bildete sich der „Grupo Proletario Internacionalista“ (GPI), welche Gruppe ab Beginn des Jahres 1987 die Zeitschrift  Revolución Mundial herausgab und mit der sich ebenfalls Diskussionen entwickelten12. Von diesem Moment an entfernte sich das CCA von der IKS: Einerseits entwickelte es eine zunehmend akademistische Haltung in seinen politischen Positionen, und andererseits näherte es sich dem IBRP an. Auf jeden Fall ist diesem kleinen Kern das gute Verhältnis zwischen der IKS und dem GPI in den falschen Hals geraten.

Es kannte die Haltung der IKS, die darauf besteht, dass Gruppen der Kommunistischen Linken, die im selben Land existieren enge Verbindungen aufnehmen. Das CCA, das zehnmal weniger Mitglieder hatte als der GPI, befürchtete vermutlich eine Einschränkung seiner „Individualität“ durch die Kontaktaufnahme mit dieser Gruppe. Die Verbindungen zwischen dem IBRP und dem CCA bestanden noch eine Weile, doch als der GPI die Sektion der IKS in Mexiko wurde, verschwand das CCA.

 

Ein stürmischer „Amerikanischer Traum“
Mit dem „Los-Angeles-Workers’-Voice“-Abenteuer kommen wir nun fast zum Ende dieser langen Liste. Diese Gruppe formierte sich aus Leuten, die dem Maoismus der pro-albanischen Art entstammten. Wir hatten mit diesen Elementen über eine lange Zeit Diskussionen geführt, doch zeigte sich dabei ihre Unfähigkeit, all die Konfusionen zu überwinden, die sie aus der Vergangenheit in einer bürgerlichen Organisation geerbt hatten. Als sich diese kleine Gruppe Mitte der 90er Jahre dem IBRP annäherte, warnten wir dieses vor den Konfusionen der LAWV. Das IBRP verstand diese Warnung nicht und vermutete dahinter wohl die Absicht, seine politische Präsenz auf dem nordamerikanischen Kontinent verhindern zu wollen. Mehrere Jahre lang war die LAWV eine sympathisierende Gruppe des IBRP in den Vereinigten Staaten, und im April 2000 nahm sie an einer Konferenz in Montreal, Kanada, teil, die das Ziel hatte, die Präsenz des IBRP auf dem nordamerikanischen Kontinent zu verstärken. Doch nur kurze Zeit später begannen die Element von LAWV, eine Reihe von Kritiken zu formulieren, und zeigten eine zunehmend anarchistische Haltung (Zurückweisen der Zentralisierung, Bezeichnung der Bolschewiki als eine bürgerliche Partei, usw.). Vor allem aber begannen sie Lügen über das IBRP und im Besonderen über einen Sympathisanten dieser Organisation, AS, der in einem anderen Staat lebte, zu verbreiten. Unsere Presse in den USA prangerte die Verhaltensweisen der LAWV an und drückte unsere Solidarität mit den verleumdeten Genossen aus13. Wir betrachteten es auch als notwendig, an die Warnungen, welche wir zu Beginn der Idylle zwischen dem IBRP und den LAWV ausgesprochen hatten, zu erinnern.

Der andere Teilnehmer an der Konferenz im April 2000, Internationalist Notes, der sich heute als „sympathisierende Gruppe“ des IBRP bezeichnet, gehört ebenfalls zum Lager der „von der IKS Enttäuschten“. Die Diskussion zwischen der IKS und diesen Genossen aus Montreal begann Ende der 90er Jahre. Es handelte sich um einen kleinen Kern, dessen erfahrenstes Element, das wir hier W. nennen, eine lange Geschichte in den Gewerkschaften und in einer linken Organisation hinter sich hatte. Die Diskussionen waren gerade bei den verschiedenen Besuchen von IKS-Mitgliedern in Montreal immer sehr freundschaftlich, und wir gingen davon aus, dass diese Genossen genauso ehrlich sind wie wir. Es war uns immer bewusst, dass die langjährige Vergangenheit von W. in einer linken Organisation ein Hindernis für das vollständige Begreifen der Positionen und Methode der Kommunistischen Linken war. Aus diesem Grund forderten wir den Genossen W. mehrmals auf, eine Bilanz über seine politische Laufbahn zu verfassen, doch er hatte offensichtlich seine Schwierigkeiten damit, denn wir haben diese Bilanz trotz seinen Versprechungen nie erhalten.

