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Weltrevolution Nr. 182

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Bericht zur nationalen Lage Deutschlands (Frühjahr 2018)

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Nach der jüngsten Krise in der Bundesregierung (zwischen der Christlich-Demokratischen Union von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer "Schwesterpartei", der bayerischen CSU) veröffentlichen wir hier Auszüge aus dem Bericht[1] über die nationale Situation in Deutschland von unserer Konferenz im Frühjahr 2018. Wir glauben, dass er eine Analyse und einen Hintergrund liefert, der zum Verständnis der gegenwärtigen politischen Krise im zentralen Land des europäischen Kapitalismus beitragen kann. Wir haben auf eine Aktualisierung des Berichts verzichtet. Dies wird die Aufgabe späterer Artikel sein.

Die Notwendigkeit einer radikalen Korrektur der deutschen Wirtschaftspolitik

(…) Deutschland ist derzeit die Lokomotive der Europäischen Union, die heute eine der Hauptstützen der Weltwirtschaft ist. In der Tat profitiert letztere momentan von einer Situation, in der zum ersten Mal seit Jahren die Hauptkomponenten der Weltwirtschaft alle gleichzeitig, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, wachsen. Dazu gehören auch die USA und Japan, die sich insbesondere von einer langen Phase ohne Wachstum erholen. Russland und Brasilien haben endlich eine Phase der schweren Rezession hinter sich gelassen. In China gelingt es, das Wachstum bei rund 7% zu halten. Ausschlaggebend hierfür war die Politik der hohen Geldmenge und der billigen Kredite der Zentralbanken in Washington, Frankfurt und Tokio.

Die hohe Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die wir in unserem letzten Bericht zur Lage in Deutschland beschrieben haben, ist weiterhin vorhanden. Deutschland bleibt der weltweit führende Hersteller von Produktionsmitteln. Deutsche Maschinen sind nicht nur von hoher Qualität, viele hochspezialisierte Maschinenbauprodukte werden nur von deutschen Firmen hergestellt. Der Grad weltweiter Vernetzung deutscher Familienunternehmen ist einzigartig. Noch mehr als die großen Unternehmen wie Siemens oder Bosch sind diese "versteckten Meister" das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. (…)

Dank dieser Stärke ist es Deutschland gelungen, den Angriffen in den Vereinigten Staaten gegen so wichtige Stützen seiner Wirtschaft wie die Deutsche Bank und Volkswagen (gegen die enorme Geldbußen verhängt wurden) oder den deutschen Energiesektor (insbesondere wegen der Zusammenarbeit mit Russland) zu widerstehen. Unser vorheriger Bericht sprach in diesem Zusammenhang von einem "Wirtschaftskrieg" (im Sinne des preußischen Militärtheoretikers von Clausewitz: der Versuch, den Willen des Gegners zu brechen). In den Reden während des Wahlkampfes in Hannover vor den Parlamentswahlen im September 2017 erklärte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder freimütig: "Amerika hat einen Wirtschaftskrieg gegen uns begonnen." "Die Art und Weise, wie eine bestimmte Technologie, die des Dieselmotors, den Löwen zum Fraß geworfen wurde, ärgert mich". In Bezug auf die Wirtschaftssanktionen gegen Moskau sagte er auch, dass die "Isolation Russlands nur den Vereinigten Staaten dient". Wir sollten hier hinzufügen, dass die amerikanische Dämonisierung des Dieselkraftstoffs eine Reaktion darauf ist, dass er von den europäischen Regierungen über viele Jahre hinweg privilegiert wurde: eine Art versteckter Protektionismus, da sich die europäische Automobilindustrie auf diese Technologie spezialisiert hat. Auf jeden Fall hat Volkswagen in den ersten neun Monaten 2017 trotz der in den USA verhängten Bußgelder in Milliardenhöhe einen Gewinn von 7,7 Milliarden Euro erzielt - ein neuer Unternehmensrekord. VW behauptet auch seine Position als das Automobilunternehmen mit dem höchsten Forschungsbudget. Der Konzern hat auch enorme Neuinvestitionen angekündigt: 10 Milliarden Euro in China und 24 Milliarden Euro in Europa (vor allem im ostdeutschen Zwickau) für die Produktion von Elektroautos. Die Situation der Automobilindustrie ist widersprüchlich. Technologisch ist Deutschland sowohl bei der Elektromobilität als auch bei den Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor weit fortgeschritten. Doch während die Marktposition in diesem Bereich sehr stark ist, hinkt sie bei der Produktion von E-Autos immer noch hinter ihren Hauptkonkurrenten hinterher.

Trotz all dieser Erfolge muss sich Deutschland angesichts der Instabilität der Weltfinanzsysteme, der Gefahr von Handelskriegen und politischer Instabilität für die Zukunft rüsten. Nach Angaben des Institute of International Finance hat sich die weltweite Verschuldung in den letzten drei Jahrzehnten vervierfacht und erreichte 232 Billionen Dollar: 318% höher als der weltweite BIP (in der Europäischen Union 104%, in Deutschland 66%). 172 Billionen dieser Schulden befinden sich in den alten kapitalistischen Ländern, 61 Billionen in den "Schwellenländern". Für die Europäische Union drohen Handelskonflikte sowohl mit den Vereinigten Staaten als auch mit China. Die EU selbst ist dabei ein aktiver Faktor. Zum Beispiel war sie bisher gegenüber China protektionistischer als die USA. Sie trifft insbesondere Maßnahmen, um die Übernahme von High-Tech-Unternehmen durch chinesische, russische oder andere Konkurrenten einzuschränken. Was die politischen und wirtschaftlichen Krisen anbelangt, so gibt es bereits innerhalb der Europäischen Union eine Reihe von Krisen, die entweder bereits vollständig aufgeflogen sind (Brexit, die Verfassungskrise in Spanien) oder drohen (Italien, der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau, bei dem Donald Tusk bereits vor der Gefahr warnt, dass Polen die EU verlässt). Die Steuerreform von Trump kann dem deutschen Staatshaushalt Milliardeneinnahmen entziehen. Siemens, eines der wichtigsten deutschen Unternehmen, hat kürzlich angekündigt, dass es aufgrund der neuen Steuerregelung in den USA in diesem Jahr mit einer Gewinnsteigerung von einer Milliarde Dollar rechnet. Daher ist geplant, Teile der Entwicklung und Produktion von Deutschland nach Amerika zu verlagern. Doch nicht nur von außen drohen Gefahren für die deutsche Wirtschaft. Denn ohne eine radikale Änderung der Wirtschaftspolitik droht Deutschland mittelfristig seine Konkurrenzfähigkeit zu verlieren, was in der heutigen Welt in etwa fünf Jahren bedeutet. So fordert der Verband der mittleren Unternehmen dringend massive Investitionen in Bildung und Qualifizierung, eine radikale Reform des Bildungssystems (insbesondere weniger "Föderalismus"), einen "digitalen Neuanfang", ein neues Zuwanderungsgesetz "nach kanadischem Vorbild" sowie eine "Auszeit" für Arbeitnehmer zur Qualifizierung, Kinderbetreuung oder als Prophylaxe gegen Burn-out (die IG Metall hat ähnliche Forderungen). Das ist eine widersprüchliche Realität: "Boomende Industrie und hohes Beschäftigungsniveau" in vielen Bereichen, aber ein zunehmender Arbeitsdruck für diejenigen, die eher gut bezahlte Arbeitsplätze haben und vor allem eine steigende Zahl von Working Poor. Das widersprüchliche Gesicht der Krise bedeutet also einerseits höchste Beschäftigung und andererseits verstärkte Verarmung für viele Schlechtverdiener. Die Besonderheiten dieser Situation, die niedrigste Arbeitslosigkeit, ist ein Aspekt, der die relative soziale Ruhe der letzten Jahre erklärt.

(…)

Deutschland: Anker der europäischen Wirtschaft in stürmischen Zeiten

Einer der Hauptfaktoren, die die deutsche Politik heute beeinflussen, ist die veränderte Einstellung Frankreichs dazu. Seitdem sich der damalige Amtsinhaber im Elysee, Francois Mitterrand, unmittelbar nach dem Fall der Mauer für den Erhalt der DDR ausgesprochen hat ("Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zwei von ihnen will"), ist es für die französischen Staatschefs so etwas wie eine Tradition, innerhalb der EU (manchmal in Großbritannien, manchmal in den Mittelmeerstaaten) und innerhalb der Eurozone nach Verbündeten gegen Berlin zu suchen. Aus französischer Sicht diente die Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung in erster Linie der politischen Kontrolle Deutschlands. Insbesondere sollte verhindert werden, dass die Bundesbank in Frankfurt über die dominante Rolle der Deutschen Mark ihre Geldpolitik dem übrigen Europa diktiert. Macron bekräftigt jedoch, dass Europa ohne die wirtschaftliche Stärke Deutschlands und ohne ein starkes deutsch-französisches Bündnis keine Chance hat, sich in der heutigen Welt zu behaupten. Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung 1989 hat Frankreich eine Art Bündnis mit Deutschland als Hauptziel seiner Außenpolitik vorgeschlagen. Dieser Politikwechsel ist natürlich mit der Machtübernahme von Macron verbunden, aber natürlich hat "Macronisme" selbst tiefere Ursachen. Und eine davon ist die Lehre aus der so genannten Euro-Krise, die nach der weltweiten "Finanzkrise" von 2007/08 folgte. In Wirklichkeit waren das nur zwei verschiedene Momente ein und derselben Krise. Eine Krise, die in vielerlei Hinsicht die tiefste Erschütterung des Weltkapitalismus seit der Großen Depression der 1930er Jahre war. Die Schulden des kleinen Griechenlands standen nur scheinbar im Mittelpunkt der Euro-Krise. Neben den Vereinigten Staaten war Europa der Teil der Weltwirtschaft, der am stärksten von der Finanzkrise und der damit einhergehenden brutalen Rezession betroffen war. Da die amerikanische Bourgeoisie versuchte, die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf ihre europäischen "Partner" abzulenken, begann die internationale Finanzwelt massiv gegen die gemeinsame europäische Währung zu spekulieren und sogar auf ihre Explosion zu wetten. Der Grund für diese Vertrauenskrise in den Euro war weniger die wirtschaftliche Schwäche Griechenlands oder anderer seiner Mitgliedstaaten, sondern vielmehr sein Charakter als gemeinsame Währung verschiedener Nationalstaaten, die nicht durch einen einigen Willen und eine einzige Autorität zusammengehalten werden. Der Wendepunkt dieser Krise wurde erst am 26. Juli 2012 mit der berühmten Aussage des Chefs der Europäischen Bank Mario Draghi erreicht: "Die EZB ist bereit, im Rahmen unseres Mandats alles zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glaubt mir, es wird reichen." Möglich wurde diese Wende jedoch fast ausschließlich durch das Vertrauen der Investoren in die deutsche Wirtschaft und in die deutsche Wirtschaftspolitik. Obwohl die Sparpolitik, die die Regierung Merkel-Schäuble Athen diktierte, der griechischen Bevölkerung große zusätzliche Schwierigkeiten bereitete (und für die herrschende Klasse den sehr willkommenen Nebeneffekt hatte, das europäische Proletariat zu spalten, vor allem indem sie die deutschen und griechischen Arbeiter gegeneinander ausspielte), ging es Berlin nicht um die griechische Wirtschaft, sondern um die Glaubwürdigkeit des Euro. Der künftige französische Präsident Macron gehörte als Banker von Beruf selbst zu denen, die verstanden haben, wie sehr die Volkswirtschaften der Eurozone heute von der Glaubwürdigkeit des deutschen Staates abhängen, um das Privateigentum der Investoren zu schützen. Aufgrund der Stärke seiner Wirtschaft und seiner im Verhältnis zum BSP vergleichsweise niedrigen Verschuldungsrate wird es als in der Lage angesehen, seine Schulden zurückzuzahlen, wann immer dies erforderlich ist. Aufgrund seiner politischen Stabilität, seiner Tradition des "sozialen Friedens" und seines Rufs, jede "extremistische" oder "unverantwortliche" Partei am Regierungsantritt hindern zu können, gilt es als die wichtigste Garantie der bürgerlichen Ordnung auf dem europäischen Kontinent. Der wirtschaftliche und politische "Kredit" (aus dem lateinischen "Credo": Glaube) Deutschlands rettete die Finanz- und Währungsarchitektur und damit die Grundlage der politischen Stabilität des alten Kontinents. Es war Berlin, das diese Rettungsaktion mehr oder weniger gegen den Willen seiner verschiedenen europäischen "Partner", darunter Frankreich, und ohne die Hilfe der Obama-Regierung in Washington, die damals selbst mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten zu kämpfen hatte, organisierte. Es war Berlin, das dem Rest der Eurozone brutal seine Version der Sparpolitik aufzwang, die es für notwendig hielt, das "Vertrauen der Märkte" zurückzugewinnen. Diese Erfahrung hat einen wichtigen Teil der französischen Bourgeoisie dazu gebracht, Deutschland in einem neuen Licht zu sehen: weniger als Bedrohung und mehr als Anker in stürmischen Zeiten. (…)

Macron hat erkannt, dass keine der westeuropäischen Mächte - einschließlich Italien, Frankreich und sogar Deutschland - eine Chance hat, als mehr oder weniger "unabhängige" Kräfte im Weltmaßstab zu überleben, wenn sie nicht eng zusammenarbeiten. (…) Ohne Deutschland ist Macron wie ein Kommandant ohne Armee. Wir haben jedoch Grund zu der Annahme, dass sich die deutsche Bourgeoisie bereits an der Formulierung dieser Politik beteiligt hat. Macron selbst hat gesagt, dass er seine "Sorbonne-Rede" an Bundeskanzlerin Merkel geschickt hat, um ihre Zustimmung einzuholen, bevor er sie gehalten hat. Diese Politik reagiert unter anderem auf Brexit und die zunehmende Renitenz der V4-Regierungen in Mitteleuropa. Ihr Kerngedanke ist die Entwicklung der Eurozone, ohne auf Osteuropa zu warten. Es ist jedoch klar, dass Deutschland und Frankreich in Europa nicht die gleiche Rolle spielen und nicht die gleichen Interessen haben. Das Hauptaugenmerk der französischen Bourgeoisie liegt auf der Durchsetzung der Euro-Zone. Deutschland sieht sich jedoch aufgrund seiner geografischen Lage im Herzen Europas und der Bedeutung seiner wirtschaftlichen Interessen in Osteuropa auch in der Verantwortung, die EU als Ganzes zusammenzuhalten. Auch in der Handelspolitik gibt es Unterschiede: Deutschland ist wettbewerbsfähiger und damit tendenziell weniger protektionistisch als Frankreich.

