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Internationale Revue 50

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Dekadenz des Kapitalismus, Teil IX: Die Komintern und der Virus des „Luxemburgismus“ (1924)

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Der vorherige Artikel dieser Reihe zeigte auf, wie die Hoffnungen auf einen unmittelbar bevorstehenden revolutionären Sieg, die von den proletarischen Erhebungen 1917-19 geweckt worden waren, nur zwei Jahre später einem nüchterneren Denkprozess unter den Revolutionären bezüglich des allgegenwärtigen Verlaufs der historischen Krise des Kapitalismus gewichen waren. Auf dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationalen war ein Schlüsselthema in der Debatte folgende Frage: Das kapitalistische System ist zweifellos in eine Epoche des Niedergangs eingetreten, doch was geschieht, wenn das Proletariat nicht sofort mit dem Sturz dieses Systems auf die neue Epoche antwortet? Und worin besteht die Aufgabe der kommunistischen Organisationen, wenn sich der Klassenkampf und das subjektive proletarische Verständnis seiner Lage auf dem Rückzug befinden, obwohl die objektiven historischen Bedingungen für die Revolution immer noch vorhanden sind?

Die Beschleunigung der Geschichte, die zu unterschiedlichen und oftmals sich scharf widersprechenden Antworten der revolutionären Organisationen führte, setzte sich in den folgenden Jahren fort, da die Degeneration der Revolution in Russland, ihre wachsende Isolation den Weg zu einer beispiellosen Form der Konterrevolutionäre öffnete. Das Jahr 1921 war ein schicksalhafter Wendepunkt: Angesichts der breiten Unzufriedenheit unter dem Petrograder und Kronstädter Proletariat wie auch einer Welle von Bauernrevolten unternahmen die Bolschewiki den katastrophalen Schritt, zur massiven Repression gegen die Arbeiterklasse zu greifen, während sie gleichzeitig innerparteiliche Fraktionen verbannten. Die Neue Ökonomische Politik, die unmittelbar nach dem Kronstädter Aufstand eingeführt wurde, machte zwar gegenüber einigen ökonomischen Forderungen dieser Fraktionen Zugeständnisse, jedoch nicht auf politischer Ebene: Es sollte keine Lockerung der Vorherrschaft der Staatspartei über die Sowjets geben. Und schon ein Jahr später begann Lenin darüber zu klagen, dass sich der Staat selbst der Kontrolle der proletarischen Partei entzog und sie in eine Richtung drängte, die sie nicht überschauen konnte. Im gleichen Jahr, also zu einer Zeit, als sich Deutschland noch in einem Zustand der sozialen Gärung befand, besiegelte der „Sowjet“-Staat in Rapallo einen Geheimvertrag mit dem deutschen Imperialismus: Dies war ein deutliches Anzeichen dafür, dass der russische Staat im Begriff war, seine nationalen Interessen über die Bedürfnisse des internationalen Klassenkampfes zu stellen. 1923 gab es in Russland immer mehr Arbeiterstreiks; es kam zur Bildung illegaler kommunistischer Gruppierungen wie Miasnikows Arbeitergruppe, aber auch zu einer „legalen“ Linksopposition innerhalb der Partei, die nicht nur alte Dissidenten wie Ossinski um sich sammelte, sondern auch Trotzki selbst.

Lenin starb im Januar 1924, und im Dezember desselben Jahres stimmte Stalin (noch) zaghaft den Schlachtruf „Sozialismus in einem Land“ an. Ab 1925/26 wurde Letzterer zur offiziellen Politik der russischen Partei. Die neue Linie symbolisierte einen entscheidenden Bruch mit dem Internationalismus.

Bolschewisierung versus „Luxemburgismus“

Eigentliche alle Kommunisten, die zusammenkamen, um die neue Internationale 1919 zu gründen, waren sich einig, dass der Kapitalismus sich als ein  System im historischen Niedergang erwiesen hat, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung über die politischen Implikationen der neuen Periode und über die Mittel waren, die es bedurfte, um den revolutionären Kampf zu entwickeln – zum Beispiel ob bürgerliche Parlamente als eine „Tribüne“ für die revolutionäre Propaganda benutzt oder zugunsten der Aktion auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen boykottiert werden sollten. Hinsichtlich der theoretischen Untermauerungen der neuen Epoche gab es wenig Zeit für eine nachhaltige Debatte. Die einzige wirklich kohärente Analyse einer „Wirtschaftslehre der Dekadenz“ lieferte Rosa Luxemburg unmittelbar vor Ausbruch des Weltkrieges. Wie wir gesehen haben[1], provozierte ihre Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs viel Kritik sowohl seitens der Reformisten als auch von den Revolutionären, doch die Kritik war größtenteils negativ – es gab nur wenig Hinweise auf einen alternativen Rahmen zum Verständnis der fundamentalen Widersprüche, die den Kapitalismus in die Epoche des Verfalls zwangen. Jedenfalls wurden die Meinungsverschiedenheiten über diesen Punkt zu Recht nicht als fundamental betrachtet. Es ging im Wesentlichen darum zu akzeptieren, dass das System eine Stufe erreicht hat, auf der die Revolution sowohl möglich als auch notwendig wurde.

1924 fand in der Kommunistischen Internationalen jedoch eine Wiederbelebung der Kontroverse über Luxemburgs ökonomischer Analyse statt. Luxemburgs Ansichten übten einen beträchtlichen Einfluss auf die kommunistische Bewegung in Deutschland aus, sowohl in der offiziellen KPD als auch in der linkskommunistischen KAPD. Doch nun wurde angesichts des wachsenden Drucks, die kommunistischen Parteien außerhalb Russlands fester an die Bedürfnisse des russischen Staates zu binden, ein Prozess der „Bolschewisierung“ in der gesamten Komintern in Gang gesetzt, mit dem Ziel, unerwünschte Divergenzen in Theorie und Taktik auszumerzen. In einem bestimmten Moment in der Bolschewisierungskampagne wurde die Fortdauer des „Luxemburgismus“ in der deutschen Partei als die Urquelle einer Vielzahl von Abweichungen identifiziert – insbesondere der „Irrtümer“ in der nationalen und kolonialen Frage und einer spontaneistischen Herangehensweise an die Rolle der Partei. Auf der abstrakten, „theoretischen“ Ebene führte dieser Kurs gegen den Luxemburgismus zu Bucharins Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals (1924).

Wir begegneten Bucharin zuletzt als ein Sprecher der Linken der bolschewistischen Partei während des Krieges – seine nahezu prophetische Analyse des Staatskapitalismus und seine Anerkennung der Notwendigkeit, zur Forderung von Marx nach einer Zerstörung des kapitalistischen Staates zurückzukehren, katapultierte ihn in die erste Reihe der internationalen Bewegung; mit seiner Ablehnung des Schlachtrufs der „nationalen Selbstbestimmung“  stand er auch Luxemburg nahe, sehr zum Ärger Lenins. In Russland 1918 war er ein führendes Mitglied der linkskommunistischen Gruppe gewesen, die gegen den Vertrag von Brest-Litowsk und, noch bedeutsamer, gegen die frühe Bürokratisierung des Sowjetstaates opponierte. Doch sobald die Kontroverse über den Friedensvertrag eingeschlafen war, wurden Bucharins kritische Fertigkeiten von seiner Bewunderung für die Methoden des Kriegskommunismus abgelöst, den er als authentische Übergangsform zum Kommunismus zu theoretisieren begann.[2] Jener Mann, der den leviathanischen Staat kritisiert hatte, welcher vom Imperialismus geschaffen wurde, erblickte nun keine Probleme im „proletarischen Staat“, der während der Übergangsperiode immer allmächtiger werden sollte. In der Gewerkschaftsdebatte 1921 stellte sich Bucharin auf die Seite Trotzkis und rief zur direkten Unterordnung der Gewerkschaften unter diesen Staatsapparat auf. Doch mit der Einführung der NÖP änderte Bucharin seine Position erneut. Er ging zu den Methoden des äußersten Zwangs, die im Kriegskommunismus favorisiert wurden, insbesondere gegenüber der Bauernschaft, auf Distanz und begann nun, anstelle der direkten Staatsdekrete die NÖP mit ihrer Mischung aus Staats- und Privateigentum und der Abhängigkeit von den Märkten als das „normale“ Modell für den Übergang zum Kommunismus zu betrachten. Doch diese Übergangsphase wurde – wie in der Periode, als er mit dem Kriegskommunismus geliebäugelt hatte – von Bucharin immer mehr in nationale Begriffe gefasst, im Gegensatz zu seiner Sichtweise während des Krieges, als er auf die globale Interdependenz der Weltwirtschaft hingewiesen hatte. Tatsächlich kann Bucharin in gewisser Weise als „Urheber“ der Thesen des Sozialismus in einem Land angesehen werden, die Stalin schließlich aufgriff und letztlich benutzte, um Bucharin, zunächst politisch, dann physisch, loszuwerden.[3]

Bucharins Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals war klar als eine theoretische Rechtfertigung zur Entlarvung der „Schwächen“ der KPD in der nationalen, kolonialen und Bauernfrage beabsichtigt – dies war die kühne Behauptung am Ende des Werks, obgleich bar jeder Verknüpfung in den Argumenten zwischen dem Angriff gegen Luxemburgs Wirtschaftslehre und ihren angeblichen politischen Konsequenzen. Bucharins Generalangriff gegen Luxemburg in der theoretischen Frage der kapitalistischen Akkumulation wurde jedoch von einigen Revolutionären aufgegriffen, auch wenn sie im Wesentlichen nichts mit den dubiosen politischen Zielen des Dokuments zu tun hatten.

Wir denken, dass dies aus vielerlei Gründen ein Fehler war. Das politische Ziel des Texts von Bucharin kann weder von seinem aggressiven Tonfall noch von seinem theoretischen Inhalt getrennt werden.

Der Tonfall des Textes deutet darauf hin, dass es sein Ziel war, Luxemburg fertigzumachen, sie zu diskreditieren. Wie Rosdolsky hervorhebt: „Der heutige Leser der Bucharinschen Abhandlung fühlt sich unangenehm betroffen von dem heftigen und zuweilen auch frivolen Ton seiner Polemik gegen Rosa Luxemburg, die wenige Jahre früher faschistischen Mördern zum Opfer gefallen war. Indes war dieser Ton vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass Bucharins Schrift nicht so sehr durch wissenschaftliche als durch politische Interessen diktiert war. Es galt, den damals noch sehr starken Einfluss des ‚Luxemburgismus‘ in den führenden Kreisen der Kommunistischen Partei Deutschlands zu brechen, und zu diesem Zwecke schien jedes Mittel gut genug.“[4] Man watet durch Seiten voller Sarkasmus und herablassender Nebenbemerkungen, ehe ganz zum Schluss des Buches Bucharin widerwillig eingesteht, dass Rosa einen exzellenten historischen Überblick über die Art und Weise verschafft hat, wie sich der Kapitalismus zu den anderen Gesellschaftssystemen verhalten hat, die seine Umgebung bildeten. Es gibt keinen ernsthaften Versuch, sich mit den wirklichen Fragen zu befassen, denen sich Rosa Luxemburg in ihrem Werk gewidmet hatte – die Preisgabe der Perspektive des Zusammenbruchs des Kapitalismus durch die Revisionisten und die Notwendigkeit, die dem kapitalistischen Akkumulationsprozess innewohnende Tendenz zum Zusammenbruch zu begreifen. Im Gegenteil, Bucharins Argumente erwecken den Eindruck, dass er auf alles einschlug, was ihm in die Hände kam, auch wenn es bedeutete, Luxemburgs Thesen gründlich zu verzerren.

Zum Beispiel heißt es bezüglich des Vorwurfs, dass Luxemburgs Theorie den Imperialismus harmonisch und im friedlichen Austausch von Äquivalenten mit der vor-kapitalistischen Welt leben lässt, bei Bucharin: „Beide Seiten sind äußerst zufrieden. Satte Wölfe, unversehrte Schafe“.[5] Wir hatten gerade erwähnt, dass sich Bucharin bemüßigt fühlte, anderswo zuzugeben, dass eine Hauptstärke ihres Buches darin besteht, die Art und Weise, wie der Kapitalismus das nicht-kapitalistische Milieu integrierte, aufzuzeichnen und zu brandmarken – die Ausplünderung, Ausbeutung und Zerstörung dieser Welt. Das ist das ganze Gegenteil eines harmonischen Miteinanders von Schafen und Wölfen. Die Schafe werden entweder gefressen oder sie werden durch ihr eigenes Wirtschaftswachstum selbst kapitalistische Wölfe, und ihre Konkurrenz verringert die Nahrungsmittelversorgung weiter…

Gleichermaßen krude ist das Argument, dass in Luxemburgs Definition des Imperialismus nur Kämpfe um ausgesucht nicht-kapitalistische Märkte als imperialistische Konflikte zählen und dass „ein Kampf um bereits kapitalistisch gewordene Gebiete kein Imperialismus sei, was zum Himmel schreit“.[6] In Wirklichkeit ist Luxemburgs Argument: „Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus“[7] darauf ausgerichtet, eine ganze Ära, den allgemeinen Kontext zu schildern, in dem imperialistische Konflikte stattfinden. Die Rückkehr imperialistischer Konflikte ins Zentrum des Systems, die Verlagerung zu offenen militärischen Rivalitäten zwischen den entwickelten kapitalistischen Mächten wurde bereits in Die Akkumulation… registriert und in der Junius-Broschüre ausführlich dargelegt.

Zum Thema Imperialismus haben wir noch Bucharins Argument, dass dem Kapitalismus eine glänzende Zukunft bevorstehe, da es genug Gebiete mit nicht-kapitalistischer Produktion in der Welt gebe. „Dass der Imperialismus Katastrophe bedeutet ist eine Tatsache. Da wir in die Periode des Zusammenbruchs des Kapitalismus eingetreten sind, nicht minder. Tatsache ist aber auch, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Erde zu „dritten Personen“ gehört. (…) Ebensowenig aber unterliegt es einem Zweifel, dass nicht die industriellen und landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, sondern die Bauern die Hauptmasse der heute lebenden Bevölkerung der Erde darstellen. (…) Würde die Theorie Rosa Luxemburgs auch nur annähernd stimmen, wäre es um die Sache der Revolution wahrlich schlecht bestellt“.[8]

Paul Frölich (einer der „Luxemburgisten“ in der KPD, die nach dem Ausschluss der späteren KAPD-Mitglieder in der Partei verblieben) antwortete darauf sehr gut in seiner Luxemburg-Biographie, die zuerst 1939 veröffentlicht wurde:

„Verschiedene Kritiker, und besonders Bucharin, glaubten, einen wirksamen Trumpf gegen Rosa Luxemburg auszuspielen, indem sie auf die gewaltigen Möglichkeiten der kapitalistischen Ausbreitung in den nicht-kapitalistischen Raum hinwiesen. Die Schöpferin der Akkumulationstheorie hat diesem Argument bereits die Spitze abgebrochen durch die wiederholte Betonung, der Kapitalismus müsse in Todeszuckungen geraten, längst bevor die ihm immanente Tendenz auf Erweiterung des Marktes auf die objektive Schranke gestoßen sei (…) Die Expansionsmöglichkeit ist kein geographischer Bereich: nicht die Zahl der Quadratmeilen entscheidet, auch kein demographischer Begriff: nicht das Zahlenverhältnis von kapitalistischer und nichtkapitalistischer Bevölkerung zeigt die Reife des Prozesses an. Es handelt sich um ein sozialökonomisches Problem, bei dem ein Komplex von widersprechenden Interessen, Kräften und Erscheinungen in Rechnung gesetzt werden muss…“[9].

Kurz, Bucharin hat schlicht und einfach die Geographie und Demographie mit der realen Kapazität der verbleibenden nicht-kapitalistischen Systeme verwechselt, Tauschwert zu generieren und so einen wirksamen Markt für die kapitalistische Produktion zu bilden.

Kapitalistische Widersprüche

Wenn wir nun Bucharins Behandlung der zentralen Frage in Luxemburgs Theorie betrachten, das von Marx‘ Reproduktionsschemata gestellte Problem, dann stellen wir erneut fest, dass Bucharins Vorgehensweise völlig losgelöst von seiner politischen Perspektive ist. In einer zweiteiligen Kritik, die 1982 (Internationale Revue, Nr. 30, engl., franz., span. Ausgabe, „Über den Kapitalismus hinausgehen: Abschaffung des Lohnsystems“) veröffentlicht worden war, wird völlig richtig argumentiert, dass Bucharins Kritik an Luxemburg tiefe Divergenzen bezüglich des eigentlichen Inhalts des Kommunismus enthüllt.

Zentral für Luxemburgs Theorie ist das Argument, dass Marx‘ Schemata der erweiterten Reproduktion im Kapital, Band 2, die der Einfachheit halber von einer Gesellschaft ausgingen, die ausschließlich aus Arbeitern und Kapitalisten zusammengesetzt war, eben als abstrakte Schemata wahrgenommen werden sollten, und nicht als eine Demonstration der realen Möglichkeiten einer harmonischen kapitalistischen Akkumulation in einem geschlossenen System. In der Realität ist der Kapitalismus ständig dazu getrieben worden, über die Grenzen seiner eigenen Gesellschaftsverhältnisse hinauszugehen. Für Luxemburg stellt sich laut Marx‘ Argumentation in anderen Teilen des Kapital das Problem der Realisierung dem Kapital in seiner Gesamtheit, auch wenn für individuelle ArbeiterInnen und Kapitalisten andere ArbeiterInnen und Kapitalisten zweifellos einen perfekten Markt für ihren gesamten Mehrwert darstellen können. Bucharin stimmt zweifellos zu, dass es einen Bedarf an einer ständigen Quelle zusätzlicher Nachfrage geben muss, damit eine erweiterte Reproduktion stattfinden kann. Doch er besteht darauf, dass diese zusätzliche Nachfrage von den ArbeiterInnen geschaffen wird; vielleicht nicht von den ArbeiterInnen, die das variable Kapital absorbieren, das vom Kapitalisten zu Beginn des Akkumulationszyklus‘ bereitgestellt wurde, dafür aber von zusätzlichen ArbeiterInnen: „Die Einstellung zusätzlicher Arbeiter erzeugt eine zusätzliche Nachfrage, die gerade jenen Teil des Mehrwerts realisiert, der akkumuliert werden soll, nämlich denjenigen Teil, der sich notwendigerweise in funktionierendes, zusätzliches, variables Kapital zu verwandeln hat“.[10] Worauf unser Artikel antwortet: „Wendet man Bucharins Analyse auf die Realität an, kommt man zu folgendem Problem: Was kann die Kapitalisten dazu bewegen, keine Arbeiter zu entlassen, wenn das Geschäft keinen Absatz findet? Ganz einfach: man stelle einen ‚zusätzlichen Arbeiter‘ ein! Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Das Problem ist nur, dass ein Kapitalist, der diesem Ratschlag folgt, ganz schnell bankrottgehen würde.“[11]

Diese Argumentation hat ein ähnliches Niveau wie Otto Bauers Antwort auf Luxemburg, die sie in ihrer Antikritik in Stücke zerreißt: Für Bauer bildet das Bevölkerungswachstum einfach die neuen Märkte, die für die Akkumulation benötigt werden. Der Kapitalismus würde sicherlich heute aufblühen, wenn das Bevölkerungswachstum das Problem der Mehrwertrealisierung löste. Doch wie merkwürdig, nicht nur das Bevölkerungswachstum war in den letzten Jahrzehnten ein konstanter Faktor, auch die Krise ist in schwindelerregende Höhen „gewachsen“. Wie Frölich unterstrich, ist das Problem der Mehrwertrealisierung keine Frage der Demographie, sondern der solventen Nachfrage, der Nachfrage, die auch zahlungsfähig ist. Und da die Nachfrage der Arbeiterhaushalte nicht mehr absorbieren kann als das ursprüngliche variable Kapital, das vom Kapitalisten verauslagt wird, erweist sich die Einstellung neuer ArbeiterInnen als eine Nicht-Lösung, sobald man den Kapitalismus in seiner Gesamtheit betrachtet.

Es gibt jedoch noch eine andere Seite in Bucharins Argument, da er auch behauptet, dass die Kapitalisten selbst den zusätzlichen Markt bilden, der für die weitere Akkumulation benötigt wird, weil sie in die Produktionsmittel investieren. „Käufer der zusätzlichen Produktionsmittel sind die Kapitalisten selbst, Käufer der zusätzlichen Konsumtionsmittel die zusätzlichen Arbeiter, die von den Kapitalisten, die die Arbeitskraft dieser zusätzlichen Arbeiter kaufen, Geld erhalten“[12] Dieser Argumentationsstrang wird am meisten von jenen favorisiert, die wie Bauer behaupten, Luxemburg habe etwas zu einem Problem gemacht, das keines sei: Die Produktion und der Verkauf zusätzlicher Produktionsmittel lösten das Akkumulationsproblem. Luxemburg hat den Kern dieses Arguments bereits in ihrer Kritik an Tugan-Baranowskis Bemühungen kritisiert, der beweisen wollte, dass der Kapitalismus keinen unüberwindbaren Grenzen im Akkumulationsprozess gegenübersteht: „Außerdem findet, wie wir gesehn haben (Buch II, Abschn. III), eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital (auch abgesehn von der beschleunigten Akkumulation), die insofern zunächst unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst willen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn.“[13] Für Luxemburg würde eine wörtliche Auslegung der Reproduktionsschemata wie Tugan-Baranowskis „nicht eine Kapitalakkumulation, sondern eine wachsende Produktion von Produktionsmitteln ohne jeden Zweck“[14] bewirken.

Bucharin war sich bewusst, dass die Produktion von Produktionsgütern in der Tat keine Lösung des Problems ist, weil er den „zusätzlichen Arbeiter“ ins Spiel bringt, der die wachsenden Warenmengen, die von den zusätzlichen Produktionsmitteln hergestellt werden, aufkaufen soll. Ja, er tadelte Tugan-Baranowski dafür, dass er nicht begriffen habe, dass „der gesamte Produktionsapparat der Gesellschaft, im Grunde genommen, nichts anders als ein Apparat zur Produktion menschlicher Konsumtionsmittel“ sei.[15] Doch er brachte dieses Argument lediglich vor, um Luxemburg zu beschuldigen, Tugan-Baranowski mit Marx zu verwechseln. Und am Ende antwortete er auf Luxemburg wie so viele andere vor ihm, indem er Marx auf irreführende Weise zitierte, was erneut zu implizieren schien, dass der Kapitalismus völlig zufrieden gestellt werden könnte, indem er seine Expansion auf die Grundlage einer endlosen Produktion von Konsumgütern stellt: „Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Form sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus.“[16] Dies sind sicherlich Marx‘ Worte, doch Bucharins Bezugnahme auf sie ist irreführend: Marx‘ Sprache ist hier eher polemisch als exakt: Das Kapital stützt sich in der Tat auf die Akkumulation um ihrer selbst willen, d.h. auf die Akkumulation von Reichtum in ihrer historisch dominierenden Wertform; aber es kann dies nicht durch die bloße Produktion um ihrer selbst erreichen. Dies deshalb, weil es nur Waren produziert, und eine Ware realisiert keinen Profit für den Kapitalisten, wenn sie nicht verkauft wird. Er produziert nicht um seiner selbst willen, nur um die Lager zu füllen oder das, was er produziert, ins Wasser zu schmeißen (selbst wenn dies nicht selten das unerwartete Resultat seiner Unfähigkeit ist, einen Markt für seine Güter zu schaffen).

Bucharins staatskapitalistische Lösungen

Bucharins Biograph Stephen Cohen, der die oben kritisierten Kommentare Bucharins über Tugan-Baranowski zitierte, bemerkt einen weiteren grundlegenden Widerspruch in Bucharins Vorgehensweise.

„Auf den ersten Blick scheint seine unflexible Vorgehensweise gegen Tugan-Baranowskis Argument kurios zu sein. Bucharin selbst hat nach all dem des Öfteren die regulierende Kraft staatskapitalistischer Systeme betont, später sogar eine Theorie entwickelt, wonach sich unter dem ‚reinen‘ Staatskapitalismus (ohne freiem Markt) die Produktion krisenfrei weiterentwickelt, während der Konsum hinterherhinkt.“[17]

Cohen legte seine Finger in die offene Wunde von Bucharins Analyse. Er bezog sich dabei auf die folgende Passage in Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals: „Stellen wir uns einmal drei gesellschaftlich-ökonomische Formationen vor: die kollektiv-kapitalistische Gesellschaftsordnung (Staatskapitalismus), bei der die kapitalistische Klasse zu einem einzigen Trust vereinigt ist, und wir es mit einer organisierten, aber gleichzeitig vom Standpunkt der Klassen antagonistischen Wirtschaft zu tun haben; ferner die „klassische“ kapitalistische Gesellschaft, die Marx analysiert, endlich die sozialistische Gesellschaft. Verfolgen wir nun: 1. die Art des Vorgangs der erweiterten Reproduktion, also die Momente, die eine „Akkumulation“ ermöglichen. (Wir versehen das Wort Akkumulation mit Anführungszeichen, da die Bezeichnung Akkumulation ihrem Wesen nach nur kapitalistische Verhältnisse voraussetzt); 2. wie, wo und wann Krisen entstehen können.

1. Der Staatskapitalismus. Ist hier eine Akkumulation möglich? Natürlich. Es wächst das konstante Kapital, da die Konsumtion der Kapitalisten wächst. Es entstehen dauernd neue Produktionszweige, die neuen Bedürfnissen entsprechen. Es wächst die Konsumtion der Arbeiter, mögen ihr auch bestimmte Schranken gesetzt sein. Ungeachtet dieser „Unterkonsumtion“ der Massen entsteht keine Krise, da die gegenseitige Nachfrage aller Produktionszweige, wie auch die Konsumentennachfrage, sowohl der Kapitalisten als auch der Arbeiter, von vorneherein gegeben sind. (Statt einer „Anarchie der Produktion“ – ein vom Standpunkt des Kapitals rationeller Plan). Hat man sich bei den Produktionsmitteln „verrechnet“, so wandert der Überfluss auf Lager, in der folgenden Produktionsperiode aber wird eine entsprechende Korrektur vorgenommen. Hat man sich dagegen in Konsumtionsmitteln für Arbeiter „verrechnet“, so wird dieses Plus durch eine Verteilung unter die Arbeiter „verfüttert“ oder aber die entsprechende Portion des Produkts wird vernichtet. Auch im Falle eines Rechenfehlers in der Produktion von „Luxusgegenständen“ ist der Ausweg klar. Somit kann hier keinerlei Krise der Überproduktion entstehen. Der Gang der Produktion vollzieht sich im Allgemeinen glatt. Den Ansporn für die Produktion und den Produktionsplan bildet die Konsumtion der Kapitalisten. Daher besteht hier keinerlei besonders schnelle Entwicklung der Produktion (geringe Zahl von Kapitalisten).“[18]

Wie Cohen machte auch Frölich auf diese Passage und Kommentare aufmerksam.

„Aber seine (Bucharins) eigene ‚Lösung‘ wurde zur indirekten Bestätigung ihrer entscheidenden Thesen.“ Und diese Lösung ist „überraschend. Wir haben hier einen ‚Kapitalismus‘, der nicht Wirtschaftsanarchie, sondern Planwirtschaft ist, in dem es keine Konkurrenz, sondern einen allgemeinen Welttrust gibt und in dem die Kapitalisten sich nicht um die Realisierung ihres Mehrwerts zu kümmern brauchen, weil sie unverkäufliche Produkte einfach verfüttern.“[19]

Unser Artikel äußerte sich ähnlich ablehnend über die Idee, das Mehrprodukt wegzuwerfen: „Bucharin behauptet, das Problem theoretisch zu lösen, indem er es eliminiert. Das Problem der kapitalistischen Überproduktionskrisen ist die Schwierigkeit, das zu verkaufen, was produziert wird. Bucharin erzählt uns nun: Alles, was getan werden müsse, sei, ‚es umsonst zu verschleudern‘! Wenn der Kapitalismus in der Lage ist, seine Produkte gratis zu verteilen, würde er in der Tat keine größere Krise erleiden – da sein Hauptwiderspruch somit gelöst wäre. Doch solch ein Kapitalismus kann nur in der Einbildung Bucharins existieren, dem die Argumente ausgegangen sind. Die ‚kostenlose‘ Verteilung der Produktion, das heißt die Organisation der Gesellschaft in solch einer Weise, dass die Menschen direkt für sich produzieren, ist in der Tat der einzige Ausweg der Menschheit. Doch diese ‚Lösung‘ besteht  nicht in einer organisierten Form des Kapitalismus, sondern im Kommunismus.“[20]

Als er sich in den folgenden Kapiteln der „klassischen“ kapitalistischen Gesellschaft zuwendet, geht Bucharin davon aus, dass Überproduktionskrisen durchaus stattfinden können – doch seien sie lediglich Resultat zeitweiliger Disproportionalitäten zwischen den Produktionsabteilungen (eine Auffassung, die zuvor von den „klassischen“ Nationalökonomen zum Ausdruck gebracht und von Marx kritisiert wurde, wie wir in dem Artikel „Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ in der Internationalen Revue Nr. 46 aufgezeigt hatten). Schließlich widmete sich Bucharin in ein paar dürftigen Zeilen dem Sozialismus als solchen und trug das naheliegende Argument vor, dass eine Gesellschaft, die nur zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse produziert, keine Überproduktionskrise kennt. Doch was Bucharin vor allem zu interessieren schien, war der völlig durchplante Kapitalismus, wo der Staat alle Probleme der Disproportionalität oder der Fehlkalkulation aus dem Weg räumt. Mit anderen Worten: die Art von Gesellschaft, wie sie in der UdSSR Mitte der 1920er Jahre herrschte und die er bereits als Sozialismus dargestellt hatte… Allerdings war Bucharins Science-Fiction-Staatskapitalismus ein Welttrust, ein globaler Koloss ohne vorkapitalistische Überbleibsel und ohne Konflikte zwischen nationalen Kapitalien. Doch seine Vision eines Sozialismus in der UdSSR war eine ähnlich albtraumhafte Utopie, im Grunde ein in sich geschlossenes Kartell ohne innere Konkurrenz und mit einer fügsamen Bauernschaft, die teilweise und temporär außerhalb seiner ökonomischen Zuständigkeit steht.