Während die Diskussionen mit Internationalist Notes weiter gingen und ohne dass die Genossen uns jemals von einer eventuellen Annäherung an die Positionen des IBRP informierten, erfuhren wir durch eine Erklärung, dass Internationalist Notes eine sympathisierende Gruppe des IBRP in Kanada geworden sei. Die IKS hatte die Genossen in Montreal dazu aufgefordert, die Positionen des IBRP kennen zu lernen und mit dieser Organisation Kontakt aufzunehmen. Unsere Haltung war und ist es nie, „die Kontakte für uns zu behalten“. Ganz im Gegenteil ist es wichtig für Kontakte, die sich der IKS annähern, auch die Positionen der anderen Gruppen der Kommunistischen Linken gut zu kennen. Wenn sie sich uns anschliessen, so soll das in vollem Bewusstsein geschehen14. Wenn Leute, die sich der Kommunistischen Linken annähern, den Positionen des IBRP zustimmen, ist dies an sich kein Problem. Doch überraschte es uns, dass diese Annäherung gewissermassen „im Geheimen“ vor sich ging. Das IBRP hat offenbar nicht dasselbe Interesse wie die IKS daran, dass W. mit seiner linken Vergangenheit bricht. Wir sind davon überzeugt, dass genau darin der Grund für seine Annäherung an das IBRP lag, ohne uns darüber zu informieren.

Die Spezialität des IBRP: politische Fehlgeburten
 Man müsste ja fast fasziniert sein vom sich wiederholenden Phänomen, dass Leute, die „von der IKS enttäuscht“ sind, schlussendlich beim IBRP landen. Man könnte fast meinen, es sei ein normaler Vorgang: Nachdem sie herausgefunden hatten, dass die Positionen der IKS falsch sind, wandten sich diese Elemente der Genauigkeit und Klarheit des IBRP zu. Dies haben sich die Genossen des IBPR vermutlich auch jedes Mal eingeredet. Das Problem ist aber folgendes: Von allen Gruppen, die eine solche Richtung eingeschlagen haben, ist heute nur noch eine in den Reihen der Kommunistischen Linken anzutreffen, nämlich genau diejenige, welche als letzte mit uns Kontakt hatte, Internationalist Notes. ALLE anderen Organisationen haben sich entweder aufgelöst oder sind in die Reihen bürgerlicher Organisationen zurückgekehrt wie die SUCM. Das IBRP sollte sich die Frage stellen weshalb, und es wäre interessant zu erfahren, welche Bilanz es der Arbeiterklasse über seine Erfahrungen liefern würde. Möglicherweise helfen die nachfolgenden Überlegungen seinen Genossen, eine solche Bilanz zu machen. 

Was den eingeschlagenen Weg dieser Gruppen bestimmte, war offensichtlich nicht die Suche nach einer Klarheit, die sie bei der IKS nicht vorfanden, denn sie endeten in der Aufgabe des kommunistischen Engagements. Die Tatsachen haben klar gezeigt, dass ihre Distanznahme von der IKS jedes Mal Hand in Hand ging mit einer Entfernung von der programmatischen Klarheit und der Methode der Kommunistischen Linken sowie einer Zurückweisung der militanten Arbeit in ihren Reihen. In der Realität war ihr kurzer Flirt mit dem IBRP lediglich eine Etappe vor der Aufgabe des Kampfes in den Reihen der Arbeiterklasse. Es stellt sich also die Frage: Weshalb zieht das IBRP gerade jene an, welche sich in dieser Dynamik befinden?

Auf diese Frage gibt es eine klare Antwort: Weil das IBRP eine opportunistische Sichtweise der Umgruppierung der Revolutionäre hat.