Die EU-weite Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten hat zwangsläufig eine wichtige militärische Dimension, da Rüstung ein zentraler Faktor der kapitalistischen Wirtschaft ist, allen voran der Hightech-Sektor. Aber für Berlin und Paris soll die Zusammenarbeit der europäischen Rüstungsunternehmen durch eine stärkere Zusammenarbeit der Armeen "ergänzt" werden. Bisher hat Großbritannien solche Entwicklungen immer behindert. Heute ermöglicht die Perspektive von Brexit militärische Projekte wie Pesco oder die heutige deutsch-französische Militärinitiative von Ursula von der Leyen und Jean-Yves Le Driand.

(…)

Die gegenwärtigen Spaltungen innerhalb der deutschen herrschenden Klasse

Aber wenn die Divergenzen in der Wirtschafts- und Außenpolitik nicht gravierend genug sind, um Spaltungen innerhalb der deutschen herrschenden Klasse hervorzurufen, so ist doch klar, dass es solche Spaltungen gibt. Eine erste große Spaltung innerhalb der Christlich-Demokratischen Union zwischen CDU und CSU über Merkels Flüchtlingspolitik trat bereits 2015 ein. Nach den Parlamentswahlen im September 2017 kam es zu einem zweiten großen Konflikt zwischen der Union und den Grünen einerseits und der FDP andererseits, der zum Scheitern des Koalitionsprojekts "Jamaika" führte. Dies wiederum hat innerhalb der SPD zu einer Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern einer neuen Großen Koalition ("GroKo") mit der Union unter Merkel geführt. Für eine Bourgeoisie, die im vergangenen halben Jahrhundert so einheitlich und kohärent war wie kaum eine andere, sind diese Spaltungen in der Tat relativ dramatisch. Ihre wichtigste Ursache ist die unterschiedliche Herangehensweise an die Herausforderungen einer neuen historischen Phase. Heute werden diese Unterschiede zu Spaltungen. Bis zu einem gewissen Grad sind sie auch zu einem Generationenkonflikt geworden. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dass Kontinuität und eine "ruhige Hand" die besten Möglichkeiten sind, den Problemen der Stunde zu begegnen. Die prominenteste Vertreterin dieser "business as usual"-Haltung ist die Kanzlerin selbst, die nach den Parlamentswahlen (wo die Regierungsparteien 14% ihres Stimmenanteils verloren haben) erklärte: "Ich sehe nicht, was in meiner Politik geändert werden müsste." Andererseits fordern Vertreter der neuen Politikergeneration wie Lindner von der FDP oder die Jusos ("Junge Sozialisten in der SPD") ein Ende des "Merkelsystems" und radikale politische Veränderungen. Diese Kräfte verlangen massive Investitionen und eine umfassende Umstrukturierung des Bildungssystems, Forschung und Entwicklung neuer Technologien sowie eine neue Einwanderungsgesetzgebung nach kanadischem Vorbild. Vor allem aber wollen sie der so genannten Diktatur des Konsenses in der deutschen Nachkriegspolitik ein Ende setzen, die sie kontroverser gestalten wollen. Insbesondere kritisieren sie den politischen Stil von Angela Merkel, das Programm der eigenen politischen Gegner zu übernehmen und damit die ohnehin schon kleinen Unterschiede zwischen den politischen Parteien zusätzlich zu verwischen. Obwohl sie immer noch die erfahrenste und am meisten respektierte politische Führerin in Europa (und in der "westlichen Welt", so Barak Obama) ist, denken diejenigen, die sich ihr heute widersetzen, dass Angela Merkel mehr Teil des Problems der deutschen Bourgeoisie als Teil ihrer Lösung geworden ist. Obwohl ihre Einwanderungspolitik "Flüchtlinge willkommen" gescheitert ist, weigert sie sich, dies öffentlich anzuerkennen und erweckt den Eindruck, dass sie sich mehr um ihren "Platz in der Geschichte" als um die alltägliche Politik sorgt. Damit ist sie zu einem "roten Tuch" für Populisten in Deutschland und für Regierungschefs in Osteuropa geworden. Merkels Vision war, dass die Flüchtlinge die demographischen Probleme Deutschlands (einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung) lösen würden. Sie orientiert sich an der Rolle der Vertriebenen (die Millionen von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Osteuropa vertrieben wurden) beim Wiederaufbau, aber auch der sogenannten "Dreamer" in den Vereinigten Staaten, die als "Humankapital" gelten. Im Jahr 2015 wurde ihre Politik von den meisten Arbeitgeberverbänden mit Begeisterung unterstützt, die erklärten, dass die deutsche Wirtschaft während bis zu einem Jahrzehnt vom Zustrom von einer Million (vorzugsweise) junger Menschen pro Jahr profitieren würde. Der Aufstieg des Rechtspopulismus hat diesen Träumen ein Ende gesetzt. Merkels "Willkommenspolitik" ist gescheitert, obwohl etwa 80% der Bevölkerung Deutschlands dafür sind. Der deutlichste Beweis dafür ist, dass die AfD bei den Parlamentswahlen 13% der abgegebenen Stimmen erhielt.

Das bedeutet nicht, dass die Öffnung der deutschen Grenze für Flüchtlinge im Sommer 2015 aus Sicht der Kapitalinteressen ein Fehler war. Seitdem hat die Regierung in Athen (die nicht den Ruf hat, deutschfreundlich zu sein) öffentlich anerkannt, dass es diese Entscheidung von Angela Merkel war, die die Situation in Griechenland gerettet hat. Wäre die Flüchtlingswelle über den Balkan nach Griechenland zurückgeschickt worden (wie es das "Dubliner Abkommen" normalerweise verlangt), hätte das wahrscheinlich zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und der Staatsfinanzen in Hellas geführt. Dies wiederum wäre das Ende des mühsam erreichten Bergungspakets gewesen, das dazu beigetragen hatte, die Spekulationen gegen den Euro zu stoppen. Mit anderen Worten, was Merkel rettete, war in erster Linie der Euro und das "Vertrauen der Märkte" in die europäische Wirtschaft. Auf dieser Ebene war die "Flüchtlingskrise" von 2015 gewissermaßen die Fortsetzung der "Euro-Krise" auf einer anderen Ebene, die mit anderen Mitteln bewältigt wurde.

Das Problem der AfD

Das Problem des politischen, insbesondere des Rechtspopulismus, ist international und hat sich in den letzten Jahren verschärft. Brexit und die Trump-Präsidentschaft gehörten zu den wichtigsten Faktoren der neuen Virulenz dieses Problems. Jetzt hat sie Deutschland in überwältigender Weise erreicht. Die "Alternative für Deutschland" ist bei weitem nicht der einzige, aber derzeit wichtigste Ausdruck dieser Entwicklung, die mit der Erosion der politischen Glaubwürdigkeit der "Establishment"-Parteien einhergeht.

Franz-Josef Strauß, der Vorsitzende der bayerischen CSU von den 1960er bis 1980er Jahren, formulierte folgende Strategie der deutschen Christdemokraten: die Verhinderung der Gründung einer Partei im Parlament zur Rechten der Union. Die rechte Partei, die die Christdemokraten damals aus dem Bundestag ausschließen wollten, war die neonazistische NPD. Und es ist gelungen. Heute etabliert sich eine rechtspopulistische Partei im Parlament, und insbesondere die CSU macht Angela Merkel dafür verantwortlich. Der Aufstieg einer Fraktion zu ihrer Rechten ist ein schwerer Schlag für die Union, nicht zuletzt, weil er die absolute Mehrheit der CSU in Bayern gefährdet. Für die deutsche Bourgeoisie als Ganzes ist es aber nicht unbedingt ein großer Rückschlag. Es ist offensichtlich, dass eine weitere parlamentarische Kraft die Regierungsbildung erschwert. (…)

Trotz aller Schwierigkeiten wäre die deutsche Bourgeoisie in der Lage, mit einer sechsten Partei zurechtzukommen, mit einer nationalen konservativen Partei auf der rechten Seite der Union. Und trotz Verhältniswahl ist es ihr in den letzten Jahrzehnten immer gelungen, die NPD aus dem Parlament herauszuhalten. Das Problem mit der AfD ist, dass sie weder eine traditionelle konservative noch eine neonazistische Partei ist. Es ist eine Mischung aus beidem. Die Politik der etablierten Parteien im Bundestag ist klar: Es sollte keine Macht- und Privilegienteilung mit einer Partei geben, die Neonazis in ihren Reihen beherbergt. Diese Politik des Ausschlusses ist ein Angebot an die AfD: Sie sind auf dem Staatsbankett willkommen, wenn Sie Ihre Neonazis loswerden. Bis jetzt waren die Ergebnisse dieser Politik von Zuckerbrot und Peitsche jedoch dürftig. Obwohl Frauke Petry, einst die Vorsitzende der AfD, die ein Direktmandat in Sachsen gewann, ihre Partei unmittelbar nach den Parlamentswahlen verließ, folgten nur wenige ihrem Beispiel. Dies wiederum veranschaulicht das gegenwärtige Dilemma der Bourgeoisie. Das Geheimnis des Erfolgs der zeitgenössischen populistischen Parteien ist gerade ihre Mischung aus national-konservativen und rechtsradikalen Positionen. Wir befinden uns nicht in den 1930er Jahren, in der Zeit der radikalen Niederlage der Arbeiterbewegung und der unmittelbaren Vorbereitung auf den Weltkrieg. Faschistische Massenbewegungen stehen derzeit nicht auf der Tagesordnung. Gleichzeitig stellt der heutige Populismus etwas Neues in Bezug auf die Jahrzehnte nach 1968 dar. Er ist nicht nur eine weitere Variante von Nationalismus und Konservatismus. In den Teilen der Bevölkerung, die er direkt beeinflusst, reitet er auf der Welle des Hasses. Eines Hasses, der sich nur scheinbar gegen die etablierten "Eliten" richtet. Die Skandale, die der Populismus erzeugt und von denen er lebt, enthalten immer den Hinweis und damit das Versprechen zukünftiger Pogrome, nicht gegen die Eliten, sondern gegen viel verletzlichere Opfer. Neben der Heiligkeit des Privateigentums bleibt in den alten kapitalistischen "Demokratien" vor allem das Tabu gegen Rassismus. Deshalb sind die heutigen Rechtspopulisten "nicht rassistisch", können aber auch nicht ohne Rassismus auskommen.