So zieht der Artikel in der Internationalen Revue, Nr. 29, (engl., franz., span. Ausgabe) korrekterweise die Schlussfolgerung, dass Bucharins Attacke gegen Rosa Luxemburgs Wirtschaftstheorie zwei fundamental entgegengesetzte Sichtweisen des Sozialismus enthüllt. Für Luxemburg rührt der wesentliche Widerspruch in der kapitalistischen Akkumulation aus dem Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert, ein Widerspruch, der der Ware innewohnt – und vor allem der Ware Arbeitskraft, die das einmalige Charakteristikum hat, in der Lage zu sein, einen zusätzlichen Wert zu erzeugen, was die Quelle des kapitalistischen Profits ist, aber auch die Quelle seines Problems, ausreichend Märkte zu finden, um seinen Profit zu realisieren. Folglicherweise können dieser Widerspruch und all die Erschütterungen, die aus ihm resultieren, nur durch die Abschaffung der Lohnarbeit und der Warenproduktion überwunden werden – die wesentlichen Vorbedingungen der kommunistischen Produktionsweise.

Bucharin kritisiert dagegen Luxemburg, weil sie alles zu einfach sehe und „einen Widerspruch herausgreift“, wo es doch in Wahrheit viele gebe: der Widerspruch zwischen Produktionszweigen, zwischen Industrie und Landwirtschaft, die Anarchie des Marktes und die Konkurrenz.[21] All dies trifft zu, doch Bucharins staatskapitalistische Lösung zeigt, dass es für ihn ein fundamentales Problem mit dem Kapitalismus gibt: sein Mangel an Planung. Sobald der Staat die Aufgabe und Verteilung übernimmt, hätten wir eine krisenfreie Akkumulation.

Welchen Irrtümern über den Übergang zum Kommunismus die Arbeiterbewegung vor der Russischen Revolution auch immer aufgesessen war, ihre klarsten Elemente hatten stets argumentiert, dass der Kommunismus/Sozialismus nur auf Weltebene geschaffen werden kann, da jedes Land, jede kapitalistische Nation unvermeidlich vom Weltmarkt beherrscht wird; und dass die Befreiung der Produktivkräfte, die von der proletarischen Revolution in Gang gesetzt wird, nur dann wirksam werden kann, wenn die Tyrannei des globalen Kapitals in allen Hauptzentren gestürzt worden ist. Im Gegensatz dazu postuliert die stalinistische Vision des Sozialismus in einem Land die Akkumulation in einem geschlossenen System – etwas, das für den klassischen Kapitalismus unmöglich gewesen war und für ein staatlich vollkommen reguliertes System nicht mehr möglich war, auch wenn die schiere Größe (und der riesige landwirtschaftliche Sektor) Russlands eine autarke Entwicklungsphase zeitweilig möglich machte. Doch wenn, wie Luxemburg behauptete, der Kapitalismus als Weltordnung in den Schranken eines geschlossenen Systems nicht operieren kann, so war dies noch weniger der Fall für die einzelnen nationalen Kapitalien, und die stalinistische Autarkie in den 1930er Jahren war – gegründet auf dem fieberhaften Ausbau einer Kriegswirtschaft – in ihrem Kern eine Vorbereitung für seine unvermeidliche militärisch-imperialistische Expansion, die schließlich im imperialistischen Holocaust und den folgenden Eroberungen verwirklicht wurde.

Zwischen 1924, als Bucharin sein Buch schrieb, und 1929, dem Jahr des großen Crash, erlebte der Kapitalismus eine Phase der relativen Stabilität und in einigen Gebieten – vor allem in den USA – eines spektakulären Wachstums. Doch dies war lediglich die Ruhe vor dem Sturm der größten Wirtschaftskrise, die der Kapitalismus jemals erlebt hatte. Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir einige Versuche der Revolutionäre betrachten, die Ursprünge und Folgen dieser Krise und vor allem ihre Bedeutung als Ausdruck des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen.

Gerrard


[1] „Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion“, Internationale Revue, Nr. 48.

[2] Siehe „1920: Bucharin und die Übergangsperiode“, Internationale Revue, Nr. 96 (engl., franz., span. Ausgabe).

[3] In seiner Biographie Bukharin and the Bolshevik Revolution, London 1974, datierte Stephen Cohen Bucharins ursprüngliche Version der Theorie auf das Jahr 1922 zurück. Siehe S. 147f.

[4] Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘, Bd. 2, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968, S. 529 (Fußnote). Wie wir in einem früheren Artikel („Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion“, Internationale Revue, Nr. 48) angemerkt hatten, hatte Rosdolsky seine eigene Kritik an Luxemburg, aber er blendete die von ihr formulierten Probleme nicht aus. Bezüglich Bucharins Behandlung der Reproduktionsschemata argumentiert er, dass Bucharin genauso wie Luxemburg mathematische Fehler unterlaufen seien; ja, Bucharin sehe in Marx‘ Formulierung des Problems der erweiterten Reproduktion die faktische Lösung: „Bucharin vergaß völlig, dass die erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals nicht nur zum Wachstum von c und v, sondern auch von ἀ, d.h. zum Wachstum der individuellen Konsumtion der Kapitalisten führen muss. Dennoch blieb dieser elementare Fehler fast zwei Jahrzehnte lang unbeachtet, und Bucharin galt allgemein als der autoritativste Verteidiger der Marx-‚Orthodoxie‘ gegen Rosa Luxemburgs Angriffe ‚auf jenen Teil der Marxschen Analyse, worin uns der unvergleichliche Meister das vollkommenste Produkt seines Genius überliefert hatte‘ (Bucharin, Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals)… - Dessenungeachtet ist Bucharins allgemeine Gleichgewichtsformel sehr nützlich, obwohl auch er (wie die meisten Kritiker Rosa Luxemburgs) die bloße Formulierung des Problems für dessen Lösung versieht.“ (Zur Entstehungsgeschichte…, S. 529)

[5] Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Verlag für Literatur und Politik, Wien, Berlin,  S. 103.

[6] ebenda, S. 108.

[7] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 31, „Schutzzoll und Akkumulation“, Dietz-Verlag Berlin 1975, S. 391.

[8] Bucharin, s.o., S. 116-117.

[9] Paul Frölich, Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat, Dietz-Verlag Berlin, 1990, S. 210.

[10] Bucharin, s.o., S. 20.

[11] Internationale Revue, Nr. 29, engl., franz., span. Ausgabe, 1982

[12] Bucharin, s.o., S. 31.

[13] Kapital, Bd. III, Kap. 18, S. 289, zitiert bei Luxemburg, ob. cit., Kap. 25, S. 295f.

[14] Luxemburg, s.o., S. 285.

[15] Bucharin, s.o., S. 62.

[16] Marx, Kapital, Bd. 1, zitiert nach Bucharin, S. 34.

[17] Cohen, S. 174. Cohen verwendet den Begriff „auf den ersten Blick“, weil er anschließend argumentiert, dass das, was Bucharin dabei vorschwebte, weniger die alte Kontroverse mit Tugan war, sondern vielmehr die neue Kontroverse in der russischen Partei, zwischen den „Über-Industrialisierern“ (anfangs mit Preobraschenskij und der Linksopposition, später mit Stalin), die dazu neigten, sich auf die Zwangsakkumulation der Produktionsmittel im staatlichen Sektor zu konzentrieren, und seiner eigenen Ansicht, die – in Anbetracht seiner Ablehnung der Bewertung der Wichtigkeit nicht-kapitalistischer Nachfrage durch Rosa Luxemburg – ironischerweise weiterhin die Notwendigkeit betont, die Expansion der Staatsindustrie auf die allmähliche Weiterentwicklung des bäuerlichen Marktes zu stützen, statt auf, wie die Über-Industrialisierer schockierenderweise behaupten, eine direkte Ausbeutung der Bauern und auf die Ausplünderung ihres Reichtums.

[18] Bucharin, s.o., S. 80-81.

[19] Paul Frölich, s.o., S. 209.

[20] Internationale Revue, Nr. 29. engl., franz., span. Ausgabe, 1982

[21] Es ist bemerkenswert, dass auch Henryk Grossmann Bucharin darin kritisierte, dass er vage über Widersprüche spreche, ohne die wesentlichen zu lokalisieren, die zum Zusammenbruch des Systems führen. Siehe Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Archiv Sozialistischer Literatur 8, Verlag Neue Kritik Frankfurt, S. 44-48.

Editorial: Der Europäische Gipfel vom Juni 2012 : Hinter den Illusionen, ein neuer Schritt in die Katastrophe

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Am Morgen des 29. Juni 2012 ergriff im Handumdrehen eine wohlige Euphorie die Politiker und Führer der Euro-Zone. Die bürgerlichen Medien und Ökonomen zogen mit. Der jüngste Europäische Gipfel war anscheinend daran, historische Endscheide zu fällen. Solche Entscheide wurden in den letzten Jahren zuhauf gefällt, doch alle sind im Sand verlaufen. Aber gemäß zahlreichen Kommentatoren soll diese Zeit nun vorüber sein. Die herrschende Klasse der Euro-Zone, für einmal anscheinend einig und solidarisch, soll die notwendigen Maßnahmen beschlossen haben, um aus dem Tunnel der Krise herauszukommen. Man fühlt sich wie Alice im Wunderland. Bei genauerer Betrachtung aber tauchen nach Auflösung des morgendlichen Nebels die wahren Fragen auf: Was ist genau der Inhalt dieses Gipfels? Was ist seine wirkliche Bedeutung? Kann er wirklich eine dauerhafte Lösung der Krise für die Euro-Zone oder gar für die Weltwirtschaft bringen?

Der letzte europäische Gipfel: Entscheidungen als Täuschungsmanöver

Der europäische Gipfel vom 29. Juni 2012 wurde als „historisch“ präsentiert, als eine Wende bezüglich der Methoden, wie die Herrschenden die Euro-Krise in den Griff bekommen wollen. Einerseits auf der Ebene der Form, denn dieser Gipfel war zum ersten Mal - laut den Kommentatoren - nicht geprägt durch alleinige Entscheidungen von „Merkozy“, dem Tandem Merkel-Sarkozy (in Wirklichkeit dominierte immer die Meinung Merkels über Sarkozy)[1], sondern mit Einbezug zweier anderer wichtiger Länder der Euro-Zone, Spaniens und Italiens, und Entscheiden, die auch vom neuen französischen Präsidenten François Hollande gestützt wurden. Darüber hinaus sollte dieser Gipfel auch einen neuen Aspekt in die Wirtschaftspolitik und das Budget der Euro-Zone einbringen: Nach Jahren der alleinigen und immer härteren Sparpolitik durch die den Euro bestimmenden Instanzen habe man nun eine Kritik daran ernst genommen (die vor allem von linken Ökonomen und Politikern formuliert wird), derzufolge ohne Wiederankurbelung der wirtschaftlichen Aktivitäten die überschuldeten Staaten nicht in der Lage seien, ihre finanziellen Reserven für die Bezahlung ihrer Schulden zu bilden.

Aus diesem Grund hat der „Präsident der Linken“ François Hollande, der zu einem „Pakt für den Aufschwung und die Beschäftigung“ aufrief, die Bühne genutzt - wie ein Theaterschauspieler stolz auf seine Leistungen und Ergebnisse. Er wurde in seinem Höhenflug von zwei rechten Politikern begleitet, Monti, dem italienischen Regierungschef, und dem spanischen Pendant Rajoy. Auch sie frohlockten, dass sich ihre Politik bezahlt mache und ihre Länder entlaste. Die Wirklichkeit ist aber etwas gravierender als der Triumpf, dem sich diese Herren hingaben. Aber die gute Laune wollten sie sich nicht verderben lassen:  „Man kann hoffen, dass der Beginn des Endes des Verlassens des Tunnelausgangs der Krise der Eurozone sichtbar wird!“ Diese gewundene Erklärung stammt vom italienischen Regierungschef!

Bevor wir diesen beinahe strahlenden Schleier lüften, lohnt es sich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Erinnern wir uns: In den vergangenen 6 Monaten ist die Euro-Zone zwei Mal mit dem drohenden Bankrott ihrer Banken konfrontiert gewesen. Das erste Mal führte zur so genannten LTRO (Long Term Refinancing Operation): Die Europäische Zentralbank EZB musste ihnen ca. 1000 Milliarden Euro zustecken. Tatsächlich waren ihnen damals schon 500 Milliarden zugeflossen. Einige Monate später baten dieselben Banken erneut um Hilfe! Erinnern wir uns hier einer kleinen eigenartigen Geschichte, die zeigt, wie es um die Finanzen Europas steht. Zu Beginn des Jahres 2012 explodierten die Staatsschulden. Die Finanzmärkte ließen die Zinsen, zu denen sie bereit waren, den Staaten Geld zur Verfügung zu stellen, ansteigen. Einige Länder wie Spanien durften kaum mehr neue Kredite auf den Finanzmärkten aufnehmen. Denn das war viel zu teuer. Unterdessen gaben die spanischen Banken den Geist auf. Was tun? Was tun in Italien, Portugal und anderswo? Eine geniale Idee kursierte nun in den großen Köpfen der EZB: Wir geben den Banken gewaltige Darlehen, die sie dann wiederum zur Finanzierung der Staatschulden ihres eigenen Landes und der „reale“ Wirtschaft in Form von Investitions- oder Konsumkrediten verwenden können. Das hat im Herbst 2011 stattgefunden. Die EZB öffnete den Geldhahn wie beim Freibier für alle. Nun sehen wir das Resultat: Anfang Juni das allgemeine große Erwachen mit einer kaputten Leber. Die Banken haben der „realen“ Wirtschaft keine Kredite gegeben. Sie haben das erhaltene Geld zur Seite gelegt und es der EZB selber wieder mit etwas Zinsen ausgeliehen. Was haben sie der EZB im Gegenzug gegeben? Die Staatsobligationen, die sie mit dem Geld eben dieser Zentralbank selber gekauft hatten. Ein Taschenspielertrick, der schnell in seiner Lächerlichkeit durchschaut ist!

Im Juni 2012 schrien die „Wirtschafts-Wunderheiler“ erneut laut auf: Unsere Patienten sind am sterben! Es brauche sofortige und radikale Maßnahmen von Seiten der Krankenhäuser der gesamten Euro-Zone. Ende Juni, zum Zeitpunkt des Europäischen Gipfels, schien nach einer Verhandlungsnacht eine „historische“ Übereinkunft getroffen. So sahen die Beschlüsse aus:

-  Die finanziellen Stabilisierungsfonds (EFSF und ESM[2]) sollen direkt den Banken finanziell aushelfen können – nach Einholung des Einverständnisses der EZB – und Staatsanleihetitel aufkaufen dürfen, um den Zinssatz, zu dem die Staaten noch Geld borgen können, in Schach zu halten;

-  Europa vertraut der EZB die Überwachung des Bankensystems der Euro-Zone an;

-  eine Ausweitung der Regelung der Defizitkontrolle der Staaten in dieser Zone wird angenommen;

-  und schlussendlich, zur großen Zufriedenheit der linken Ökonomen und Politiker, wird ein Plan über 100 Milliarden Euro zur Wiederbelebung präsentiert.

Während einiger Tage wurde darüber fleißig diskutiert. Die Euro-Zone habe großartige Entscheide gefällt. Wenn Deutschland es geschafft hat, ihre „Goldene Regel“ gegenüber der öffentlichen Verschuldung aufrecht zu erhalten (sie schreibt den Staaten vor, in ihrem Gesetz die Eliminierung der Budgetdefizite zu verankern), so hat Deutschland andererseits akzeptiert, in die Richtung der Zusammenführung und Monetarisierung dieser Schulden zu gehen, das heißt, sie durch das Drucken von neuem Geld zu beseitigen.  

Wie immer bei solchen Abkommen versteckt sich die Wirklichkeit hinter dem Zeitplan und in der Art und Weise, wie sie umgesetzt werden. Seit diesem schönen Morgen des 29. Juni sticht eines ins Auge. Eine entscheidende Frage scheint übergangen worden zu sein – die der finanziellen Mittel und ihrer Quellen. Alle gingen davon aus, dass am Ende Deutschland bezahlen würde, denn es habe ja schließlich die Mittel dazu! Und während des Monats Juli – welche Überraschung – wurde alles schon wieder in Frage gestellt. Mit juristischen Manövern wurde die Umsetzung des Abkommens auf frühestens September verschoben. Es gibt tatsächlich ein Problem. Am 16. Juli wurde die Situation für Deutschland unerträglich. Man bürdete ihm alle versteckten Garantien und Kreditverpflichtungen auf. Das Geradestehen Deutschlands für seine gestrandeten Nachbarn türmte sich auf 1500 Milliarden Euro auf. Das Bruttoinnlandprodukt Deutschlands beträgt 2650 Milliarden Euro, und dies vor Berücksichtigung des Rückgangs der Aktivitäten, der vor wenigen Monaten eingesetzt hat. Es geht also um eine gigantische Summe, um mehr als die Hälfte des BIP. Die letzten Zahlen über die Schulden in der Euro-Zone betragen um die 8000 Milliarden Euro, von denen ein großer Teil so genannt „toxische“ Aktiva sind (Schuldversprechen, die nie eingelöst werden). Es ist nicht schwer zu verstehen, dass Deutschland ein derartiges Niveau der Verschuldung nicht tragen kann. Deutschland ist angesichts dieser Schuldenmauer nicht einmal in der Lage, auf die Dauer gegenüber den Finanzmärkten die Glaubwürdigkeit seiner Versprechen zu wahren. Die Realität hat es gezeigt. Sie drückt sich in dem Paradox aus, dessen Geheimnis in der Ökonomie der Verzweiflung liegt. Deutschland platziert seine kurz- und mittelfristigen Schulden mit Negativzinsen. Die Käufer dieser Schulden akzeptieren, einen nur lächerlichen Zins zu erhalten und wegen der Entwertung des Geldes durch die steigende Inflation einen Teil des Kapitals zu verlieren. Die Staatsschuld Deutschlands scheint ein Zufluchtsort zu sein, die allen Erschütterungen widersteht, doch gleichzeitig sind die Preise der von den Käufern abgeschlossenen Versicherungen, die diese Schuldtitel absichern sollen, auf das Niveau von Griechenland angestiegen! Schlussendlich bleibt dieser Zufluchtsort sehr ausgesetzt! Die Märkte wissen genau, dass Deutschland selbst zahlungsunfähig wird, wenn es weiterhin die Schulden der Euro-Zone finanziert. Und aus diesem Grund versucht sich jeder dieser Gläubiger für den Fall des brutalen Absturzes abzusichern.

Es bleibt also nur noch die Möglichkeit der letzten Waffe: der Aufruf an die Europäische Zentralbank, dasselbe zu tun wie Großbritannien, Japan oder die USA: „Druckt neue Banknoten, ohne auf den Wert zu achten, den man dagegen eintauscht.“ Die Zentralbanken können sich problemlos in „faule“ Banken verwandeln. das ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, zu verhindern, dass heute alles zum Stillstand kommt! Wir werden sehen was morgen, im nächsten Monat oder nächstes Jahr passiert. Das ist der Fortschritt des letzten Europäischen Gipfels, das Wunder des Föderalismus und seiner Regierung. Doch die EZB hört auf diesem Ohr nichts. Diese Zentralbank hat sicher nicht dieselbe Autonomie wie andere Zentralbanken auf der Welt. Sie ist mit den anderen Zentralbanken der Länder, welche die Euro-Zone bilden, verknüpft. Doch liegt das Problem wirklich dort? Wenn die EZB gleich handeln könnte wie die Zentralbanken von Großbritannien oder den USA, wäre dann die Zahlungsunfähigkeit des Bankensystems der Euro-Zone gelöst? Was geschieht im selben Moment auf dem Niveau der Weltwirtschaft, z.B. in den USA?

Die Zentralbanken sind geschwächter denn je

Während sich über der amerikanischen Wirtschaft schwere Gewitterwolken zusammenziehen, stellt sich die Frage: Weshalb haben die USA nicht schon einen dritten Rettungsplan der Monetarisierung ihrer Schulden zur Überwindung ihres Engpasses auf die Beine gestellt? Zur Erinnerung: Der Chef der amerikanischen Zentralbank Ben Bernanke trägt den Übernamen „Mister Helikopter“. Es gab in den USA in den letzten 4 Jahren schon zwei Programme zur massiven Erhöhung der Geldmenge, das sogenannte „Quantitative Easing“. Bernanke schien unablässig über die USA zu fliegen und alles, was ihm im Weg stand, mit einer abgeworfenen Geldschwemme wegzuspülen. Eine Flutwelle der Liquidität, an der sich jeder bis zum Rausch betrinken sollte! Aber leider geht diese Rechnung so nicht auf. Seit einigen Monaten ist eine erneute Erhöhung der Geldmenge in den USA notwendig. Doch sie lässt auf sich warten. Denn ein „Quantitative Easing Nummer 3“ ist unabdingbar und lebensnotwendig, aber unmöglich zugleich so wie in Europa eine Vergemeinschaftung und allgemeine Monetarisierung der Schuld der Euro-Zone. Der Kapitalismus ist in eine Sackgasse eingeschwenkt! Selbst die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt kann nicht aus dem Nichts Geld bis ins Unendliche auf den Markt werfen. Jede Schuld muss finanziert werden, früher oder später. Die amerikanische Zentralbank hat wie alle anderen Zentralbanken zwei Quellen der Finanzierung, die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Die erste Quelle besteht aus Sparguthaben, aus Geld, das im Inland oder im Ausland verfügbar ist, sei es zu einem vernünftigen Zins, sei es durch steuerliche Massnahmen. Die zweite Quelle ist das Drucken von neuem Geld auf der Basis von Schuldscheinen. Dies vor allem durch den Verkauf von sogenannten Staatsanleihen. Der Wert dieser Schuldtitel ist in letzter Instanz durch die Entwicklung der Finanzmärkte bestimmt. Ein gebrauchtes Fahrzeug ist zu verkaufen – den Preis hat der Verkäufer auf die Windschutzscheibe geschrieben. Die potentiellen Käufer untersuchen den Zustand des Fahrzeugs. Es werden Preisangebote gemacht, und der Verkäufer wählt zweifellos das Beste. Wenn der Zustand des Fahrzeugs sehr schlecht ist, sind die Kaufangebote lächerlich niedrig, und das Fahrzeug bleibt auf der Straße stehen und verrottet. Dieses kleine Beispiel veranschaulicht die Gefahr einer erneuten Erhöhung der Geldmenge in den USA und anderswo. Seit vier Jahren wurden Milliarden von Dollars in die amerikanische Wirtschaft gepumpt, ohne den Effekt irgendeiner dauerhaften Erholung. Noch schlimmer: Die wirtschaftliche Depression hat sich unter der Oberfläche ausgebreitet. Hier liegt der Kern des Problems. Die Bewertung der realen Staatsverschuldung hängt ab vom Zustand der Wirtschaft des Landes – wie der Wert des Fahrzeugs in unserem Beispiel an seinem Zustand gemessen wird. Wenn eine Zentralbank (sei es in den USA, in Japan oder in der Eurozone) Geldnoten druck, um Obligationen oder andere Anerkennungen von Schulden zu kaufen, die nie zurückbezahlt werden können (weil die Schuldner zahlungsunfähig geworden sind), tut sie nichts anderes, als den Markt mit Papierscheinen zu überschwemmen, die keinem realen Wert entsprechen, da ihnen kein tatsächliches Sparvermögen, kein neu produzierter Reichtum gegenüber steht. Mit anderen Worten handeln sie als Falschmünzer.

Kurs auf eine allgemeine Rezession

Eine solche Aussage erschein oft als etwas übertrieben und waghalsig! Die Zeitschrift Global Europe Anticipation schreibt im Januar 2012: „Um einen Dollar Wachstum mehr zu erzeugen, muss die USA jetzt rund 8 Dollar leihen. Oder umgekehrt, wenn man will, jeder geliehene Dollar erzeugt nicht mehr als 0,12 Dollar Wachstum. Dies zeigt die Absurdität der langfristigen politischen Maßnahmen der FED und des US-Haushaltes in den letzten Jahren. Es ist wie ein Krieg, in dem man immer mehr Soldaten töten muss, um immer weniger Terrain zu erobern.“ Die Verhältnisse sind zweifellos nicht in allen Ländern der Erde dieselben. Doch die allgemeine Tendenz ist überall gleich. Gerade deshalb sind die 100 Milliarden Euro, die der Gipfel vom 29. Juni zur Finanzierung des Wachstums vorsah, nicht viel mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Der vom Kapitalismus produzierte Reichtum wird in immer größerem Masse zerstört. Die realisierten Profite sind verglichen mit dem Anwachsen der Schuldenmauer lächerlich. Eine beliebte Filmkomödie trägt den Titel Es gibt keinen Piloten mehr im Flugzeug. Was die Weltwirtschaft angeht, müsste man hinzufügen: Es gibt auch keinen Motor mehr. Das Flugzeug und seine Passagiere sind so auf verlorenem Posten.

Dieser desaströsen Dynamik der höchst entwickelten Länder halten einige Stimmen, um die Tiefe der Krise kleinzureden, die Beispiele von China und der „Schwellenländer“ entgegen. Noch vor wenigen Monaten wurde China als die zukünftige Lokomotive der Weltwirtschaft verkauft, zusammen mit Indien und Brasilien, welche in dieselbe Richtung gehen würden. Doch wie sieht die Realität aus? Diese „Motoren“ haben zu stottern begonnen. China bezifferte am Freitag, den 13. Juli offiziell seine Wachstumsrate auf 7,6%, was seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise die tiefste Wachstumsrate Chinas ist. Die Zeit der zweistelligen Wachstumsraten ist vorüber. Und auch bei 7% interessieren sie nicht einmal mehr die Spezialisten. Jeder weiss, dass sie falsch sind. Die gewarnten Leute wenden sich lieber anderen Zahlen zu, die sie für glaubwürdiger halten. Am selben Tag wurde in einem auf die Ökonomie spezialisierten Radio (BFM) gesagt: „Wenn man die Entwicklung des Stromverbrauchs betrachtet, kann man daraus ableiten, dass das chinesische Wachstum in Wirklichkeit zwischen 2-3% liegt. Also die Hälfte der offiziellen Zahlen.“ Zu Beginn dieses Sommers wurden alle Wachstumszahlen gesenkt. Sie verringern sich überall. Der Motor dreht sich kaum mehr und droht stillzustehen. Das Flugzeug droht abzustürzen und mit ihm die Weltwirtschaft.

Der Kapitalismus steht vor großen Erschütterungen

Durch die weltweiten Rezession und die finanzielle Situation der Banken und Staatskassen spitzen sich die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse zu. Eine Wiederbelebung mittels der klassischen keynesianischen Politik (welche die Verschuldung des Staates beinhaltet) kann, wie dies deutlich geworden ist, nicht mehr greifen. Im Rahmen dieser Rezession kann sich das von den Staaten eingezogene Geld nur noch verringern, und trotz genereller Sparmaßnahmen können die öffentlichen Schulden nur noch explodieren wie in Griechenland und jetzt in Spanien. Die Frage, welche der herrschenden Klasse im Nacken sitzt ist: „Soll das leichtfertige Risiko einer erneuten Schuldenerhöhung eingegangen werden?“ In immer größerem Umfang fließt das Geld nicht mehr in die Produktion, in Investitionen oder in den Konsum. Dies ist nicht mehr rentabel. Doch die Zinsen und Rückzahlungsfristen für Schulden bleiben weiter. Es ist für das Kapital notwendig, neues Geld zu drucken, zumindest als Attrappe, um die generelle Zahlungsunfähigkeit hinauszuschieben. Bernanke, der Chef der amerikanischen Zentralbank, und sein Pendant Mario Draghi in der Euro-Zone sind wie alle ihre Berufskollegen auf dieser Erde Geiseln des Schiefstands der kapitalistischen Ökonomie. Entweder tun sie nichts, und dann werden sich Tiefschläge und Zahlungsunfähigkeiten überschlagen. Oder sie pumpen erneut massiv Geld in Umlauf, und dann wird der Wert des Geldes immer fragiler. Eines aber ist sicher, auch wenn die herrschende Klasse diese Gefahren sieht, so ist sie darüber hoffnungslos uneinig. Sie kann nur noch in absoluten Notsituationen und in letzter Minute mit immer unwirksameren Maßnahmen handeln. Die Krise, die wir seit 2008 erleben, ist noch nicht zu Ende.

Tino, 30.7.2012


[1] Man muss festhalten, dass seit dem Zeitpunkt, als dieser Artikel geschrieben worden ist, die französische Regierung zu einer engeren Zusammenarbeit mit der deutschen Bundeskanzlerin zurückgefunden hat. Vielleicht muss man bald von „Merkhollande“ sprechen. Auf jeden Fall haben der neue Präsident Hollande und die Führung der Sozialistischen Partei im September 2012 die Werbetrommel gerührt, um die Parlamentarier ihrer Mehrheit dazu zu bringen, für den Stabilitätspakt (die „Goldene Regel“) zu stimmen, den der Präsidentschaftskandidat Hollande zuvor noch versprochen hatte, neu zu verhandeln. Wie ein altes gaullistisches Schlachtross, Charles Pasqua, mit dem ihm eigenen Zynismus zu sagen pflegte: „Die Wahlversprechen verpflichten nur diejenigen, die dran glauben.“  

[2] Europäische Finanz-Stabilitäts-Fonds und Europäische Stabilitäts-Mechanismen

Geschichte der Arbeiterbewegung: Syndikalismus in Deutschland, Teil 4

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Die syndikalistische Bewegung in der Deutschen Revolution 1918/19  

Der vorangehende Artikel hat einen Blick auf die Bemühungen der revolutionären syndikalistischen Strömung geworfen, auch in Deutschland eine internationalistische Position gegen den Weltkrieg von 1914-18 zu verteidigen. Die Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften (FVDG) überlebte den Krieg mit nur einigen Hundert Mitgliedern in der Illegalität und war wie andere Revolutionäre durch die Bedingungen der brutalen Repression während des Krieges meist zum Schweigen verdammt. Ende 1918 überstürzten sich die Ereignisse in Deutschland. Der Funke der Russischen Revolution vom Oktober 1917 war mit dem Ausbruch der Kämpfe vom November 1918 endlich auch auf das Proletariat in Deutschland übergesprungen.