Es ist der Opportunismus des IBRP, welcher es Elementen erlaubt, die sich weigern, einen vollständigen Bruch mit ihrer linken Vergangenheit zu machen, im Kielwasser dieser Organisation ein vorübergehendes „Refugium“ zu finden und damit glauben machen wollen (oder es sich gar selber einreden), ein Engagement in der Kommunistischen Linken zu haben. Das IBRP hat seit der 3. Internationalen Konferenz von Gruppen der Kommunistischen Linken wahrlich immer wieder auf einer „rigorosen Selektion“ im proletarischen Milieu bestanden. Doch in Wirklichkeit ist diese Selektion einseitig gegen die IKS gerichtet, welche nicht mehr „eine nennenswerte Kraft für die Bildung der zukünftigen Weltpartei des Proletariates ist“ und die „für uns [das IBRP] kein Gesprächspartner im Hinblick auf eine gemeinsamen Aktion ist“ („Antwort auf unseren Appell vom 11. Februar 2003 an die Gruppen der Kommunistischen Linken zu einer gemeinsamen Intervention gegen den Krieg“, publiziert in der Internationalen Revue Nr. 32). Daher steht für das IBRP jegliche Zusammenarbeit mit der IKS ausser Frage, sei es auch nur für eine gemeinsame Erklärung des internationalistischen Lagers gegen den imperialistischen Krieg15. Doch diese grosse Rigorosität ist sonst wo kaum vorhanden, vor allem nicht gegenüber Gruppen, die nichts mit der Kommunistischen Linken am Hut haben, oder eindeutig linke Gruppen sind. In der Internationalen Revue Nr. 26 hatten wir geschrieben:

„Um das ganze Ausmass des Opportunismus des IBRP bei seiner Verweigerung gegenüber dem Vorschlag der IKS, einen gemeinsamen Aufruf gegen den Krieg zu verfassen, zu erkennen, ist es aufschlussreich einen Artikel von Battaglia Comunista (BC), der im November 1995 mit der Überschrift „Irrtümer gegenüber dem Balkankrieg“ geschrieben wurde, zu zitieren. BC berichtete darin, dass es von der OCI (Organizazione Comunista Internationale / Che Fare) eine Einladung zu einer nationalen Versammlung in Mailand gegen den Krieg erhalten habe. BC meinte, dass „der Inhalt des Briefes interessant und wesentlich verbessert worden ist im Vergleich zu den Positionen der OCI gegenüber dem Golfkrieg, ihrer „Unterstützung für das vom Imperialismus angegriffene irakische Volk“ und ihrer sehr polemischen Haltung in der Diskussion über unsere angeblichen Indifferenz“. Der Artikel führt dann weiter aus: „Es fehlt der Bezug auf die Krise des Akkumulationszyklus (...) und die wesentliche Analyse ihrer Auswirkungen in der jugoslawischen Föderation. (...) Aber dies scheint kein Hindernis zu sein für eine mögliche gemeinsame Initiative derjenigen, die sich auf dem Klassenterrain gegen den Krieg stellen“. Vor gerade einmal vier Jahren wollte BC in einer Lage, die weniger ernst war als zur Zeit des Kosovokrieges, eine gemeinsame Initiative mit einer mittlerweile völlig konterrevolutionär gewordenen Gruppe ergreifen, um ihre aktivistischen Bestrebungen auszutoben, schreckte aber nicht davor zurück, Nein zur IKS zu sagen – unter dem Vorwand, dass unsere Positionen zu weit von ihren entfernt seien. Das nennt man Opportunismus.“

Diese einseitige Auswahlmethode des IBRP zeigte sich im Jahre 2003 erneut, als es den Vorschlag der IKS zu einer gemeinsamen Stellungnahme gegen den Irakkrieg ausschlug. Wir hatten in der Internationalen Revue Nr. 33 folgendes geschrieben: „Von einer Organisation, die sich in der Einschätzung der Meinungsverschiedenheiten mit der IKS derart kleinlich zeigt, könnte man eine ähnliche Haltung gegenüber allen anderen Gruppen erwarten. Dem ist ganz und gar nicht so. Wir beziehen uns hier auf die Haltung des IBRP, wie sie sich bei seiner Sympathisantengruppe, die sie im nordamerikanischen Raum vertritt, der Internationalist Workers` Group IWG (mit der Publikation Internationalist Notes), zeigt. Diese Gruppe ist zusammen mit Anarchisten aufgetreten und hat eine gemeinsame öffentliche Veranstaltung mit Red and Black Notes und mit der Ontario Coalition Against Poverty (OCP), die eine typische linke, aktivistische Gruppe zu sein scheint, abgehalten.“ („Das politische proletarische Milieu angesichts des Krieges: Die Geissel des Sektierertums im internationalistischen Lager“)

Wie man sehen kann, zeigt sich der Opportunismus des IBRP in seiner Weigerung, sich klar von Gruppen zu distanzieren, die weit entfernt von der Kommunistischen Linken stehen, die keinen wirklichen Bruch mit den Linken (sprich mit dem bürgerlichen Lager) gemacht haben oder die ganz einfach Linke sind. Diese Haltung hat es schon gegenüber der SUCM oder Lal Pataka gezeigt. Mit einer solchen Methode ist es nicht verwunderlich, dass sich Leute, die nicht fähig sind, eine wirkliche Bilanz ihrer Erfahrungen bei den Linken zu machen, sich in der Gefolgschaft des IBRP wohler fühlen als mit der IKS.