Die AfD begann als konservative neoliberale Protestpartei gegen die griechischen und europäischen Rettungsaktionen, die als Ausverkauf deutscher Interessen durch Christdemokraten und Liberale angesehen wurden. Die Rolle der selbständigen Handwerker, der Familienunternehmen und der kleinen Unternehmen, die für den Binnenmarkt arbeiten und die ausländische Konkurrenz fürchten, war beträchtlich. Doch die "Flüchtlingskrise" und Protestbewegungen wie Pegida haben sie schnell in eine fremdenfeindliche Partei verwandelt. Auf wirtschaftspolitischer Ebene präsentiert sich einer seiner Flügel nun als Verteidiger des "Wohlfahrtsstaates" gegen die "Globalisierung". (…) Seine Weltsicht basiert auf Verschwörungstheorien, wie der Idee, dass Merkel und die "Globalisierer" die "europäischen Nationen", die als Haupthindernisse für die "planetarische Herrschaft des Finanzkapitals" dargestellt werden, verwässern und schließlich liquidieren wollen. Während Schröders "Agendapolitik" verurteilt wird, sind für dieses Milieu die Hauptfeinde des "Wohlfahrtsstaates" die Flüchtlinge und Migranten. Diese Art von Rechtspopulismus ist derzeit typisch für die Länder Nordeuropas (in Skandinavien, der Schweiz oder Österreich ist die Situation ähnlich), wo der "Wohlfahrtsstaat" einen öffentlicheren, Hegel würde sagen eher "abstrakten" Charakter hat. (…)

In Ländern wie Deutschland sind die Migranten das Ziel eines (…) Hasses, der sie vor allem als Konkurrenten von "Sozialleistungen" sehen will. So scheint zum Beispiel gegenwärtig in Cottbus, der zweitgrößten Stadt des ostdeutschen Bundeslandes Brandenburg, nur eine starke Polizeipräsenz die Entwicklung einer Pogrom-Situation zu verhindern. Cottbus, eine Stadt mit einer (sehr proletarischen) Bevölkerung von rund 100.000 Einwohnern, galt noch vor wenigen Jahren als Vorbild für eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen, die zur Revitalisierung des Ortes beigetragen hatten.

Mit dem Aufstieg der AfD haben die Geister der Vergangenheit, die die deutsche Bourgeoisie zumindest teilweise hinter sich gelassen zu haben schien, sie wieder eingeholt. In der heutigen Bundesrepublik erhielt die Kapitulation vom Mai 1945 den Titel "die Stunde Null". Es war die Mythologie des Neuanfangs. In Wirklichkeit wurde das "Wunder" der Nachkriegszeit (mit wenigen Ausnahmen) unter der Herrschaft der ehemaligen Nazis vollbracht, die den Kampf der amerikanisch geführten "freien Welt" als direkte Fortsetzung des Hitler-Kreuzzugs gegen den "Bolschewismus" sahen. Erst als eine neue Generation der Bourgeoisie an die Macht kam, entwickelte Deutschland die Politik der eindeutigen Verurteilung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit - eine Haltung, die ihm weltweit viel Anerkennung und Popularität eingebracht hat. In Deutschland, dem Land des Holocaust, ist das Flirten mit der Nazi-Terminologie, ihren historischen Bezügen und Symbolen ein noch probateres Mittel als in anderen Ländern für politische Zerstörer und Hasardeure, um die herrschenden Eliten zu stören und zu erpressen.

(…)

Die Situation des proletarischen Kampfes

Deutschland hat in den vergangenen Monaten eine Reihe von Arbeiterkämpfen erlebt. Es gab Protestdemonstrationen von Stahlarbeitern (Thyssen-Krupp), die eine Verschlechterung der Bedingungen bei einer möglichen Fusion mit Tata befürchteten. In jüngster Zeit haben Siemens-Mitarbeiter in mehreren Städten gegen Werkschließungen und den Verlust von 4000 Arbeitsplätzen demonstriert. Auch die Mitarbeiter von Ryanair streiken (nicht nur in Deutschland). Die IG Metall hat zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Berichts Zehntausende von Arbeitern zu Aktionen aufgerufen, in denen sie höhere Löhne und die Möglichkeit einer befristeten Arbeitszeitverkürzung mit einem gewissen Lohnausgleich fordern. Solche Manifestationen der Unzufriedenheit der Klasse sind nicht überraschend. Zur Zeit der "Finanzkrise" haben wir geschrieben, dass es wahrscheinlich weniger Arbeitskämpfe geben wird, da es angesichts von Fabrikschließungen und rasch steigender Arbeitslosigkeit schwieriger ist, in den Streik zu treten. In diesem Sinne ist der gegenwärtige Zeitpunkt der wirtschaftlichen Expansion und des Arbeitskräftemangels für die Arbeiter_innen viel günstiger, um ihre Forderungen durchzusetzen. Es wäre falsch, darin erste Anzeichen des Beginns des Endes des weltweiten Rückgangs in Klassenkampf, Klassenidentität und Klassenbewusstsein nach dem sogenannten "Zusammenbruch des Kommunismus" 1989 zu sehen. Im Gegenteil, dieser Rückgang setzt sich nicht nur fort, sondern vertieft sich. Die Tatsache, dass in Spanien in den letzten Monaten Hunderttausende von Menschen, viele von ihnen Arbeiter_innen, hinter den Nationalflaggen Kataloniens oder Spaniens (oder von beiden!) auf die Straße gegangen sind, ist eine dramatische Bestätigung dafür.

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Ein weiteres Beispiel für die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Proletariats ist der Kampf gegen die Entlassungen bei Siemens. Proteste fanden unter anderem in Görlitz, Leipzig, Dessau und Berlin statt. Görlitz ist besonders betroffen, da Bombardier dort auch ein Werk geschlossen hat. Vor kurzem fand eine Demonstration mit 7000 Teilnehmern statt - die größte in der Stadt seit 1989. Seit einiger Zeit fordern die Arbeiter_innen dort, dass der Siemens-Chef Joe Kaeser persönlich erscheint, um ihre Fragen zu beantworten. Er war sehr zurückhaltend, aber als er schließlich kam, sagte er, er sei "angenehm überrascht", dass "seine Mitarbeiter" keineswegs unrealistische Forderungen wie die Fortsetzung der Produktion von Gasturbinen, die niemand kaufen wird, aufwerfen würden. Stattdessen versuchten sie ihn davon zu überzeugen, wie wertvoll sie für Siemens aufgrund ihrer Erfahrung, ihres Könnens und ihrer "Motivation" sein können. Er verkündete, wie "tief beeindruckt" er von ihren Argumenten gewesen sei, und versprach, alle Möglichkeiten zu prüfen, die "Görlitz helfen" könnten. Wie viel Wert seine Versprechungen haben, zeigte sich bald darauf in Davos, wo er neben Donald Trump die Entwicklung der nächsten Generation von Siemens-Gasturbinen in den USA ankündigte. Siemens hat im vergangenen Jahr einen Gewinn von 6,2 Milliarden Euro erzielt. Neben dem Abbau von 4000 Arbeitsplätzen in diesem Jahr will Siemens in Deutschland 10.000 neue schaffen. Wer weiß, vielleicht gehen einige dieser Jobs sogar nach Görlitz. Aber was diese ganze Tragikomödie vor allem illustriert, ist das gegenwärtige Dilemma des Proletariats. Ohne die geringste Hoffnung, den Kapitalismus in Frage stellen zu können, wird es für die "wirtschaftlichen" Kämpfe gegen Ausbeutung schwieriger, sich zu entwickeln und vor allem auf einem Klassengelände zu bleiben, um die Fallstricke einer bürgerlichen Politisierung zu vermeiden. Die Situation erfordert daher eine proletarische Politisierung der Arbeiterkämpfe. Um den gegenwärtigen Rückzug des Proletariats zu stoppen, ist auch eine Entwicklung der politischen und theoretischen Dimensionen seines Kampfes erforderlich.

Weltrevolution, 01.02.2018


[1] Den vollständigen Bericht stellen wir so bald als möglich auf unsere Webseite de.internationalism.org

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Weltrevolution Nr. 182

„Schwarzer Block“: Der Kampf der Arbeiterklasse braucht keine Vermummung

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Im Juli 2017 trafen sich in Hamburg die höchsten Repräsentanten der Herrschenden aus 20 Staaten. Geschützt von mehr als 30.000 Polizisten aus vielen Teilnehmerländern, mit einem Kostenaufwand von ca. 130 Millionen Euro stritten die Vertreter der Herrschenden um gemeinsame Schritte gegen Terrorismus, äußerten ihre Ablehnung der angekündigten protektionistischen Maßnahmen von Trump und dessen Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen. Wir wissen, dass seitdem sowohl der internationale Handelskrieg heftiger entbrannt, die Klimafolgen 2018 dramatischer denn je geworden sind, und der Kampf gegen den Terrorismus durch die imperialistischen Rivalen die Gewaltspirale nicht eingedämmt hat. Kurzum, die Führer der G20 können die Widersprüche und Gegensätze nicht lösen und überwinden; sie selbst sind Teil des Problems, und um diese Widersprüche und Gegensätze zu überwinden muss das System selbst überwunden werden.

Gegen diese Veranstaltung mit der größten Polizeimobilisierung brachten Zehntausende ihre Wut und ihre Abscheu zum Ausdruck. Überschattet aber wurden diese Proteste durch die Brandstiftungen und Plünderungen durch eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Randalierern, welche auf die Provokationen des Polizeiapparates, der nur nach gewaltsamen Auseinandersetzung lechzte, hineinfielen und nach ihren Gewaltorgien von der vollen Wucht der staatlichen Repression  getroffen wurden, u.a. durch die europaweite  intensive Fahndung nach beteiligten Gewalttätern.  Durch das Auftreten und den medialen Fokus auf den Schwarzen Block und andere Randalierer soll der Eindruck vermittelt werden, diese Aktionen seien die einzig möglichen. Wir öffentlichen nachfolgenden einen Artikel unserer Sektion in Frankreich, der sich mit diesem Phänomen in Frankreich befasst, um zu zeigen, dass es sich um ein internationales Phänomen handelt, das überall eine Gefahr für diejenigen darstellt, die aufrichtig gegen dieses System ankämpfen wollen.

Weltrevolution, Juli 2018

„Schwarzer Block“: Der Kampf der Arbeiterklasse braucht keine Vermummung

1200 „vermummte und maskierte Personen“, schwarz gekleidet, randalierend, plündernd, Einrichtungsgegenstände auf den Straßen zerschlagend, Geschäfte demolierend, gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei: dieses Bild prägte die Kundgebungen des 1. Mai in Paris. Presse, Politiker, Gewerkschaften, Soziologen, jeder von ihnen bot seine Analyse, seine Verurteilung der Gewalt, und einen Versuch, diese schwarzen Blöcke zu „verstehen“: „Schläger“ und „grundlose Gewalt“ für die einen, „Kämpfer“ und „Taktiken des Kampfes“ gegen den Kapitalismus für die anderen.

Ein Ausdruck des Zerfalls

Diese Bewegung ist nicht neu: Der Ursprung der schwarzen Blöcke ist Ende der 1980er Jahre zu suchen, als die West-Berliner Polizei den Ausdruck ‚schwarzer Block‘ einführte, um bestimmte linksextreme Demonstranten zu bezeichnen, die Kapuzen tragen und mit Stöcken bewaffnet sind, die ihrerseits von der in den 1960er Jahren in Italien geborenen Autonomia-Bewegung inspiriert wurden. Ihre spektakulären Aktionen wiederholten sich 1999 in Seattle gegen die Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO)  im Juli 2001 in Genua, in friedlichen Märschen der G8-Gegner  in Straßburg, im Jahr 2009, am Rande der Feiern zum 60-jährigen Bestehen der NATO; im Oktober 2011 in Rom, während der Proteste der Indignados gegen die Krise und das Finanzkapital;  im Februar 2014 bei den Gegnern des Flughafenbaus Notre-Dame in Frankreich; im Juli 2017 in Hamburg beim G20; anlässlich der Demonstrationen gegen das „Arbeitsgesetz“ in Frankreich im selben Jahr...

Die schwarze Blockbewegung behauptet, sich dem Kapitalismus, den Regierungen, den Polizeikräften und der Globalisierung entgegenzustellen und lehnt die klassischen politischen Aktivitäten der Linken oder extremen Linken ab, wie ihre anarchistischen Parolen es ausdrücken: „Marx attack“, „Unter dem Pflaster der Strand“! (ein Slogan aus der Zeit des Mai 68), „Nieder mit dem Hess!“ (Elend, auf Arabisch). Sie sagen, „kaputtzuschlagen“ bedeutet, das Geld zurückzuerobern, das multinationale Konzerne dem Volk stehlen, Versicherungen, Privatisierungsagenturen, steinreiche Eigentümer und alle anderen blechen lassen, die den Reichtum monopolisieren, und die von ihnen geschaffenen Ungleichheiten zu bekämpfen“ (Auszug aus einem am 1. Mai verteilten Flugblatt).

Die Methoden des Schwarzen Blocks, die von winzigen Gruppen angezettelten Zusammenstöße mit der Polizei und das Kaputtschlagen bieten in Wirklichkeit keine echte Perspektive und keine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft. Tatsächlich sind sie ein Teil des Fäulnisprozesses des Kapitalismus, in der unmittelbares, nihilistisches und zerstörerisches Handeln Vorrang vor jeder langfristigen politischen Vision hat, die sich auf geschichtliche Erfahrungen und die wirklich bewusste Inangriffnahme und Durchführung eines revolutionären Projekts durch die Arbeiterklasse stützt.