Die Reorganisierung der FVDG 1918

In der ersten Novemberwoche 1918 zwang der Aufstand der Matrosen in Kiel den deutschen Militarismus in die Knie. Am 11. November unterzeichnete Deutschland den Waffenstillstand. „Die kaiserliche Regierung wurde gestürzt, nicht mit parlamentarisch-gesetzlichen Mitteln, sondern mit Hilfe der direkten Aktion, nicht mit dem Stimmzettel, sondern durch Waffengewalt durch streikende Arbeiter und meuternde Soldaten. Ohne auf den Auftrag weiser Führer zu warten, bildeten sich spontan allerorten Arbeiter- und Soldatenräte, die sofort daran gingen, die alten Gewalten beiseite zu schieben. Alle Machte den Arbeiter- und Soldatenräten! Das wurde jetzt Parole.“[1]

Mit dem Ausbruch der revolutionären Welle begann für die syndikalistische Bewegung in Deutschland eine turbulente Epoche, mit einem rasanten Zulauf an Mitgliedern. Sie wuchs von den Tagen der Novemberrevolution 1918 bis Mitte 1919 auf ca. 60.000 Mitglieder an und zählte Ende 1919 über 111.000 Mitglieder. Die breite politische Radikalisierung der Arbeiterklasse gegen Ende des Krieges trieb viele Arbeiter, die sich von den großen sozialdemokratischen Gewerkschaften wegen deren offen chauvinistischen Politik gelöst hatten, in die Arme der syndikalistischen Bewegung. Sie war unbestreitbar ein Sammelbecken aufrechter und kämpferischer Arbeiter und gerade deshalb auch sehr heterogen.         

Mit der Herausgabe der neuen Zeitschrift Der Syndikalist am 14. Dezember 1918 meldete sich die FVDG wieder zu Wort: „Unsere Presse wurde in den ersten Augusttagen verboten, führende Genossen in ‚Schutzhaft‘ gesteckt, den Vereinen und Agitatoren jede öffentliche Tätigkeit unmöglich gemacht. Und dennoch: die Kampfmittel des Syndikalismus werden heute in allen Ecken des Deutschen Reiches angewandt, instinktiv fühlt die Masse, dass die Zeit des Wünschens und Forderns vorbei, dass die Zeit des Nehmens begonnen hat.“[2] Am 26./27. Dezember organisierte Fritz Kater in Berlin eine Konferenz, auf der 43 Lokalgewerkschaften der FVDG anwesend waren und die ihre eigentliche Reorganisation nach der Illegalität in der Kriegszeit darstellte.

Den größten Mitgliederzulauf zur FVDG verzeichnete die Industrie- und Bergbauregion des Ruhrgebiets. Der Einfluss der Syndikalisten war besonders stark im Arbeiter- und Soldatenrat in Mühlheim und zwang die sozialdemokratischen Gewerkschaften am 13. Dezember 1918 zum Austritt aus dem Rat, weil dieser ihnen die Interessenvertretung der Arbeiter klar versagt hatte und sie stattdessen selbst in die Hand nahm. Ausgehend von den Zechen der Hamborner Region kam es von November 1918 bis Februar 1919 zu massiven Streiks der Bergarbeiter, die von der syndikalistischen Bewegung angeführt wurden.[3]           

Arbeiterräte oder Gewerkschaften?

Schon die Frage des Krieges von 1914 hatte die syndikalistische Strömung vor eine historische Prüfung gestellt: eine internationalistische Haltung gegen den Krieg zu vertreten oder sich wie die große Mehrheit der Gewerkschaften hinter die Kriegsziele der herrschenden Klasse zu stellen. Sie bestand sie mit Bravour. Der Ausbruch der Revolution 1918 brachte nun die Herausforderung einer anderen Art mit sich: Wie soll sich die Arbeiterklasse organisieren, um die Bourgeoisie zu entmachten und zur Revolution zu schreiten?

Waren die Arbeiterräte nun eine Alternative zur alten gewerkschaftlichen Organisationsform, die damit obsolet wurde? Oder waren Räte und Gewerkschaften eine organische Einheit?

Die Jahre seit der Formierung ihrer Bewegung - ab 1892 zunächst als „Lokalisten“ und schließlich nach ihrer formellen Gründung 1901 als FVDG - waren nicht von direkten revolutionären Erhebungen geprägt. Die Frage, ob die gewerkschaftliche Form überholt war, hatte sich historisch noch nicht konkret gestellt. Die FVDG formte ihre Tradition vornehmlich aus Kämpfen um ökonomische Forderungen, aus denen auch die Gewerkschaftsbewegung als Ganzes historisch hervorgegangen war. Zwar hatten die ersten Massenstreiks in anderen Ländern in den 1890er Jahren der alten, permanent bestehenden gewerkschaftlichen Organisationsform, in embryonaler Form und auch nur sehr punktuell eine organisatorische Alternative entgegengehalten. Die Massenstreiks überschritten mit ihrer Spontaneität, ihrer rasanten Ausbreitung und der Aufnahme von politischen Forderungen die Schemata und den Charakter der von oben organisierten, streng ökonomischen Kampfweise der Gewerkschaften. 

Doch im Gegensatz zu Russland, wo schon 1905 die ersten Arbeiterräte entstanden, blieb in Deutschland der Rätegedanke bis 1918 noch abstrakt, da die Situation dazu noch nicht reif war. Dies änderte sich im November 1918 schlagartig. Auch in Deutschland hatte das Proletariat nun Arbeiterräte hervorgebracht – als Ausdruck der revolutionären Situation,  die mittlerweile auch in Deutschland eingetreten war.

Die FVDG verstand sich bezüglich ihrer Organisationsform während des kurzen, aber begeisternden „Rätewinters“ 1918/19 in Deutschland zweifellos als Gewerkschaft. Als Gewerkschaft, die in ihren Augen mit voller Berechtigung gerade in dieser Form wieder auf die Bühne tritt. Andererseits reagierte die FVDG mit offener Begeisterung auf das Novum der Arbeiterräte.

Das revolutionäre Herz der Mehrheit der FVDG-Mitglieder schlug für die Arbeiterräte, und so forderte Der Syndikalist Nr. 2 vom 21. Dezember 1918 klar und deutlich: „Alle Macht den revolutionären Arbeiter- und Soldatenräten!“. Der theoretische Verstand, zumindest in ihrer Presse, hinkte der proletarischen Intuition oft hinterher. Als wäre trotz des Auftauchens der Arbeiterräte nicht viel Neues auf dem Planeten geschehen, schrieb Der Syndikalist, Nr. 4, die FVDG sei die einzige Arbeiterorganisation, „deren Vertreter und Organe nicht umzulernen brauchten“ – ein Ausdruck, der den stolzen Geist der Reorganisierungs-Konferenz der FVDG vom Dezember 1918 zusammenfasste und in der syndikalistischen Strömung in Deutschland zum geflügelten Wort wurde. Es zeigte, dass sie sich als reine Gewerkschaft genügte. Doch für die Arbeiterbewegung war eine Zeit angebrochen, in der es sehr viel umzulernen galt, gerade bezüglich ihrer Organisationsformen.

Die FVDG neigte dazu, bei der Erklärung der beschämenden Politik der großen Gewerkschaften, den Krieg zu unterstützen und sich gegen die Arbeiterräte zu wenden, sich mit einer Erklärung zufrieden zu geben, die lediglich die halbe Wahrheit traf, die andere Hälfte aber ausblendete. Demnach sei allein die „sozialdemokratische Erziehung“ das Problem. Wohl wegen der eigenen internationalistischen Standhaftigkeit während der Kriegsjahre wurde die Frage übersehen, ob die gewerkschaftliche Form den Anforderungen des Kampfes gegen den Krieg und für die Revolution noch ausreicht.

Zweifellos waren die FVDG und ihre Nachfolgeorganisation FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands) revolutionäre Organisationen mit gewerkschaftlicher Vergangenheit. Bestätigte aber gerade die „Ausnahme“ der FVDG nicht die Regel, wonach Gewerkschaften historisch ausgedient haben? Für die Mehrheit der Syndikalisten war der Stolz auf ihre Standhaftigkeit zwischen 1914-18 Grund genug, sich am alten gewerkschaftlichen Zopf festzuklammern. Sie schreckten davor zurück zu realisieren, dass gerade ihre Organisation von den  Eigenschaften lebte, die auch die Arbeiterräte prägten: die Spontaneität, der Drang nach Ausdehnung und der revolutionäre Geist - was weit über die Tradition der Gewerkschaft hinausging.                     

In den Publikationen der FVDG aus dem Jahr 1919 sind kaum Ansätze erkennbar, den grundlegenden Widerspruch zwischen der gewerkschaftlichen Tradition und den Arbeiterräten als Instrumente der Revolution zu thematisieren. Im Gegenteil, sie betrachteten die „revolutionären Gewerkschaften“ als Basis der Rätebewegung. „Revolutionäre Gewerkschaften haben die Expropriateure zu expropriieren (…) Arbeiter- oder Betriebsräte müssen die sozialistische Leitung der Produktion übernehmen. Die Macht den Arbeiterräten, die Arbeitsmittel und die erzeugten Güter der Allgemeinheit. Das ist das Ziel der Arbeiterrevolution: Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung ist der Weg dahin.“[4]

Doch war die revolutionäre Rätebewegung in Deutschland tatsächlich durch die Gewerkschaftsbewegung  entstanden? „Es waren Arbeiter, die sich zu ‚Fabrikkomitees‘ zusammengeschlossen hatten, die wirkten, wie die Fabrikkomitees der Petersburger Großbetriebe im Jahre 1905, ohne deren Tätigkeit gekannt zu haben. Der politische Kampf im Juli 1916 konnte nicht mit Hilfe der Parteien und Gewerkschaften geführt werden. Die Führer dieser Organisationen waren Gegner eines solchen Kampfes; sie haben auch nach dem Kampf dazu beigetragen, die Leiter dieses politischen Streiks der Militärbehörde ans Messer zu liefern. Diese ‚Fabrikkomitees‘, die Bezeichnung ist nicht ganz zutreffend, kann man als Vorboten der heutigen revolutionären Arbeiterräte in Deutschland bezeichnen. (…) Diese Kämpfe wurden nicht getragen und geführt von den bestehenden Partei- und Gewerkschaftsorganisationen. Hier zeigten sich die Ansätze einer dritten Organisation, die der Arbeiterräte.“[5] So beschreibt Richard Müller, Mitglied der Revolutionären Obleute den „Weg dahin“.           

Mit ihrer Weigerung, die gewerkschaftliche Organisationsform zu hinterfragen, standen die Syndikalisten der FVDG nicht allein. Es war damals für die Arbeiterklasse noch nicht möglich, umfassend und in voller Klarheit alle Schlussfolgerungen, die die neu angebrochene „Periode der Kriege und Revolutionen“ beinhaltete, zu ziehen. Auch Richard Müller machte später, als die Arbeiterräte entmachtet waren, wieder einen Schritt zurück und schrieb: „Haben wir aber die Notwendigkeit des täglichen Kleinkampfes erkannt – und niemand kann das bestreiten – dann müssen wir auch die Notwendigkeit der Erhaltung derjenigen Organisationen anerkennen, die diesen Kampf zu führen hat, und das sind die Gewerkschaften. (…) Haben wir nun die Notwendigkeit der bestehenden Gewerkschaften erkannt (…) so müssen wir weiter prüfen, ob die Gewerkschaften innerhalb des Rätesystems einen Platz finden können. Diese Frage ist für Zeit des Aufbaues des Rätesystems unbedingt mit Ja zu beantworten.“[6]

Die sozialdemokratischen Gewerkschaften hatten gegenüber den breiten Arbeitermassen ihr Gesicht verloren und es wuchsen unterschwellig mehr und mehr Zweifel, ob solche Organisationen überhaupt noch die Interessen der Arbeiterklasse vertreten können. In der Logik der FVDG löste sich das Dilemma des historischen Niedergangs der alten gewerkschaftlichen Form in der Perspektive einer „revolutionären“ Gewerkschaft auf.

In der damals angebrochenen Epoche der Dekadenz des Kapitalismus und damit der Unmöglichkeit eines Kampfes um Reformen, in der der Staatskapitalismus permanente Massenorganisationen der Arbeiterklasse entweder in den Staat einbinden (wie generell mit den sozialdemokratischen Organisationen geschehen - aber auch mit syndikalistischen Gewerkschaften wie der CGT in Frankreich) oder zerschlagen muss (schlussendlich das Schicksal der syndikalistischen FAUD!), tauchte die Frage, ob die proletarische Revolution auch andere Organisationsformen erfordert, gerade erst auf. Mit der heutigen Erfahrung wissen wir, dass man neue Inhalte nicht in alte Formen wie Gewerkschaften gießen kann. Die Revolution ist nicht nur eine Sache des Inhalts, sondern auch der Form. Was der theoretische Kopf der FAUD Rudolf Rocker im Dezember 1919 sehr treffend als Herangehensweise gegen die falschen Visionen eines „revolutionären Staates“ formulierte - „Man komme uns nicht mit der Phrase vom revolutionären Staate. Der Staat ist immer reaktionär, und wer dies nicht begreift, hat die Tiefe des revolutionären Prinzips nicht erkannt. Jedes Instrument ist seiner Form nach dem Zweck angepasst, dem es dienen muss; dasselbe ist der Fall mit Institutionen. Die Zange des Hufschmied eignet sich nicht zum Zähne ziehen, mit der Zange des Zahnarztes kann man keine Hufeisen formen (…)“ [7] -, genau das hat die syndikalistische Bewegung leider verpasst, in der Frage der Organisationsform konsequent anzuwenden.

Gegen die Falle der „Betriebsräte“

Um den Geist des Rätesystems politisch zu kastrieren, begannen die Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften im Dienste der gesamten Bourgeoisie den Rätegedanken und das Prinzip der Autonomie der Arbeiterklasse   geschickt von innen her auszuhöhlen. Dies war nur dadurch möglich geworden, dass die Arbeiterräte, die aus den Kämpfen des November 1918 entstanden waren, ihre Kraft und Dynamik mit dem ersten Rückfluten der Revolution verloren hatten. Der 1. Rätekongress vom 16.-20. Dezember 1918 hatte sich unter dem raffinierten Einfluss der SPD und aufgrund der noch vorhandenen Illusionen der Arbeiterklasse in die Demokratie selbst entmachtet, indem er Wahlen zu einer Nationalversammlung vorschlug.

Im Frühjahr 1919 wurde nach der Streikwelle an der Ruhr auf Initiative der SPD-Regierung die Installierung so genannter. „Betriebsräte“ in den Fabriken vorgeschlagen - de facto Vertretungen der Belegschaft, die nun dieselbe Funktion der Verhandlung und Kollaboration mit dem Kapital garantieren sollten, wie es traditionell der Rolle der Gewerkschaften entsprach. Unter Federführung der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre Gustav Bauer und Alexander Schlicke wurde nur knapp ein Jahr später im Februar 1920 das Betriebsrätegesetz verbindlich in die bürgerliche Verfassung des deutschen Staates aufgenommen.

Der Arbeiterklasse sollte vorgegaukelt werden, ihr kämpferischer Rätegeist hätte in dieser Form der direkten Vertretung der Arbeiterinteressen seine Vollendung gefunden. „Die Betriebsräte sind zur Regelung aller das Arbeits- und Angestelltenverhältnis betreffenden Fragen heranzuziehen. Ihnen liegt es ob, den Fortgang und die Steigerung der Produktion im Betrieb zu sichern und für die Beseitigung aller eintretenden Hemmungen Sorge zu tragen (…) Die Bezirksräte regeln und überwachen gemeinsam mit den Direktionen die Arbeitsleistung im Bezirk, ebenso die Verteilung der Rohmaterialien.“[8] Nach der blutigen Repression gegen die Arbeiterklasse sollte die Integration in den demokratischen Staat die Gegenrevolution vollends besiegeln. Mit diesen Ausschüssen, die noch direkter als die Gewerkschaften vor Ort agieren, sollte die Zusammenarbeit mit dem Kapital komplettiert werden.

Die Presse der FVDG wandte sich im Frühjahr 1919 mutig und unmissverständlich gegen das Täuschungsmanöver durch die Betriebsräte: „Kapital und Staat lassen nur Arbeiterausschüsse zu, die jetzt Betriebsräte genannt werden. Der Betriebsrat hat nicht Arbeiterinteressen allein zu vertreten, sondern Betriebsinteressen. Und da die Betriebe Eigentum des Privat- oder Staatskapitals sind, müssen sich die Arbeiterinteressen den Interessen der Ausbeuter unterordnen. Daraus ergibt sich, dass der Betriebsrat für die Ausbeutung der Arbeiter eintreten und sie zum ruhigen Fortarbeiten als Lohnsklaven anhalten muss (…) Die syndikalistischen Kampfmittel sind mit den Aufgaben des Betriebsrates unverträglich.“[9]

Diese Haltung wurde in den Reihen der Syndikalisten weitgehend geteilt, weil einerseits die Betriebsräte unübersehbar ein verlängerter Arm der Sozialdemokratie waren und andererseits der Kampfgeist der  syndikalistischen Bewegung in Deutschland noch ungebrochen war. Die Illusion, etwas erreicht zu haben und mit den Betriebsräten „einen greifbaren Schritt weiter“ gekommen zu sein, stieß 1919 noch auf wenig Gegenliebe bei den entschlossensten Teilen des Proletariats – die Arbeiterklasse war noch nicht geschlagen[10].

Es verwundert deshalb nicht, dass später, nach dem unübersehbaren Rückgang der revolutionären Bewegung ab 1921, die syndikalistische FAUD jahrelang von einer heftigen Debatte über die Beteiligung an den Betriebsrats-Wahlen beherrscht war. Eine Minderheit nahm die Haltung ein, es müsse nun durch die gesetzlich verankerten Betriebsräte eine „Verbindung mit den Arbeitermassen hergestellt werden, um in günstigen Situationen Massenkämpfe auszulösen“.[11] Als Organisation lehnte die FVDG die Fahrt aufs „tote Gleis der Betriebsräte (ab), um die revolutionäre Räteidee unschädlich zu machen“, wie es der Syndikalist August Beil formulierte. Zumindest bis zum November 1922, als der 14. Kongress die FAUD in der allgemeinen Hilflosigkeit nach der Niederlage der Revolution diese Haltung aufweichte und den Mitgliedern das Recht einräumte, an Betriebsratswahlen teilzunehmen. Nach dem Krieg 1945 war in den Überresten der syndikalistischen Strömung das Engagement für die Betriebsratswahlen in Deutschland fast ausnahmslos akzeptiert.

Die Dynamik der Revolution bringt Syndikalisten und Spartakusbund näher

Wie in Russland im Oktober 1917 hatte der Aufstand der Arbeiterklasse in Deutschland zunächst eine Dynamik des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse erzeugt. Ein wichtiger, unter den Revolutionären allgemein anerkannter und internationalistischer Orientierungspunkt der syndikalistischen Bewegung in Deutschland war bis Ende 1919 zweifellos die Solidarität mit dem Kampf der Arbeiterklasse in Russland. Die Russische Revolution besaß 1918/19 angesichts des Ausbruchs revolutionärer Erhebungen in anderen Ländern noch eine Perspektive und war noch nicht der inneren Degeneration erlegen. Die FVDG verteidigte ihre Klassenbrüder in Russland gegen die Lügen der SPD und sozialdemokratischen Gewerkschaften, denen „kein Mittel zu schmutzig, keine Waffe zu gemein gewesen ist, um die russische Revolution zu verleumden, das Sowjetrussland mit seinen Arbeiter- und Soldatenräten zu verunglimpfen“[12]. Trotz vieler Vorbehalte gegenüber den Auffassungen der Bolschewiki - die nicht alle unbegründet waren – solidarisierten sich die Syndikalisten mit der Russischen Revolution. Sie nahmen nicht dieselbe Haltung ein wie später Teile der rätekommunistischen Strömung, die den Oktober 1917 als bürgerliche Revolution bezeichneten. Selbst Rudolf Rocker, ab Herbst 1919 prägender Kopf in der FVDG und vehementer Kritiker der Bolschewiki, rief ein Jahr nach der Novemberrevolution in seiner berühmten Rede über die Prinzipienerklärung der FAUD im Dezember 1919 zur Solidarität mit der Russischen Revolution auf: „Wir stehen einmütig auf der Seite Sowjetrusslands in seiner heldenmütigen Verteidigung gegen die Mächte der Alliierten und der Gegenrevolutionäre, nicht weil wir Bolschewisten sind, sondern weil wir Revolutionäre sind.“

Obwohl die Syndikalisten in Deutschland ihre traditionellen Vorbehalte gegenüber dem Marxismus hatten, da dieser vor allem die politische Macht erobern wolle, was sie auch im Spartakusbund zu erkennen glaubten, traten sie unmissverständlich für ein gemeinsames Vorgehen mit allen anderen revolutionären Organisationen ein: „Der Syndikalismus hält deshalb die Zweiteilung der Arbeiterbewegung für zwecklos, er will die Konzentration der Kräfte. Vorläufig aber empfehlen wir unseren Mitgliedern, allerorten mit den am weitesten linksstehenden Gruppen der Arbeiterbewegung: den Unabhängigen, dem Spartakusbund, in wirtschaftlichen und politischen Fragen gemeinsam zu handeln. Wir warnen aber vor einer Beteiligung am Wahlrummel zur Nationalversammlung.“[13]

Die Novemberrevolution 1918 war nicht das Machwerk einzelner politischer oder betrieblicher Organisation wie der Spartakisten oder der Revolutionären Obleute, auch wenn diese in den Novembertagen die klarste Haltung einnahmen und am aktivsten waren. Sie war eine Erhebung der gesamten Arbeiterklasse und drückte für eine kurze Zeit ihre potenzielle Klasseneinheit aus. Ausdruck davon war das verbreitete Phänomen der Doppelmitgliedschaft in der FVDG und im Spartakusbund. „In Wuppertal engagierten sich die Aktivisten der ‚Freien Vereinigung‘ zunächst in der KPD. Eine von der Polizei angefertigte Liste über Wuppertaler Kommunisten im April 1919 weist alle später führenden FAUD-Mitglieder auf (…)“[14] In Mühlheim gab der Arbeiterrat ab 1. Dezember 1918 die Zeitung Die Freiheit, Organ für die Interessen des gesamten werktätigen Volkes. Publikations-Organ der Arbeiter- und Soldatenräte heraus, die von Syndikalisten und Mitgliedern des Spartakusbundes gemeinsam redigiert wurde.         

Anfang 1919 äußerte sich innerhalb der syndikalistischen Bewegung ein ausgeprägter Wunsch nach Vereinigung mit anderen Organisationen der Arbeiterklasse. „Noch sind sie sich ja nicht einig, noch sind sie gespalten, noch sind sie nicht alle recht denkende und ehrlich wollende Sozialisten, noch verbindet sie nicht einheitlich und untrennbar das proletarische Zauberband: Solidarität. Noch scheiden sie sich in Rechtssozialisten, Linkssozialisten, Spartakisten und sonst was. Mit dem groben Unfug der politischen Partikularei muss die Arbeiterklasse nun endlich aufräumen.“[15] Diese Haltung der offenen Arme spiegelte aber auch stark den Zustand der politischen Heterogenität und der Konfusionen in der rasant angewachsenen FVDG wider. Ihr innerer Zusammenhalt basierte weniger auf einer fundierten programmatischen Klärung oder einer formulierten Abgrenzung gegenüber anderen proletarischen Organisationen, sondern vielmehr auf dem Band der Arbeitersolidarität.

Seit der Repression gegen Liebknecht und Luxemburg während des Krieges war die Solidarität der Syndikalisten gerade gegenüber dem Spartakusbund angewachsen und lebte bis zum Herbst 1919 weiter. Sie gründete aber nicht auf einer gemeinsamen Geschichte mit den Spartakisten. Im Gegenteil, noch bis zur Zimmerwalder Konferenz 1915 hatte vielmehr das gegenseitige Misstrauen dominiert. Wesentlicher Grund für die Annäherung waren politische Klärungsprozesse, die die gesamte Arbeiterklasse und ihre revolutionären Organisationen in der Novemberrevolution erfassten: die Ablehnung der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus. Die syndikalistische Bewegung in Deutschland hatte den Parlamentarismus schon lange abgelehnt und betrachtete diese Position als ihre ureigene Tradition. Im Spartakusbund, der sich mit großer Klarheit gegen Illusionen in die Demokratie aussprach, sah die FVDG eine Organisation, die in Deutschland ihrem eigenen Weg am nächsten stand.

Rudolf Rocker jedoch, der im Dezember 1919 die politische Prägung der syndikalistischen Bewegung in Deutschland  übernehmen sollte, waren von Beginn weg „die Aufforderungen an die Genossen im Lande, den linken Flügel der sozialistischen Bewegung, die Unabhängigen und die Spartakisten, zu unterstützen und das Eintreten des Blattes für eine ‚Proletarische Diktatur‘(…) nicht nach dem Herzen.“[16] Rocker, ein syndikalistischer Anarchist, der stark von den Ideen Kropotkins geprägt war, trat der FVDG im März 1919 bei, nachdem er aus der Kriegs-Internierungshaft in England zurückgekehrt war.

Trotz der unterschiedlichen Auffassungen zwischen Rocker und der in den ersten Monaten der Revolution 1918/19 die FVDG prägenden Tendenz um Fritz Kater, Carl Windhoff und Karl Roche über den Spartakusbund wäre es falsch, in dieser Zeit von Richtungskämpfen innerhalb der FVDG zu sprechen, so wie sie später, ab 1920, innerhalb der FAUD als Symptom der Niederlagen der Deutschen Revolution entbrannten. Es existierte keine bedeutende Tendenz bei den Syndikalisten, welche sich a priori von der KPD abgrenzen wollte. Vielmehr war die Suche nach einer Aktionseinheit mit den Spartakisten Ausdruck der Dynamik der vereinigenden Kämpfe der Arbeiterklasse und Produkt des „Drucks von der Basis“ beider Strömungen in jenen Wochen und Monaten, in denen die Revolution in greifbarer Nähe zu sein schien. Erst die schmerzliche Niederlage des überstürzten Januaraufstandes 1919 in Berlin mit der anschließenden Niederschlagung der Streikwelle im April im Ruhrgebiet, die von den Syndikalisten, der KPD und der USPD gemeinsam getragen wurde, und die daraufhin um sich greifende Enttäuschung führten zu gegenseitigen und emotionalen Schuldzuweisungen, denen es auf beiden Seiten an Reife mangelte. 

Die „informelle Allianz“ mit den Spartakisten bzw. der KPD sollte also schon im Sommer 1919 wieder zerbrechen. Auslöser war weniger die FVDG, sondern vielmehr der aggressive Kurs, den die KPD gegen die Syndikalisten einzuschlagen begann.

Das „provisorische Programm“ der Syndikalisten vom Frühling 1919

Im Frühjahr 1919 veröffentlichte die FVDG eine von Roche entworfene Broschüre mit dem Titel Was wollen die Syndikalisten? Sie sollte bis zum Dezember 1919 als Programm und  Orientierungspunkt ihrer Organisation dienen. Die syndikalistische Bewegung ist wegen der verschiedenen Ideen, die in ihren Reihen nebeneinander existierten, schwerlich an einem einzigen Text zu beurteilen. Dennoch ist dieses Programm vom Frühling 1919 ein Meilenstein und stellt in verschiedenen Punkten eine der reifsten Positionen der syndikalistischen Bewegung in Deutschland dar. Trotz der Traumata der eigenen Geschichte mit der Sozialdemokratie und der daraus resultierenden permanenten Dämonisierung der „Politik“[17] schlussfolgerte es: „Die Arbeiterklasse muss sich zum Herrn der Wirtschaft und der Politik machen“[18].

Die Stärke der Positionen, die dieses Programm der FVDG ab Frühjahr 1919 vertrat, liegt woanders: in ihrer Haltung gegenüber dem bürgerlichen Staat, der Demokratie und dem Parlamentarismus. Es bezog sich ausdrücklich auf Friedrich Engels‘ Beschreibung des Staates als Produkt der Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Der Staat ist das „Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe“, das „Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnlichen Gegensätzen gespalten hat (…)“, und daher nicht „eine der Gesellschaft von Außen aufgezwungene Macht“ oder ein rein willkürlich geschaffenes Instrument der herrschenden Klasse.[19] Die FVDG rief konsequent zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates auf.