Die Angehensweise der kanadischen Gruppe führt uns eine andere Variante des Opportunismus des IBRP vor Augen: Jeder Teil des IBRP besitzt „die Freiheit zur eigenen Politik“. Was für die europäischen Gruppen absolut nicht in Frage kommt, ist normal für eine amerikanische Gruppe (denn wir haben nicht eine einzige Kritik in Battaglia Comunista oder Revolutionary Perspectives entdeckt, welche die Haltung der kanadischen Genossen kritisiert). Das nennt man Föderalismus - ein Föderalismus, den das IBRP in seinem Programm verwirft, in seiner Praxis jedoch angenommen hat. Es ist dieser geleugnete, jedoch praktizierte Föderalismus, der gewisse Leute, die den Zentralismus der IKS allzu zwanghaft finden, zum IBRP hinzieht.

Wenn das IBRP Elemente rekrutiert, die durch die Überreste ihrer linken Vergangenheit geprägt sind, die Zentralisierung ablehnen und es vorziehen, in ihrer Ecke eine eigene Politik zu betreiben, so sind das die besten Bedingungen zur Vernichtung der Grundlagen einer Organisation, die international lebensfähig ist.

Ein anderer Aspekt des Opportunismus des IBRP ist seine ausgesprochene Nachsicht gegenüber Elementen, die feindlich gegen die IKS eingestellt sind. Wie zu Beginn des Artikels aufgezeigt, war eine der Grundlagen zur Formierung der CWO in England nicht nur der Wille, die eigene „Individualität“ aufrecht zu erhalten (Anfrage von RP zur Integration in die IKS als „Tendenz“ mit einer eigenen Plattform), sondern auch der Widerstand gegen die IKS (die eine Weile lang sogar als „konterrevolutionär“ bezeichnet wurde). Die Haltung der Elemente von Workers Voice innerhalb der CWO „RP als Schutzschild gegen die IKS zu gebrauchen“ findet man später bei vielen anderen Elementen und Gruppen wieder, deren Hauptmotivation die Feindschaft gegen die IKS ist. Dies war im Speziellen der Fall bei L., der sich in der ganzen Gruppe, aus der er stammte (und die viele Mitglieder hatte), immer am hysterischsten gegen unsere Organisation aufführte. Desgleichen E., den wir oben erwähnt haben und der eine enorme Feindschaft gegen die IKS zu entwickeln begann, bevor er die Positionen des IBRP übernahm. Der einzige Text von ihm, den unseres Wissens das IBRP veröffentlichte, war eine harte Attacke gegen die IKS.

Gar nicht zu sprechen von der CBG, mit der die CWO einen Flirt ohne Fortsetzung hatte und deren Verleumdungen (mit allem möglichen schmutzigen Geschwätz) gegen die IKS ihresgleichen sucht!

Doch vor allem in letzter Zeit findet die Öffnung gegenüber dem IBRP auf der Grundlage des Hasses gegen die IKS ihre extremsten Ausdrücke, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen: die Annäherung an das IBRP durch die sogenannte „Interne Fraktion der IKS“ (IFIKS) und durch den Bürger B., Gründer, Chef und einziges Mitglied des „Circulo de Comunistas Internacionalistas“ in Argentinien.

Wir gehen hier nicht in die Details bezüglich der Verhaltensweisen der IFIKS, die ihren beseelten Hass gegen unsere Organisation enthüllen16. Wir führen hier in geraffter Form einige ihrer Arbeitsprinzipien auf:

- verabscheuenswürdige Verleumdungen gegen die IKS und einige unserer Genossen (die unter der Hand verbreitet wurden und den Verdacht schürten, dass ein Genosse für die Polizei arbeite und ein anderer die Politik Stalins der „Eliminierung“ der Gründungsmitglieder der Organisation  verfolge);

- Diebstahl von Geld und politischem Material der IKS (wie z.B. die Adressliste unserer Abonnenten der französischen Presse);

- Denunzierungen, die den Überwachungsorganen des bürgerlichen Staates die Möglichkeit gaben, die Konferenz unserer Sektion in Mexiko vom Dezember 2002 zu überwachen und die Identität eines unserer Genossen zu erfahren (welcher von der IFIKS als der „Chef“ der IKS dargestellt wurde).