Kaputtzuschlagen, zu zerstören, die Vergangenheit über Bord zu werfen, all dies ist das Gegenteil des Kampfes des Proletariats für eine andere Welt, die sich im Gegenteil bewusst auf die Geschichte und das Beste aus der Erfahrung der ganzen Menschheit stützt. Diese Handlungsweisen des Schwarzen Blocks, diese „berauschenden“ Abenteuer sollen „heroisch und vorbildlich“ sein und die kollektiven Formen des Kampfes des Proletariats verachten. Diese individualistischen, rein durch den Willen angetriebenen, durch Ungeduld geprägten Revolten sind nur Ausdruck des Gewichts der kleinbürgerlichen Gesellschaftsschichten ohne Zukunft. Sie richten sich nicht gegen das kapitalistische Weltsystem, sondern nur gegen die gröbsten Formen und Symbole dieses Systems in Form einer ‚Abrechnung‘, der Rache frustrierter kleiner Minderheiten und nicht einer revolutionären Konfrontation einer Klasse mit der anderen. Die Zerstörung einer Bushaltestelle, eines Fastfood-Ladens oder der Fenster einer Bank hat den Kapitalismus weder finanziell noch ideologisch geschwächt. Dies dient noch weniger dazu, „gestohlenes Geld von den multinationalen Konzernen zurückzuerobern“: Die Proletarier werden nur noch mehr bestraft, um für die sinnlos zerstörten städtischen Einrichtungen zu zahlen! Die schwarzen Blöcke haben daher keinerlei positiven Auswirkungen auf den Kampf des Proletariats und führen im Gegenteil nur zu den schlimmsten Illusionen der jungen Arbeitergeneration über die Möglichkeit, einen vermeintlich anderen, schnelleren und einfacheren Weg als den des Klassenkampfes einzuschlagen.

Tatsächlich sind schwarze Blöcke sogar ein beliebtes Feld für gezieltes Vorgehen von Bullen und dem Staat im allgemeinen gegen dieses Milieu. Ihre aufsehenerregenden und gewalttätigen Aktionen werden von der herrschenden Klasse geschickt ausgenutzt, um die polizeilichen Kontrollen, Überwachung und Unterdrückung zu verstärken. Diese kleinen Gruppen sind selbst regelmäßig Opfer der Unterwanderung durch Polizeispitzel, die noch mehr Menschen in ihren Reihen anstiften, um soviel wie möglich zu zerschlagen und die Wut in sinnlosen Zusammenstößen verpuffen zu lassen. Warum? Die herrschende Klasse ist sich vollkommen bewusst, dass diese Art von Aktionen ihr System stärkt, indem sie Angst schürt, Unterdrückung legitimiert, vom Kampf abschreckt, der „nur dazu dient, kaputtzuschlagen und nicht aufzubauen“, zu spalten und noch mehr zu verhindern, dass über die Bedürfnisse der Einheit des proletarischen Kampfes nachgedacht wird. Wenn am Ende einer Demonstration nicht die kämpferischsten und bewusstesten Arbeiter zusammenkommen, um beispielsweise über die gerade stattgefundene Bewegung, die Sinnlosigkeit der von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Aktionen, den Aufbau von Verbindungen und die Fortsetzung von Denkprozessen in Diskussionsgruppen und über sinnvolle Aktionen zu diskutieren, wenn stattdessen Demonstranten vor der prügelnden Polizei fliehen, kann sich der Staat nur freuen! Zynisch erklärte der französische Innenminister Collomb, die Demonstranten hätten diese auf Gewalt erpichten Elemente „nicht kontrollieren“ können, ihnen freien Lauf gelassen anstatt sie unter „Kontrolle“ zu haben.

So wurden viele Demonstranten dazu gedrängt, sich auf die Seite der Gewerkschaften und den Ordnungsdienst der Gewerkschaft CGT zu stellen. Die Aktion der Schwarzen Blöcke trägt darüber hinaus zu wachsender politischer Verwirrung bei: Früher als Linke, Libertäre, Anarchisten, „Globalisierungsgegner“ dargestellt, werden sie heute als Ausdruck der „Linksradikalen“ eingestuft, ein Ausdruck, der mitunter auch zur Bezeichnung der Kommunistischen Linken verwendet wird.

Wir wissen, wie sehr dem Staat daran liegt, alles mögliche in einen Topf zu schmeißen um die Repression besser vorzubereiten. Dies trifft heute zu für die Verstärkung der polizeilichen Maßnahmen und der gewerkschaftlichen Überwachung der Arbeiter, um sie „vor Gewalt zu schützen“, vor allem wird dies noch wichtiger für die Zukunft, wenn der Klassenkampf die Macht der Herrschenden wirklich schwächen wird. Die „Radikalität“ der schwarzen Blöcke nimmt daher in keiner Weise am Prozess der Reifung des proletarischen Bewusstseins für die Revolution teil. Es gibt nichts Revolutionäres an deren „Programm“, weder in ihren Aktionen, noch in deren Parolen, noch in deren Zielen. Auch wenn es den Neoanarchisten nicht gefällt, die glauben, dass „die Verurteilung der schwarzen Blöcke bedeutet, die Vertreter der Macht zu stützen“ (Dissent, 15. Juni 2007), sind es die schwarzen Blöcke und ihre Anhänger, die in Wirklichkeit die Macht des Kapitals eher stützen, als sie zu schwächen.

Nur das Proletariat und seine Kampfmethoden bieten eine Perspektive

Wenn Politologen auf zynische Weise feststellen, dass „der schwarze Block die Stimmung prägt  und in der Demonstration eine Stimmung des Zusammenhalts schafft“, dass sie „den Kapitalismus nicht stürzen werden“ und „der Aufstand mag erheiternd sein, aber es ist keine Revolution....“, stellen sie eine falsche Kontinuität zwischen der Bewegung der Indignados in Spanien, Occupy in den Vereinigten Staaten und dem arabischen Frühling mit der blinden Aktion der schwarzen Blöcke her. Dies ist echt irreführend, denn diese Protestbewegungen wurden durch ständiges Nachdenken und Diskussion, durch Solidarität  bei großen Versammlungen vorwärtsgetrieben. So auch während des Anti-CPE-Kampfes in Frankreich im Jahr 2006, als die junge Studentengeneration die offene Konfrontation mit den Bullen ablehnte und sich für die Abhaltung von Vollversammlungen, politische Diskussionen und Konfrontationen einsetzte, die Ausweitung der Bewegung und den Zusammenschluss zwischen den Generationen bei den Demonstrationen anstrebte und für alle offen war. All das bewegte sich, wenn auch noch zögernd, abtastend und konfus in Richtung der historischen Formen des Kampfes des Proletariats gegen den Kapitalismus. Der Sturz des Kapitalismus wird durch den Klassenkampf verwirklicht werden, indem er durch eine aktive Beteiligung der Mehrheit der Arbeiter getragen wird, bei dem eine Klassengewalt ganz anderer Art als die der schwarzen Blöcke angewandt wird: massiv und bewusst, einheitlich und organisiert, emanzipatorisch. Sie wird ein Teil sein bei der Machtergreifung der arbeitenden Massen für eine weltweite Revolution.

Stopio, 18. Juni 2018

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Weltrevolution Nr. 182

Den Mai verstehen (Nachdruck aus Revolution Internationale Nr. 2, 1969)

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Die Ereignisse vom Mai 1968 haben eine außergewöhnliche Fülle literarischer Aktivitäten hervorgebracht. Bücher, Broschüren und Anthologien aller Art sind in beeindruckender Anzahl erschienen. Die Verleger - immer auf der Suche nach modischen „ Spielereien“ - sind übereinander gestolpert, um das immense Interesse der Massen für alles zu nutzen, was mit diesen Ereignissen zu tun hat. Und sie hatten keine Schwierigkeiten, zahlreiche Journalisten, Fotografen, PR-Experten, Professoren, Intellektuelle, Künstler und Literaten zu finden. Wie jeder weiß, wimmelt es in diesem Land von ihnen, und sie sind immer bereit, ein gutes kommerzielles Thema aufzugreifen.

Diese ganze hektische Wiederbelebung lässt einen kotzen wollen

Aber unter der Masse der Kämpfer des Mais ist das Interesse, das während des Kampfes geweckt wurde, nicht mit den Straßenkämpfen zu Ende gegangen. Im Gegenteil, es ist stärker denn je geworden. Forschung, Konfrontationen, Diskussionen gehen weiter. Die Massen waren nicht nur Zuschauer oder einmalige Rebellen. Sie befanden sich plötzlich in einem Kampf von historischer Dimension, und nachdem sie sich von ihrem eigenen Erstaunen erholt hatten, konnten sie nicht umhin, nach den grundlegenden Wurzeln dieser sozialen Explosion zu suchen, die ihre eigene Arbeit war, und nach den Perspektiven, die diese Explosion sowohl kurzfristig als auch in ferner Zukunft eröffnet hat. Die Massen versuchen zu verstehen, sich ihrer eigenen Aktivität bewusst zu werden.

Deshalb finden wir in der Masse der über den Mai geschriebenen Bücher nur selten ein Spiegelbild der Unruhe und der Befragung unter den Menschen. Diese finden sich eher in kleinen Publikationen, in oft kurzlebigen Rezensionen, in den kopierten Flugblättern und Schriften von Gruppen aller Art oder von regionalen Kampfkomitees und Kampfkomitees der Fabriken, die den Mai überlebt haben, in ihren Sitzungen und durch Diskussionen, die unweigerlich verwirrt sind. Doch trotz dieser Verwirrung wird ernsthaft daran gearbeitet, die durch den Mai aufgeworfenen Probleme zu klären.

Nach einigen Monaten des Schweigens, die wahrscheinlich der Ausarbeitung ihrer Arbeit gewidmet waren, hat sich die Gruppe Situationistische Internationale[1] mit einem Buch mit dem Titel „Enragés[2] et Situationnistes dans le mouvement des occupations“ (Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen) in diese Debatte eingeschaltet.

Von einer Gruppe, die tatsächlich aktiv am Kampf teilgenommen hat, konnten wir zu Recht einen tiefgreifenden Beitrag zur Analyse der Bedeutung des Mai erwarten, vor allem im Nachhinein. Wir hatten das Recht, Forderungen an dieses Buch zu stellen, aber es hält nicht, was es verspricht. Abgesehen von ihrem eigenen speziellen Vokabular („Gesellschaft des Spektakels“, Konsumismus, „Kritik des täglichen Lebens“ usw.) können wir nur bedauern, dass die Situationisten der Mode des Tages nachgegeben und ihr Buch mit Fotos, Bildern und Comics gefüllt haben.

Man kann von Comics als Mittel der revolutionären Propaganda und Agitation denken, was man will. Und wir wissen, dass die Situationisten eine besondere Vorliebe für Comics und Sprechblasen als Ausdrucksmittel haben. Sie behaupten sogar, in der Technik des „détournement“ (der Zweckentfremdung[3]) die moderne Waffe der subversiven Propaganda entdeckt zu haben, und sehen dies als Zeichen ihrer Überlegenheit gegenüber anderen Gruppen, die sich an die „veralteten“ Methoden der „traditionellen“ revolutionären Presse, an „langweilige“ Artikel und an kopierte Flugblätter gehalten haben.

In der Beobachtung, dass die Artikel in der Presse vieler kleiner Gruppen oft repetitiv, lang und langweilig sind, liegt sicherlich etwas Wahres. Dies sollte jedoch kein Argument dafür sein, sich darüber lustig zu machen. Der Kapitalismus entdeckt ständig alle möglichen Arten von „kulturellen“ Aktivitäten, organisierte Freizeit und vor allem Sport für die Jugend. Es geht dabei nicht nur um den Inhalt, sondern auch um eine sehr bestimmte „Zweckentfremdung“ – mit dem Ziel, junge Arbeiter vom Nachdenken abzuhalten.

Die Arbeiterklasse muss nicht unterhalten werden. Sie muss vor allem verstehen und denken. Comics, Witze und Wortspiele nützen wenig, vor allem, wenn dies in einer philosophischen Sprache (voll von obskuren, verworrenen und esoterischen Begriffen) geschieht, die den „intellektuellen Denkern“ vorbehalten ist, während die große infantile Masse der Arbeiter mit ein paar Bildern und einfachen Schlagworten abgespiesen wird.