Die FVDG legte mit dieser Haltung in einer Zeit, in der die Sozialdemokratie unbestreitbar die hinterlistigste Waffe der Konterrevolution war, den Finger auf die richtigen Wunden. Gegen die Schmierenkomödie der SPD im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Arbeiterräte und deren Eingliederung in die bürgerliche Nationalversammlung mahnte ihr Programm: „Der sozialdemokratische ‚Sozialismus‘ allerdings braucht einen Staat. Und dazu einen, der noch ganz andere Mittel gegen die Arbeiterklasse anwenden müsste als der kapitalistische (…). Er wird die Frucht einer halben proletarischen Revolution sein und das Opfer einer ganzen proletarischen Revolution werden. Weil wir den Charakter des Staates erkannt haben und wissen, dass die politische Herrschaft der besitzenden Klassen in ihrer ökonomischen Macht wurzelt, so ringen wir nicht um die Eroberung des Staates, sondern um seine Beseitigung.“

Karl Roche versuchte im Programm der FVDG auch grundlegende Lehren aus den Ereignissen der November- und Dezembertage 1918 zu formulieren, die weit über die den Syndikalisten fälschlich unterstellte rebellische oder individualistisch motivierte Ablehnung des Staates hinausgingen und die klar das System der bürgerlichen Demokratie in seinem Kern entlarvten. „Demokratie ist nicht Gleichheit, sondern demagogische Anwendung einer vorgespiegelten Gleichheit (…) Die Besitzenden haben, soweit sie gegen die Arbeiter zusammengehen müssen, immer gleiche Interessen (…) Die Arbeiter haben nur gleiche Interessen mit sich selbst, keine mit der Bourgeoisie. Da wird Demokratie Generalunsinn. (…) Demokratie ist eines der gefährlichen Schlagworte im Munde der Demagogie, die mit der Indolenz und Unwissenheit der Lohnarbeiterschaft rechnen. (…) Die modernen Demokratien in der Schweiz, in Frankreich, in Amerika sind demokratisch-kapitalistische Heuchelei in der widerlichsten Form.“ Diese klaren Worte zur Falle der Demokratie sind heute aktueller denn je.  

Man könnte sich an dieser Stelle dazu hinreißen lassen, mit den Erkenntnissen von heute auf die vielen Mängel im Programm der FVDG aus dem Frühjahr 1919 hinzuweisen oder sich kritisch auf die darin vertretenen und sicher klassisch syndikalistischen Ideen des „vollkommenen Selbstbestimmungsrechts“ und auf ihren Föderalismus zu stürzen. Doch der Text erschien just zu der Zeit, als die KPD nach einer Reihe von Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland ab Mitte 1919 ihre einst klare Haltung gegen den Parlamentarismus und gegen eine Mitarbeit in den sozialdemokratischen Gewerkschaften zu ändern begann mit dem taktischen Argument, dass ansonsten die Gefahr drohe, „sich von den Massen zu isolieren“, und politisch damit eine dramatische Regression hinter ihre Gründungpositionen vom Januar 1919 erlebte.

Das von Roche verfasste Programm blieb in der Ablehnung des Parlamentarismus standhaft. „Es gilt vom Parlamentarismus, was bei der Sozialdemokratie gilt: will die Arbeiterklasse den Sozialismus erkämpfen, dann muss sie die Bourgeoisie als Klasse beseitigen. Sie darf ihr dann nicht ein Herrschaftsrecht einräumen, darf nicht mit ihr zusammen wählen und mit ihr verhandeln. Arbeiterräte sind die Parlamente der Arbeiterklasse (…) Nicht bürgerliche Parlamente, sondern proletarische Diktatur werden den Sozialismus durchführen.“

Einige Monate später, im Dezember 1919, sollte die Prinzipienerklärung der FAUD andere Schwerpunkte legen.  Karl Roche, der die FVDG in der ersten Zeit nach dem Krieg programmatisch entscheidend geprägt hatte, trat im Dezember 1919 zum Unionismus der AAU über.

Der Bruch mit der KPD                             

In den Tagen der Novemberrevolution lassen sich zwischen den Revolutionären der syndikalistischen FVDG und des Spartakusbundes viele Gemeinsamkeiten feststellen: der Bezug auf die Erhebung der Arbeiterklasse in Russland 1917, die Forderung: „Alle Macht den Arbeiterräten“, die Ablehnung der Demokratie und des Parlamentarismus sowie eine klare Haltung gegenüber der Sozialdemokratie und ihren Gewerkschaften. Wie kam es im Sommer 1919 zwischen diesen beiden Strömungen, die zuvor so viel geteilt hatten, zum Bruch?

Es gibt verschiedene Faktoren, an denen eine Revolution scheitern kann, wie zum Beispiel die Schwäche der Arbeiterklasse und ihre Illusionen oder die Isolierung einer Revolution. 1918/19 war es aber vor allem die Erfahrung der deutschen Bourgeoisie, der es mittels der Sozialdemokratie gelang, die Bewegung zu sabotieren, demokratische Illusionen zu schüren, ihre klarsten Revolutionäre und Tausende engagierter Proletarier zu ermorden und die Arbeiterklasse in die Falle isolierter und vorzeitiger Aufstände wie im Januar 1919 zu locken.

Die Polemiken zwischen der KPD und den Syndikalisten nach der Niederschlagung der Aprilstreiks 1919 im Ruhrgebiet zeigen den beiderseitigen Versuch, das Scheitern der Revolution bei den Anderen zu suchen. Roche hatte sich schon im April, in seinem Schlusswort zum Programm der FVDG, zu der Warnung hinreißen lassen, dass „(…) nicht Spartakisten die Arbeiterklasse zerklüften dürfen“, und sie dabei – völlig konfus - in einen Topf mit den „Rechtssozialisten“ geworfen. Ab dem Sommer 1919 wurde es in der FVDG üblich, von „den drei sozialdemokratischen Parteien“ zu sprechen, womit SPD, USPD und KPD gemeint waren – eine polemische Attacke, die die Frustration über die Niederlagen der Klassenkämpfe ausdrückte und keinen Unterschied mehr zwischen konterrevolutionären und proletarischen Organisationen machte.          

Die KPD veröffentlichte im August ein Pamphlet über die Syndikalisten, das ebenso unglücklich argumentierte. Sie sah die Präsenz von Syndikalisten in ihren Reihen nun als Gefahr für die Revolution: „Die eingefleischten Syndikalisten müssen endlich einsehen, dass sie die grundlegenden Dinge nicht mit uns gemeinsam haben. Wir dürfen es uns nicht mehr gefallen lassen, dass unsere Partei den Tummelplatz für Leute abgibt, die dort alle möglichen der Partei fremden Ideen propagieren.[20]

Die Kritik der KPD an den Syndikalisten zielte auf drei Punkte ab: die Auffassungen über den Staat und die Wirtschaftsorganisation nach der Revolution, die Taktik und die Organisationsform – also die klassischen Debatten mit der syndikalistischen Strömung. Auch wenn die KPD mit ihrer Schlussfolgerung richtig lag („In der Revolution geht die Bedeutung der Gewerkschaften für den Klassenkampf immer mehr zurück. Die Arbeiterräte und die politischen Parteien werden zu den ausschließlichen Trägern und Leitern der Kämpfe“), so deckte die Polemik gegen die Syndikalisten vor allem die Schwächen der KPD unter der Führung von Levi auf: die Fixierung auf die Eroberung des Staates: „Wir meinen, dass wir den Staat nach der Revolution unbedingt gebrauchen werden. Die Revolution bedeutet zunächst gerade die Machtergreifung im Staate“; der Irrglaube, dass der Zwang innerhalb der Arbeiterklasse die Revolution vollenden könne: „Sagen wir mit der Bibel und mit dem Russen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer nicht arbeitet, soll nur bekommen, was die Fleißigen entbehren können.“; das Liebäugeln mit der Wiederaufnahme der parlamentarischen Tätigkeit: „Unsere Einstellung zum Parlamentarismus zeigt, dass für uns die taktische Frage ganz anders gestellt ist als für die Syndikalisten (…) Sowie das ganze Leben des Volkes etwas Lebendiges, etwas Wechselndes ist, ein Prozess, der beständig neue Formen annimmt, so muss auch unsere ganze Taktik sich ständig den neuen Bedingungen anpassen.“; und schließlich die Tendenz, die permanente innerorganisatorische Debatte gerade über politische Grundsatzfragen nicht als etwas Positives zu betrachten: „Dagegen müssen wir Maßregeln ergreifen, gegen die Personen, die uns das Parteileben planmäßig schwer machen. Die Partei ist eine geschlossene Kampfgemeinschaft und kein Diskutierklub. Wir können uns nicht ständig über die Organisationsformen und dergleichen auseinandersetzen.“

Die KPD versuchte so jene Syndikalisten, die auch KPD-Mitglieder waren, loszuwerden. Im Juni 1919 hatte sie in ihrem Aufruf An die Syndikalisten in der KPD! diese zwar als „von ehrlich revolutionärem Streben erfüllt“ dargestellt. Jedoch bezeichnete die KPD den Kampfgeist der Syndikalisten als tendenziell putschistische Gefahr und stellte ihnen das Ultimatum, sich in einer straff zentralisierten Partei zu organisieren, andernfalls: „Die Kommunistische Partei Deutschlands kann Mitglieder, die mit ihrer Propaganda durch Wort, Schrift und Aktion gegen diese Grundsätze verstoßen, nicht in ihren Reihen dulden. Sie ist gezwungen, sie auszuschließen.“ Angesichts der beginnenden Unklarheiten und der Verwässerung der Positionen des Gründungskongresses der KPD war dieses sektiererische Ultimatum gegen die Syndikalisten Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts des Rückflusses der revolutionären Welle auch in Deutschland. Es beraubte die KPD des lebendigen Kontakts mit den kämpferischen Teilen des Proletariates. Der Schlagabtausch zwischen der KPD und den Syndikalisten im Sommer 1919 zeigt auch auf, dass eine Stimmung der Niederlage bei gleichzeitiger Neigung zu größtem Aktionismus eine ungünstige Kombination für die politische Klärung darstellt.

Ein kurzer gemeinsamer Weg mit den Unionen

Die Stimmung im Sommer 1919 war in Deutschland einerseits von großer Ernüchterung angesichts der Niederlagen, andererseits von einer Radikalisierung in Teilen der Arbeiterklasse gekennzeichnet. Es kam zu massenhaften Austritten aus den sozialdemokratischen Gewerkschaften und einem Massenzulauf zur FVDG, deren Mitgliederzahl sich verdoppelte. Unter dem Einfluss linksradikaler Tendenzen innerhalb der Hamburger KPD und unterstützt durch die aktive Agitation der amerikanischen International Workers of the World (IWW) mit den ihr nahestehenden Kreisen um Karl Dannenberg aus Braunschweig, entstand im Ruhrgebiet die Allgemeine Arbeiter Union Essen und die Allgemeine Bergarbeiter Union. 

Neben den Syndikalisten begann sich also, ebenfalls mit großer Resonanz, eine zweite Strömung gegen die traditionellen Gewerkschaften zu entwickeln. Im Gegensatz zur syndikalistischen FVDG versuchten die Unionen das Prinzip der gewerkschaftlichen Berufsorganisationen hinter sich zu lassen und die Arbeiterklasse ganzer Betriebe in „Kampforganisationen“ zusammenzufassen. Ihrer Ansicht nach waren es nun die Betriebe, nicht mehr die Berufe, die der Arbeiterklasse gesellschaftliche Macht verleihen - wenn sie sich entsprechend organisiert. Damit suchten die Unionen eine größere Einheit; sie betrachteten die Gewerkschaften als historisch veraltete Form der Arbeiterorganisation. Man kann sagen, dass die Unionen in gewisser Weise eine Antwort der Arbeiterklasse auf die Frage nach einer neuen Organisationsform waren – genau jener Frage, der die syndikalistische Strömung in Deutschland – bis heute[21] - auszuweichen versucht.

Was die Unionen, die selbst keine Räte, keine Gewerkschaften, aber auch keine Parteien darstellten, tatsächlich für einen Charakter hatten, kann hier nicht befriedigend beantwortet werden. Dazu ist ein spezifischer Text notwendig.  

Es ist oft schwierig, die syndikalistische und unionistische Strömung in dieser ersten Phase genau auseinanderzuhalten. In beiden Strömungen existierten Vorbehalte gegenüber den politischen Parteien, auch wenn die Unionen der KPD im Jahr 1919 noch viel näher standen. Beide Strömungen waren der direkte Ausdruck der kämpferischsten Teile der Arbeiterklasse in Deutschland, richteten sich gegen die Sozialdemokratie und propagierten zumindest bis Ende 1919 gemeinsam das Rätesystem.

In einer ersten Phase bis zum Winter 1919/20 gliederte sich die unionistische Strömung im Ruhrgebiet auf einer sog. Verschmelzungs-Konferenz, die am 15./16. September 1919 in Düsseldorf stattfand, in den Rahmen der stärkeren syndikalistischen Bewegung ein. Die Unionisten nahmen auch an der Gründung der Freien Arbeiter Union (FAU) für Rheinland-Westfahlen teil. Diese Konferenz war ein erster Schritt zur Gründung der FAUD, die drei Monate später stattfand. Die FAU Rheinland-Westfahlen drückte inhaltlich einen Kompromiss zwischen dem Syndikalismus und Unionismus aus. Die verabschiedeten Richtlinien sprachen davon, dass „der wirtschaftliche und politische Kampf mit Erfolg und Nachdruck von den Arbeitern geführt werden soll.“ Und: „Als wirtschaftliche Organisation duldet die Freie Arbeiter Union keinerlei Parteipolitik in ihren Versammlungen, stellt es aber jedem Mitglied frei, sich den linksstehenden Parteien anzuschließen und dort zu betätigen, sofern der einzelne dies als notwendig betrachtet.“[22] Noch vor der Gründung der FAUD im Dezember schieden die Allgemeine Arbeiter Union Essen und die Allgemeine Bergarbeiter Union zu großen Teilen wieder aus der Allianz mit den Syndikalisten aus.                

Die Gründung der FAUD und ihre Prinzipienerklärung

Das rapide numerische Anwachsen der FVDG im Verlaufe des Sommer/Herbstes 1919 und die Ausbreitung der syndikalistischen Bewegung in Thüringen, Sachsen, Schlesien, Süddeutschland sowie an der Nord- und Ostseeküste verlangte nach einer nationalen Zusammenfassung der Bewegung. Der 12. Kongress der FVDG am 27.-30. Dezember in Berlin wurde zum Gründungskongress der  FAUD, an dem 109 Delegierte teilnahmen.

Dieser Kongress wird oft als „Wende“ des deutschen Syndikalismus zum Anarcho-Syndikalismus oder als Beginn der Ära von Rudolf Rocker beschrieben – eine Etikettierung, die vor allem von kategorischen Gegnern des Syndikalismus als „Schritt ins Negative“ bezeichnet wird. Meist wird die Gründung der FAUD plakativ als die Zelebrierung des Föderalismus, als Abschied von der Politik, Ablehnung der Diktatur des Proletariats und Hinwendung zum Pazifismus   bezeichnet. Diese Einschätzung wird der FAUD vom Dezember 1919 aber nicht gerecht. „Deutschland ist das Dorado der politischen Schlagworte. Man spricht ein Wort aus, berauscht sich an dem Klang, ohne sich über den Sinn desselben Rechenschaft zu geben“, kommentierte Rocker (den wir auch im Folgenden zitieren) in seiner Rede zur  Prinzipienerklärung diese Vorwürfe gegen die Syndikalisten.

Ohne Zweifel waren die Ideen des auch im Krieg internationalistischen Anarchisten Rocker, der die neue Prinzipienerklärung verfasste,  innerhalb der FAUD allein durch seine physische Präsenz spürbar. Aber die Gründung der FAUD spiegelte zuallererst die Popularität der syndikalistischen Ideen innerhalb der Arbeiterklasse in Deutschland wider und war Zeichen einer deutlichen Auslotung der Positionen gegenüber der KPD und dem entstehenden Unionismus. Die starken Positionen, die die FVDG schon seit Kriegsende innerhalb der Arbeiterklasse verbreitet hatte - die ausdrückliche Solidarität mit der Russischen Revolution, die explizite Ablehnung jeder Form von parlamentarischer Betätigung und der bürgerlichen Demokratie und die Zurückweisung aller „willkürlich gezogenen politischen und nationalen Grenzen“ - wurden in der Prinzipienerklärung vom Dezember 1919 erneut bestätigt. Die FAUD befand sich damit auf dem Boden revolutionärer Positionen.

Im Vergleich zum Programm der FVDG vom Frühjahr 1919 äußerte sich der Kongress aber kritischer und distanzierter zur Perspektive der Arbeiterräte. Die Anzeichen der Entmachtung der Arbeiterräte in Russland war für den Kongress ein Zeichen der latenten Gefahr „politischer Parteien“ und ein Beweis dafür, dass die gewerkschaftliche Organisationsform resistenter sei und den Rätegedanken am besten zum Ausdruck bringe[23]. Die Entmachtung der Arbeiterräte in Russland war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich Realität und die Bolschewiki trugen tragischerweise dazu bei. Was die FAUD aber in ihrer Analyse übersah, war schlicht die internationale Isolierung der Russischen Revolution, die unweigerlich zur Ausblutung der Arbeiterklasse führen musste.               

„Man bekämpft uns Syndikalisten hauptsächlich deshalb, weil wir ausgesprochene Föderalisten sind. Föderalismus, sagt man uns, sind die Zersplitterer der Arbeiterbewegungen“, so Rocker. Die Aversion der FAUD gegen den Zentralismus und ihr Bekenntnis zum Föderalismus gründeten nicht auf einer Vision der Zersplitterung des Klassenkampfes. Die Realität und das Leben der syndikalistischen Bewegung nach dem Krieg hatte genug Drang nach Koordination und Einheit des Kampfes bewiesen. Die übertriebene Zurückweisung der Zentralisierung hatte ihre Wurzeln im Trauma der Kapitulation der Sozialdemokratie: „Die Zentrale von oben hat befohlen, die Massen gehorchten. Dann kam der Krieg, Partei und Gewerkschaften standen vor vollendeten Tatsachen: Wir müssen den Krieg unterstützen, um das Vaterland zu retten. Nun wurde die Verteidigung des Vaterlandes zur sozialistischen Pflicht, und dieselben Massen, die eine Woche vorher gegen den Krieg protestiert hatten, waren nun für den Krieg, aber auf Befehl ihrer Zentrale. Das zeigt Ihnen die moralischen Folgen des Zentralisationssystems. Zentralisation heißt: das Herausschneiden des Gewissens aus dem Hirn des Menschen, nichts anderes. Es heißt das Gefühl der Selbständigkeit töten.“ Für viele Genossen der FAUD war der Zentralismus in seinem Kern eine von der Bourgeoisie übernommene Methode der „Organisation der Gesellschaft von oben nach unten, um die Interessen der herrschenden Klasse aufrecht zu erhalten“. Wir sind mit der FAUD von 1919 absolut einverstanden, dass eine proletarische Revolution allein vom politischen Leben und der Initiative der Arbeiterklasse getragen wird. Der Kampf der Arbeiterklasse muss gemeinsam geführt werden und bringt immer wieder selbst und spontan eine Dynamik des Zusammengehens hervor, und durch die Ernennung von jederzeit abwählbaren Delegierten eine Zentralisierung. Das „Dorado der politischen Schlagworte“ hatte die Mehrheit der Syndikalisten der FAUD im Dezember 1919 dazu verführt, sich selbst immer wieder das Schlagwort des Föderalismus aufzusetzen, eine Etikette, die nicht wirklich den in ihren Reihen existierenden Drang nach der Gründung der FAUD als eine ihren Kampf zusammenführende Organisation repräsentierte.

Hat der Gründungskongress der FAUD tatsächlich Abschied von der Idee der „Diktatur des Proletariats“ genommen?  „Wenn unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes verstanden wird als Ergreifung der Staatsmaschine durch eine Partei, wenn man darunter nur die Etablierung eines neuen Staates versteht, dann sind die Syndikalisten geschworene Gegner einer solchen Diktatur. Wenn aber darunter verstanden werden soll, dass das Proletariat den besitzenden Klassen diktieren will, ihre Privilegien aufzugeben, also nicht mehr Diktatur von oben nach unten, sondern Auswirkung der Revolution von unten nach oben, dann sind die Syndikalisten Anhänger und Vertreter der Diktatur des Proletariats.“[24] Absolut richtig! Die kritischen Gedanken über die Diktatur des Proletariates, die zur damaligen Zeit mit der dramatischen Situation in Russland gleichgesetzt wurde, waren eine allzu berechtigte Reflexion angesichts der drohenden Gefahr der inneren Degeneration der Russischen Revolution. Im Dezember 1919 war eine Bilanz der Russischen Revolution noch nicht möglich. Dennoch deuteten Rockers Ausführungen die schon spürbaren Widersprüche an und waren der Beginn einer jahrelangen Debatte in der Arbeiterbewegung über die Gründe des Scheiterns der weltrevolutionären Welle nach dem Krieg. Diese Zweifel tauchten nicht zufällig in einer Organisation wie der FAUD auf, die mit dem Leben der Arbeiterklasse stehen und fallen sollte.

Auch die gängige Einstufung des FAUD-Gründungskongresses als „Schritt in den Pazifismus“, der die Entschlossenheit der Arbeiterklasse untergrabe, entspricht nicht der Wirklichkeit. Ähnlich wie die Diskussion um die Diktatur des Proletariats war die Debatte über die Gewalt im Klassenkampf vielmehr Signal eines realen Problems, mit dem die Arbeiterklasse international konfrontiert war. Mit welchen Mitteln gelingt es, die stockende revolutionäre Welle am Leben zu erhalten und die Isolierung der Arbeiterklasse in Russland zu durchbrechen? Es war für die Arbeiter in Russland, aber auch in Deutschland unumgänglich, sich mit der Waffe in der Hand gegen die gewaltsamen Angriffe der herrschenden Klasse zu verteidigen. Doch eine Ausbreitung der Revolution mit militärischen Mitteln oder gar ein „revolutionärer Krieg“ waren unmöglich, wenn nicht absurd. Gerade in Deutschland versuchte die Bourgeoisie, das Proletariat mit Hinterlist und permanent militärisch zu provozieren. „Das Wesentliche der Revolution besteht nicht in der Gewaltanwendung, sondern in der Umwälzung der wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen. Die Gewalt an und für sich ist durchaus nicht revolutionär, sondern reaktionär in höchstem Grade (…) Revolutionen sind Folgen einer großen geistigen Umwälzung in den Anschauungen der Menschen; sie können nicht willkürlich durch Waffengewalt gemacht werden (…) Aber auch ich erkenne die Gewalt als Verteidigungsmittel, wenn die Verhältnisse selber uns jedes andere Mittel versagen“, argumentierte Rocker gegen Krohn, einen Anhänger der KPD. Die tragischen Ereignisse von Kronstadt 1921 haben bestätigt, dass eine kritische Haltung gegenüber den falschen Hoffnungen, dass Waffen die Revolution retten könnten, nichts mit Pazifismus zu tun hat. Auch nach ihrem Gründungskongress hatte die FAUD keine pazifistische Haltung eingenommen. Ein Großteil der Roten Ruhr-Armee, die sich gegen den Kapp-Putsch im Frühling 1920 zur Wehr setzte, wurde von syndikalistischen Arbeitern gestellt.

Wir haben in diesem Artikel neben kritischen Anmerkungen bewusst auch die Stärken der syndikalistischen Positionen in Deutschland in der Zeit von 1918/19 hervorgehoben. In einem nächsten Beitrag werden wir die Jahre nach 1920 bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 und der Zerschlagung der FAUD betrachten.

Mario 16.6.2012                



[1] Der Syndikalist Nr. 1: „Was wollen die Syndikalisten? Der Syndikalismus lebt!“ 14. Dezember.1918

[2] ebenda

[3] Siehe dazu: Ulrich Klan, Dieter Nelles, Es lebt noch eine Flamme, Trotzdem Verlag

[4] Karl Roche in Der Syndikalist Nr. 13, „Syndikalismus und Revolution“, 29. März 1919

[5] Richard Müller, 1918: Räte in Deutschland, S. 3

[6] Richard Müller, Hie Gewerkschaft, hie Betriebsorganisation! 1919

[7] Rede Rockers zur Erläuterung der Prinzipienerklärung der FAUD.

[8] Protokoll der Ersten Generalversammlung des Deutschen Eisenbahnerverbandes in Jena vom 25. bis 31. Mai 1919, Seite 244 f.

[9] Der Syndikalist Nr. 36, 1919, „Betriebsräte und Syndikalismus“

[10] Weit größer als die Illusionen über Betriebsräte als „Verhandlungspartner“ mit dem Kapital, waren - auch in den Reihen der Syndikalisten insbesondere in Essen im Ruhrgebiet – die Illusionen über die Möglichkeit sofortiger „Sozialisierungen“ resp. Verstaatlichungen der Betriebe und Zechen. Eine Schwäche innerhalb der gesamten Arbeiterklasse in Deutschland, die vor allem eine Ungeduld ausdrückte. Die Ebert-Regierung bildete dazu schon am 4. Dezember 1918 eine reichsweite Sozialisierungskommission, der neben Vertretern des Kapitals renommierte Sozialdemokraten wie Kautsky und Hilferding angehörten. Dies mit dem erklärten Ziel, durch Verstaatlichungen die Produktion aufrechtzuerhalten.  

[11] Siehe v.a. die Debatte auf dem 15. Kongress der FAUD 1925

[12] Der Syndikalist Nr. 2, „Verschandelung der Revolution“, 21. Dezember 1918

[13] Der Syndikalist Nr. 1: „Was wollen die Syndikalisten? Der Syndikalismus lebt!“ 14. Dezember.1918

[14] Ulrich Klan, Dieter Nelles, Es lebt noch eine Flamme, Trotzdem Verlag, S. 70

[15] Karl Roche in Der Syndikalist Nr. 13, „Syndikalismus und Revolution“, 29. März 1919

[16] Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Suhrkamp, S. 287

[17]  Als existiere niemals die Möglichkeit revolutionärer Parteien der Arbeiterklasse, schrieb Roche: „Parteipolitik ist die bürgerliche Methode, den Schacher um das den Arbeitern gestohlene Arbeitsprodukt zu betreiben (…) Politische Parteien und bürgerliche Parlamente hängen ineinander, sind beide dem proletarischen Klassenkampf hindernd und wirken verwirrend“. Und wie verhielt es sich mit dem Kampfgefährten Spartakus, der eine politische Partei war?

[18] Was wollen die Syndikalisten? Programm, Ziele und Wege der „Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“, März 1919

[19] Diese Analyse vertritt grundsätzlich die Ansicht, dass es keinen „proletarischen Staat“ nach der Revolution geben kann, da der Staat immer Ausdruck einer noch bestehenden Teilung der Gesellschaft in Klassen ist und einen konservativen Charakter einnimmt.

[20] Syndikalismus und Kommunismus, F. Brandt, KPD-Spartakusbund, August 1919

[21] In der Realität spielen viele Sektionen der FAU in Deutschland, wie sie heute existieren, seit Jahrzehnten vielmehr die Rolle politischer Gruppen als Gewerkschaften, welche sich zu vielen politischen Fragen äußern und sich keineswegs auf den „wirtschaftlichen Kampf“ beschränken – was wir, abgesehen davon, ob wir gleicher Meinung sind oder nicht, nur positiv finden.    

[22] Der Syndikalist, Nr. 42, 1919

[23] Trotz des Misstrauens gegen die existierenden politischen Parteien stellte Rocker klar, dass „der Kampf nicht nur ein wirtschaftlicher,  sondern auch ein politischer sein müsse. Dasselbe sagen wir auch. Wir verwerfen nur die parlamentarische Betätigung, keineswegs aber den politischen Kampf im allgemeinen  (…) Auch der Generalstreik ist ein politisches Mittel und desgleichen die antimilitaristische Propaganda der Syndikalisten usw.“ Eine theoretische Ablehnung des politischen Kampfes dominierte die FAUD zu diesem Zeitpunkt nicht, obwohl ihre Organisationsform klar auf den wirtschaftlichen Kampf zugeschnitten war.      

[24] Rocker in Der Syndikalist, Nr. 2, 1920

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 5

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1917-1921: Die Sowjets vor der Frage des Staates

Im vorangehenden Artikel dieser Serie (Internationale Revue Nr. 49) haben wir gesehen, wie in Russland die Räte zwar 1917 die Macht ergriffen, aber diese Macht zunehmend verloren, bis sie eine bloße Fassade waren, die künstlich aufrechterhalten wurde, um die kapitalistische Konterrevolution, die sich siegreich durchgesetzt hatte, zu verschleiern. Das Ziel dieses Artikels ist es, die Gründe für diesen Prozess zu begreifen, um daraus die Lehren für zukünftige revolutionäre Versuche zu ziehen.

Das Wesen des aus der Revolution hervorgehenden Staates

Marx und Engels analysierten die Pariser Kommune von 1871 und zogen einige Lehren zur Frage des Staates, die wir hier kurz wie folgt zusammenfassen können: 1. Das Proletariat muss den bürgerlichen Staat komplett zerstören. 2. Unmittelbar nach der Revolution formiert sich der Staat aufs Neue, und zwar aus zwei Gründen: a) Die Bourgeoisie ist noch nicht gänzlich besiegt und ihrer Grundlage beraubt; b) in der Übergangsgesellschaft gibt es immer noch nichtausbeutende Klassen (Kleinbürgertum, Bauern, städtisches Subproletariat …), deren Interessen sich nicht mit denen des Proletariats decken.

Dieser Artikel hat nicht das Ziel, das Wesen dieses neuen Staates zu analysieren[1], aber um das hier behandelte Thema zu beleuchten, müssen wir nachweisen, dass der neue Staat zwar nicht identisch ist mit seinen Vorläufern in der Geschichte, aber trotzdem Charakterzüge trägt, die ein Hindernis für die Entfaltung der Revolution darstellen; genau aus diesem Grund bemerkte bereits Engels und unterstrich Lenin in Staat und Revolution, dass das Proletariat schon am ersten Tag der Revolution mit einem Prozess des Absterbenlassens des neuen Staates beginnen muss.

Nach der Machtübernahme in Russland war das erste Hindernis, auf das die Sowjets stießen, der neu auferstandene Staat. Dieser ist „trotz seiner scheinbar großen materiellen Macht, (…) tausendmal verletzlicher gegenüber dem Feind als die anderen Arbeiterorganisationen. In der Tat verdankt der Staat seine größte materielle Macht objektiven Faktoren, die vollständig den Interessen der ausbeutenden Klassen  entsprechen, die aber umgekehrt überhaupt nicht zwingend etwas mit der revolutionären Rolle des Proletariats zu tun haben“[2], „Die schreckliche Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus drohte im Wesentlichen im verstaatlichten Bereich. Dies umso mehr, als der Kapitalismus hier in seiner unpersönlichen – man  könnte sagen: vergeistigten – Form daher kommt. Die Verstaatlichung kann so während langer Zeit dazu dienen, einen dem Sozialismus diametral entgegen gesetzten Prozess zu verschleiern“[3].