Im Falle des Bürgers B. drückte sich dies durch die Veröffentlichung von mehreren erbärmlichen Communiques über die angeblich „ekelerregenden Methoden der IKS“ aus, welche vergleichbar seien mit den Methoden des Stalinismus und auf einem Lügengebilde aufbauen würden.

Diese unberechenbare Person konnte eine solche Arroganz lediglich deshalb an den Tag legen, weil ihr das IBRP, dem sie durch das Abfassen von Texten, die den Positionen dieser Organisation ähnelten, schmeichelte (vor allem was die Rolle des Proletariates in den peripheren Ländern betrifft), eine ganze Weile lang Glaubwürdigkeit schenkte. Das IBRP hat nicht nur Stellungnahmen und „Analysen“ dieses Elements übersetzt und auf seiner Internetseite publiziert, es hat nicht nur die Gründung des „Circulo“ als „einen wichtigen und bestimmten Schritt heute in Argentinien vorwärts in der Zusammenführung der Kräfte, hin zur internationalen Partei des Proletariates“ begrüsst („Auch in Argentinien tut sich etwas“, Battaglia Comunista, Oktober 2004), es hat sogar in drei Sprachen sein Communique vom 12. Oktober 2004 auf seine Internetseite gestellt, welches eine Anhäufung von widerwärtigen Lügen über die IKS ist.

Die Liebschaft des IBRP mit diesem exotischen Abenteurer hat sich erst abgekühlt, als wir unwiderlegbar aufzeigten, dass diese Anschuldigungen gegen die IKS reine Lügen waren und dass dieser „Circulo“ lediglich ein Bluff war17. Das IBRP hat danach auf sehr diskrete Art und Weise begonnen, die kompromittierendsten Texte dieser Person von seiner Internetseite zurückzuziehen, ohne jedoch dessen Methoden zu verurteilen, auch nicht nachdem wir einen Offenen Brief (7. Dezember 2004) an die Genossen des IBRP geschrieben hatten, in dem wir eine Stellungnahme forderten. Die einzige Reaktion, die wir von dieser Organisation erhalten haben, ist ein Communique auf seiner Internetseite mit dem Titel „Letzte Antworten auf die Anschuldigungen der IKS“, das behauptet, das IBRP sei „Objekt von gewalttätigen und vulgären Attacken der IKS, weil diese wegen einer tiefen und unlösbaren internen Krise in Rage sei“ und dass sie „von nun an nicht mehr antworten werden und den vulgären Attacken keine Beachtung mehr schenken“.

Seine Liebe zum „Circulo“ ist mittlerweile im rauen Wind der Realität erkaltet. Seit die IKS den Bluff des Bürgers B. entlarvt hat, kann man auch auf seiner Internet-Seite, die während eines Monats seine fieberhafte Aktivität zeigte, nur noch eine hoffnungslose Nulllinie feststellen.

Was die IFIKS betrifft, hat das IBRP dieselbe Haltung an den Tag gelegt. Statt die infamen Anschuldigungen dieses Grüppchens gegen die IKS mit Vorsicht zu geniessen, hat ihnen das IBRP Glauben geschenkt, indem es sich mehrmals mit der IFIKS traf. Die IKS hat nach dem ersten Treffen zwischen der IFIKS und dem IBRP im Frühling 2002 diese Organisation auch um ein Treffen angefragt, um ihre eigene Sicht der Dinge darstellen zu können. Dieses Ansinnen wurde jedoch abgelehnt mit dem Argument, für keine der beiden Seiten Stellung beziehen zu wollen. Dies war jedoch eine glatte Lüge, denn die von der IFIKS über die Diskussionen mit dem IBRP geschriebene Zusammenfassung (übrigens nie von diesem dementiert) hielt eine Zustimmung des IBRP bezüglich der Anschuldigungen gegen die IKS fest. Doch dies war nur ein Vorgeschmack der unverantwortlichen Haltung des IBRP. Es ist danach noch weiter gegangen, zunächst durch das keusche Verschliessen der Augen vor dem petzerischen Verhalten der IFIKS, das man eigentlich leicht durch den Besuch ihrer Internetseite erkennen kann: Die Ausrede des IBPR, keine Überprüfung dessen machen zu können, was die IKS zum Treiben der IFIKS sagt, war damit nicht mehr gültig. Das IBRP ist danach noch weiter gegangen, als es den Diebstahl von politischem Material der IKS durch Mitglieder der IFIKS absegnete, indem es die Einladung für die öffentliche Diskussionsveranstaltung des IBRP vom 2. Oktober 2004 in Paris an die Abonnenten von Révolution Internationale gestützt auf eine Adressliste schickte, die von einem Mitglied der IFIKS gestohlen worden war18. Das IBRP hat in derselben Art, wie es versuchte, den „Circulo“ in Argentinien durch die Veröffentlichung der Schweinereien des Bürgers B. auf seiner Internetseite in seinen Dunstkreis zu ziehen, nicht gezögert, mit einer Bande von ehrenamtlichen Denunzianten und Dieben zusammenzuspannen in der Absicht, seinen politischen Einfluss in Frankreich zu verstärken und in Mexiko einen Horchposten zu eröffnen (es verbirgt auch nicht seine Hoffnung, die Elemente der IFIKS für seine Reihen zu gewinnen).