Wenn man das „Spektakuläre“ überall anprangert, muss man darauf achten, nicht selbst dem Spektakel zu verfallen. Leider ist es genau das, was dieses Buch zum Mai tut. Ein weiteres Merkmal dieses Buches ist die Tendenz, die Ereignisse Tag für Tag zu beschreiben, wo eine Analyse erforderlich wäre, die Ereignisse in ihren historischen Kontext zu stellen und ihre grundlegende Bedeutung hervorzuheben. Darüber hinaus werden weniger die Ereignisse selbst als vielmehr die Aktionen der Wütenden und Situationisten beschrieben, wie wir es dem Titel entnehmen können. Die absurde Übertreibung der Rolle, die diese oder jene „Persönlichkeit“ unter den Wütenden spielt, das Selbstlob erwecken den Eindruck, dass nicht die Situationisten an der Besetzungsbewegung teilnahmen, sondern dass die Mai-Bewegung nur dazu gedacht war, die großen revolutionären Qualitäten der Situationisten und Wütenden hervorzuheben. Jeder, der den Mai nicht erlebt hat, würde durch dieses Buch eine sehr merkwürdige Vorstellung davon bekommen. Wenn man ihnen zuhört, könnte man meinen, dass die Situationisten von Anfang an eine dominierende Rolle in den Ereignissen gespielt haben. Das zeugt von großer Phantasie und der Illusion, „seine Sehnsüchte für die Wirklichkeit zu halten“. Tatsächlich war der Anteil der Situationisten an den Ereignissen wahrscheinlich geringer und sicherlich nicht größer als der vieler anderer Gruppen. Anstatt das Verhalten, die Ideen und Positionen anderer Gruppen zu kritisieren – was interessant gewesen wäre, was sie aber nicht tun –, reden sie sie einfach klein (siehe auf den Seiten 179 bis 181, wie herablassend und oberflächlich sie die anderen „rätistischen“ Gruppen „kritisieren“) oder ignorieren sie. Das ist ein ziemlich zweifelhaftes Mittel, um die eigene Größe herauszustellen, und bringt uns nicht sehr weit.

Das Buch (oder was davon übrig ist, ohne die Comics, Fotos, Lieder, Graffiti und andere Reproduktionen) beginnt mit einer Beobachtung, die im Allgemeinen korrekt ist: Der Mai überraschte fast alle, insbesondere die revolutionären oder vermeintlich revolutionären Gruppen. Alle, außer natürlich die Situationisten, die „die Möglichkeit und den bevorstehenden Neuanfang der Revolution kannten und aufzeigten“. Für die situationistische Gruppe war dank „der revolutionären Kritik, die der praktischen Bewegung ihre eigene Theorie zurückgibt, die sie aus sich hergeleitet und zur Kohärenz geführt hat, sicherlich nichts besser voraussehbar, nichts klarer vorhergesehen als die neue Ära des Klassenkampfes ...“.

Es gibt kein Gesetz gegen Überheblichkeit – sie ist vielmehr eine weit verbreitete Manie innerhalb der revolutionären Bewegung, besonders seit dem Triumph des „Leninismus“, darin sticht die Strömung der Bordigisten hervor. Wir werden den Situationisten diesen Anspruch nicht streitig machen, sondern ihn einfach zur Kenntnis nehmen, indem wir mit den Schultern zucken und versuchen herauszufinden: Wo und wann und auf welcher Grundlage, aufgrund welcher Daten haben die Situationisten die Ereignisse vom Mai vorhergesagt? Wenn sie sagen, sie hätten „die aktuelle Explosion und ihre Folgen seit Jahren sehr genau vorausgesagt“, verwechseln sie offensichtlich eine allgemeine Aussage mit einer genauen Analyse des Augenblicks. Seit mehr als 150 Jahren, seit es eine revolutionäre Bewegung des Proletariats gibt, gibt es die „Prognose“, dass eines Tages die revolutionäre Explosion unvermeidlich sein wird. Für eine Gruppe, die behauptet, nicht nur eine kohärente Theorie zu haben, sondern auch „ihre revolutionäre Kritik in die Praxis zurückzubringen“, ist eine solche Vorhersage weitgehend unzureichend. Um nicht nur ein rhetorischer Satz zu bleiben, muss „die Rückkehr der revolutionären Kritik zur praktischen Bewegung“ eine Analyse der konkreten Situation, ihrer Grenzen und ihrer realen Möglichkeiten bedeuten. Die Situationisten haben eine solche Analyse vor dem Mai nie gemacht, und nach diesem Buch zu urteilen, haben sie es danach auch nicht mehr getan: Wenn sie von einer neuen Periode erneuter revolutionärer Kämpfe sprechen, beziehen sie sich nirgends auf mehr denn auf abstrakte Allgemeingültigkeiten. Und selbst wenn sie sich auf die jüngsten Kämpfe beziehen, tun sie nie mehr, als eine empirische Tatsache zu beobachten. An sich geht diese Beobachtung nie über das Zeugnis der Kontinuität des Klassenkampfes hinaus und sagt nichts über seine Richtung aus, noch über seine Fähigkeit, sich in eine historische Periode revolutionärer Kämpfe, vor allem auf internationaler Ebene, zu öffnen, wie es eine sozialistische Revolution unbedingt sein muss. Selbst eine so gewaltige und wichtige revolutionäre Explosion wie die Pariser Kommune eröffnete keine revolutionäre Periode in der Geschichte, da ihr im Gegenteil eine lange Periode folgte, in der sich der Kapitalismus stabilisierte und blühte und sich die Arbeiterbewegung dem Reformismus zuwandte.

Wenn wir nicht den Anarchisten folgen wollen, die glauben, dass immer alles möglich ist, wenn es nur einen Willen dazu gibt, müssen wir verstehen, dass die Arbeiterbewegung nicht einer ständig steigenden Kurve folgt, sondern dass sie aus Perioden des steigenden und fallenden Kampfes besteht und in erster Linie durch den Entwicklungsgrad des kapitalistischen Systems und seine inhärenten Widersprüche objektiv bestimmt wird.

Die SI definiert die gegenwärtige Periode als „die gegenwärtige Rückkehr der Revolution“. Worauf basiert diese Definition? Hier ist die Erklärung:

1) „Die von der SI ausgearbeitete und verbreitete kritische Theorie zeigte leicht (....), dass das Proletariat nicht abgeschafft worden war“ (wie interessant, dass die SI „leicht“ etwas zeigt, was alle Arbeiter und Revolutionäre schon immer gewusst haben, ohne auf die SI warten zu müssen).

2) „... der Kapitalismus hat seine Entfremdungen weiter entwickelt“ (wer hätte das gedacht?)

3) „... wo immer dieser Antagonismus existiert (als ob dieser Antagonismus nicht im gesamten Kapitalismus existierte), bleibt die soziale Frage auch nach mehr als einem Jahrhundert bestehen“ (da haben wir eine Entdeckung!)

4) „... der Antagonismus existiert auf der gesamten Oberfläche des Planeten“ (eine weitere Entdeckung!).

5) „Die SI erklärt die Vertiefung und Konzentration dieser Entfremdungen durch die Verzögerung der Revolution“ (offensichtlich …).

6) „Diese Verzögerung entspringt eindeutig der internationalen Niederlage des Proletariats seit der russischen Konterrevolution“ (eine weitere Wahrheit, die Revolutionäre seit mindestens 40 Jahren verkünden).

7) Darüber hinaus „wusste die SI sehr wohl (....), dass die Emanzipation der Arbeiter immer und überall auf die bürokratischen Organisationen treffen würde“.

8) Die Situationisten stellen fest, dass die ständige Lüge, die für das Überleben dieser bürokratischen Maschinen notwendig ist, ein Eckpfeiler der allgemeinen Verblendung in der modernen Gesellschaft ist.

9) Schließlich „hatten sie auch die neuen Formen (?) der Subversion, deren erste Anzeichen sich bereits sammelten, erkannt und begonnen, mit ihnen zu arbeiten“.

10) Und deshalb „erkannten und bewiesen die Situationisten die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Neubeginns der Revolution“.

Wir haben diese langen Auszüge nachgedruckt, um so genau wie möglich und mit ihren eigenen Worten zu zeigen, was die Situationisten „wussten“.

Wie wir sehen können, kann dieses „Wissen“ auf Allgemeingültigkeiten reduziert werden, die seit Jahren Tausenden von Revolutionären bekannt sind, und obwohl diese Allgemeingültigkeiten ausreichen, um das revolutionäre Projekt zu bekräftigen, enthalten sie nichts, was als ein Beweis des „bevorstehenden Neubeginns der Revolution“ angesehen werden könnte. Die „Theorie“ der Situationisten kann somit auf ein reines Glaubensbekenntnis reduziert werden, mehr nicht.

Es ist so, dass die Sozialistische Revolution und ihre Notwendigkeit nicht aus einigen verbalen „Entdeckungen“ wie der Konsumgesellschaft, dem Spektakel, dem Alltag abgeleitet werden kann, die mit neuen Worten die bekannten Vorstellungen von der kapitalistischen Gesellschaft der Ausbeutung der arbeitenden Massen bezeichnen, mit allem, was dies in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit sich bringt, von Deformationen und menschlichen Entfremdungen.

Selbst wenn wir vor einem Neuanfang der Revolution stehen, wie erklärt die SI, dass wir seit dem Sieg der Russischen Revolution genau diese Zeitspanne - sagen wir, 50 Jahre - warten mussten. Warum nicht 30 Jahre oder 70? Man kann nicht beides haben: Entweder wird diese Erholung grundsätzlich von objektiven Bedingungen bestimmt, und in diesem Fall muss erklärt werden, welche - was die SI nie tut - oder sie ist allein das Ergebnis eines sich anhäufenden subjektiven Willens, der sich eines schönen Tages zeigt, in welchem Fall sie nicht vorhergesagt werden konnte, weil es keine Kriterien zur Bestimmung ihres Reifegrades geben würde.

Unter diesen Bedingungen wäre die Vorhersage, auf die die SI so stolz ist, mehr das Werk eines Wahrsagers als das Ergebnis jeder Theorie. Als Trotzki 1936 schrieb: „Die Revolution beginnt in Frankreich“, irrte er sich sicherlich, aber diese Behauptung basierte auf einer insgesamt ernsthafteren Analyse als die der SI, da sie sich auf eine Wirtschaftskrise bezog, die die ganze Welt erschütterte. Die „richtige“ Vorhersage der SI ähnelt eher Molotows Einweihung der berühmten „dritten Periode“ der Kommunistischen Internationale zu Beginn des Jahres 1929 und verkündet die große Nachricht, dass die Welt gerade in die revolutionäre Periode eingetreten ist. Die Verwandtschaft zwischen den beiden besteht in der freien Natur ihrer jeweiligen Behauptungen - deren Untersuchung als Ausgangspunkt für jede Analyse über einen bestimmten Zeitraum unerlässlich ist. Molotow war der Meinung, dass die Wirtschaftskrise, deren Untersuchung in der Tat ein wichtiger Ausgangspunkt für jede Analyse eines bestimmten Zeitraums ist, ausreicht, um den revolutionären Charakter der Krise von 1929 zu bestimmen; deshalb dachte er, er könne die bevorstehende Revolution ankündigen. Die SI hingegen hält es für ausreichend, alles zu ignorieren, was nach einem objektiven Zustand riecht, woher ihre tiefe Abneigung gegen alles, was mit einer ökonomischen Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu tun hat.

Die ganze Aufmerksamkeit der SI ist also den offensichtlichsten Äußerungen sozialer Entfremdung gewidmet, und sie vernachlässigt den Blick auf die Quellen, die sie speisen. Wir bestehen erneut darauf, dass eine solche Kritik, die sich im Wesentlichen mit oberflächlichen Äußerungen befasst, egal wie radikal sie auch sein mag, sowohl in Theorie als auch in der Praxis begrenzt sein muss.

Der Kapitalismus produziert notwendigerweise seine eigenen Entfremdungen, und es ist nicht der Ausdruck dieser Entfremdungen, in denen wir nach dem Motor seines Untergangs suchen sollten. Solange der Kapitalismus an seinen Wurzeln ein lebensfähiges Wirtschaftssystem bleibt, kann er nicht allein durch Willenskraft zerstört werden.

„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist“ (Marx, Vorwort zu einer Kritik der politischen Ökonomie).

Eine radikale kritische Theorie muss die Wurzeln der kapitalistischen Gesellschaft betrachten, um die Möglichkeit ihres revolutionären Sturzes aufzudecken.

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen [...] Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ (Marx, idem).

Dieser Widerspruch, von dem Marx spricht, drückt sich in wirtschaftlichen Umwälzungen wie Krisen, imperialistischen Kriegen und sozialen Erschütterungen aus. Alle marxistischen Denker haben darauf bestanden, dass, um von einer revolutionären Periode zu sprechen, „es nicht genügt, dass die Arbeiter nicht mehr wollen, es ist immer noch notwendig, dass die Kapitalisten nicht weitermachen können wie bisher“. (Lenin). Und hier geht die SI, die behauptet, heute praktisch der einzige organisierte Ausdruck revolutionärer Praxis zu sein, genau in die entgegengesetzte Richtung. In den seltenen Fällen, in denen dieses Buch seine eigene Abneigung gegen wirtschaftliche Fragen überwindet, will es zeigen, dass der Neubeginn der Revolution nicht nur unabhängig von den wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft ist, sondern in einem wirtschaftlich florierenden Kapitalismus stattfindet. „Es war keine Tendenz zur Wirtschaftskrise zu beobachten [S. 25] ... Der revolutionäre Ausbruch kam nicht von der Wirtschaftskrise ... was im Mai frontal angegriffen wurde, war eine GUT funktionierende kapitalistische Wirtschaft“ (Hervorhebung im Original, S. 209).