Im vorangehenden Artikel haben wir die Umstände beschrieben, welche die Schwächung der Sowjets begünstigten: der Bürgerkrieg, die Hungersnot, das allgemeine Chaos der gesamten Wirtschaft, die Erschöpfung und die voranschreitende Auflösung der Arbeiterklasse, usw. Die „stille Verschwörung“ des Sowjetstaates, die ebenfalls zur Schwächung der Sowjets beitrug, operierte auf drei Achsen: 1. das wachsende Gewicht, das die klassischen Institutionen des Staates gewannen: die Armee, die Tscheka (die politische Polizei) und die Gewerkschaften; 2. der „klassenübergreifende Charakter“ der Sowjets und die beschleunigte Bürokratisierung, die daraus resultierte; 3. die zunehmende Integration der bolschewistischen Partei in den Staat. Wir haben den ersten Punkt im vorangehenden Artikel behandelt, der vorliegende Artikel ist den beiden anderen Faktoren gewidmet.

Die fatale Verstärkung des Staates

Der Sowjetstaat schloss zwar die Bourgeoisie aus, er war aber nicht der Staat ausschließlich des Proletariats. Er schloss nichtausbeutende gesellschaftliche Klassen wie die Bauernschaft, das Kleinbürgertum, verschiedene Mittelschickten ein. Diese Klassen neigten dazu, ihre eigennützigen Interessen zu wahren, und stellten der Bewegung zum Kommunismus unweigerlich Hindernisse in den Weg. Dieser unvermeidliche „klassenübergreifende Charakter“ drängte den neuen Staat in eine Rolle, welche die Arbeiteropposition[4] 1921 brandmarkte: „die sowjetische Politik zielt in verschiedene Richtungen, und ihre Stellung zur Klasse ist verzerrt“, und er war der Nährboden, auf dem sich die Verwaltungsbürokratie errichtete.

Kurz nach dem Oktober begannen ehemalige zaristische Beamte mit der Besetzung von Stellen in den sowjetischen Institutionen, insbesondere wenn es darum ging, improvisierte Entscheide angesichts drängender Probleme zu fällen. Als man beispielsweise im Februar 1918 vor der Unmöglichkeit stand, die Bevölkerung mit den lebensnotwendigsten Gütern zu versorgen, musste das Volkskommissariat auf die Hilfe von Kommissionen zurückgreifen, welche die alte Provisorische Regierung ins Leben gerufen hatte. Ihre Mitglieder nahmen den Auftrag an unter der Bedingung, dass sie von keinem Bolschewiki abhängig sein würden, was die Partei umgekehrt ebenfalls akzeptierte. Ähnlich lief es mit der Neuorganisierung des Bildungswesens 1918-19, als man auf ehemalige zaristische Beamte zurückgreifen musste, die dann allmählich das vorgeschlagene Bildungsprogramm abzuändern begannen.

Darüber hinaus verwandelten sich die besten proletarischen Kämpfer je länger je mehr in Bürokraten, die weit entfernt von den Massen agierten. Die Sachzwänge des Krieges nahmen zahlreiche Arbeiterkader in Beschlag für Aufgaben als politische Kommissare, Inspektoren oder militärische Führer. Die fähigsten Arbeiter wurden Kader in der wirtschaftlichen Verwaltung. Die vormaligen Reichsbürokraten und die Neulinge mit proletarischer Herkunft bildeten zusammen eine bürokratische Schicht, die sich mit dem Staat identifizierte. Aber dieses Organ hat seine eigene Logik, und seinen Sirenengesängen gelang es, selbst so erfahrene Revolutionäre wie Lenin und Trotzki zu verführen.

Die ehemaligen Beamten, die der bürgerlichen Elite entstammten, waren Träger dieser Ideologie, und sie drangen in die sowjetische Festung durch das Tor ein, das ihren der neue Staat öffnete: „Tausende von denen, die durch Gewohnheit und Tradition mehr oder weniger eng an die Klasse der enteigneten Bourgeoisie gebunden waren, erhielten die Gelegenheit, in das ‚revolutionäre Bollwerk‘ einzudringen – durch die Hintertür – und ihre Rolle als Kommandeure über den Arbeitsprozesses im ‚Arbeiterstaat‘ fortzusetzen (…) Viele wurden (von oben) bald auf führende Posten der Wirtschaft versetzt. Sie verschmolzen mit der neuen politisch-administrativen ‚Elite‘, für welche die Partei selber den Kern stellte, indem die ‚aufgeklärteren‘ und technisch geschulten Teile der ‚enteigneten Klasse‘ schon bald gehobene Stellen in den Produktionsverhältnissen übernehmen konnten.“[5] Der sowjetische Historiker Kritsmann charakterisierte diese Leute so: „die Repräsentanten der alten Intelligentsia legten eine herablassende und feindliche Haltung gegenüber der Öffentlichkeit an den Tag“[6].

Aber die Hauptgefahr ging von der staatlichen Maschinerie selbst aus, mit ihrer wachsenden, aber kaum wahrzunehmenden Trägheit. Eine Folge davon war, dass selbst die treusten Beamten dazu neigten, sich von den Massen zu entfernen, ihnen zu misstrauen, speditive Methoden zu übernehmen, Entscheide ohne Anhörung zu fällen in Angelegenheiten, die Tausende von Leuten betrafen, als handle es sich um bloße Verwaltungsfragen, mit Dekreten zu regieren. „Die Partei ging von der Arbeit der Zerstörung zu derjenigen der Verwaltung über und entdeckte dabei die Tugenden von Ruhe und Ordnung und Unterordnung unter die rechtmäßige Gewalt der revolutionären Macht.“[7]

Die bürokratische Logik des Staates passte vollkommen zur Bourgeoisie, die als ausbeuterische Klasse gewohnt ist, die Ausübung der Macht an eine spezialisierte Abteilung von Berufspolitikern und Beamten zu delegieren. Für das Proletariat aber ist es verheerend, immer den Spezialisten zu vertrauen; es muss aus seinen Fehlern lernen und selber Entscheidungen treffen, um diese in die Praxis umzusetzen, wenn es beginnen will, auch sich in diesem Prozess zu verändern. Die Logik der proletarischen Macht liegt nicht in der Delegation der Macht, sondern in der direkten Ausübung derselben.

Die Revolution wurde im April 1918 mit einem Dilemma konfrontiert. Die Weltrevolution hatte sich noch nicht ausgedehnt, und die imperialistische Invasion drohte die Sowjetbastion zu überfallen. Das gesamte Land verfiel in Chaos, "die Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisation löst sich in einem alarmierenden Grad auf. Die Gefahr für die Revolution kam nicht vom organisierten Widerstand, sondern vom Zusammenbruch jeder Autorität. Der Appel in Staat und Revolution, 'den Staatsapparat zu vernichten', schien nun nicht mehr aktuell zu sein, dieser Teil des revolutionären Programms war über alle Erwartungen hinaus erfüllt worden."[8]

Der Sowjetstaat war mit drastischen Entscheidungen, die er zu treffen hatte, konfrontiert: schnellstmöglich die Rote Armee aufbauen, den Transport organisieren, die Produktion erhöhen, den Nahrungsbedarf der hungernden Städte garantieren, das soziale Leben organisieren. All dies musste gegen die totale Sabotage der Unternehmer und Manager erledigt werden, was zu einer breiten Beschlagnahme der Industrieproduktion, der Banken, Geschäfte usw. führte. Dies stellt die sowjetische Macht vor eine zusätzliche Herausforderung. Eine erhitzte Debatte in der Partei und den Sowjets entfaltete sich. Jeder war für den militärischen und wirtschaftlichen Widerstand, bis die proletarische Revolution in anderen Ländern, hauptsächlich aber in Deutschland ausbrechen würde. Die Unstimmigkeit entstand jedoch in der Frage der Organisierung des Widerstandes: Sollte der Staatsapparat gestärkt, oder sollten die Organisation und die Fähigkeiten der Arbeitermassen verbessert werden? Lenin führte diejenigen an, die die erste Lösung verteidigten, während einige Tendenzen der Linken der bolschewistischen Partei die zweite verteidigten.

In seiner Broschüre Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht argumentiert Lenin, dass "die Hauptaufgabe, die vor der Revolution stand (....) die war, die heruntergekommene Wirtschaft wieder aufzubauen, die Wiedererrichtung einer Arbeiterdisziplin und die Erhöhung der Produktivität, Sicherung der strengen Buchhaltung und die Kontrolle über die Produktion und den Vertrieb, die Abschaffung der Korruption und der Verschwendung und – vielleicht vor allem – der Kampf gegen die allgegenwärtige kleinbürgerliche Mentalität. Er schrak nicht vor dem zurück, was er selber bürgerliche Methoden nannte, einschließlich den Einsatz von bürgerlichen technischen Spezialisten (…) den Rückgriff auf Stücklohn; die Anwendung des ‚Taylor-Systems‘ (…) Er rief folglich zur ‚Ein-Mann-Verwaltung‘ auf."[9]

Warum kam Lenin zu dieser Auffassung? Der erste Grund war die Unerfahrenheit: Die Sowjetmacht war mit riesigen und dringenden Aufgaben belastet, ohne aus früher gemachten Erfahrungen schöpfen zu können; und ohne solche war es nicht möglich, die theoretischen Reflexionen weiter zu treiben. Der zweite Grund war die verzweifelte und untragbare Situation, die wir beschreiben haben. Aber wir müssen auch in Betracht ziehen, dass Lenin ein Opfer der staatlichen und bürokratischen Logik wurde und allmählich als ihr Sprecher auftrat. Diese Logik brachte ihn dazu, den alten Technikern, Verwaltern und Beamten Vertrauen zu schenken, die im Kapitalismus erzogen worden waren, und darüber hinaus den Gewerkschaften, die verantwortlich dafür waren, Arbeiter zu disziplinieren, unabhängige Initiativen und Arbeiter-Demonstrationen zu ersticken, die kapitalistischen Arbeitsteilung und die enge korporatistische Mentalität durchzusetzen, die ihrem Wesen entspricht.

Die Oppositionellen brandmarkten die Idee, dass "die Art der Staatskontrolle der Unternehmen bürokratisch zentralisiert werden muss, in der Regel durch unterschiedliche Kommissare, die Entmachtung der unabhängigen Sowjets und die Verwerfung in der Praxis des Kommune-Staats, der von unten regiert wird. (....) Die Einführung der Arbeitsdisziplin im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der kapitalistischen Führung in der Produktion kann die Produktivität der Arbeit nicht wesentlich vergrößern, aber wird die Klassenautonomie, die Aktivität und den Grad der Organisation des Proletariats schmälern".[10]

Die Arbeiteropposition beklagte, dass "in Anbetracht des katastrophalen Zustandes unserer Wirtschaft, die sich noch auf das kapitalistische System verlässt (Bezahlung von Löhnen, verschiedene Ansätze, Arbeiterkategorien usw.), die Eliten unserer Partei den schöpferischen Fähigkeiten der Arbeiter misstrauen und die Lösung des wirtschaftlichen Chaos in der Erbschaft der alten Kapitalisten, Unternehmer und Techniker suchen, deren schöpferische Fähigkeit in Wirtschaftsangelegenheiten durch die Routine verdorben wird, durch Gewohnheit und Methoden und Management der kapitalistischen Produktionsweise"[11].

Weit davon entfernt abzusterben, wuchs die Staatsmacht in erschreckender Weise: "Ein 'weißer' Professor, der im Herbst 1919 von Moskau nach Omsk kam, berichtete, dass an der Spitze vieler Zentralen und Glavki ehemalige Arbeitgeber, Beamte und Betriebsleiter sitzen. Der unvorbereitete Besucher der Zentren, der persönlich die ehemalige Geschäftswelt kannte, wäre überrascht, die ehemaligen Eigentümer von großen Lederfabriken zu sehen, die im Glavkozh sitzen, große Fabrikanten in den Textilorganisationen usw."[12] Im März 1919, während der Debatte des Petrograder Sowjets, gestand Lenin: "Wir verjagten die alten Bürokraten, aber sie sind wiedergekommen, sie nennen sich 'Kammunisten', wenn sie Kommunist nicht sagen können, sie hängen sich ein rotes Bändchen an und drängen sich auf die warmen Plätzchen.“[13]

Das Wachstum der sowjetischen Bürokratie überwältigte schließlich die Sowjets. Sie zählte im Juni 1918 114‘259 Angestellte, ein Jahr später 529‘841 und im Dezember 1920 schon 5‘820‘000! Das “Staatsinteresse" wurde unbarmherzig über den revolutionären Kampf um den Kommunismus gestellt, "die allgemeinen Interessen des Staates wurden über die Interessen der Arbeiterklasse gestellt"[14].

Die Integration der bolschewistischen Partei in den Staat

In dem Maße, wie der Staat sich stärkte, sog er die bolschewistische Partei in sich auf. Diese hatte zwar zunächst nicht vor, sich in eine Staatspartei zu verwandeln. Gemäß den Zahlen von 1918 beschäftigte das Zentralkomitee der Bolschewiki nur sechs Verwaltungsangestellte im Vergleich zu deren 65 beim Rat der Kommissare; die Sowjets von Petrograd und Moskau hatten sogar über 200. „Die bolschewistischen Organisationen hingen finanziell von der Hilfe ab, die ihnen die örtlichen Sowjetinstitutionen zukommen ließen, und insgesamt war diese Abhängigkeit eine vollständige. Es geschah sogar, dass bekannte Bolschewiki – wie zum Beispiel Preobraschenski – angesichts der neuen Tatsachen vorschlugen, dass die Partei sich auflösen sollte, um im Sowjetapparat aufzugehen.“ Der Anarchist Leonard Schapiro anerkannte, dass „die besten Parteikader sich in den zentralen oder örtlichen Apparat der Sowjets integriert hatten“. Viele Bolschewiki waren der Ansicht, dass „die örtlichen Komitees der bolschewistischen Partei nichts anderes waren als die Propagandaabteilungen der örtlichen Sowjets“[15]. Die Bolschewiki hatten sogar Zweifel an ihren Fähigkeiten, Macht an der Spitze der Sowjets auszuüben. „Als unmittelbar nach dem Oktoberaufstand die neue Sowjetregierung gebildet wurde, zögerte Lenin einen Moment lang, bevor er die Stelle als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare annahm. Seine politische Intuition sagte ihm, dass dies seine Fähigkeit, als Vorhut der Vorhut zu handeln, behindern werde – seine Position untergraben, die er so klar zwischen April und Oktober 1917 eingenommen hatte“[16]. Lenin befürchtete nicht ohne Grund, dass die Partei und ihre führenden Mitglieder, wenn sie mit dem Tagesgeschäft der Sowjetregierung beschäftigt sind, zu Gefangenen des Systems werden und die allgemeinen Ziele der proletarischen Bewegung, die nicht mit dem Verwaltungsalltag der Staatsaufgaben verknüpft werden können, aus den Augen verlieren.[17]

Die Bolschewiki wollten die Macht nicht monopolisieren, und sie organisierten den ersten Rat der Volkskommissare gemeinsam mit den Linken Sozialrevolutionären. Einige Sitzungen des Rates waren sogar offen für Delegierte der menschewistischen Internationalisten und der Anarchisten.

Die Regierung wurde erst im Juli 1918 ganz bolschewistisch, nach der Aufstand der Sozialrevolutionäre gegen die Schaffung eines Komitees der armen Bauern: „Am 6. Juli erschienen zwei junge Tscheka-Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei und Hauptakteure der Verschwörung, A. Andrejew und G. Blumkin, in der deutschen Botschaft und wiesen sich mit amtlichen Dokumenten über ihre Stellung und Aufgabe aus. Nachdem sie ins Büro des Borschafters, Graf von Mirbach, gelassen worden waren, erschossen sie ihn und flohen. Darauf nahm eine Abteilung von Tschekisten unter dem Kommando eines Linken Sozialrevolutionärs, Popov, eine Reihe von überraschenden Verhaftungen vor einschließlich derjenigen der Führer der Tscheka, Dscherschinskys und Lazis’, des Vorsitzenden des Moskauer Sowjets, Smidowitsch, und des Volkskommissars der Post, Podbjelskys. Er übernahm auch die Gewalt über die Hauptsitze der Tscheka und des Zentralen Postbürogebäudes.“[18]

In Folge dieser Ereignisse gab es in der Partei eine Invasion von allen möglichen Opportunisten und Karrieristen, ehemaligen zaristischen Beamten und menschewistische Führer, die übergelaufen waren. Nogin, ein alter Bolschewik, „sprach über schreckliche Sachverhalten von Trunkenheit, Völlerei, Korruption, Raub und verantwortungslosem Verhalten von Seiten vieler Parteiarbeiter, so dass einem die Haare zu Berge standen.“[19] Im März 1918, vor dem Parteikongress, erzählte Zinovjew die Geschichte von einem Parteigenossen, der ein neues Mitglied willkommen geheißen und aufgefordert habe, am nächsten Tag seine Mitgliedskarte abholen zu kommen, worauf er zur Antwort erhalten habe: „Nein, Genosse, ich brauche sie jetzt, um einen Bürojob zu kriegen.“

Wie Marcel Liebman festhielt: „Dass so viele Männer, die nur in Worten Kommunisten waren, in die Partei eintraten, hatte damit zu tun, dass sie nun die zentrale Macht war, die einflussreichste Institution im gesellschaftlichen und politischen Leben, eine, die die neue Elite vereinte, die Geschäftsführer und sonstigen Leiter einstellte, das Instrument und der Kanal, durch den der Weg nach Oben und zum Erfolg führte“, und er fügte hinzu, dass „die Privilegien der mittleren und jüngeren Kader bei der Parteibasis Proteste auslösten“[20], während solche Vorgänge in einer bürgerlichen Partei zum Alltag gehören.

Die Partei versuchte dieser Invasion mit zahlreichen Ausschlüssen entgegen zu treten. Aber diese Maßnahme stellte sich als wirkungslos heraus, da sie das Problem nicht an der Wurzel erfasste, denn die Fusion zwischen Staat und Partei verstärkte sich unaufhaltsam. Diese Gefahr ging in einer ähnlichen Weise von der Identifizierung der Partei mit der russischen Nation aus. Die proletarische Partei ist in der Tat international, und ihre Sektion in einem oder mehreren Ländern, in denen das Proletariat eine isolierte Bastion unter Kontrolle hat, darf sich keinesfalls mit der Nation identifizieren, sondern einzig und allein mit der Weltrevolution.

Die Umwandlung des Bolschewismus in einen Partei-Staat wurde schließlich mit dem Argument theoretisiert, dass die Partei die Macht im Namen der Klasse ausübe, dass die Diktatur des Proletariats die Diktatur der Partei sei[21]; diese Idee entwaffnete die Partei theoretisch und politisch und schloss ihre Kapitulation gegenüber dem Staat ab. In einer seiner Resolutionen stimmte der 8. Parteitag (im März 1918) der Auffassung zu, dass die Partei „individuellen politischen Einfluss in den Sowjets und Kontrolle über all ihre Tätigkeiten gewinnen“ muss[22]. Diese Resolution wurde in den folgenden Monaten umgesetzt, indem in allen Sowjets Zellen der Partei gebildet wurden, um jene zu kontrollieren. Kamenjew erklärte, dass „die Kommunistische Partei die Regierung Russlands ist. Das Land wird regiert durch die 600'000 Parteimitglieder.“[23] Dem Ganzen setzte Sinowjew die Krone auf, als er am 2. Kongress der Kommunistischen Internationale erklärte, dass „jeder bewusste Arbeiter erkennen muss, dass die Diktatur der Arbeiterklasse nur durch die Diktatur ihrer Vorhut, d.h. die Kommunistische Partei, verwirklicht werden kann“[24] und ähnlich Trotzki am 10. Parteitag (1921), wo er auf eine Intervention der Arbeiteropposition antwortete: „Sie haben gefährliche Losungen aufgestellt. Sie haben aus demokratischen Prinzipien einen Fetisch gemacht. Sie haben das Recht der Arbeiter Vertreter zu wählen über das der Partei gestellt. Als ob die Partei nicht befugt wäre, ihre Diktatur auszuüben, selbst wenn diese Diktatur zeitweilig mit der gerade herrschenden Stimmung der Arbeiterdemokratie zusammenstößt!“ Trotzki sprach vom „revolutionären geschichtlichen Erstgeburtsrecht der Partei“. „Die Partei ist verpflichtet, die Diktatur aufrecht zu erhalten (…) unabhängig von den vorübergehenden Schwankungen sogar in der Arbeiterklasse (…) Die Diktatur beruht nicht in jedem Moment auf dem formellen Prinzip der Arbeiterdemokratie (…)“[25]

Das Proletariat verlor die Bolschewistische Partei als seine Vorhut. Der Staat diente nicht mehr dem Proletariat; vielmehr benützt der Staat die Partei als Rammbock gegen das Proletariat. Die Plattform der Fünfzehn, einer Oppositionsgruppe, die in den späten 1920er Jahren in der Bolschewistischen Partei entstand, stellte es so dar: „Die Bürokratisierung der Partei, die Entartung ihrer regierenden Spitzen, die Verschmelzung des leitenden Parteiapparates mit dem bürokratischen Staatsapparat, die Verminderung des Einflusses des proletarischen Teils der Partei – das alles zeigt, dass das Zentralkomitee in seiner Politik der Knebelung der Partei bereits die Grenzen überschritten hat, hinter der die Liquidierung der Partei und ihre Umwandlung in einen Hilfsapparat des Staates beginnt. Die Durchführung dieser Liquidation würde das Ende der proletarischen Diktatur in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bedeuten. Die Partei ist die Vorhut und die wichtigste Waffe im Klassenkampf des Proletariats. Ohne sie ist weder sein Sieg noch die Aufrechterhaltung seiner Diktatur möglich.“[26]

Das Proletariat muss sich unabhängig vom Übergangsstaat organisieren

Wie hätte das Proletariat in Russland das Kräfteverhältnis umdrehen, die Sowjets wieder beleben, das Wachsen des nachrevolutionären Staates aufhalten und dabei das Tor zu dessen wirklichen Absterben aufstoßen und die weltweite revolutionäre Bewegung vorwärts bringen können?

Diese Frage hätte nur in einer Entwicklung der Weltrevolution gelöst werden können. „In Russland konnte das Problem nur gestellt werden.“[27] „(…) musste es klar sein, dass es in Europa unermesslich schwieriger ist, die Revolution anzufangen, dass es bei uns unermesslich leichter ist, anzufangen, aber schwieriger als dort sein wird, die Revolution fortzuführen“[28].

Im Zusammenhang mit dem Kampf für eine Weltrevolution gab es in Russland zwei konkrete Aufgaben: die Partei für das Proletariat bewahren, indem man sie wegzieht aus den Fängen des Staates, sich selbst in den Arbeiterräten organisieren, die fähig sind, die Sowjetstruktur neu zu schaffen. Wir behandeln hier nur den letzten Aspekt.

Das Proletariat muss sich unabhängig vom Übergangsstaat organisieren und seine eigene Diktatur über ihn ausüben. Das mag jenen dumm vorkommen, die eine Vorliebe für einfache Formeln und Syllogismen haben und sagen, dass der Staat, wenn das Proletariat herrschende Klasse, sein treustes Organ sein müsse. In Staat und Revolution schrieb Lenin unter Bezugnahme auf Marxens Kritik des Gothaer Programms von 1875: „In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommunismus ökonomisch noch nicht völlig reif, völlig frei von Traditionen, von den Spuren des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sich eine so interessante Erscheinung wie das Fortbestehen des „engen bürgerlichen Rechtshorizonts“ während der ersten Phase des Kommunismus. Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“[29]

Der Staat in der Übergangsperiode[30] ist ein „bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie“[31], oder, um es präziser zu fassen, ein Staat, der noch die tiefsten Charakterzüge einer Klassengesellschaft trägt, einer Ausbeutungsgesellschaft: In dieser Phase gelten nach wie vor bürgerliches Recht[32], das Wertgesetz, der moralische und geistige Einfluss des Kapitalismus. Die Übergangsgesellschaft trägt noch viele Aspekte der alten Gesellschaft in sich, aber sie hat bereits eine tiefe Veränderung durchgemacht, die lebendig bleiben muss, weil sie das Einzige ist, das zum Kommunismus führen kann: die massenhafte, bewusste und organisierte Tätigkeit der großen Mehrheit der Arbeiterklasse, ihre Organisierung zur politisch herrschenden Klasse, die Diktatur des Proletariats.

Die tragische Erfahrung der Russischen Revolution zeigt, dass die Organisierung des Proletariats als bestimmende Klasse nicht durch den Übergangsstaat (den Sowjetstaat) erfolgen kann.

Kollontai kritisierte, „dass aber die Arbeiterklasse selbst, als Klasse, als einheitliche, nicht in sich zersplitterte soziale Einheit, mit einheitlichen, gleichartigen Klassenbedürfnissen, -aufgaben und -interessen und folglich auch einer gleichartigen, konsequenten, klipp und klar formulierten Politik, eine immer geringere Rolle in der Sowjetrepublik spielt“[33].

Die Sowjets waren der Kommune-Staat, von dem Engels als der politischen Assoziation der Volksklassen sprach. Dieser Kommune-Staat spielt eine unabdingbare Rolle bei der Unterdrückung der Bourgeoisie im Verteidigungskrieg gegen den Imperialismus und bei der Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Zusammenhalt, aber er kann nicht den Kampf für den Kommunismus selber führen. Marx sah das bereits in seinem (ersten) Entwurf des Bürgerkriegs in Frankreich voraus: „so ist die Kommune nicht die soziale Bewegung der Arbeiterklasse und folglich nicht die Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit, sondern ihr organisiertes Mittel der Aktion. Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf, durch den die arbeitenden Klassen die Abschaffung aller Klassen, und folglich aller [Klassenherrschaft] erreichen wollen (…), aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiednen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“[34] Prosper Lissagaray kritisiert in seiner Geschichte der Commune von 1871 „das Zaudern, die Verwirrungen und – in einigen Fällen – leeren Phrasen gewisser Delegierter im Rat der Kommune, von denen viele eigentlich nur eine altmodische kleinbürgerliche Radikalität verkörperten, die oft durch die Versammlungen der proletarischen Viertel in Frage gestellt wurde. Mindestens einer der revolutionären Clubs erklärte, dass die Kommune aufgelöst gehöre, weil sie zu wenig revolutionär sei!“[35]

„(…) der Staat ist in unseren Händen – aber hat er unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik in diesem Jahr nach unserem Willen funktioniert? Nein. Das wollen wir nicht zugeben: Er hat nicht nach unserem Willen funktioniert. Wie hat er denn funktioniert? Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt – jemand, der illegal ist, der gesetzwidrig handelt, der von Gott weiß woher kommt (…)“[36]

Um dieses Problem zu lösen, setzte die Bolschewistische Partei verschiedene Maßnahmen um. Einerseits erklärte die 1918 angenommene Sowjetische Verfassung, dass „Der Gesamtrussische Sowjetkongress aus Vertretern der örtlichen Sowjets besteht, wobei die Städte auf je 25'000 Einwohner einen Delegierten und die ländlichen Gebiete auf je 125'000 Einwohner einen Delegierten haben. Dieser Artikel kodifizierte die Vorherrschaft des Proletariats gegenüber der Bauernschaft“[37], während andererseits das Programm der Bolschewistischen Partei, das 1919 angenommen wurde, festhielt: „erstens (ist) jedem Mitglied eines Sowjets unbedingt eine bestimmte Arbeit auf dem Gebiet der Staatsverwaltung zu übertragen, zweitens (sind) diese Arbeiten nacheinander zu wechseln, so dass sie den ganzen Aufgabenkreis der Staatsverwaltung, alle ihre Zweige erfassen, und drittens, (ist) durch eine Reihe allmählicher und behutsam ausgewählter, aber unbeirrt durchgeführter Maßnahmen die ganze werktätige Bevölkerung ohne jede Ausnahme zu selbständiger Teilnahme an der Verwaltung des Staates heranzuziehen“.[38]

Diese Maßnahmen standen unter dem Einfluss der Lehren aus der Pariser Commune. Sie zielten darauf ab, den Privilegien und Vorrechten der Staatsbeamten Grenzen zu setzen. Aber dies wirksam umzusetzen, wäre nur das autonom, unabhängig vom Staat[39] in Arbeiterräten organisierte Proletariat in der Lage gewesen.

Der Marxismus ist eine lebendige Theorie, die auf der Grundlage der geschichtlichen Erfahrungen vertieft und berichtigt werden muss. Indem die Bolschewiki die von Marx und Engels vermachten Lehren aus der Pariser Commune zogen, verstanden sie, dass der Kommune-Staat, der seinem eigenen Verschwinden entgegen gehen sollte, der Ausdruck der Sowjets sei. Aber gleichzeitig setzten sie ihn fälschlicherweise einem proletarischen Staat gleich[40] und meinten, dieser Prozess laufe von selbst ab, aus dem Staat heraus.[41] Die Erfahrung der Russischen Revolution lehrt, dass es für den Staat nicht möglich ist, einfach selber abzusterben, und deshalb muss man unterscheiden zwischen den Arbeiterräten und den allgemeinen Sowjets; jene sind der Ort, wo das Proletariat sich selber organisiert und seine Diktatur über den Übergangs-Kommune-Staat ausübt, der sich darstellt in den allgemeinen Sowjets.

Nach der Machtergreifung durch die Sowjets muss das Proletariat seine eigene Organisation erhalten und aufbauen, die unabhängig von den Sowjets handeln: die roten Garden, die Fabrikkomitees, die Nachbarschaftskomitees, die Arbeiterabteilungen der Sowjets, die Vollversammlungen.