Im Gegensatz zum „Circulo“ existiert die IFIKS noch und publiziert weiterhin ihre Bulletins, die zum grössten Teil Verleumdungen gegen die IKS enthalten. Das IBRP behauptet: „Die Verbindungen mit der IFIKS bestehen und werden andauern“. Wird es eventuell dann erfolgreich sein und die Mitglieder der IFIKS integrieren können, wenn diese müde sind zu behaupten, sie seien die „wahren Verteidiger der richtigen IKS“? Das IBRP geht offenbar seinen opportunistischen Weg bis zum Ende - einen opportunistischen Weg, der die Kommunistische Linke schon heute in grossen Misskredit bringt, auf die es sich nach wie vor beruft. Und wenn das IBRP tatsächlich die Elemente der IFIKS aufnimmt, so wird es sich nicht lange darüber freuen können: Aus seiner eigenen Geschichte sollte es gelernt haben, dass man mit Überresten, die man im Abfall der IKS gefunden hat, nicht viel anstellen kann.

Lügen, Komplizenschaft mit Denunzianten, Verleumdungen und Diebstahl, Verrat an der Ehrlichkeit und den strengen Organisationsprinzipien, welche die Ehre der Italienischen Kommunistischen Linken ausmachten: Genau dorthin führt der Opportunismus. Und das traurigste für das IBRP ist, dass ihm all dies in der Praxis nicht viel bringt. Es hat noch nicht eingesehen, wie eine opportunistische Methode (eine Methode welche die „schnellen Erfolge“ der langfristigen Perspektive vorzieht und auf den Prinzipen herumtrampelt) lediglich auf Sand baut. Das einzige Gebiet, auf dem das IBRP einen Erfolg zu verzeichnen hatte, sind die Fehlgeburten. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Existenz ist damit seine Strömung auf eine kleine Sekte mit geringeren politischen Kräften beschränkt als zu deren Anfängen.

In einem nächsten Artikel werden wir auf die Grundlagen der opportunistischen Methode des IBRP zurückkommen, welche in die traurigen Verrenkungen der letzten Zeit führten.

 Fabienne                   


1 Ein überstürztes Vorhaben, welches die anderen Genossen nicht teilten, da sie sich noch nicht zu einem solchen Schritt entscheiden konnten.

2 Siehe Nr. 13 von Workers’ Voice, auf die wir mit einem Artikel in International Review Nr. 2 antworteten, sowie unseren Artikel in World Revolution Nr. 3, „Sectarianism unlimited“.  

3 Als die CWO gegründet wurde, bezeichneten wir dieses Ereignis als eine „unvollständige Umgruppierung“ (siehe World Revolution Nr. 5). Sehr schnell sollten die Ereignisse diese Analyse auch bestätigen: Im Protokoll einer Sitzung der CWO zum Austritt der Genossen von Liverpool steht geschrieben: „Es hat sich gezeigt, dass die alte WV die Politik des Zusammenschlusses nie akzeptiert hat, ausser um RP als Schutzschild gegen die IKS zu gebrauchen“ (zitiert aus: „Die CWO, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“, einem Text, der geschrieben wurde von Genossen, die im November 1977 mit der CWO gebrochen hatten, um der IKS beizutreten, publiziert in International Review Nr. 12, engl./franz./span. Ausgabe).    