Damit soll gezeigt werden, dass die revolutionäre Krise und der wirtschaftliche Zustand der Gesellschaft zwei verschiedene Dinge sind, die sich jeweils auf ihre eigene Art und Weise entwickeln können, ohne miteinander verwandt zu sein. Die SI glaubt, dass die Fakten diese „große Entdeckung“ unterstützen, und schreit deshalb triumphierend: „Keine Tendenz zur Wirtschaftskrise zu beobachten“!!

Überhaupt keine Tendenz? Wirklich?

Ende 1967 begann sich die wirtschaftliche Lage in Frankreich zu verschlechtern. Die Gefahr der Arbeitslosigkeit sorgte immer mehr für Besorgnis. Anfang 1968 stieg die Zahl der Arbeitslosen auf über 500.000. Es war kein lokales Phänomen mehr, sondern hatte alle Regionen erreicht. In Paris stieg die Zahl der Arbeitslosen langsam aber sicher. Die Presse war voll von Artikeln über die Angst vor Arbeitslosigkeit in verschiedenen Milieus. Kurzarbeit setzt sich in vielen Betrieben durch und provoziert Reaktionen bei den Arbeitern. Bei mehreren sporadischen Streiks geht es um die Aufrechterhaltung von Beschäftigung und Vollbeschäftigung aus unmittelbarem Anlass. Betroffen sind vor allem junge Menschen, die es nicht schaffen, sich in die Produktion zu integrieren. Die Beschäftigungskrise ist umso schlimmer, als diese Generation der demographischen Explosion, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzte, in den Arbeitsmarkt eintritt. Bei den Arbeitern und vor allem bei den Jugendlichen entwickelt sich ein Gefühl der Unsicherheit von morgen. Dieses Gefühl ist umso lebendiger, als es den Arbeitern in Frankreich seit dem Krieg praktisch unbekannt war.

Mit steigender Arbeitslosigkeit sanken auch die Löhne und Lebensbedingungen. Natürlich versuchten Regierung und Chefs, die Situation so gut wie möglich zu nutzen, um den Lebensstandard der Arbeiter anzugreifen (z.B. die Verordnungen über die soziale Sicherheit).

Mehr und mehr wächst in den Massen das Gefühl, dass die Zeit des Wohlstands zu Ende ist. Die Gleichgültigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Bourgeoisie in den letzten 10-15 Jahren so beklagt hat, weicht einer tiefen und wachsenden Angst.

Sicherlich ist es schwieriger, diese wachsende Angst und Unzufriedenheit unter den Arbeitern zu erkennen als spektakuläre Aktionen an einer Universitätsfakultät. Aber man kann sie nach der Mai-Explosion nicht weiter ignorieren, es sei denn, man glaubt, dass 10 Millionen Arbeiter eines schönen Tages plötzlich vom Heiligen Geist des Anti-Spektakels berührt wurden. Eine solche massive Explosion beruht auf einer langen Anhäufung echter Unzufriedenheit unter den Massen über ihre wirtschaftliche Situation und ihre Arbeitsbedingungen, auch wenn ein oberflächlicher Beobachter nichts davon sah. Auch können wir die wirtschaftlichen Forderungen des Streiks nicht allein auf die „politique canaille“ („Schurken-Politik“) der Gewerkschaften und der Stalinisten zurückführen.

Es liegt auf der Hand, dass die Gewerkschaften und die KPF (französische „Kommunistische Partei“) der Regierung zu Hilfe kamen, indem sie die wirtschaftlichen Forderungen in den Griff bekamen, um den Ausbruch des Streiks auf ein globales, soziales Terrain zu verhindern. Aber wir sprechen hier nicht über die Rolle dieser staatlichen Organismen, sie haben ihre Arbeit getan, und man kann ihnen kaum vorwerfen, dass sie es bis zum Äußersten getan haben. Aber die Tatsache, dass sie so leicht in der Lage waren, die riesige Masse der streikenden Arbeiter auf dem rein wirtschaftlichen Terrain zu halten, beweist, dass die Hauptanliegen der Massen, den Kampf aufzunehmen, die zunehmend bedrohliche wirtschaftliche Situation war. Während die Aufgabe der Revolutionäre darin besteht, die im Kampf der Massen enthaltenen radikalen Möglichkeiten aufzudecken und aktiv an ihrer Verwirklichung mitzuwirken, ist es vor allem notwendig, die unmittelbaren Anliegen, die die Massen in den Kampf getrieben haben, nicht zu ignorieren.

Trotz des proklamierten Selbstbewusstseins der Regierungskreise ist die Wirtschaft zunehmend beunruhigt über die wirtschaftliche Lage, wie wir zu Beginn des Jahres in der Finanzpresse gesehen haben. Was sie am meisten beunruhigt, ist nicht so sehr die Situation in Frankreich, dessen Position immer noch relativ privilegiert ist, sondern die Tatsache, dass sich die Wirtschaft in einem Kontext der weltweiten Wirtschaftsflaute verlangsamt, was sich in Frankreich nicht vermeiden lässt. In allen Industrieländern, sowohl in Europa als auch in den USA, steigt die Arbeitslosigkeit und die Konjunkturaussichten verschlechtern sich. Trotz einer ganzen Reihe von Maßnahmen war Großbritannien Ende 1967 gezwungen, das Pfund abzuwerten und andere Länder in seinen Sog zu ziehen. Die Regierung Wilson hat ein außergewöhnliches Sparprogramm angekündigt: Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, einschließlich Rüstung; Abzug der britischen Truppen aus Asien; Lohnstopp; Reduzierung des Inlandsverbrauchs und der Importe; Unterstützung der Exporte. Am 1. Januar 1968 schlug die Regierung Johnson (in den USA) Alarm und kündigte harte Maßnahmen an, um die Wirtschaft im Gleichgewicht zu halten. Im März kam die Dollar-Krise. Die Wirtschaftspresse wurde von Tag zu Tag pessimistischer und begann mehr und mehr vom Gespenst der Krise von 1929 zu sprechen; viele befürchteten, dass die Folgen diesmal noch schlimmer sein würden. Überall stiegen die Kreditzinsen, die Börsen fielen. In jedem Land gilt: Ausgaben und Konsum reduzieren, Exporte um jeden Preis steigern und Importe auf das absolute Minimum reduzieren. Die gleiche Verschlechterung zeigte sich auch im Ostblock, was die Tendenz von Ländern wie der Tschechoslowakei und Rumänien erklärt, sich vom sowjetischen Griff zu lösen und nach Märkten anderswo zu suchen.

Dies ist der wirtschaftliche Hintergrund für die Situation vor Mai.

Natürlich ist dies noch keine offene Wirtschaftskrise, erstens, weil wir erst am Anfang stehen, und zweitens, weil der Staat im heutigen Kapitalismus über ein ganzes Arsenal an Mitteln verfügt, um die markantesten Äußerungen der Krise zu verlangsamen und vorübergehend abzuschwächen. Dennoch ist es notwendig, die folgenden Punkte hervorzuheben:

a) Seit 20 Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg lebt der Kapitalismus auf der Grundlage des Wiederaufbaus einer vom Krieg verwüsteten Wirtschaft, der schamlosen Plünderung der unterentwickelten Länder, die durch den Schwindel der nationalen Befreiung und der Hilfe für den Aufbau unabhängiger Staaten bis zu dem Punkt ausgebeutet wurden, an dem sie zu verzweifelter Armut und Hungersnot reduziert werden, und einer wachsenden Rüstungsproduktion: der Kriegswirtschaft.

b) Diese drei Quellen des Wohlstands und der Vollbeschäftigung in den letzten 20 Jahren sind nahezu erschöpft. Der Produktionsapparat steht vor einem gesättigten Weltmarkt, und die kapitalistische Wirtschaft befindet sich in genau der gleichen Situation wie 1929, nur schlimmer noch.

c) Es besteht eine engere Wechselbeziehung zwischen den Volkswirtschaften als 1929, so dass etwaige Schwierigkeiten in einer Volkswirtschaft unmittelbarere und größere Auswirkungen auf die Wirtschaft anderer Länder haben.

d) Die Krise von 1929 brach nach einer Reihe schwerer Niederlagen für das internationale Proletariat aus: der Sieg der Konterrevolution in Russland vollendet mit der Mystifizierung des „Sozialismus in einem Land“ und dem Mythos des antifaschistischen Kampfes. Dank dieser besonderen historischen Bedingungen konnte sich die Krise von 1929, die nicht nur konjunktureller Natur war, sondern ein gewaltsamer Ausdruck der chronischen Krise des niedergehenden Kapitalismus, über Jahre hinweg entwickeln und schließlich zum Weltkrieg und zur allgemeinen Zerstörung führen. Das ist heute nicht der Fall.

Der Kapitalismus verfügt über immer weniger Themen der Mystifikation, die in der Lage sind, die Massen zu mobilisieren und zum Schlachten zu bringen. Der russische Mythos bricht zusammen; die falsche Wahl zwischen bürgerlicher Demokratie und Totalitarismus wird immer dünner. Unter diesen Bedingungen ist die Krise sofort erkennbar. Die ersten Symptome werden in allen Ländern immer heftigere Reaktionen der Massen hervorrufen. Weil die Wirtschaftskrise heute nicht ihren vollen Lauf nehmen kann, sondern sich sofort in eine soziale Krise verwandelt, mag sie einigen als unabhängig erscheinen, in der Luft schwebend, ohne Bezug zur wirtschaftlichen Situation, die dennoch ihre Grundlage ist.

Wenn wir diese Realität vollständig erfassen wollen, ist es natürlich nicht gut, sie naiv zu betrachten. Vor allem ist es sinnlos, nach einem engen Verhältnis von Ursache und Wirkung zu suchen, das lokal auf bestimmte Länder oder bestimmte Industriezweige beschränkt ist. Die Grundlagen dieser Realität und die Ursachen, die letztendlich ihre Entwicklung bestimmen, sind nur global, auf der Ebene der Weltwirtschaft zu finden. So gesehen offenbart die Bewegung der Studentenkämpfe in jeder Stadt der Welt ihre grundlegende Bedeutung, aber auch ihre Grenzen. Wenn die Studentenkämpfe im Mai als Zünder für die gewaltige Bewegung der Fabrikbesetzungen dienen konnten, dann deshalb, weil sie mit all ihren Besonderheiten nicht mehr als die Vorläufer einer sich verschlechternden Situation im Kern der Gesellschaft waren: in der Produktion und in den Beziehungen der Produktion.

Die volle Bedeutung des Mai '68 ist, dass es eine der wichtigsten Reaktionen der Masse der Arbeiter auf eine sich verschlechternde Weltwirtschaftslage war.

Daher ist es falsch zu sagen, wie der Autor dieses Buches, dass „die revolutionäre Umwälzung nicht aus der Wirtschaftskrise hervorgegangen ist; im Gegenteil, sie hat dazu beigetragen, eine Krisensituation in der Wirtschaft zu schaffen“ und dass „diese Wirtschaft, sobald sie durch die negativen Kräfte ihrer historischen Überwindung gestört wurde, weniger gut funktionieren muss“.

Das stellt die Realität auf den Kopf: Wirtschaftskrisen sind nicht mehr das unvermeidliche Produkt der dem kapitalistischen System innewohnenden Widersprüche, wie Marx uns sagt, sondern es sind die Arbeiter und ihr Kampf, die Krisen in einem System schaffen, das „gut funktioniert“. Genau das sagen uns die Bosse und kapitalistischen Apologeten immer wieder. Dies war das Thema von De Gaulle im November, als er die Krise des Francs auf das Wüten des Mai[4] zurückführte.

Dies läuft darauf hinaus, die marxistische Wirtschaftstheorie durch die politische Ökonomie der Bourgeoisie zu ersetzen. Kein Wunder, dass der Autor die immense Bewegung, die der Mai '68 war, als Werk einer kleinen, entschlossenen Minderheit erklärt, die er hervorhebt: „Die Agitation, die im Januar 1968 von den vier oder fünf Revolutionären, die die Gruppe der Wütenden bilden sollten, ausgelöst wurde, sollte in fünf Monaten zur virtuellen Auflösung des Staates führen. Später schreibt er: „Niemals hat eine Agitation, die von so wenigen unternommen wurde, in so kurzer Zeit zu solchen Konsequenzen geführt“.

Für die Situationisten stellt sich das Problem der Revolution in Form von „Führung“, wenn auch nur durch beispielhafte Handlungen. Für uns ist es eine spontane Bewegung der Massen des Proletariats, die gezwungen ist, sich gegen ein zerfallendes Wirtschaftssystem zu erheben, das nur noch zunehmendes Elend und Zerstörung sowie Ausbeutung bieten kann.

Auf diesem Granitfelsen gründen wir die revolutionäre Perspektive der Klasse und unsere Überzeugung von ihrer Leistung.