Die Fabrikkomitees, das Herz der Organisation der Arbeiterklasse

Wir haben schon gesehen, wie die Fabrikkomitees eine entscheidende Rolle während der Krise der Sowjets im Juli gespielt hatten,[42] und wie sie vor der Manipulation der Bourgeoisie bewahrt werden konnten, um im Oktober ihre Rolle als Organe des Aufstands spielen zu können.[43] Im Mai 1917 befand die Konferenz der Fabrikkomitees von Jarkow (Ukraine), das diese sich in „Organe der Revolution umwandeln und sich der Konsolidierung ihrer Siege widmen sollen“.[44] Zwischen dem 7. und dem 12. Oktober beschloss eine Konferenz der Fabrikkomitees Petrograds, einen zentralen Rat der Fabrikkomitees zu bilden, der den Namen Arbeitersektion des Petrograder Sowjets erhielt. Dieser Zentralrat begann unmittelbar aktiv in die Politik der Sowjets zu intervenieren, die sich dadurch zunehmend radikalisierten. In seinem Werk Die Sowjetischen Gewerkschaften anerkennt Isaac Deutscher, dass „die mächtigsten und gefürchtetsten Werkzeuge der Revolution die Fabrikkomitees gewesen sind, und nicht die Gewerkschaften“[45].

Zusammen mit den anderen Basisorganisationen, die direkt und organisch aus der Klasse heraus entstanden waren, drückten die Fabrikkomitees in natürlicher Weise und authentischer als die Sowjets die Gedanken, die Tendenzen und die Fortschritte der Arbeiterklasse aus, indem sie eine tiefgreifende Symbiose mit ihr aufrechterhielten.

Während der Übergangsphase zum Kommunismus hat das Proletariat auf der Ebene der Wirtschaft keineswegs die Rolle der herrschenden Klasse. Aus diesem Grunde kann sie, anders als die Bourgeoisie unter dem Kapitalismus, die Macht nicht an eine institutionelle Macht delegieren, in diesem Falle den Staat. Hinzu kommt noch, dass er trotz seiner Eigenschaften als Kommune-Staat nicht der Vertreter der spezifischen Interessen des Proletariats ist, die von der revolutionären Veränderung der Welt bestimmt werden, sondern er vertritt die Interessen der gesamten nichtausbeutenden Klassen. Endlich ist die unausweichliche Tendenz des Staatswesens zur Bürokratisierung der Grund für seine Verselbständigung und Entgegenstellung zu den Massen, indem er ihnen seine Herrschaft aufzwingt. Aus diese Grunde kann die Diktatur des Proletariats nicht von einem staatlichen Organ aus kommen, sondern von einer Kampfkraft, von Debatten und ständiger Mobilisierung, einem Organ also, das die Unabhängigkeit der Klasse sichert, die Bedürfnisse der Arbeitermassen vertritt und ihre eigene Veränderung in den Aktionen und Diskussionen erlaubt.

Wir haben am Ende des vierten Artikels dieser Serie aufgezeigt, dass nach der Machübernahme die Basisorganisationen der Sowjets und die Kampforgane der Klasse zunehmend verschwanden. Dies war eine tragische Phase, welche das Proletariat schwächte und den sozialen Zerfall beschleunigte, unter dem es litt.

Die Rote Garde, welche 1905 nur vorübergehend entstanden war, erstand im Februar 1917 unter der Kontrolle der Arbeiterkomitees wieder auf. Es gelang ihr, um die 100’000 Mitglieder zu mobilisieren. Sie blieb bis Mitte 1918 aktiv, aber der Bürgerkrieg stürzte sie in eine schlimme Krise. Die enorme Übermacht der imperialistischen Streitkräfte hat die Unfähigkeit der Roten Garde, sich ihnen entgegenzustellen, zu Tage gebracht. Die Einheiten im südlichen Russland unter dem Kommando von Antonov Owsejenko haben heroischen Widerstand geleistet, sie wurden trotzdem hinweggefegt und geschlagen. Opfer ihrer Angst vor der Zentralisierung sind die Einheiten, die weiterhin versuchten, operativ tätig zu sein, ohne jeglichen Nachschub geblieben, z.B. fehlten die Patronen. Es war vor allem eine städtische Miliz mit beschränkter Bewaffnung und Ausbildung. Sie hatte auch keine Organisationserfahrung, man hätte sie höchstens als Nothilfetrupp oder Hilfstrupp einer organisierten Armee einsetzen können, für einen regulären Krieg war sie aber nicht geeignet. Die Notwendigkeit des Augenblicks erforderte, dass in aller Eile eine Rote Armee mit aller militärischen Rigidität gebildet wurde.[46] Diese absorbierte viele Einheiten der Roten Garde, die sich als solche aufgelöst hatte. Es gab bis 1919 Versuche, die Rote Garde wieder aufzubauen, einige Sowjets boten ihre Mitarbeit der Roten Armee an. Dies wurde aber von ihr systematisch abgelehnt, wenn nicht sogar solche Einheiten gewaltsam aufgelöst wurden.

Das Verschwinden der Roten Garde gab dem sowjetischen Staat eine der klassischen Prärogativen des Staats, das Gewaltmonopol, was umgekehrt dem Proletariat einen großen Teil seiner Verteidigungsmittel aus der Hand schlug, da es nun über keine eigene militärische Macht mehr verfügte.

Die Quartierkomitees verschwanden Ende 1919. Sie wurden integriert in die proletarische Organisation der Arbeiter der kleinen Unternehmen und des Handels, der Arbeitslosen, der Jungen, der Rentner, der Familien, die Teile der gesamten Arbeiterklasse waren. Es handelte sich dabei auch um ein wesentliches Mittel, um die proletarischen Ideen und Taten nach und nach in den Schichten der städtischen Randständigen, der Handwerker, Kleinbauern etc. zu verbreiten.

Das Verschwinden der Fabrikkomitees war ein entscheidender Schlag. Wie wir im vierten Artikel dieser Serie gesehen haben, geschah dies schnell, und schon Ende 1918 gab es sie nicht mehr. Die Gewerkschaften spielten bei deren Zerstörung eine entscheidende Rolle.

Der Konflikt brach offen auf einer chaotischen Gesamtrussischen Konferenz der Fabrikkomitees am Vorabend der Oktoberrevolution aus. Während der Debatten tauchte die Idee auf: „Wenn die Fabrikkomitees gebildet werden, haben die Gewerkschaften aufgehört zu existieren, und die Fabrikkomitee haben die Lücke gefüllt“. Ein anarchistischer Delegierter erklärte, dass „die Gewerkschaften die Fabrikkomitees aufsaugen wollen. Die Leute haben nichts gegen die Fabrikkomitees, aber es gibt eine Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften. Für den Arbeiter ist die Gewerkschaft eine von außen aufgezwungene Organisationsform. Das Fabrikkomitee steht ihnen näher.“ Eine der von der Konferenz angenommenen Resolutionen hielt fest: „‘Arbeiterkontrolle – innerhalb der von der Konferenz gezogenen Grenzen – ist nur unter der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft der Arbeiterklasse möglich‘. Sie warnte vor ‚isolierten‘ und ‚ungeordneten‘ Aktionen und wies darauf hin, dass ‚die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter und ihr Einsatz für den persönlichen Profit mit den Zielen des Proletariats nicht vereinbar‘ sei.“[47]

Die Bolschewiki verteidigten dogmatisch die Idee, dass die Gewerkschaften die wirtschaftlichen Organe des Proletariats seien, und sie nahmen Stellung für sie im Konflikt zwischen ihnen und den Fabrikkomitees. Auf derselben Konferenz brachte ein bolschewistischer Delegierter vor, dass „die Fabrikkomitees ihre Kontrollfunktionen zugunsten der Gewerkschaften ausüben müssen und darüber hinaus finanziell von ihnen abhängig sein sollten“.[48]

Am 3. November 1917 erließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret über die Arbeiterkontrolle, in welchem stand, dass die Beschlüsse der Fabrikkomitees durch die „Gewerkschaften und Gewerkschaftskongresse“ aufgehoben werden können[49]. Dieser Entscheid rief lebhaften Protest bei den Fabrikkomitees und Parteimitgliedern hervor. Schließlich wurde das Dekret abgeändert: Von den 21 Delegierten, die den Rat der Arbeiterkontrolle bildeten, vertraten 10 die Gewerkschaften und nur 5 die Fabrikkomitees! Dieses Ungleichgewicht versetzte die Letzteren nicht bloß in eine Schwächeposition, sondern pferchte sie in die Logik der Verwaltung der Produktion, was sie gegenüber den Gewerkschaften noch verletzlicher machte.

Obwohl der Sowjet der Fabrikkomitees während mehrerer Monate am Leben gehalten wurde und sogar versuchte, einen allgemeinen Kongress zu organisieren (siehe den vierten Artikel dieser Reihe), gelang es den Gewerkschaften schließlich, die Fabrikkomitees aufzulösen. Der Zweite Gewerkschaftskongress, der vom 25. bis 27. Januar 1919 abgehalten wurde, nahm eine Resolution an, die „verlangte, dass ‚den Verwaltungsvorrechten der Gewerkschaften offizieller Status zuerkannt‘ werde. Er sprach von der ‚Verstaatung‘ (ogosud arstvlenie) der Gewerkschaften, da ihre Funktion sich ausweitete und verschmolz mit der Regierungsmaschinerie der industriellen Verwaltung und Kontrolle“[50].

Mit dem Verschwinden der Fabrikkomitees „wurden die Industriearbeiter im ‚sowjetischen‘ Russland 1920 ‚wieder der Autorität der Geschäftsführung, der Arbeitsdisziplin, der Lohnanreize, dem wissenschaftlichen Management unterworfen – den bekannten Formen der kapitalistischen Industrieorganisation mit denselben bourgeoisen Managern, mit dem einzigen Unterschied, dass der Staat als Eigentümer fungierte‘“[51]. Die Arbeiter waren wieder völlig atomisiert, ohne ihre eigene Einheitsorganisation, denn die Sowjets wurden immer mehr dem klassischen Wahlprozedere der bürgerlichen Demokratie angeglichen und zu bloßen Parlamenten.

Nach der Revolution gibt es noch nicht den Überfluss, und die Arbeiterklasse ist weiterhin den Bedingungen im Reich der Notwendigkeit unterworfen, die auch Ausbeutung in der ganzen Phase miteinschließt, in welcher die Weltbourgeoisie noch nicht geschlagen ist. Sogar über diesen Zeitpunkt hinaus, nämlich so lange die Integration der anderen gesellschaftlichen Schichten in die assoziierte Arbeit nicht abgeschlossen ist, wird die Anstrengung zur Produktion des wesentlichen Reichtums hauptsächlich durch das Proletariat geleistet werden. Der Weg zum Kommunismus wird deshalb von einem ständigen Kampf begleitet sein, die Ausbeutung zu vermindern, bis sie schließlich verschwunden sein wird.[52] „Um ihre politische Herrschaft kollektiv ausüben zu können, muss die Arbeiterklasse die grundlegenden materiellen Bedürfnisse des Lebens gesichert und insbesondere genügend Zeit und Energie haben, um sich am politischen Leben beteiligen zu können.“[53] Marx schrieb: „Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“[54] Wenn das Proletariat nach der Machtergreifung ein ständiges Anwachsen seiner Ausbeutung akzeptiert, wir es unfähig sein, den Kampf für den Kommunismus zu führen.

Das geschah im nach-revolutionären Russland. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse stieg in unglaublichem Ausmaß an, je mehr sie ihre Autonomie und ihre Selbstorganisierung verlor. Dieser Prozess wurde unumkehrbar, als sich herausstellte, dass die Ausbreitung der Revolution gescheitert war. Die Gruppe Arbeiterwahrheit[55] drückte die Lage klar aus: „die Revolution endete in einer vollständigen Niederlage der Arbeiterklasse (…) Die Bürokratie und die NEP-Leute sind eine neue Bourgeoisie geworden, die von der Ausbeutung der Arbeiter lebt und von ihrer Desorganisierung profitiert. Da die Gewerkschaften in den Händen der Bürokratie sind, sind die Arbeiter hilfloser denn je. (…) Die Kommunistische Partei (…) hat, nachdem sie zur herrschenden Partei geworden ist, zur Partei der Organisatoren und Führer des Staatsapparats und des auf kapitalistischer Grundlage beruhenden wirtschaftlichen Lebens, unwiderruflich ihre Verbindungen und ihre Gemeinsamkeit mit dem Proletariat verloren“.[56]      

C. Mir, 28.12.2010


[1] Vgl. die zum Thema publizierten Artikel, z.B.: „Probleme der Übergangsperiode (1975) [1]“; Kapitel 7 aus dem Buch Italienische Kommunistische Linke, „Bilanz der Russischen Revolution, Partei, Gewerkschaften, Klassenkampf, der Staat in der Übergangsperiode“, /content/713/kapitel-7-bilanz-der-russischen-revolution-partei-gewerkschaften-klassenkampf-der-staat [2]; Aus der Serie über den Kommunismus: „Wie das Proletariat sich organisiert, um den Kapitalismus zu stürzen“, https://de.internationalism.org/node/201 [3]

[2] Bilan Nr. 18, Organ der Fraktion der Kommunistischen Linken Italiens, S. 618. Bilan setzte die Arbeiten von Marx, Engels und Lenin in der Frage des Staats fort, insbesondere betreffend seine Rolle in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, des Staats, den Bilan in Anlehnung an eine Formulierung von Engels als „Geissel, die das Proletariat als Erbe übernimmt und der gegenüber wir ein schon fast instinktives Misstrauen hegen“ (Bilan Nr. 26, S. 874), betrachtete.

[3] Internationalisme Nr. 10, Organ der Gauche communiste de France (GCF), der Kommunistischen Linken Frankreichs, 1945-1953. Die Kommunistische Linke Frankreichs setzte das Werk von Bilan fort und war Vorfahre unserer Organisation.

[4] Linke Tendenz, die in der Partei 1920-21 auftauchte. Das Ziel des vorliegenden Artikels liegt nicht darin, die verschiedenen Linksfraktionen zu analysieren, die in der bolschewistischen Partei als Antwort auf die Degenerierung entstanden sind. Wir verweisen dazu auf die zahlreichen anderen Artikel, die wir zu diesem Thema schon publiziert haben, z.B. Die Kommunistische Linke Russlands, /content/747/kommunistische-linke-russlands [4].

Es ist zu unterstreichen, dass der Arbeiteropposition zwar das Verdienst zukam, die Probleme der Revolution zu erkennen, aber die Lösungen, die sie vorschlug, verschlimmerten die Sache nur. Sie ging davon aus, dass die Gewerkschaften immer mehr Macht haben sollten. Sie dachte richtigerweise, dass der „Sowjetapparat (…) eine gemischte soziale Zusammensetzung aufweist“, stellte aber die Frage: „Wer soll die Potenzen der Diktatur des Proletariats auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Aufbaus verwirklichen? Sollen es die Organe sein, die ihrer Zusammensetzung nach Klassenorgane sind, die unmittelbar, durch lebendige Bande mit der Produktion verknüpft sind, d.h. also die Gewerkschaften (…)?“, um sie zu bejahen (zit. nach Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, 1967, S. 190, aus einer Rede Alexandra Kollontais). Diese Sichtweise reduziert einerseits die Aktivitäten des Proletariats auf den engen Bereich des „wirtschaftlichen Aufbaus“ und schreibt andererseits bürokratischen Organen, welche die Fähigkeiten des Proletariats verstümmeln, den Gewerkschaften, eine utopische Mission zu, nämlich die Selbsttätigkeit der Massen zu entwickeln.

[5] Vgl. Maurice Brinton, The Bolsheviks and Workers‘ Control, Einführung, https://www.marxists.org/archive/brinton/1970/workers-control/index.htm [5]. 

[6] zit. nach Marcel Liebmann, Le Léninisme sous Lénine, S. 167

[7] E.H. Carr, The Bolshevik Revolution, Kap. VIII, “Der Aufstieg der Partei”, S. 192 der Penguin-Ausgabe von 1973

[8] Ebenda, Note A, “Lenins Staatstheorie”, S. 251.

[9] Aus Internationale Revue 99 (engl./frz./span. Ausgabe), “Das Scheitern der Russischen Revolution verstehen” (Teil 1), S. 17.

[10] Ebenda, Zitat von Ossinski, einem Mitglied der linken Flügel in der Partei.

[11] Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, S.181 der spanischsprachigen Ausgabe, von uns übersetzt.

[12] Brinton, a.a.O., Kapitel über 1920. Die Glavki waren Staatsorgane für das Management der Wirtschaft.

[13] Lenin, März 1919, Sitzung des Petrograder Sowjets, Werke Bd. 29 S. 15.

[14] Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, S. 213 der spanischsprachigen Ausgabe, von uns übersetzt.

[15] Zitiert nach Marcel Liebman, Le Léninisme sous Lénine, S. 109

[16] International Review Nr. 99 (engl./frz./span. Ausgabe), a.a.O.

[17] Diese Sorge fand ein Echo bei der Kommunistischen Linken, die „1919 den Wunsch äußerte, man möge eine klarere Unterscheidung machen zwischen Staat und Partei. Ihnen schien es, dass diese mehr als jener auf den Internationalismus konzentriert war, was auf der Linie ihrer eigenen Sorgen lag. Die Partei sollte in einer gewissen Weise die Rolle des Gewissens der Regierung und des Staates spielen“ (Marcel Liebman, a.a.O.). Bilan beharrte auf dieser Gefahr für die Partei, vom Staat aufgesogen zu werden, und für die Arbeiterklasse, ihre Vorhut und ihre Hauptstütze, die Sowjets, zu verlieren: „Die Verwechslung zwischen diesen beiden Begriffen der Partei und des Staates ist besonders schädlich, da es nicht möglich ist, diese beiden Organe zu versöhnen, da es einen unauflösbaren Gegensatz gibt im Wesen, in der Funktion und in den Zielen von Staat und Partei. Das Adjektiv ‚proletarisch’ ändert nichts am Wesen des Staates, der ein ökonomisches oder politisches Zwangsorgan bleibt, während die Partei ein Organ ist, dessen Rolle insbesondere darin besteht, die Befreiung der Arbeiter nicht durch Zwang, sondern durch politische Erziehung zu erreichen“ (Bilan Nr. 26, S. 871).

[18] Pierre Broué, Trotsky, S. 255. Der Autor erzählt die Schilderung des anarchistischen Schriftstellers Leonard Schapiro.

[19] E.H. Carr, The Bolchevik Revolution, Ch. VIII, “The Ascendancy of the party”, Pelican Books, S. 212

[20] Marcel Liebman, a.a.O.

[21] Diese Theorie beruhte auf einer damals von allen Revolutionären geteilte Verwirrung über die Partei, ihr Verhältnis zur Klasse und die Frage der Macht, wie wir schon in einem Artikel der Serie über den Kommunismus, in International Review Nr. 91 (engl./frz./span. Ausgabe) geschrieben haben: „die damaligen Revolutionäre steckten trotz ihrem Engagement für das Rätesystem der Delegation, welches das alte System der parlamentarischen Repräsentation überflüssig machte, noch insofern in der parlamentarischen Ideologie fest, als sie in der Partei, die in den zentralen Sowjets die Mehrheit hatte, das Organ sahen, das die Regierung stellen und den Staat verwalten sollte.“ Tatsächlich wurde die alte Verwirrung verstärkt und bis zu ihrem Extrem getrieben durch die Theoretisierung des immer klareren Beweises der Verwandlung der Bolschewistischen Partei in den Partei-Staat.

[22] Marcel Liebman, a.a.O., S. 280

[23] A.a.O.

[24] A.a.O.

[25] Zitiert in Brintons Broschüre, Kapitel über 1921. Trotzki lag richtig mit der Idee, dass die Klasse durch Phasen der Verwirrung und des Zauderns gehen kann, während die Partei umgekehrt mit einem strengen theoretischen und programmatischen Gerüst gewappnet die Trägerin der geschichtlichen Interessen der Klasse ist und diese Interessen in ihr vertreten soll. Aber sie kann dies nicht mittels einer Diktatur über das Proletariat tun, die es nur schwächt, was zu weiterem Zaudern führt.

[26] Die Plattform der Gruppe der Fühnzehn wurde außerhalb Russlands erstmals durch den Zweig der Italienischen Linken veröffentlicht, welcher in den späten 1920er Jahren die Zeitung Reveil Commniste herausgab. Sie erschien auf Deutsch und Französisch unter dem Titel Vor dem Thermidor. Revolution und Konterrevolution in Sowjetrussland. Die Plattform der linken Opposition in der bolschewistischen Partei (Sapronow, Smirnow, Oborin, Kalin usw.) Anfang 1928.

[27] Rosa Luxemburg, Die Russische Revolution

[28] Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees vom 7. März 1918 an den Außerordentlichen 7. Parteitag der KPR(B), Werke Bd. 27 S. 79 f.

[29] Kapitel V, „4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“

[30] Wie Marx benutzte auch Lenin den Begriff „erste Phase des Kommunismus“ nicht sauber, denn in Wirklichkeit leben wir nach der Zerstörung des bürgerlichen Staats immer noch unter einer Form des Kapitalismus mit einer besiegten Bourgeoisie, und wir denken, es ist präziser, wenn wir stattdessen von einer „Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus“ sprechen.

[31] In Verratene Revolution greift Trotzki die gleiche Idee auf, wenn er über den „doppelten“ Charakter des Staates spricht, „sozialistisch“ auf der einen Seite, aber „bürgerlich ohne Bourgeoisie“ auf der anderen. Vgl. dazu auch unseren Artikel in der Serie über den Kommunismus in International Review Nr. 105.

[32] Wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms sagte, hat der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ noch gar nichts mit Sozialismus zu tun.

[33] Alexandra Kollontai in einer Intervention am 10. Parteitag, 1921, zitiert nach Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, 1967, S. 184. Ante Ciliga geht in seinem Buch Dix ans au pays du mensonge déconcertant in eine ähnliche Richtung: „Was diese Opposition vom Trotzkismus trennte, war nicht nur die Art, das Regime zu beurteilen und die gegenwärtigen Probleme zu verstehen. Vielmehr ging es dabei um das Verständnis der Rolle des Proletariats in der Revolution. Für die Trotzkisten war die Partei, für die Gruppen der extremen Linken war die Arbeiterklasse der Motor der Revolution. Der Kampf zwischen Stalin und Trotzki betraf die Politik der Partei, das leitende Personal der Partei; für den einen wie für den anderen war das Proletariat nur passives Objekt. Die Gruppen der extremen kommunistischen Linken hingegen interessierten sich vor allem für die Lage und die Rolle der Arbeiterklasse, dafür, was sie tatsächlich in der sowjetischen Gesellschaft war, und dafür, was sie in einer Gesellschaft sein sollte, die sich ehrlich die Aufgabe der Errichtung des Sozialismus stellt.“ (aus der französischen Ausgabe (1977, S. 259) von uns übersetzt, da diese Stelle in der deutschen Ausgabe Im Land der verwirrenden Lüge, Kapitel „Und jetzt?“ fehlt)

[34] Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, Der Charakter der Kommune

[35] International Review Nr. 77 (engl./frz./span. Ausgabe), “1871, die erste proletarische Revolution”

[36] Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B) vom 27. März 1922 an den XI. Parteitag, Werke Bd. 33 S. 266

[37] Victor Serge, L’An I de la Révolution russe, Band II, „Die sowjetische Verfassung“ (Übersetzung von uns)

[38] Entwurf des Programms der KPR(B), Lenin Werke Bd. 29 S. 93

[39] In seinem Grußschreiben an die Bayerische Räterepublik, die nur gerade drei Wochen dauern sollte, bevor sie im Mai 1919 durch die Truppen der sozialdemokratischen Regierung niedergeschlagen wurde, scheint Lenin für die Unabhängigkeit der Arbeiterräte einzutreten: „Die schnellste und umfassendste Durchführung dieser und ähnlicher Maßnahmen bei eigener Initiative der Arbeiter- und Landarbeiterräte und gesondert von ihnen der Kleinbauernräte wird Ihre Stellung festigen.“ 27. April 1919, Werke Bd. 29 S. 314

[40] Lenin scheint seine Zweifel darüber gehabt zu haben, denn er nannte diesen Staat bei verschiedenen Gelegenheiten „einen Arbeiter- und Bauernstaat mit bürokratischen Auswüchsen“; und 1921 während der Debatte über die Gewerkschaftsfrage vertrat er die Auffassung, dass das Proletariat in Gewerkschaften organisieren sollte und das Recht habe, sich mit Streiks gegen „seinen“ Staat zu verteidigen: „Indessen macht aber Gen. Trotzki (…) gleich selber einen Fehler. Nach ihm ist der Schutz der materiellen und geistigen Interessen der Arbeiterklasse nicht Sache der Gewerkschaften im Arbeiterstaat. Das ist ein Fehler. Gen. Trotzki spricht vom ‚Arbeiterstaat’. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns: ‚Wozu und gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es doch keine Bourgeoisie gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben’, so begeht man einen offensichtlichen Fehler. Es ist nicht ganz ein Arbeiterstaat, das ist es ja gerade. Hier liegt eben einer der grundlegenden Fehler des Gen. Trotzki. Wir sind jetzt von den allgemeinen Prinzipien zur sachlichen Erörterung und zu Dekreten übergegangen, man will uns aber von der Inangriffnahme des Praktischen und Sachlichen zurückzerren. So geht es nicht. Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das zum ersten. Daraus aber folgt sehr viel. (Bucharin: „Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?“) Gen. Bucharin schreit zwar da hinten: ‚Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?’, ich werde ihm aber darauf nicht antworten. Wer Lust hat, der mag sich an den soeben zu Ende gegangenen Sowjetkongress erinnern, und das wird schon einen Antwort sein. – Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm – einem Dokument, das dem Verfasser des ‚ABC des Kommunismus’ sehr gut bekannt ist –, aus diesem Programm ist bereits ersichtlich, dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen – wie soll ich mich ausdrücken? – Etikett mussten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs. Was meinen Sie, haben in einem praktisch derart beschaffenen Staat die Gewerkschaften nichts zu schützen, kann man ohne sie auskommen, wenn man die materiellen und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit organisierten Proletariats schützen will? Das ist theoretisch eine völlig falsche Argumentation. Das versetzt uns in den Bereich der Abstraktion oder des Ideals, das wir in 15-20 Jahren erreichen werden; aber ich bin nicht einmal so sicher, dass wir es in dieser Frist erreichen werden. Wir haben aber die Wirklichkeit vor uns, die wir gut kennen, wenn wir uns nur nicht berauschen und nicht hinreißen lassen von Intellektuellengerede oder von abstrakten Betrachtungen oder von dem, was manchmal als ‚Theorie’ erscheint, in Wirklichkeit aber ein Irrtum, eine falsche Einschätzung der Besonderheiten des Übergangs ist. Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, dass das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muss, wir aber müssen diese Arbeiterorganisationen zum Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die Arbeiter ausnutzen.“ Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis, 30. Dezember 1920, Werke Bd. 32 S. 6 f.

[41] Lenin trat für eine Arbeiter- und Bauerninspektion (1922) ein, die aber schnell ihr Ziel der Kontrolle verfehlte und sich in eine zusätzliche bürokratische Kommission verwandelte.

[42] Vgl. Internationale Revue Nr. 49, „Was sind Arbeiterräte?“, Teil 2: „Das Wiederaufleben und die Krise der Arbeiterräte 1917“.

[43] Vgl. Internationale Revue Nr. 49, „Was sind Arbeiterräte?“, Teil 3: „Die Revolution von 1917 (von Juli bis Oktober): Von der Erneuerung der Arbeiterräte zur Machtergreifung“.

[44] Brinton, a.a.O., siehe Fußnote 10 S. 32 der spanischen Ausgabe, von uns übersetzt.

[45] Ebenda., S. 47 der spanischen Ausgabe, von uns übersetzt.

[46] Ohne hier in die Diskussion über die Notwendigkeit einer Roten Armee in dieser Phase der Übergangsperiode einzutauchen, die wir die Phase des Weltbürgerkriegs nennen können (d.h. solange das Proletariat noch nicht weltweit die Macht übernommen hat), scheint doch am russischen Beispiel offensichtlich, was folgt: Die Bildung der Roten Armee, ihre rasche Bürokratisierung und Behauptung als staatliches Organ, das gänzliche Fehlen eines proletarischen Gegengewichts in der Armee – all dies war Ausdruck eines für das Proletariat auf Weltebene sehr ungünstigen Kräfteverhältnisses zur Bourgeoisie. Wie wir im Artikel der Serie über den Kommunismus in der International Review Nr. 96 (engl./frz./span. Ausgabe) bemerkt haben: „Je mehr sich die Revolution weltweit ausdehnt, umso mehr wird sie direkt durch die Arbeiterräte und ihre Milizen geleitet, umso mehr werden die politischen über die militärischen Gesichtspunkte die Oberhand gewinnen, umso weniger wird es eine ‚Rote Armee‘ brauchen, um den Kampf zu führen“.

[47] Zitiert nach Brinton, Kapitel über 1917. Begeistert über den Ausgang der Konferenz, erklärte Lenin, dass „wir das Gravitationszentrum zu den Fabrikkomitees verschieben müssen. Die Fabrikkomitees müssen die Organe des Aufstands werden. Wir müssen unsere Parole ändern, statt ‚Alle Macht den Sowjets‘, müssen wir sagen: ‚Alle macht den Fabrikkomitees‘“ (ebda.).

[48] Ebenda, S. 35 der spanischen Ausgabe.

[49] Ebenda, S. 50 der spanischen Ausgabe.

[50] Ebenda., Kapitel über 1919. Die russische Erfahrung zeigt schlüssig das reaktionäre Wesen der Gewerkschaften auf, ihre unabwendbare Tendenz, sich in staatliche Struktur zu verwandeln und ihr unauflöslicher Gegensatz zu den neue Organisationsformen, die das Proletariat ab 1905 auf dem Hintergrund der neuen Bedingungen im dekadenten Kapitalismus und angesichts der Notwendigkeit der Revolution entwickelt hatte.