4 Hier ist eine Präzisierung notwendig: Bei der Lektüre der Presse des IBRP oder auch anderer erhält man oft den Eindruck, dass diese Konferenzen einzig und allein das Verdienst von BC gewesen seien, da auf dessen Aufruf von 1976 hin die Konferenz vom Mai 1977 in Mailand stattfand, die erste von insgesamt dreien. Dazu hatten wir uns schon in einem Brief vom 9. Juni 1980 an BC geäussert: „Wenn man sich auf die formellen Aspekte beschränkt, ja dann ist es der Aufruf vom April 1976 von BC, der den Ausgangspunkt bildete. Doch müssen  wir euch daran erinnern, Genossen, dass euch schon im August 1968 der Vorschlag zur Abhaltung einer Konferenz von drei unserer Genossen, die euch in Mailand aufsuchten, überbracht wurde? Damals war unsere Organisation kaum mehr als embrionär (...) Unter diesen Umständen war es für uns schwierig, zu einer Konferenz unter verschiedenen Gruppen aufzurufen, die während oder nach dem Mai 68 entstanden waren. Wir dachten, eine Initiative sollte von einer gewichtigeren Gruppe ausgehen, die bekannt und organisiert ist, versehen mit einer regelmässigen und gelesenen Presse, wie das bei euch der Fall war. Aus diesem Grunde haben wir diesen Vorschlag gemacht und in einer Zeit, in der die Arbeiterklasse begann, das schreckliche Joch der Konterrevolution abzuschütteln, auf der Wichtigkeit von solchen Konferenzen bestanden. Doch ihr habt damals mit dem Argument, es gäbe nichts Neues auf diesem Planeten, der Mai 68 sei lediglich eine Studentenrevolte, diesen Vorschlag abgelehnt. Im darauffolgenden Sommer, als die Streikbewegung auf Italien übergriff (...), haben wir euch denselben Vorschlag wieder gemacht, und ihr habt uns dieselbe Antwort gegeben. (...) Als sich dann die Streikbewegung auf ganz Europa ausbreitete, haben wir euch anlässlich eures Kongresses von 1971 erneut denselben Vorschlag gemacht. Und wieder war eure Antwort dieselbe. Als wir darin „keinen Sinn mehr sahen“ haben wir schlussendlich im November 1972 die Initiative zu einer „internationalen Korrespondenz“ ergriffen, basierend auf der Notwendigkeit von Diskussionen unter den Revolutionären angesichts des Wiedererwachens der Arbeiterklasse. Sie wurde durch unsere Genossen von Internationalism ausgerufen, welche die Sektion der IKS in Amerika gründeten. Dieser Vorschlag war an rund zwanzig Gruppen gerichtet (so auch an euch), ausgewählt nach ähnliche Kriterien wie schon bei den vorherigen Aufrufen zu den Konferenzen, mit der Perspektive einer internationalen Konferenz. Ihr habt auf diese Initiative negativ reagiert mit denselben Argumenten, die ihr schon gegen die vorangegangenen Aufrufe ins Feld geführt hattet. (...) Muss man davon ausgehen, dass für diese Organisation (die PCInt) nur Initiativen einen Wert haben, welche aus ihrer eigenen Feder stammen? (...) Unsere Organisation hat immer auf die Abhaltung von internationalen Konferenzen der kommunistischen Gruppen hingearbeitet. Und man kann wahrlich sagen, dass die Initiative des „Partito Comunista Internazionalista“  von 1976 keinesfalls ein „erstes“,  sondern eher ein verspätetes Erwachen war und vielmehr eine Antwort 8 Jahre nach unserem Vorschlag von 1968 und 4 Jahre nach demjenigen von 1972. (...) Dies hielt uns jedoch keinesfalls davon ab, darauf sofort positiv zu reagieren. Und man muss bemerken, um mit dieser Frage hier abzuschliessen, dass die Initiative von Battaglia nur Dank unserer Teilnahme nicht ins Wasser fiel, weil wir neben euch die einzigen wirklichen Teilnehmer auf der Konferenz von 1977 in Mailand waren.“ (in den französischen Protokollen der 3. Konferenz unter Gruppen der Kommunistischen Linken publizierter Brief der IKS, welche unter der Verantwortung der IKS herausgegeben wurden)                                                         

5 Die von BC angewandte Methode war genauso schlimm wie die parlamentarischen Manöver der Bourgeoisie:

- vor den Konferenzen war kein einziges Mal die Rede davon, ein zusätzliches Teilnahmekriterium über die Parteifrage einzuführen;

- die CWO wurde von BC in langen Gesprächen hinter den Kulissen zur Unterstützung dieses Vorschlages bearbeitet (anstatt offen die Argumente darzulegen, die sie nur für die CWO reservierte);

- einige Monate zuvor hatten wir an einer Sitzung des technischen Komitees zur Vorbereitung der Konferenzen BC gefragt, ob sie die Absicht hätte, die IKS von zukünftigen Konferenzen fern zu halten. Die Genossen antworteten klar und deutlich, es sei besser, mit allen Teilnehmern weiter zu machen, inklusive die IKS.