MC

[1] Die SI war eine Gruppe, die im Mai 68 vor allem in den radikalsten Bereichen des Studentenmilieus einen deutlichen Einfluss hatte. Sie fand ihre Quellen einerseits in der "lettristischen" Bewegung, die in der Kontinuität der Tradition der Surrealisten eine revolutionäre Kunstkritik betreiben wollte, und andererseits in der Bewegung der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (Sozialismus oder Barbarei), die Anfang der 1950er Jahre in Frankreich vom ehemaligen griechischen Trotzkisten Castoriadis gegründet wurde. Die SI berief sich also auf Marx, aber nicht auf den Marxismus. Sie nahm einige der fortschrittlichsten Positionen der revolutionären Arbeiterbewegung auf, insbesondere der deutsch-holländischen kommunistischen Linken (kapitalistischer Charakter der UdSSR, Ablehnung von Gewerkschafts- und Parlamentsformen, Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch die Arbeiterräte), stellte sie aber als ihre eigenen Entdeckungen dar, die sie in ihre Analyse des Phänomens des Totalitarismus verpackte – in die Theorie der "Gesellschaft des Spektakels". Die SI verkörperte sicherlich einen Höhepunkt, den Teile des radikalisierten studentischen Kleinbürgertums erreichen konnten: die Ablehnung ihres Zustandes ("Ende der Universität") in dem Versuch, sich in die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu integrieren. Aber ihr Anschluss blieb von den Wesenszügen ihrer Herkunft geprägt, insbesondere von ihrem verklärten Geschichtsbild, das die Bedeutung der Wirtschaft und damit die Realität des Klassenkampfes nicht begriff. Die Zeitschrift der SI verschwand kurz nach 1968, und die Gruppe endete in einer Reihe von gegenseitigen Ausschlüssen.

[2] „Enragés“ bedeutet auf Französisch wörtlich "die Wütenden". Das französische Original der Broschüre findet sich hier: https://www.lautre.net/ [2] , einige Auszüge in Deutsch hier: https://www.geocities.ws/situ1968/parismai68.html [3]

[3] „Détournement“ ist ein Begriff, der den Situationisten teuer ist und der nur schwer ins Deutsche übersetzt werden kann (die häufigste Übersetzung ist „Zweckentfremdung“, siehe wikipedia). Kurz gesagt, es bezog sich auf eine populäre situationistische Technik, Produkte der kapitalistischen Medien (Werbung, Comics, etc.) zu nehmen und „gegen sie zu wenden“ („Umwendung“), was sie als „Gesellschaft des Spektakels“ bezeichneten.

[4] Wir verweisen diejenigen, die die Novemberkrise des Francs auf Spekulationen einiger „schlechter Franzosen“ zurückführen wollen, auf diese Zeilen von Marx:

„Die Krise selbst bricht zuerst aus auf dem Gebiet der Spekulation und bemächtigt sich erst später der Produktion. Nicht die Überproduktion, sondern die Überspekulation, die selbst nur ein Symptom der Überproduktion ist, erscheint daher der oberflächlichen Betrachtung als Ursache der Krise. Die spätere Zerrüttung der Produktion erscheint nicht als notwendiges Resultat ihrer eignen vorhergegangenen Exuberanz, sondern als bloßer Rückschlag der zusammenbrechenden Spekulation.“

www.mlwerke.de/me/me07/me07_421.htm [4]

Karl Marx/Friedrich Engels, Revue, Mai bis Oktober [1850]

„Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue“, Fünftes und Sechstes Heft, Mai bis Oktober 1850. MEW 7, Seite 421

 

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Weltrevolution Nr. 182

Die Schwächen der IKP in der Frage des Populismus (Teil I)

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Die Internationale Kommunistische Partei (IKP) hat in der 523. Ausgabe ihrer Zeitung Le Prolétaire vom Februar/März/April 2017 einen Artikel veröffentlicht: Populismus – ihr sagtet: Populismus? In diesem Artikel untersucht sie das Phänomen des Populismus und sein gegenwärtiges Anwachsen. Auf der Grundlage dieser Untersuchung kritisiert sie die Analyse der IKS zu diesem Phänomen. Der erste Teil unserer Antwort auf diese Polemik wird sich auf die Elemente der Analyse konzentrieren, die von der IKP verwendet werden. Ziel ist es, ihre Fähigkeit zu bewerten, das Phänomen des Populismus zu erklären.

Wir müssen jedoch zunächst einmal sagen, dass die IKP durch ihre Positionen auf dem Boden eines proletarischen Standpunktes steht. Damit zeigt sie, dass sie sich immer noch im Lager des Proletariats befindet und die Positionen der Kommunistischen Linken weltweit verteidigt.

Was ist Populismus laut der IKP?

Die Genossen der IKP stellen richtigerweise fest:

- dass die anderen Parteien der Bourgeoisie den Populismus ideologisch nutzen, um die Proletarier mit Hilfe der Mystifizierung der „Verteidigung der Demokratie“ auf das Terrain der Wahlen zu treiben. Wir stimmen also mit der IKP darin überein, dass die künstliche und falsche Gegenüberstellung von Populismus und Antipopulismus eine ideologische Falle ist, die den Interessen der Bourgeoisie dient.

- dass die größte Gefahr für die Arbeiterklasse nicht die extreme Rechte darstellt, sondern die Linke des politischen Apparats der Bourgeoisie: Der Populismus „kann jedoch nicht die unendlich mächtigere konterrevolutionäre Rolle ersetzen, die der klassische Reformismus spielt (wie die IKP die Parteien der Linken bezeichnet), der in der Arbeiterklasse fest verankert ist und sie somit lähmt“. Die Genossen sind sich ebenso klar über den Antifaschismus, was sie vollständig von den Positionen der extremen Linken des Kapitals unterscheidet. Sie haben den Aufruf zur Wahl von Chirac im Jahr 2002 unmissverständlich verurteilt und bei den letzten Wahlen erneut den Parlamentarismus und die demokratischen Mystifikationen angeprangert.1

Zudem betont Le Prolétaire zu Recht, dass Demagogie keineswegs eine Besonderheit des Populismus ist. Dasselbe gilt für Wahlversprechen. Wir teilen zweifellos den gleichen proletarischen Standpunkt.

Aber was ist die Analyse der IKP über den Populismus?  Vor allem versichert sie uns, dass er kleinbürgerlicher Natur ist. Um dies zu untermauern, beruft sie sich auf ein Zitat von Marx aus Der 18. Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte: „Man muss sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, dass die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann.“ Diese allgemeine Charakterisierung des Kleinbürgertums bleibt vollkommen gültig, aber welche Beziehung hat das Kleinbürgertum zum Milliardär Trump, zu den Befürwortern von Brexit? Dies scheint uns absolut unklar. Eine solch allgemeine Charakterisierung erklärt nichts über die gegenwärtige Situation.

Das einzige historische Element in ihrem Artikel ist der Hinweis auf den Populismus Russlands im 19. Jahrhundert. Aber auch hier sehen wir keine Verbindung zwischen dem Populismus im Russland des 19. Jahrhunderts (Beziehungen zwischen der intellektuellen Kleinbourgeoisie und der Bauernschaft, die Methoden dieser Kleinbourgeoisie der damaligen Zeit, die sich an individuellem Handeln und Terrorismus orientierten) zur Gegenwart. Anstatt dass die IKP sich auf Trump, die Tea Party oder die Strömungen der heutigen extremen Rechten (den Front Nationale und andere rechtsextreme Populisten in Europa) bezieht, redet sie über den Populismus „im Allgemeinen“. Und zwar indem sie ohne zu unterscheiden Kraut und Rüben in den gleichen „kleinbürgerlichen“ Topf wirft: den Populismus der heutigen extremen Rechten (Trump, Le Pen und die Verfechter von Brexit) und die eifrigen Propagandisten bürgerlich-demokratischer Mystifikationen („Demokratie jetzt“ in Spanien oder die Globalisierungskritiker) wie auch authentische Reaktionen der Arbeiterklasse, die aber zweifellos noch von Illusionen in die Demokratie beeinflusst sind, wie beispielsweise die Occupy-Bewegung oder die Indignados …

Was kann man aus einer solchen Verwirrung für Schlüsse ziehen, die den Populismus mit dem Kleinbürgertum gleichsetzt und versucht, schematisch eine Analyse der Realität zu stricken, die alles aufspürt, was sie für die Ideologie der Kleinbourgeoisie hält? Nichts! Man kann lediglich feststellen, dass auf diese Art und Weise keine Analyse des Phänomens des Populismus und seiner historischen Entwicklung möglich ist, die helfen könnte, die gegenwärtige Situation zu verstehen.

Indem Le Prolétaire eine Analyse des Populismus durch eine Reihe von vorgefertigten Schemata ersetzt, lässt er sich lediglich in die Irre leiten und stellt zweifelhafte Behauptungen auf, die von der Realität völlig losgelöst sind. Das ist der Fall, wenn er von einer „Arbeiteraristokratie“ spricht, um den Einfluss populistischer Ideen in den Reihen der Arbeiter zu erklären. Diese von Engels aufgestellte und von Lenin aufgegriffene „Theorie“, die versuchte, die Verbreitung der bürgerlichen Ideologie (nicht speziell die der Kleinbourgeoisie) in den Reihen der Arbeiter zu erklären, war schon damals ein Fehler. Außerdem sind die erfahrensten Arbeiter, welche die besten Lebens- und Arbeitsbedingungen mit den höchsten Löhnen haben, nicht die, welche der gegenwärtigen populistischen Ideologie am meisten zugeneigt sind. Die Realität sieht anders aus: Die am stärksten von Krise und Arbeitslosigkeit in den verarmten und heruntergekommenen Regionen Betroffenen (im ehemaligen Bergbaugebiet im Norden Frankreichs oder in den alten stahlverarbeitenden Bastionen Lothringens, wo der FN einen Durchbruch bei den Wahlen erzielt hat), sind am empfänglichsten für die Ideen des Populismus. Die Realität widerspricht der absurden These der IKP über das Gewicht einer „Arbeiteraristokratie“ in der Frage des heutigen Populismus.2

Eine schematische Sicht auf eine Bourgeoisie ohne Widersprüche

Le Prolétaire sieht den Populismus also als eine Art rationale und mechanische Abwehrreaktion der Schichten der Kleinbourgeoisie zugunsten ihrer besonderen wirtschaftlichen Interessen, die allgemein mit den Interessen des nationalen Kapitals vereinbar seien. Dies führt Le Prolétaire dazu, das eigentliche Problem auszublenden. Der Artikel versucht sogar zu zeigen, dass der Populismus nicht das geringste Problem für die Bourgeoisie darstelle, indem er empirische Befunde, Momentaufnahmen, als „Beweismittel“ verwendet: So verweist er auf die Tatsache, dass kurz nach Trumps Wahl die Wall Street einen Börsenhoch registrierte. In der gleichen Weise verwendet er als ein vermeintliches Hammerargument die Höchststände der Londoner Börse nach der Brexit-Abstimmung, die bestätigen sollen, dass „die Führung der britischen Bourgeoisie überhaupt nicht glaubt, dass dieser Bruch ein ernstes Problem für sie ist“. Die IKP greift damit auf eine veraltete und falsche Sicht des 19. Jahrhunderts zurück, als ob die Börse nicht par excellence die Domäne einer alltäglichen, kurzfristigen Vision wäre, die von den unmittelbaren, kurzfristigen Profiten der Kapitalisten geleitet wird. Aus diesem Grund verlässt sich die Bourgeoisie nicht auf die Börse, sondern richtet ihre Orientierung nach den allgemeinen Interessen ihres Staates, ihrer Verwaltung, ihrer „Planung“. Effektiv gab es nach der Wahl von Trump deswegen ein Börsenhoch, weil bereits zuvor angekündigt worden war, dass die Unternehmenssteuern gesenkt würden. Und eben dies konnte nur zu einer positiven Antwort der Börsianer führen.

Ein anderes Argument, das in diesem Artikel entwickelt wird, überzeugt nicht wirklich: Die Idee, Trump diene den Interessen der gesamten Bourgeoisie, da es noch nie so viele Milliardäre in derselben Regierung gegeben habe. Es gibt keinen Zweifel an der kapitalistischen Natur der gegenwärtigen US-Regierung und der Tatsache, dass viele sehr Reiche drin sind. Das bedeutet aber nicht, dass dies den allgemeinen Interessen des kapitalistischen Systems am besten dient. Wir können davon ausgehen, dass die IKP auch der Meinung ist, dass der Brexit definitiv den Interessen des britischen Kapitals dienen wird. Aber wir sehen nicht wirklich, wie der Brexit das britische Kapital stärken sollte und die IKP führt nichts an, um ihre Behauptung zu unterstützen.