[51] Brinton, Kapitel über 1920, aus R.V. Daniels’ The Conscience of the Revolution zitierend.

[52] „Eine Politik der proletarischen Verwaltung kann deshalb (…) nur dann einen sozialistischen Inhalt haben, wenn sie einen wirtschaftlichen Kurs verfolgt, der dem kapitalistischen diametral entgegen gesetzt ist, wenn er eine zunehmende und konstante Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen verfolgt, und nicht eine Verschlechterung“ (Bilan Nr. 28, „Probleme der Übergangsperiode“).

[53] International Review Nr. 95 (engl./frz./span. Ausgabe), “Das Programm der Diktatur des Proletariats”

[54] Marx, Lohn Preis und Profit

[55] Die Gruppe entstand 1922; sie war eine der letzten linken Fraktionen, die aus der Bolschewistischen Partei im Kampf für ihr Wiedererstehen, für ihre Wiederaneignung durch die Arbeiterklasse hervorgingen. Vgl. das Buch der IKS The Russian Communist Left.

[56] zit. nach Maurice Brinton, The Bolsheviks and Workers‘ Control, Übersetzung von uns aus dem Englischen

Immigration und Arbeiterbewegung

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Mit der Verschlimmerung der globalen Wirtschaftskrise und des gesellschaftlichen Zerfalls werden die Lebensbedingungen weltweit, besonders in den unterentwickelten Ländern, immer unerträglicher. Die gesammelten Auswirkungen von wirtschaftlicher Entbehrung, natürlichen Katastrophen, Krieg und ethnischer Säuberung, Hungersnot und völliger Barbarei sind alltägliche Wirklichkeit für Millionen von Menschen geworden und erhöhen dramatisch den Druck für eine Massenflucht. Millionen fliehen Richtung kapitalistische Metropole oder sogar andere unterentwickelten Länder, die etwas besser dran sind, mit dem Ziel, zu überleben und erträglichere Bedingungen zu finden.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass es 200 Millionen Einwanderer - etwa 3% der Weltbevölkerung - sind, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, doppelt so viele wie 1980. In den USA sind es 33 Millionen Einwohner, die Ausländer sind, das sind 11,7% der Gesamtbevölkerung; in Deutschland 10,1 Millionen, 12,3%; in Frankreich 6,4 Millionen, 10,7%; in Großbritannien 5,8 Millionen, 9,7%; in Spanien 4,8 Millionen, 8,5%; in Italien 2,5 Millionen, 4,3%; in der Schweiz 1,7 Millionen, 22,9%; und in den Niederlanden 1,6 Millionen.[1] Bürgerliche Regierungen und Medienquellen schätzen, dass es mehr als 12 Millionen illegale Einwanderer in den USA und mehr als 8 Millionen in der Europäischen Union gibt. In diesem Zusammenhang ist Immigration überall in den kapitalistischen Metropolen, ja sogar innerhalb der Dritten Welt selber heißes Thema politischer Probleme geworden, wie der gegen Einwanderer gerichtete Aufruhr letztes Jahr in Südafrika zeigte.

Obwohl die Einzelheiten von Land zu Land verschieden sind, folgt die Bourgeoisie gegenüber der Massenmigration im Allgemeinen einem dreiteiligen Muster: 1. Förderung der Einwanderung aus wirtschaftlichen und politischen Gründen; 2. gleichzeitig der Versuch, diese einzuschränken und zu kontrollieren und 3. die Orchestrierung ideologischer Kampagnen, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegen die Einwanderer schüren, um die Arbeiterklasse zu spalten.

Die Einwanderung fördern: Die herrschende Klasse verlässt sich auf ausländische Arbeitskräfte, legale und illegale, um Niedriglohnjobs zu besetzen, die für die einheimischen Arbeiter nicht attraktiv genug sind; um eine Reservearmee von Arbeitslosen und Sozialempfängern zur Verfügung zu haben; um die Löhne der Arbeiterklasse niedrig zu halten und die Knappheit der Belegschaft zu kompensieren, die durch ins Rentenalter gekommene Arbeiter und den Rückgang der Geburtenraten der Einheimischen entstanden ist. In den USA ist der herrschenden Klasse genügend bewusst, dass sich komplette Industriezweige wie Einzelhandel, Bau, Fleisch- und Geflügelverarbeitung, Hausmeistersdienstleistungen, Hotels, Restaurants, Pflege und Jugendfürsorge auf die eingewanderte Arbeitskraft, sowohl die legale als auch die illegale, abstützen. Das ist der Grund, warum die Forderungen der Rechtsextremen nach Zwangsdeportation von 12 Millionen illegalen Einwanderer und nach Beschränkung der legalen Einwanderung für die dominierende Fraktion der amerikanischen herrschenden Klasse keineswegs eine vernünftige Alternativpolitik darstellen und als unvernünftig, unpraktisch und schädlich für die amerikanische Wirtschaft zurückgewiesen worden sind.

Einschränken und kontrollieren: Zur gleichen Zeit anerkennt die dominierende Fraktion die Notwendigkeit, den Status von illegalen Einwanderern aufzulösen, um eine Menge von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen zu entschärfen, was die Verfügbarkeit und Abgabe von medizinischen, sozialen, pädagogischen und anderen öffentlichen Diensten einschließt wie auch eine Vielzahl von gesetzlichen Erleichterungen, welche die in den USA geborenen Kinder von Einwanderern und deren Eigentum betreffen. Das war die Kulisse zur vorgeschlagenen Einwanderungsreform in den USA im Frühjahr 2007, die von der Regierung Bush und der republikanischen Führung, den Demokraten (einschließlich der Linken, die im Ex-Senator Edward Kennedy personifiziert war) und den wichtigen Unternehmen unterstützt wurde. Weit davon entfernt ein einwanderungsfreundliches Gesetz zu sein, verlangte es die Militarisierung und Abschottung der Grenzen, die Legalisierung der illegal lebenden Einwanderer im Land und Maßnahmen, um den Strom der Immigranten einzudämmen. Es stellte zwar ein Mittel für die gegenwärtig illegalen Einwanderer im Land zur Verfügung, um ihren Status zu legalisieren, war aber in keiner Weise eine "Amnestie", weil es Wartezeiten und hohe Geldstrafen beinhaltete.

Ideologische Kampagnen: Die Kampagnen zur Anti-Einwanderungspropaganda ändern sich von Land zu Land, aber die Hauptbotschaft ist überall bemerkenswert ähnlich. In erster Linie werden "Latinos" in den USA und Moslems in Europa mit der Behauptung ins Visier genommen, dass neue Einwanderer, besonders papierlose, dafür verantwortlich seien, dass die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sich verschlechtern, indem sie den Einheimischen Jobs wegnähmen, schlechte Löhne akzeptierten, Schulen mit ihren Kindern überfüllten, Sozialfürsorge-Programme in Anspruch nähmen, Verbrechen begingen – kurz: jedes gesellschaftliche Problem vergrößerten, das man sich vorstellen kann. Das ist ein klassisches Beispiel der kapitalistischen Strategie des "Teilens und Herrschens", um Arbeiter gegeneinander auszuspielen und zu trennen und sie für ihre Probleme verantwortlich zu machen, um sie um die Krümel streiten zu lassen, damit sie möglichst nicht verstehen, dass das kapitalistische System selbst für ihr Leiden verantwortlich ist. Das dient dazu, die Fähigkeit der Arbeiterklasse zu untergraben, ihr Bewusstsein, ihre Klassenidentität und Einheit wiederzugewinnen, die von der Bourgeoisie am allermeisten gefürchtet werden. Normalerweise kommt in den kapitalistischen Metropolen dem rechten Flügel der Bourgeoisie die Rolle zu, die Stimmung gegen Einwanderer aufzuheizen und mit unterschiedlichem Erfolg auszubeuten. Diese Stimmungsmache hat jeweils in bestimmten Sektoren des Proletariats ein Echo, aber nirgends hat dieses das barbarische Niveau erreicht, das im fremdenfeindlichen Aufruhr gegen Einwanderer in Südafrika im Mai 2008 zum Ausdruck gekommen ist.

Verschlechterte Bedingungen in den unterentwickelten Ländern in den kommenden Jahren, einschließlich der Auswirkungen des Zerfalls und des Krieges sowie der Klimaveränderung, bedeuten, dass die Immigrationsfrage in Zukunft noch wichtiger wird. Es ist entscheidend, dass die Arbeiterbewegung sich über die Bedeutung des Einwanderungsphänomens, über die Strategie der Bourgeoisie hinsichtlich der Einwanderung in Bezug auf ihre politischen und ideologischen Kampagnen und über die Perspektive des Proletariats in dieser Frage klar ist. In diesem Artikel werden wir die Rolle der Bevölkerungswanderungen in der kapitalistischen Geschichte, die Geschichte der Einwanderungsfrage innerhalb der Arbeiterbewegung und die Einwanderungspolitik der Bourgeoisie untersuchen sowie eine Orientierung für das revolutionäre Eingreifen hinsichtlich der Einwanderung darlegen.

Immigration und Entwicklung des Kapitalismus

Die Migration ist eine zentrale Charakteristik der menschlichen Bevölkerung seit dem Beginn der Geschichte der Menschheit, überwiegend angetrieben vom Bedürfnis unter schwierigen Bedingungen zu überleben. Der moderne Homo Sapiens entwickelte sich vor 160`000 bis 200`000 Jahren in Afrika und man geht davon aus, dass vor 150`000 bis 50`000 Jahren eine Serie von Auswanderungen von Afrika nach Europa und Asien begannen aufgrund der unstabilen klimatischen Situation, die durch verschiedene Eiszeiten bedingt war. Die darauffolgenden Besitzverhältnisse in den Sklavengesellschaften und im Feudalismus banden die Menschen an das Land, doch auch unter diesen Produktionsverhältnissen gab es eine Migration, neue Gebiete wurden erobert und einheimische Bevölkerungen vertrieben. Wie bei anderen Fragen, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, ist es sinnvoll, die Frage der Immigration im Rahmen zu betrachten, dass der Kapitalismus eine aufsteigende und niedergehende Periode kennt.

In seiner aufsteigenden Periode legte der Kapitalismus ein enormes Gewicht auf die Mobilität der Arbeiterklasse als Faktor zur Entwicklung seiner Produktionsweise. Unter dem Feudalismus war die werktätige Bevölkerung ans Land gebunden und zog wenig umher. Durch die Enteignung der landwirtschaftlichen Produzenten drängte der Kapitalismus breite Bevölkerungsteile vom Land in die Städte, damit jene ihre Arbeitskraft verkauften und ein Reservoir an Arbeitskräften bildeten. Wie wir in unserer Presse in englischer Sprache im Dezember 2006 im Artikel „Die Arbeiterklasse ist eine Klasse von Immigranten“ zitierten: „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. (Marx, Das Kapital, Bd.1, MEW, Bd. 23, Seite 744)“.  Lenin schrieb: „Viertens schafft der Kapitalismus unvermeidlich die Beweglichkeit der Bevölkerung, die für die früheren sozialökonomischen Systeme nicht erforderlich war und unter ihrer Herrschaft in größerem Ausmaß auch nicht möglich gewesen wäre“[2]. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus wurde die Massenmigration für die Entwicklung des Kapitalismus in der Zeit der Industrialisierung entscheidend. Von 1848 bis 1914 verließen 50 Millionen Menschen Europa, um sich in ihrer überwiegenden Mehrheit in den USA niederzulassen. 20 Millionen wanderten alleine von 1900 bis 1914 von Europa in die USA aus. 1900 zählte die Bevölkerung der USA ungefähr 75 Millionen und 1914 ungefähr 94 Millionen; also war 1914 jeder Fünfte ein kürzlich angekommener Immigrant – nicht mitgerechnet die vor 1900 eingewanderten Immigranten. Wenn man die Kinder der Immigranten mit einbezieht, die in den USA geboren wurden, verdeutlicht sich der Einfluss der Immigranten auf das soziale Leben noch mehr. Während dieser Zeit verfolgte die US-Bourgeoisie eine Politik der Offenheit gegenüber Immigranten (mit Ausnahme von Auflagen gegenüber Einwanderern aus Asien). Für die eingewanderten Arbeiter, die sich selber entwurzelten, lag die Motivation in der Möglichkeit, ihren Lebensstandard zu verbessern, dem Hunger, der Armut, der Unterdrückung und den beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten zu entfliehen.

Während die herrschende Klasse eine Politik der Unterstützung der Einwanderung betrieb, zögerte sie gleichzeitig nicht, fremdenfeindliche und rassistische ideologische Kampagnen zu lancieren, um die Arbeiterklasse zu spalten. Sogenannte „einheimische“ Arbeiter – von denen aber viele erst die zweite oder dritte Generation von Immigranten waren - wurden gegen Neuankömmlinge aufgehetzt, die wegen ihrer sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede angeprangert wurden. Selbst zwischen neu angekommenen Immigrantengruppen wurden ethnische Verschiedenheiten als Futter für die „Teile-und-herrsche“-Strategie eingesetzt. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die Angst und das Misstrauen vor Außenseitern tiefliegende psychologische Wurzeln in der Gesellschaft haben und dass der Kapitalismus nicht zögert, damit zu spielen, um seine eigenen unlauteren Ziele zu verfolgen. Die herrschende Klasse gerade in den USA hat dieses Vorgehen des „Teilens und Herrschens“ immer angewendet, um die potentielle Tendenz zur Einheit innerhalb der Arbeiterklasse zu sabotieren und das Proletariat zu unterjochen. Engels schrieb 1892 in einem Brief an Schlüter: “Eure Bourgeoisie versteht es noch viel besser als die österreichische Regierung, eine Nationalität gegen die andere auszuspielen, Juden, Italiener, Böhmen etc. gegen Deutsche und Irländer und jeden gegen den anderen (…)“[3]. Dies ist eine klassische ideologische Waffe der Herrschenden.

Während die Immigration in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus vom Bedarf an Arbeitskräften zur raschen Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise geprägt war, so wurde mit dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus (in der Zeit um den Ersten Weltkrieg) und der Verlangsamung der exponentiellen Wachstumsraten die Immigration zu einem negativen Faktor. Der Druck, den Schikanen, dem Hunger und der Armut zu entrinnen, der Millionen von Arbeitern in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus zur Auswanderung gedrängt hatte, damit sie Arbeit suchen und ihr Leben sichern können, nahm mit dem Beginn der Dekadenz in dramatischer Weise zu. Im Besonderen verursachte die veränderte Kriegsführung im dekadenten 20. Jahrhundert eine Massenemigration und erzeugte eine Flut von Flüchtlingen. Im aufsteigenden Kapitalismus beschränkten sich die Kriege vor allem auf die Konfrontationen von Berufsarmeen auf den Schlachtfeldern. Durch die Dekadenz des Kapitalismus veränderte sich der Charakter des Krieges dramatisch, die gesamte Bevölkerung, der Produktionsapparat und das nationale Kapital wurden in den Krieg einbezogen. Die Terrorisierung und Demoralisierung der Zivilbevölkerung wurde zu einem taktischen Hauptziel und produzierte massive Flüchtlingsströme im 20. Jahrhundert – so wie auch heute noch. Während des Krieges im Irak wurden ungefähr 2 Millionen Leute zu Flüchtlingen und suchten vor allem in Syrien und Jordanien Unterschlupf. Emigranten, die vor den zunehmend barbarischen Bedingungen in ihren Heimatländern flüchten, werden auf ihrem Weg zu Opfern korrupter Polizisten, Militärs, Mafiosi und krimineller Banden, welche sie ausnehmen, misshandeln und ihnen auf ihrer verzweifelten Flucht nach einem besseren Leben alle Hoffnungen rauben. Viele Flüchtlinge sterben oder verschwinden auf der Flucht oder sie fallen in die Hände von Menschenhändlern. Die bürgerliche kapitalistische Ordnung und das Gesetz sind nicht nur unfähig, sondern auch nicht willens, etwas gegen diese Katastrophe, die die Flüchtlinge begleitet, zu tun.

In den USA war der Beginn der Dekadenz des Kapitalismus gezeichnet vom Wechsel einer abrupten Politik der Offenheit gegenüber den Einwanderern (wie schon erwähnt mit Ausnahme der Auflagen gegenüber Leuten aus Asien) zu einer restriktiven Immigrationspolitik der Regierung. Der Wechsel der ökonomischen Periode erforderte einen viel geringeren Bedarf an neu eingewanderten Arbeitskräften. Doch dies war nicht der alleinige Grund für die Einwanderungsbeschränkungen; rassistische und „antikommunistische“ Faktoren waren ebenfalls stark vorhanden. Der National Origins Act von 1924 limitierte die Zahl der Immigranten aus Europa auf 150`000 pro Jahr und setzte eine Quote für jedes Land fest, auf der Basis der Zusammensetzung der ethnischen Bevölkerung in den USA im Jahr 1890 – also bevor die massive Einwanderungswelle aus Süd- und Osteuropa in den USA eingesetzt hatte. Das Ziel dieses Vorgehens gegenüber osteuropäischen Arbeitsimmigranten stand unter dem Stern eines Rassismus gegen „unerwünschte Elemente“ wie Italiener, Griechen, Osteuropäer und Juden. Während der Zeit der „Roten Hysterie“ in den USA nach der Russischen Revolution 1917, wurden Einwanderer aus Osteuropa als mit „Bolschewiki“ und Einwanderer aus Südeuropa als mit Anarchisten durchsetzt betrachtet. Zusätzlich zur Einwanderungsbeschränkung kreierte das Einwanderungsgesetz von 1924 zum ersten Mal den Status des „non-immigrant foreign worker“ („nichteingewanderten fremden Arbeiters“), der zwar nach Amerika kommen konnte, um zu arbeiten, aber keine Aufenthaltsbewilligung erhielt.

1950 führte der McCarran-Walter Act – unter dem Einfluss der McCarthy-Ära und der antikommunistischen Hysterie des Kalten Krieges unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den russischen Imperialismus – neue Beschränkungen für die Immigration ein. In den späten 1960er Jahren, mit dem Ausbruch der weltweiten offenen Krise des Kapitalismus, wurde die US-Amerikanische Immigrationspolitik liberalisiert und es gab nicht nur aus Europa, sondern auch aus Asien und Lateinamerika eine Welle der Immigration. Dies wiederspiegelte den Wunsch des amerikanischen Kapitalismus, den Erfolg der europäischen Mächte einzudämmen und deren vormalige Kolonien nach talentierten intellektuellen Arbeitskräften wie Wissenschaftlern, Ärzten, Krankenschwestern, und anderen gut Ausgebildeten abzugrasen – der so genannte „brain drain“ (Abzug von Wissen) aus den unterentwickelten Ländern – aber auch, um billige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu erhalten. Das Resultat dieser Liberalisierungsmaßnahmen war ein dramatischer Anstieg der illegalen und legalen Immigration vor allem aus Lateinamerika.

1986 wurde die immigrantenfeindliche Politik der USA mit dem Simpson-Rodino Immigration and Naturalization Control Reform Act verstärkt, bei dem es um die illegale Einwanderung aus Lateinamerika ging und der zum ersten Mal in der Geschichte der USA Sanktionen (Geldstrafen und sogar Gefängnis) gegen Unternehmer festlegte, die wissentlich Arbeiter ohne Aufenthaltsbewilligung beschäftigen. Der Zustrom an illegalen Immigranten hatte mit dem wirtschaftlichen Kollaps in Drittweltländern in den 1970er Jahren enorm zugenommen und es entstand eine Welle aus komplett verarmten Massen aus Mexiko, Haiti und dem kriegsgebeutelten El Salvador. Das Ausmaß dieser unkontrollierten Einwanderung wird deutlich an der Rekordzahl von 1,6 Millionen durch die US-Fremdenpolizei inhaftierte illegale Immigranten im Jahr 1986.

Auf der Ebene der ideologischen Kampagnen, der Anwendung der „Teile-und-herrsche“-Strategie“ gegenüber Immigranten, die ja bereits in der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus angewandt worden war, gibt es seit der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus einen richtiggehenden Höhenflug. Immigranten werden beschuldigt die Metropolen zu überfluten, Löhne zu drücken, Grund für Epidemien, Kriminalität und eine „kulturellen Verschmutzung“ zu sein, die Schulen zu überfüllen, Sozialprogramme zu überlasten – also für alle nur erdenklichen sozialen Probleme die Verantwortung zu tragen. Dieses Vorgehen beschränkt sich mitnichten auf die USA, sondern gilt auch für Länder wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland und ganz Europa, wo Immigranten aus Osteuropa, Afrika und dem Nahen Osten mit solchen verblüffend ähnlichen ideologischen Kampagnen zu Sündenböcken für die sozialen Auswirkungen der kapitalistischen Krise und des Zerfalls des Kapitalismus gemacht werden. Die Massemigration ist eine Folge der globalen ökonomischen Krise und der immer elenderen Bedingungen in weniger entwickelten Ländern. Diese Kampagnen haben zum Ziel, die Bewusstseins-Entwicklung und dessen Ausbreitung innerhalb der Arbeiterklasse zu behindern, Arbeiter an der Nase herumzuführen und daran zu hindern, dass sie verstehen, dass es der Kapitalismus ist, der Kriege, Krisen und all die anderen sozialen Probleme, die typisch für den sozialen Zerfall sind, hervorbringt.

Die sozialen Auswirkungen des Zerfalls und der anhaltenden wirtschaftlichen und ökologischen Katastrophe werden in den kommenden Jahren Millionen von Flüchtlingen in die höher entwickelten Länder treiben. Wenn diese massive Flüchtlingsflut von den Herrschenden anders angegangen wird als die routinemäßige Immigration, so verdeutlicht dies die grundlegende Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems. Flüchtlinge werden meist in Lager gepfercht und von der Bevölkerung abgeschottet, was es ihnen oft erst nach Jahren ermöglicht, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. Sie werden als Gefangene und Unwillkommene behandelt und nicht als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. All das ist das komplette Gegenteil einer internationalistischen Solidarität, welche die proletarische Perspektive in sich trägt.

Die historische Position der Arbeiterbewegung zur Frage der Immigration

Konfrontiert mit ethnischen, rassischen und sprachlichen Unterschieden innerhalb der Arbeiterklasse orientierte sich die Arbeiterbewegung historisch am Prinzip „Arbeiter haben kein Vaterland“, eine Orientierung die einerseits das interne Leben der revolutionären Arbeiterbewegung und andererseits die Intervention dieser Bewegung im Klassenkampf beeinflusste. Jeglicher Abstrich an diesem Prinzip ist eine Kapitulation vor der bürgerlichen Ideologie.

1847 gelangten die deutschen Mitglieder des Bundes der Kommunisten, die sich im Londoner Exil hauptsächlich auf die Propaganda unter deutschstämmigen Arbeitern beschränkt hatten, zu einer internationalistischen Haltung und pflegten „regen Verkehr mit Flüchtlingen aus aller Herren Länder“[4]. In Brüssel „veranstaltete dieser Verein ein internationales Bankett, um zu zeigen, dass die Arbeiter verschiedener Länder brüderliche Gesinnungen gegeneinander hegten. (…) An der Festtafel saßen 120 Gäste, Belgier, Deutsche, Schweizer, Franzosen, Polen, Italiener, auch ein Russe.“[5] Zwanzig Jahre später unterstrich die Erste Internationale dasselbe Anliegen, um mit zwei Zielen in Streiks zu intervenieren: um die Bourgeoisie daran zu hindern von außen Streikbrecher anzuheuern und um den Streikenden eine direkte Unterstützung zu geben, wie dies in London bei den Siebmachern, Schneidern und Hutmachern, und in Paris bei den Bronzeschmieden geschehen war.[6] Als die Wirtschaftskrise von 1866 in ganz Europa eine Streikwelle auslöste, half der Generalrat der Ersten Internationale „mit Rat und Tat den Sieg der Arbeiter sichern, indem er die internationale Solidarität des Proletariats mobilmachte. Er schlug den Kapitalisten die bequeme Waffe aus der Hand, streikende Arbeiter durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte lahmzulegen; aus den unbewussten Hilfstruppen des gemeinsamen Feindes warb er vielmehr opferfreudige Bundesgenossen; er verstand, den Arbeitern jedes Landes, wohin sein Einfluss reichte, klarzumachen, dass es ihr eigenes Interesse sei, die Lohnkämpfe ihrer ausländischen Klassengenossen zu unterstützen.“[7] Ähnlich unterstützte 1871, als in England eine Bewegung für den Achtstundentag ausbrach, organisiert durch die Nine Hour League, und nicht von den Gewerkschaften, die dem Kampf fernblieben, die Erste Internationale den Kampf, indem sie Delegierte nach Belgien und Dänemark sandte, „um die Anwerbung ausländischer Arbeiter durch die Agenten der Fabrikanten zu hintertreiben. Das gelang ihnen auch in weitem Umfange.“[8]

Die gravierendste Ausnahme gegenüber dieser internationalistischen Haltung tauchte 1870-71 in den USA auf, als die Sektion der Internationale sich gegen die chinesischen Immigranten aussprach, weil diese von den Kapitalisten als Lohndrücker gegen die weißen Arbeiter eingesetzt wurden. Eine Delegation aus Kalifornien behauptete: „Die Chinesen haben Tausende von weißen Männern, Frauen, Mädchen und Jungen in die Arbeitslosigkeit getrieben.“ Diese Haltung wiederspiegelte eine verdrehte Interpretation von Marx‘ Kritik am asiatischen Despotismus als anachronistische Produktionsweise, deren Dominanz in Asien überwunden werden musste, um den asiatischen Kontinent in die moderne Produktionsweise zu integrieren, was zur Bildung eines Proletariats in Asien führen würde. Diese chinesischen Arbeiter waren noch nicht proletarisiert und waren daher leicht zu manipulieren. Ihre extreme Ausbeutung durch die Bourgeoisie war leider nicht Ansporn zur Ausweitung der Solidarität und zu ihrer Eingliederung in die Reihen der Arbeiterklasse in den USA, sondern zur Begründung ihres radikalen Ausschlusses.

Aber der Kampf für die Einheit der internationalen Arbeiterklasse setzte sich in der 2. Internationale fort. Vor etwas mehr als hundert Jahren, auf dem Stuttgarter Kongress der 2. Internationale 1907, wurde ein Antrag der Opportunisten, die Beschränkung der Einwanderung aus China und Japan durch die bürgerlichen Regierungen zu unterstützen, deutlich abgeschmettert. Die Opposition dagegen war dermaßen groß, dass die Opportunisten gezwungen waren, ihre Resolution zurückzuziehen. Als Antwort darauf bejahte der Kongress eine Anti-Ausschluss Orientierung für die Arbeiterbewegung in allen Ländern. In seinem Bericht über diesen Kongress schrieb Lenin: "Auch hier wurde in der Kommission versucht, zünftlerisch beschränkte Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen. Das ist derselbe Geist des Autokratismus unter den Proletariern einiger “zivilisierter” Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen. Auf dem Kongress selbst fanden sich keine Verfechter dieser zünftlerischen und spießbürgerlichen Beschränktheit. Die Resolution entspricht durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie.”[9]

In den USA versuchten die Opportunisten 1908, 1910 und 1912 auf den Kongressen der Socialist Party Resolutionen durchzudrücken, um den Beschluss des Stuttgarter Kongresses zu umgehen, und riefen zur Unterstützung der „Amerikanischen Föderation der Arbeiteropposition gegen die Immigranten“ auf. Doch sie wurden immer wieder von Genossen in Schach gehalten, welche die internationale Solidarität aller Arbeiter verteidigten. Ein Delegierter hielt den Opportunisten entgegen, für die Arbeiterklasse „gibt es keine Fremden“. Andere betonten, die Arbeiterbewegung dürfe nicht mit den Kapitalisten gemeinsame Sache gegen andere Arbeiter machen. In einem Brief von 1915 an die Socialist Propaganda League (der Nachfolgerin des linken Flügels der Socialist Party, der später die Communist und die Communist Labor Party in den USA gründete) schrieb Lenin: „In unserem Kampf für wahren Internationalismus und gegen „Jingo-Sozialismus“ verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, dass die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongress von 1907 und entgegen seinen Beschlüssen). Wir denken, dass niemand Internationalist sein und gleichzeitig für derartige Beschränkungen eintreten kann.“[10]

Historisch haben Immigranten in der Arbeiterbewegung der USA immer eine bedeutende Rolle gespielt. Die ersten marxistischen Revolutionäre kamen nach der Niederlage der Revolution von 1848 in Deutschland in die USA und waren später ein lebendiges Bindungsglied zur Ersten Internationale, die in Europa ihr Zentrum hatte. Engels vermittelte, was die Frage der Immigration betrifft, einige problematische Konzeptionen in die sozialistische Bewegung in den USA. In einigen Aspekten waren sie angebracht, in anderen stellten sie einen Irrtum dar und hatten schlussendlich negativen Einfluss auf die organisatorischen Aktivitäten der revolutionären Bewegung in Amerika. Engels war in Sorge über die anfängliche Langsamkeit der Entwicklung der Arbeiterbewegung in den USA. Er verstand, dass gewisse Besonderheiten in der Situation der USA lagen, so das Fehlen einer feudalen Tradition mit einem strengen Klassensystem und die Existenz der „Grenze“ im Land selber, die der Bourgeoisie als Überlaufventil diente und es unzufriedenen Arbeitern erlaubte, aus ihrer proletarischen Existenz zu flüchten, um im Westen des Landes ihr Glück als Bauern oder Siedler zu suchen. Etwas anderes war der Graben zwischen eingeborenen und eingewanderten Arbeitern bezüglich der ökonomischen Möglichkeiten und die Unfähigkeit radikaler eingewanderter Arbeiter, mit den im Land geborenen Arbeitern zu kommunizieren. Als Engels beispielsweise die deutschen sozialistischen Immigranten in Amerika kritisierte, dass sie nicht Englisch lernen, schrieb er: „Sie müssen alle Reste ihres ausländischen Gewandes ablegen. Sie werden durch und durch Amerikaner werden. Sie können nicht erwarten dass die Amerikaner zu ihnen kommen; sie die Minderheit und Immigranten müssen zu den Amerikanern gehen, welche die große Mehrheit und die Eingeborenen sind. Und um das zu tun, müssen sie vor allem Englisch lernen.“[11] Es ist wahr, dass bei den revolutionären Immigranten aus Deutschland eine Tendenz existierte, sich auf die theoretische Arbeit zu beschränken und die Arbeit gegenüber den Arbeitermassen des Landes bei Seite zu lassen, was zu den Kommentaren von Engels geführt hatte. Es ist auch wahr, dass die von Immigranten angeführte revolutionäre Bewegung sich den englischsprachigen Arbeitern in Amerika gegenüber öffnen musste. Doch der Aufruf zur Amerikanisierung der Bewegung, der in diesen Zeilen impliziert wird, konnte sehr negative Konsequenzen für die Arbeiterbewegung mit sich bringen. Er drängte die politisch und theoretisch erfahrensten Arbeiter in zweitrangige Rollen und legte die Führung in die Hände von Militanten, die über wenig Erfahrung verfügten und deren einzige Qualitäten die Beherrschung der englischen Sprache und ihr Status als im Land Geborene waren. Nach der Russischen Revolution 1917 wurde dieselbe Politik von der Kommunistischen Internationale angewendet mit noch negativeren Folgen für die junge Kommunistische Partei in den USA. Der Druck Moskaus, in Amerika geborene Mitglieder in wichtige Positionen zu setzen, brachte Opportunisten und Karrieristen wie William Z. Foster an die Führung, bugsierte Revolutionäre, die aus Osteuropa kamen und linkskommunistische Ansichten vertraten, ins Abseits und beschleunigte den Triumpf des Stalinismus in der amerikanischen Kommunistischen Partei.