Nebenbei: Diese Abstimmung – 2 Stimmen für ein neues Teilnahme-Kriterium, 1 dagegen (die IKS) und 2 Enthaltungen – wurde erst nach der Abreise einer anderen Gruppe abgehalten, welche mit der IKS gegen die Einführung eines neuen Kriteriums war.      

6 „Heute existiert das Fundament zum Beginn des Prozesses der Klärung über die wirklichen Aufgaben der Partei ... Auch wenn wir weniger Teilnehmer haben als auf der 2. und 3. Konferenz, beginnen wir heute auf einer klareren und seriöseren Basis.“ (Protokoll der Konferenz)   

7 Dies zeigt klar, dass es nicht die Auffassung der IKS zur Parteifrage war welche BC und der CWO Schwierigkeiten bereitete, sondern weil wir eine seriöse und genaue Diskussion anstrebten. Und genau diese wollten diese zwei Organisationen nicht.

8 Die Bilanz der 4. Konferenz ist wahrlich surrealistisch: Einerseits wurde sie erst zwei Jahre nach diesem grossen historischen Ereignis veröffentlicht. Andererseits muss man feststellen, dass die Mehrheit der Kräfte, seriös „ausgewählt“ durch BC und die CWO, schon vorher oder kurz danach verschwunden waren. Überdies stellte sich heraus:

- dass das „technische Komitee“ (BC-CWO) unfähig war, ein Vorbereitungsbulletin herauszugeben, und darüber hinaus die Konferenz auf Englisch abgehalten wurde und die Referenztexte von BC nur auf Italienisch publiziert wurden;

- dass die Gruppen, welche die Konferenz organisierten, unfähig waren, auch nur die Hälfte der Interventionen zu übersetzen.

9 siehe vor allem: „Antwort auf die Antworten“ in International Review Nr. 36, engl./franz./span. Ausgabe

10 siehe International Review Nr. 35, engl./franz./span. Ausgabe

11 siehe International Review Nr. 44, engl./franz./span. Ausgabe: „Gruss an Comunismo“

12 siehe „Entfaltung des politischen Lebens und der Arbeiterkämpfe in Mexico“ in International Review Nr. 50, engl./franz./span. Ausgabe

13 siehe unseren Artikel „Verteidigung des revolutionären Milieus“, Internationalism Nr. 122, Sommer 2002

14 Aus diesem Grunde fordern wir sie auch auf, die Diskussionsveranstaltungen dieser Gruppen zu besuchen, besonders diejenigen des IBRP. So hatten wir es auch bei der Diskussionsveranstaltung des IBRP vom 2. Oktober 2004 in Paris gemacht. Wir mussten jedoch feststellen, dass das IBRP die „massive“ Präsenz unserer Sympathisanten nicht sehr schätzte, wie aus ihrer Stellungnahme zu dieser Veranstaltung zu entnehmen war.        

15 Siehe dazu unseren Artikel: „Das politische proletarische Milieu angesichts des Krieges: Die Geisel des Sektierertums im internationalistischen Lager“, Internationale Revue Nr. 33   

16 Siehe dazu unsere Artikel: „Der Kampf zur Verteidigung der Organisations-Prinzipien“ und „Der 15. Kongress der IKS: Die Organisation angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen verstärken“ in International Review Nr. 110 und 114, engl./ franz./span. Ausgabe

17 Siehe auf dem Internet die verschiedenen Stellungnahmen der IKS zum „Circulo“: „Eine fremdartige Erscheinung“; „Eine erneute fremdartige Erscheinung“; „Bluff oder Realität?“ und ebenfalls in unserer Presse: „Circulo de Comunistas Internacionalistas (Argentinien): Ein demaskierter Bluff“.  

18 Siehe dazu unsere Antwort an das IBRP: „Diebstahl und Verleumdungen sind keine Methoden der Arbeiterklasse!“ auf unserer Internetseite.

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationales Büro für die Revolutionäre Partei [30]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [31]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/14/internationale-revue-2005

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