Eine andere Bemerkung von Engels ist gleichfalls problematisch: „Was Euer großes Hindernis in Amerika ist, scheint mir, besteht in der Ausnahmestellung der eingeborenen Arbeiter (…). Jetzt hat sich eine solche Klasse entwickelt und hat sich auch großenteils trades-unionistisch organisiert. Aber sie nimmt immer noch eine aristokratische Stellung ein und überlässt, was sie auch kann, die ordinären, schlecht bezahlten Beschäftigungen den Eingewanderten, von denen nur ein geringer Teil in die aristokratischen Trades eintritt.“[12] Obschon diese Beschreibung richtig feststellt, wie im Land geborene und eingewanderte Arbeiter aufgespalten waren, impliziert sie falsch, dass es die im Land geborenen Arbeiter sind und nicht die herrschende Klasse, die verantwortlich ist für die Gräben zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse. Diese Zeilen beschrieben die Aufspaltung innerhalb der weißen eingewanderten Arbeiterklasse, die Linken aber interpretierten es in den 1960er Jahren als Basis für ihre „Theorie der privilegierten Weißen“[13].

Die Geschichte des Klassenkampfes in den USA widerlegte Engels Sichtweise, nach der die „Amerikanisierung“ der immigrierten Arbeiter eine Vorbedingung für die Bildung einer starken sozialistischen Bewegung in den USA sei. Klassensolidarität und Einheit über ethnische sprachliche Grenzen hinweg war ein Charakteristikum der Arbeiterbewegung zur Zeit der Wende ins 20. Jahrhundert. Die sozialistischen Parteien in den USA hatten fremdsprachige Presse und publizierten Dutzende von Tages- und Wochenzeitungen in verschiedenen Sprachen. 1912 druckte die Socialist Party in den USA 5 englische und 8 fremdsprachige Tageszeitungen, 262 englische 36 fremdsprachige Wochenzeitungen, 10 englische und 2 fremdsprachige Monatsblätter, und dies ohne die Zeitschriften der Socialist Party selber. Die Socialist Party hatte 31 fremdsprachige Sektionen: armenisch, böhmisch, bulgarisch, kroatisch, tschechisch, dänisch, estnisch, finnisch, französisch, deutsch, griechisch, spanischsprachig, ungarisch, irisch, italienisch, japanisch, jüdisch, lettisch, litauisch, norwegisch, polnisch, rumänisch, russisch, skandinavisch, serbisch, slowakisch, slowenisch, südslawisch, spanisch, schwedisch, ukrainisch, jugoslawisch. Diese Sektionen bildeten die Mehrheit der Organisation. Die Mehrheit der Mitglieder der Communist Party und der Communist Labor Party, die 1919 gegründet wurden, waren Immigranten. Ebenfalls war das Anwachsen der Industrial Workers oft the World IWW in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich durch einen Zulauf von Immigranten entstanden. Selbst die IWW im Westen der USA, die zum Großteil im Lande geborene Mitglieder hatte, zählte Tausende von Slawen, Mexikanern und Skandinaviern in ihren Reihen.

Der berühmteste Kampf der IWW, der Streik der Textilarbeiter in Lawrence 1912, war Symbol für die Solidarität zwischen immigrierten und im Land geborenen Arbeitern. Lawrence war eine Stadt in Massachusetts mit großen Getreidemühlen, in denen die Arbeiter unter schlechtesten Bedingungen arbeiteten. Die Hälfte der Arbeiter waren Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Die Facharbeiter waren meist englischsprachig aus England und Irland oder deutschstämmig. Die ungelernten Arbeiter waren Französisch-Kanadier, Italiener, Slawen, Ungaren, Portugiesen, Syrer und Polen. Lohnkürzungen in einem Betrieb entfachten einen Streik von polnischen Arbeiterinnen, der sich schnell auf 20`000 Beschäftigte ausweitete. Ein Streikkomitee unter der Leitung der IWW umfasste zwei Vertreter jeder ethnischen Gruppe und verlangte eine Lohnerhöhung von 15% und keine Repressalien gegen die Streikenden. Die Streikversammlungen wurden in 25 Sprachen übersetzt. Als der Staat mit gewalttätiger Repression antwortete, startete das Streikkomitee eine Kampagne bei der mehrere Hundert Kinder von streikenden Arbeitern nach New York City geschickt wurden, wo sie bei Unterstützern des Streiks Unterschlupf fanden. Als ein zweiter Zug mit 100 Kindern nach New Jersey zu Unterstützern des Streiks abfahren wollten, griff die Polizei die Kinder und ihre Mütter an, schlug und verhaftete sie unter den Augen der Presse. Dies löste eine nationale Welle der Solidarität aus. Eine ähnliche Vorgehensweise, das Unterbringen von Kindern streikender Arbeitsimmigranten bei „Streikmüttern“ in anderen Städten, wurde von den IWW 1913 in Paterson, New Jersey, angewendet und war Ausdruck der Klassensolidarität über ethnische Grenzen hinweg.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war in den USA die Rolle von Immigranten und Eingewanderten aus dem linken Flügel der sozialistischen Bewegung andere Länder besonders bedeutsam. Trotzki zum Beispiel nahm am 14. Januar 1917, am Tag, nachdem er in New York angekommen war, an einer Versammlung in Brooklyn im Hause von Ludwig Lore, einem Immigranten aus Deutschland, teil, um gemeinsam einen „Aktionsplan“ für die linken Kräfte innerhalb der sozialistischen Bewegung der USA zu entwerfen. Auch Bucharin war anwesend, der bereits in den USA lebte und als Redaktor der Zeitschrift Novy Mir, des Organs der Russischen Sozialistischen Föderation, tätig war; ebenfalls S. J. Rutgers, ein holländischer Revolutionär und Weggefährte von Pannekoek; aber auch Sen Katayama, ein Immigrant aus Japan. Laut Augenzeugenberichten war die Diskussion von den Russen geprägt: Bucharin rief dazu auf, die Linke solle sich sofort von der Socialist Party trennen, und Trotzki vertrat den Standpunkt, die Linke solle noch innerhalb der Partei bleiben, jedoch ihre Kritiken in einer unabhängigen zweimonatlichen Zeitschrift verteidigen – was dann auch von der Versammlung angenommen wurde. Wäre Trotzki nicht nach der Februar-Revolution 1917 nach Russland zurückgekehrt, so hätte er vermutlich den linken Flügel der Arbeiterbewegung in den USA stark geprägt.[14] Die Existenz verschiedenster Sprachen war kein Hindernis für die Bewegung, im Gegenteil war sie ein Zeichen ihrer Stärke. An einer Massendemonstration 1917, begrüßte Trotzki die Leute auf Russisch und in anderen Sprachen wie Deutsch, Finnisch, Englisch, Lettisch, Jüdisch und Litauisch.[15]

Die bürgerliche Theoretisierung der immigrantenfeindlichen Ideologie

Bürgerliche Ideologen behaupten immer wieder, der Charakter der Massenimmigration nach Europa und in die USA sei heute komplett anders als in vergangenen Zeiten. Dahinter steht die Idee, die heutigen Immigranten würden die Gesellschaften, in die sie strömen, schwächen oder sogar zerstören, sich nicht in die neuen Gesellschaften integrieren wollen und deren politische und kulturelle Institutionen ablehnen. In Europa behauptet das Buch von Walter Laqueur Die letzten Tage von Europa: Ein Kontinent verändert sein Gesicht, die muslimische Immigration sei verantwortlich für den Niedergang Europas. Die zentrale These des bürgerlichen politischen Wissenschaftlers Samuel P. Huntington an der Harvard Universität in seinem Buch Who Are We? Die Krise der amerikanischen Identität von 2004 lautet, dass lateinamerikanische und speziell mexikanische Immigranten, die in den letzten 30 Jahren in den USA eingetroffen sind, viel weniger gewillt seien, Englisch zu sprechen, als vorhergehende Generationen von Immigranten, die aus Europa kamen. Dies angeblich, weil sie alle eine gemeinsame Sprachen sprechen würden, in den Spanisch sprechenden Quartieren konzentriert und weniger an sprachlicher und kultureller Integration interessiert seien und von Aktivisten, welche die nationale Identität der Immigranten bewahren möchten, aufgefordert würden, nicht Englisch zu lernen. Huntington behauptet weiter, die „Zweiteilung“ der amerikanischen Gesellschaft entlang der Schwarz-Weiß-Linie, die über Jahrzehnte existierte, drohe nun von einer gesellschaftlichen Zweiteilung zwischen Spanisch sprechenden Immigranten und einheimischen Englischsprachigen abgelöst zu werden, was die nationale Identität der USA aus dem Gleichgewicht bringe.

Beide, Laqueur und Huntington, haben einschlägige Karrieren als bürgerliche Ideologen des Kalten Krieges hinter sich. Laqueur ist ein konservativer jüdischer Gelehrter, hat den Holocaust überlebt, ist klar pro-israelisch, anti-arabisch und ein führender Kopf des sich in Washington befindenden Center for Strategic and International Studies (CSIS), eines Instruments des Kalten Krieges, das seit 1962 eng mit dem Pentagon verknüpft ist. Bushs früherer Verteidigungsminister Rumsfeld stand mit dem CSIS in regelmäßigem Austausch. Huntington ist Professor der Politwissenschaften in Harvard, fungierte während des Vietnamkrieges als Berater von US-Präsident Lyndon Johnson und vertrat 1968 die Strategie der flächendeckenden Bombardierungen der vietnamesischen Agrargebiete mit dem Ziel, die Unterstützung des Vietkong durch die Bauern zu unterbinden und diese in die Städte zu treiben. Er arbeitete später, in den 1970er Jahren, in der Trilateralen Kommission, die den Governability of Democracies Report von 1976 verfasste und in den späten 1970er Jahren als politischer Koordinator für den National Security Council diente. 1993 schrieb er einen Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs der 1996 zu einem Buch mit dem Titel Clash of Civilizations erweitert wurde, in dem er die These entwickelte, dass nach dem Kollaps der UdSSR die Kultur und nicht mehr die Ideologie die dominierende Basis für die Konflikte auf der Welt sei. Er behauptete, ein dauernder Konflikt der Zivilisationen des Islams und des Westens steige nun zum zentralen internationalen Konflikt der Zukunft auf. Zwar wurde Huntingtons immigrantenfeindliches Pamphlet von vielen akademischen Experten für Bevölkerungsstudien und Immigrations- und Assimilierungsangelegenheiten zurückgewiesen, doch fanden seine Ansichten weite Verbreitung durch die Medien und „Politikexperten“ in Washington.

Huntingtons Entrüstung über den fehlenden Willen der fremdsprachigen Immigranten, Englisch zu lernen und sich zu integrieren, womit sie zur kulturellen „Verunreinigung“ beitrügen, sind ein Standard in der Geschichte der USA. Im späten 18. Jahrhundert äußerte Benjamin Franklin die Angst, Pennsylvania würde von einem „Schwarm“ deutscher Immigranten überwältigt. „Weshalb soll Pennsylvania, das von Engländern gegründet wurde, einen Kolonie von Ausländern werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, statt dass wir sie anglifizieren?“, meinte Franklin. 1896 warnte der Präsident des Massachusetts Institute of Technology (MIT) Francis Walker, ein einflussreicher Ökonom, vor der Entwertung der amerikanischen Staatsbürgerschaft durch den „ungebändigten Zustrom riesiger Scharen unwissender und stumpfer Bauern aus den Ländern Ost- und Südeuropas“. Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt war dermaßen verärgert über den Zustrom nicht Englisch sprechender Immigranten, dass er vorschlug, dass „jeder Immigrant, der hierher kommt, innert 5 Jahre Englisch lernen oder das Land wieder verlassen muss“. Der Historiker Arthur Schlesinger Sr. in Harvard beschwerte sich in ähnlicher Manier über die soziale, kulturelle und intellektuelle „Minderwertigkeit“ der Immigranten aus Süd- und Osteuropa. All diese Befürchtungen und Klagen vergangener Zeiten sind bemerkenswert gleich wie die Beschreibung Huntingtons über die heutige Lage.

Der Gang der Geschichte hat diese fremdenfeindlichen Ängste nie bestätigt. Während es bei den Immigranten in die USA immer ein Segment gab, welches das Erlernen der englischen Sprache offensiv suchte, sich schnell integrierte und auch ökonomisch erfolgreich war, erfolgte die Assimilierung eher allmählich – typischerweise über drei Generationen hinweg. Erwachsene Immigranten behielten in der Regel ihre Muttersprache und kulturellen Traditionen auch in den USA. Sie lebten in ethnischen Nachbarschaften, redeten in ihren Sprachen innerhalb der Gemeinschaften, in den Läden, an religiösen Treffen, usw. Sie lasen Zeitungen und Bücher ihrer Muttersprache. Ihre Kinder, die als Jugendliche einwanderten oder in den USA geboren wurden, tendierten zur Zweisprachigkeit. Sie lernten Englisch in der Schule und waren im 20. Jahrhundert von der englischsprachigen Massenkultur umgeben, sprachen aber auch die ursprüngliche Sprache des Elternhauses und tendierten zu Heiraten innerhalb der nationalen ethischen Gruppen. Die dritte Generation, die Enkelkinder der Immigranten, verloren meist die Fähigkeit, die ursprüngliche Sprache zu sprechen und wurden einsprachig englischsprechend. Ihre kulturelle Assimilierung war geprägt von einem Trend zu Eheschließungen mit Partnern außerhalb der ursprünglichen ethnischen Gemeinschaft. Trotz der großen Immigration aus Lateinamerika in den letzten Jahren scheinen laut Untersuchungen des Pew Hispanic Center und Soziologen der Princeton Universität die beschriebenen Tendenzen in der Assimilierung in den USA weiterhin zu bestehen.[16]

Wie auch immer, auch wenn die heutige Welle der Immigration qualitativ verschieden ist im Vergleich mit früheren - was soll`s? Wenn die Arbeiterklasse kein Vaterland hat, sollen wir dann in Sorge sein, ob die Assimilierung stattfindet oder nicht? Engels sah die Amerikanisierung in den 1880er Jahren nicht als „Ziel an sich“, nicht als irgendein zeitloses Prinzip der Arbeiterbewegung, sondern als eine Basis zu Bildung der Einheit der Arbeiterklasse. Doch wie wir gesehen haben, wurde die Losung der „Amerikanisierung“ als notwendige Vorbedingung zur Schaffung der Einheit der Arbeiterklasse durch die Realität der Bewegung in den frühen 1920er Jahren klar widerlegt. Die Erfahrung zeigte auf, wie die Arbeiterklasse die Unterschiede überwinden kann und der internationale Charakter des Proletariates es ermöglicht, eine geeinte Bewegung gegen die herrschende Klasse zu bilden.

Während die fremdenfeindlichen Ausschreitungen 2008 in den Slums von Südafrika ein Alarmzeichen dafür waren, wie die ideologischen Kampagnen der herrschenden Klasse gegen Einwanderer direkt zur Barbarei im gesellschaftlichen Leben führen, sticht ins Auge, dass die kapitalistische Propaganda die existierenden fremdenfeindlichen Gefühle innerhalb der Arbeiterklasse der Metropolen meist überzeichnet darstellt. In den USA zum Beispiel ist – trotz den großen Anstrengungen der bürgerlichen Medien und der Propaganda der Rechten um die Thematik Sprache und Kultur innerhalb der Bevölkerung, eingeschlossen die Arbeiterklasse, einen Hass gegen Immigranten zu schüren – die vorherrschende Meinung, Immigranten seien genauso Arbeitskräfte, die versuchen, ihren Familien Unterstützung zu bieten, dass sie Leute seien, die Arbeiten übernehmen müssten, die für „Einheimische“ zu schmutzig und schlecht bezahlt seien, und es absurd wäre, sie rauszuwerfen[17]. Im Klassenkampf selber gibt es deutliche Zeichen von Solidarität zwischen eingewanderten und „einheimischen“ Arbeitern, welche an die internationalistische Einheit in Lawrence 1912 erinnern. Es gab 2008 mehrere Beispiele, wie die großen Proteste in Griechenland, bei denen sich Immigranten an den Kämpfen beteiligten, oder in Großbritannien beim Streik in der Ölraffinerie Lindsey im Winter 2009, bei dem Immigranten offen ihre Solidarität kundtaten, oder in den USA bei der Besetzung der Fenster- und Türenfabrik Republic durch Spanisch sprechende eingewanderte Arbeiter, als „einheimische“ Arbeiter auf das Gelände kamen, um Essen zu bringen und ihre Unterstützung auszudrücken.            

Die Haltung der Revolutionäre zur Frage der Immigration

Gemäß Berichten in den Medien glauben 80% der Menschen in Großbritannien, das Land leide wegen der Immigration unter einer Bevölkerungskrise; mehr als 50% befürchten dadurch eine Gefährdung der britischen Kultur; 60% glauben, das Leben in Großbritannien sei wegen der Immigration gefährlicher geworden; 85% wollen die Immigration beschränken oder stoppen.[18] Die Tatsache, dass es in den Reihen der Arbeiterklasse eine gewisse Empfänglichkeit gibt gegenüber den irrationalen, rassistischen Ängsten und der fremdenfeindlichen Propaganda der herrschenden Klasse, überrascht nicht, denn die Ideologie der herrschenden Klasse in einer Klassengesellschaft wird immer einen immensen Einfluss auf die Arbeiterklasse ausüben. Dies ändert sich erst wirklich in einer offen revolutionären Situation. Wie stark auch immer der Erfolg der zerstörerischen bürgerlichen Ideologie innerhalb der Arbeiterklasse ist, für die revolutionäre Bewegung bleibt das Prinzip der weltweiten Arbeiterklasse als Einheit, als Klasse ohne Vaterland, Grundstein für die internationale proletarische Solidarität und für ihr Klassenbewusstsein. Alles, was die Einheit der Arbeiterklasse untergräbt, verunmöglicht oder sabotiert, steht im Widerspruch zur internationalistischen Natur des Proletariats als Klasse und ist Ausdruck der bürgerlichen Ideologie, die wir als Revolutionäre bekämpfen. Es ist unsere Verantwortung, die historische Tatsache, dass die Arbeiterklasse kein Vaterland hat, zu verteidigen.

Die Beschuldigungen der bürgerlichen Ideologie gegen die Immigranten basieren mehr auf Mythen als auf der Realität. Immigranten sind vielmehr selber Opfer von Kriminellen als selber kriminell. Meist sind Immigranten ehrliche Arbeiter, die hart zu schuften haben und lange und mühsam arbeiten, um nicht nur sich selber zu ernähren, sondern um ihren Familien Geld nach Hause zu senden. Sie werden oft von skrupellosen Unternehmen unter die Mindestlöhne gedrückt und erhalten keinen Lohn für Überzeitarbeit. Skrupellose Hausbesitzer pressen ihnen oft hohe Mieten für Slum-Wohnungen ab, alle Arten von Halunken und Gauner versuchen sie auszubeuten – im Wissen, dass Immigranten Angst vor den Behörden haben und sich so in die Opferrolle drängen lassen. Statistiken zeigen, dass die Kriminalität in Immigrantenfamilien in der zweiten und dritten Generation ansteigt. Nicht wegen ihrem Status als Immigranten, sondern wegen der zunehmenden zermürbenden Armut, Diskriminierung und Chancenlosigkeit als arme Leute.[19]

Es ist wichtig, den Unterschied zu sehen, der heute zwischen den Positionen der Kommunistischen Linken und allen Varianten von Predigern antirassistischer Ideologien besteht (auch denen, die behaupten, Revolutionäre zu sein). Trotz der Denunzierung des rassistischen Charakters der Anti-Immigranten-Ideologie befinden sich die Aktionen Letzterer auf derselben Ebene. Sie heben nicht die grundlegende Einheit der Arbeiterklasse hervor, sondern verschärfen nur deren Aufspaltung. In aufgewärmten Versionen der alten Theorie des „Privilegs der weißen Haut“ beschuldigen sie vor allem Arbeiter, die gegenüber Immigranten misstrauisch sind, und nicht den Kapitalismus für seinen Rassismus gegen Einwanderer. Sie glorifizieren oft auch eingewanderte Arbeiter als Helden, die ehrlicher seien als die im Land geborenen. Die „Anti-Rassisten“ stellen Immigranten gegen Nicht-Immigranten, statt die Einheit der Arbeiterklasse hervorzuheben. Die Ideologie des Multikulti, die sie propagieren, versucht, die Arbeiter vom Klassenbewusstsein abzulenken, hin zu einer „Politik der Identität“ bei der die ethnische, sprachliche und nationale „Identität“ die Triebkraft ist, und nicht die Zugehörigkeit zur selben sozialen Klasse. Diese vergiftende Ideologie besagt, dass mexikanische Arbeiter-Immigranten mehr Gemeinsamkeiten mit Elementen der mexikanischen herrschenden Klasse hätten als andere Arbeiter. Angesichts ihrer Unzufriedenheit über die Diskriminierung bindet dieser „Anti-Rassismus“ die Immigranten an den Staat. Die angebotenen Lösungen für die Probleme der Immigranten führen auf die Ebene der bürgerlichen Legalität, indem Arbeiter für die kapitalistischen Gewerkschaften oder zu einem Engagement für die Reform der Immigrantengesetze aufgefordert werden und der Einstieg von Immigranten in die parlamentarische Politik oder die Anerkennung der gesetzlichen „Rechte“ propagiert wird. Also genau das Gegenteil des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse.

Die Entlarvung der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus gegen eingewanderte Arbeiter von Seiten der Kommunistischen Linken unterscheidet sich klar von den anti-rassistischen Ideologien. Unsere Haltung steht in einer direkten Kontinuität mit den Ansichten der revolutionären Bewegung seit dem Bund der Kommunisten, dem Kommunistischen Manifest, der 1. Internationale, den linken Fraktionen innerhalb der 2. Internationale, den International Workers of the World (IWW) und den Kommunistischen Parteien in ihrer Gründungsphase. Unsere Arbeit hat die grundlegende Einheit der Arbeiterklasse zum Ziel, entblößt die Bemühungen der herrschenden Klasse, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen, stemmt sich gegen den bürgerlichen Legalismus, gegen die Politik der „Identität“ und gegen den Interklassismus. Die IKS zeigte ihre internationalistische Haltung in den USA, als sie die bürgerlichen Manipulationen rund um die Demonstrationen von 2006 (für die Legalisierung der Immigranten) bloßstellte, die zu einem großen Teil von Spanisch sprechenden Immigranten organisiert worden waren. Wir schrieben in unserer Zeitung INTERNATIONALISM Nr. 139, dass diese Demonstrationen „zu weiten Teilen eine bürgerliche Manipulation sind“, sich „komplett auf dem Terrain der herrschenden Klasse befinden, die diese Demonstrationen provozierte, manipulierte, kontrollierte und offen anführte“, und dass sie vom Nationalismus infiziert waren, „sei es vom Latino-Nationalismus, der die Anfangsphase der Demonstrationen beherrschte, oder vom kranken Bekenntnis zum Amerikanismus, das später auftauchte“ und „als Kurzschluss-Gedanke dazu diente, zu verhindern, dass Immigranten und in Amerika Geborene ihre grundlegende Einheit erkennen“.

Wie auch immer, wir müssen für die internationale Einheit der Arbeiterklasse einstehen. Als proletarische Internationalisten bekämpfen wir bürgerliche Ideologien, die von „kultureller“ oder „sprachlicher Verunreinigung“, „nationaler Identität“, „Vorsicht vor Ausländern“ oder „Verteidigung der Gemeinschaft oder Nachbarschaft“ sprechen. Unsere Intervention muss folgende historische Errungenschaften der Arbeiterklasse verteidigen: dass die Arbeiter kein Vaterland haben; dass die Verteidigung nationaler Kultur, Sprache oder Identität keine Aufgabe und kein Anliegen des Proletariats ist; dass wir die Bestrebungen derer bekämpfen, die versuchen, die bürgerlichen Konzepte des Hervorhebens der Verschiedenheiten innerhalb der Arbeiterklasse zur Schwächung der Einheit des Proletariats zu nutzen. Welchen Einfluss fremde Klassenideologien in der Geschichte auch hatten, der rote Faden der revolutionären Arbeiterbewegung ist und bleibt die internationale Klassensolidarität und Einheit. Das Proletariat existiert in vielen Ländern und spricht viele Sprachen, doch es ist eine weltweite Klasse mit der historischen Aufgabe, das System der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung zu überwinden. Wir fassen die sprachliche, kulturelle und ethnische Verschiedenheit unserer Klasse als eine Stärke und nicht als eine Schwäche auf. Wir stellen die Einheit der Arbeiterklasse vor alles andere und die internationale Solidarität gegen die Bemühungen, uns zu spalten. Wir müssen das Prinzip, nach dem die Arbeiterklasse kein Vaterland hat, in eine lebendige Realität verwandeln, welche in sich die Möglichkeit trägt, in einer kommunistischen Gesellschaft eine wirklich menschliche Gemeinschaft entstehen zu lassen. Alles andere ist eine Abkehr vom revolutionären Prinzip.

Jerry Grevin, Winter 2009

 

[1] Muenz Rainer: Europe: Population and Migration in 2005, von www.migrationpolicy.org/programs/migration-information-source [6] im September 2009

[2] Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Kapitel 8, Abschnitt VI, Werke Bd. 3, Seite 620

[3] Engels an Hermann Schlüter in New York (30. März 1892), MEW, Bd.38, Seite 314

[4] Franz Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens, Gesammelte Schriften, Dietz Verlag 1976, Bd.3, Kapitel 5, Abschnitt 6: Der Bund der Kommunisten, Seite 148

[5] Mehring, a.a.O., Abschnitt 7: Propaganda in Brüssel, Seite 150

[6] Stekloff, G.M., History of the First International, England, 1928, Kapitel 7

[7] Mehring, a.a.O., Kapitel 13, Abschnitt 2: Die Schweiz und Deutschland, Seite 398

[8] Mehring, a.a.O., Kapitel 14, Abschnitt 4: Die Internationale und die Kommune, Seite 465

[9] Lenin, Der internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, in PROLETARI Nr. 17, 20.10.1907, Lenin Werke, Bd. 13, S. 71. (Wir lassen in diesem Artikel die Debatte und fragwürdige Haltung über die “Arbeiteraristokratie”, die Lenin aufwarf, beiseite.)

[10] Lenin, „An den Sekretär der Socialist Propaganda League”, Ende Oktober/Anfang November 1915, Lenin Werke, Bd. 21, S. 435   

[11] Zitiert und von uns übersetzt aus: Draper's, Roots of American Communism

[12] Engels an Hermann Schlüter in New York, MEW, Bd. 38, S.313

[13] Die „Theorie der privilegierten Weißen“ war ein ideologisches Gebräu der neuen Linken in den 1960er Jahren, die behauptete, es bestehe ein angeblicher Deal zwischen den Herrschenden und der weißen Arbeiterklasse, was den weißen Arbeitern einen höheren Lebensstandard ermögliche, dies auf Kosten der schwarzen Arbeiter, die unter Rassismus und Diskriminierung litten.

[14] Draper Theodore, The Roots of American Communism, Seiten 80-83

[15] ebenda S. 79

[16] Siehe: 2003/2004 Pew Hispanic Center/the Kaiser Family Foundation Survey of Latinos: Education; und Rambaut, Reuben G., Massey, Douglas, S. und Bean, Frank. D.: Linguistic Life Expectancies: Immigrant Language Retention in Southern California. Population and Development, 32 (3): 47-460, September 2006.

[17] "Problems and Priorities," von PollingReport.com am 11. Juni 2008

[18] Sunday Express, 6. April 2008

[19] States News Service, Immigration Fact Check: Responding to Key Myths, 22. Juni 2007

 


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Links
[1] https://de.internationalism.org/content/857/1-probleme-der-uebergangsperiode-1975 [2] https://de.internationalism.org/content/713/kapitel-7-bilanz-der-russischen-revolution-partei-gewerkschaften-klassenkampf-der-staat [3] https://de.internationalism.org/weltrevolution/200409/201/kommunismus-iv [4] https://de.internationalism.org/content/747/kommunistische-linke-russlands [5] https://www.marxists.org/archive/brinton/1970/workers-control/index.htm [6] https://www.migrationpolicy.org/programs/migration-information-source