Es ist wichtig aufzuzeigen, was die IKP nicht sagt und welche Fragen sie nicht stellt. Welche Strategie verfolgt die amerikanische Bourgeoisie mit der Wahl von Trump? Was ist das Interesse der britischen Bourgeoisie an der Durchführung von Brexit? Stärkt es sie bei der Verteidigung ihrer wirtschaftlichen und imperialistischen Interessen im globalen Wettbewerb? Die IKP sagt dazu nichts und liefert nicht die geringste Argumentation. Die IKP hat sicherlich recht, wenn sie unterstreicht, dass der Nationalismus angesichts der Konkurrenz zwischen den Staaten ein privilegiertes Mittel ist, um zu versuchen, die Reihen der Bourgeoisie hinter der Verteidigung des nationalen Kapitals zu schließen. Aber das gibt keine Erklärung und keinen anderen Rahmen, um das Phänomen des Populismus zu verstehen, geschweige denn seine gegenwärtige Entwicklung. Ein solches Vorgehen erweist sich als untauglich, die zahlreichen Probleme der heutigen Gesellschaft zu begreifen, und erst recht nicht, um ihre Entwicklung zu analysieren.

Der Artikel der IKP ist gezwungen, ein Lippenbekenntnis darüber abzugeben, dass der Populismus einen Teil der Bourgeoisie stört und Sorgen bereitet, aber er erklärt nichts, wenn er sagt: „Zweifellos haben einige von Trumps markanten Erklärungen die Augenbrauen der Vertreter bestimmter kapitalistischer Sektoren hochziehen lassen: Die Drohung, Importe mit erhöhten Zöllen zu treffen, wäre ein schwerer Schlag für eine Reihe von Industrien, die einen Teil ihrer Produktion verlagert haben, aber auch für die großen Distributionszentren. Aber man kann wetten, dass die Kapitalisten an der Spitze mächtiger Interessengruppen das ihrem „Kollegen Trump“ deutlich machen werden.“ Ebenso muss die IKP anerkennen, dass die Programme der Populisten „in bestimmten Punkten in Widerspruch zu den Interessen der größten, internationalsten kapitalistischen Gruppen geraten“. Aber sie sehen darin etwas, das keine Konsequenzen hat und halten daran fest, dass die Bourgeoisie diese Widersprüche wie immer für ihren eigenen Profit nutzen und überwinden wird. Es ist offensichtlich, dass die Wahl und die Politik von Trump ein Jahr später in eine völlig entgegengesetzte Richtung geht, als es die IKP vorhersah mit ihrer Idee, dass die Bourgeoisie auf die Vernunft hören und den Anmaßungen Trumps ein Ende setzen würde. Gegenwärtig ist ein großer Teil der amerikanischen Bourgeoisie in Unordnung geraten und mehrere Sektoren, einschließlich seines eigenen Lagers, versuchen die Mittel zu finden, ihn los zu werden, oder nach anderen Wegen suchen, um ihn in seiner Funktion als Präsident auszuhebeln. Seit einem Jahr erleben wir eine wachsende Diskreditierung, eine Verurteilung der mangelnden Seriosität Trumps, sowie der inkohärenten und chaotischen Politik der führenden Weltmacht auf internationaler Ebene. Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Trump ist unter anderem ein eklatantes Beispiel für eine Außenpolitik, die nur Öl ins Feuer gießt und einen neuen Brandherd für die unkontrollierte Gewalt im Nahen Osten gesetzt hat. Gleichzeitig sehen wir eine Anhäufung von Hindernissen für die von der Verwaltung favorisierte Politik (einschließlich der Aufhebung von „Obamacare“, dem großen Schlachtross Trumps im Wahlkampf), den unaufhörlichen Rücktrittswalzern der höchsten Beamten, um nur einige Beispiele für diese Unordnung auf höchster Ebene zu nennen. In Großbritannien stellt der Brexit seit einem Jahr ernsthafte Probleme für die Gesundheit des nationalen Kapitals dar. Begründet ist dies insbesondere durch die Schwächung und erhebliche Untergrabung seiner Macht durch die Flucht des internationalen Kapitals, die der Brexit hervorgerufen hat – obwohl gerade der Finanzsektor immer eine Stärke der britischen Wirtschaft gewesen ist. Angesichts einer Reihe von Rückschlägen und widersprüchlichen Initiativen für eine Einigung mit der EU wird Theresa May immer mehr geschwächt und von ihren Kollegen offen der Inkompetenz sowie der mangelnden Vorbereitung und der Verwirrung bezichtigt.3

Das bedeutet keineswegs, dass die Wahl Trumps zum Präsidenten oder der Sieg des Brexit tödliche Schläge für den Kapitalismus wären, ebenso wenig wie diese Ereignisse die Vereinigten Staaten oder Großbritannien daran hindern werden, dominante imperialistische Mächte zu bleiben. Sie hindern die Bourgeoisie auch nicht daran, die mit populistischen Entscheidungen verbundenen Probleme zu kanalisieren und sogar die Manifestationen des Gewichts des Populismus zu nutzen, um den Niedergang des Klassenbewusstseins zu beschleunigen, insbesondere mittels der Themen des Nationalismus und der Verteidigung der Demokratie. Aber die IKP, die sich auf die ideologische Nutzung des Populismus durch die Bourgeoisie konzentriert, übersieht völlig die Probleme, die sich aus der allgemeinen Dynamik des Kapitalismus heute ergeben. Gerade auch jene, die sich aus der Anhäufung und Verschärfung der Widersprüche, auch innerhalb der Bourgeoisie selbst ergeben. Sie unterschlägt die Bedeutung der wachsenden Tendenz zur Barbarei, von der der Populismus in seiner jetzigen Form eine seiner bedeutendsten Erscheinungen ist. Ebenso unterschätzt sie massiv die Bedrohungen, die Gefahren und Fallen (Nationalismus, Kanalisierung der falschen Wahl zwischen Populismus und Antipopulismus) sowie die zunehmende Desorientierung und Verwirrung, welche die Klassenidentität des Proletariats zurückdrängt.

Le Prolétaire leugnet und ignoriert völlig die Folgen der Wahl Trumps und des Referendums über den Brexit, der populistischen Programme und politischen Anstrengungen, sie in die Praxis umzusetzen. Die IKP tut so, als ob die Bourgeoisie dieser beiden Mächte, obwohl sie zu den mächtigsten und erfahrensten der Welt gehören, vor den Gefahren gefeit wäre. Sie will uns dadurch glauben machen, dass die Politik und die wirtschaftlichen Orientierungen, die seit diesen Ereignissen verfolgt werden, keine katastrophalen Folgen für das nationale und internationale Kapital hätten. Das jüngste Beispiel der Situation in Deutschland nach den Parlamentswahlen und dem erstmaligen Einzug der rechtsextremen AfD (Alternative für Deutschland) mit 87 Sitzen und 13,5% der Stimmen bestätigt einmal mehr die historische Tendenz der Entwicklung des Populismus. Dieses Phänomen ist in Deutschland besonders stark in den alten Industriezentren, insbesondere in der ehemaligen DDR anzutreffen, was keineswegs der reduktionistischen und falschen Sichtweise der IKP entspricht.

„Nichts Neues unter der Sonne“: eine starre Vision der Geschichte

Anstatt das Wachstum, die Entwicklung und die Dynamik des populistischen Phänomens zu analysieren und zu erklären, sagt die IKP hartnäckig, dass es „nichts Neues unter der Sonne“ gebe. Sie hat also keinen Rahmen für ihre Analyse. Für sie ist die Frage nach dem Wachstum des Populismus sozusagen eine Erfindung der Medien, ein einfaches Instrument der Propaganda. Wie es am Anfang des Artikels heißt, ist der Populismus nichts anderes als „eine politische Orientierung, welche die Teilung der Gesellschaft in Klassen leugnet“ mit dem alleinigen Ziel, „das Proletariat seine Klassenorientierung verlieren zu lassen“. Das ist eine extrem reduktionistische Sichtweise, die darauf hinausläuft, dass die Zunahme der Macht des Populismus nur einem Manöver, einer Aufstellung und einer Orchestrierung aller Teile der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse entspreche.

Statt ein Phänomen zu erklären, welches sie eben nicht versteht, leugnet die IKP die Realität und erweckt den Eindruck, dass es innerhalb der Bourgeoisie keine echten Widersprüche gebe, als wäre alles eine einfache Summe, eine Ansammlung verschiedener Interessen: Bosse, Aktionäre, Staaten, Parteien und Kandidaten ... Für sie gibt es bloß eine bewusste, allmächtige Bourgeoisie, die keine inneren Widersprüche hat und mal diese oder mal jene Karte je nach ihren Bedürfnissen spielt, welche Karten so oder so ausschließlich gegen die Arbeiterklasse gerichtet sind und es ihr ermöglichen, von der Unzufriedenheit der Klasse abzulenken. Dies ist paradox, weil die IKP einerseits diese Notwendigkeit der Mystifikation betont, andererseits aber anerkennt, dass die Bedrohung der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse tatsächlich auf einem sehr niedrigen Niveau liegt. Das Problem ist, dass die IKP versucht, nicht nur den Populismus, sondern auch die Entwicklung verschiedener nationaler Situationen in vorher festgelegte Formen, in fertige Schemata zu pressen und sie für „invariant“, also unveränderbar (um ihren eigenen Begriff zu verwenden) zu erklären. Dadurch gelingt es ihr nicht, den Populismus in den Rahmen einer Analyse zu stellen, oder gar die Realität und Dialektik dieser Bewegung zu erfassen. Die IKP ist nicht in der Lage, eine klare Analyse der Realität zu liefern.

Warum legen wir so viel Wert darauf, das Phänomen des Populismus besser zu verstehen? Weil diese Debatte, in der die Divergenzen für Haarspalterei, für die Verteidigung eines Territoriums, eine Diskussion im Café oder eine Debatte in „intellektuellen Kreisen“ gehalten werden könnten, tatsächlich eine wesentliche Frage der revolutionären Organisationen betrifft. Das Ziel ist, methodisch die klarste Einschätzung der Funktionsweise, Dynamik und Entwicklung des Kapitalismus herauszuarbeiten, um das Proletariat in seinem Klassenkampf besser zu wappnen.

(Fortsetzung folgt)

CB, 28. Dezember 2017


1) Wir verweisen die Leser auf ihren Artikel: Bilanz der Präsidentschaftswahlen: Umstrukturierung des bürgerlichen politischen Theaters zur besseren Verteidigung des Kapitalismus, Le Prolétaire, Nr. 524, Mai/Juni 2017.

2) Siehe unseren Artikel Die Arbeiteraristokratie: eine soziologische Theorie um die Arbeiterklasse zu spalten, Internationale Revue Nr. 7 (1981).

3) Trump und sein Schwiegersohn Jared Kushner scheinen den saudischen Herrscher Prinz Mohammed bin Salman in seinen destabilisierenden Abenteuern im Nahen Osten ermutigt zu haben, insbesondere in seinen Feindseligkeiten gegen Katar, die direkt gegen die militärischen Interessen der USA gerichtet sind. Auch in Großbritannien brach die Ministerin für Außenpolitische Entwicklung und Brexit-Unterstützerin Priti Patel im "Urlaub" in Israel nicht nur mit der britischen Außenpolitik, sondern sie versuchte ohne Wissen des Außenministeriums diese auf einen neuen Kurs zu bringen. Das Zögern von Premierministerin May, sie zu entlassen, zeigte erneut ihre Schwäche.

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Weltrevolution Nr. 182

Die Schwächen der IKP in der Frage des Populismus (Teil 2)

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In diesem zweiten Teil antworten wir auf die Hauptkritiken der IKP (Le Prolétaire) uns gegenüber, indem wir ihre Herangehensweise unserer Methode und unserem Analyse-Rahmen gegenüberstellen, um ein klareres Verständnis des Kampfes der Arbeiterklasse herauszuarbeiten.

Die Rolle der Revolutionäre besteht nicht lediglich darin, proletarische Prinzipien zu wiederholen, sondern vor allem darin, einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung der Arbeiterklasse zu leisten. Mit anderen Worten geht es darum, “eine konkrete politische Analyse einer konkreten Situation zu machen”, wie Lenin es ausdrückte. Wer die aktuelle Situation verstehen will und nach deren Ursachen sucht, findet in der Presse der IKP leider keine ausreichende Erklärung des internationalen und gewichtigen Phänomens des Populismus, sondern lediglich Behauptungen, welche unserer Ansicht nach nur zur Verwirrung beitragen. Die Ausbreitung des Populismus gründet auf einer konkreten und geschichtlich neuen Situation, die es zu analysieren gilt, und erfordert eine klare und methodische Debatte mittels Polemiken. Um diese Debatte zu führen, welche innerhalb des proletarischen Milieus unabdingbar ist, gilt es zuerst falsche Debatten und Interpretationen zu erkennen und zu vermeiden.

Ein klarer Rahmen zur Analyse: eine Notwendigkeit zum Bewusstsein der Arbeiterklasse

Die IKP wirft uns vor, zu behaupten, dass “der Sieg von Trump und der Verfechter von Brexit ein “Rückschlag der Demokratie” bedeute”[1] und bezieht sich dabei auf einen Artikel, den wir in Révolution Internationale Nr. 461 veröffentlicht haben. Wir behaupten in unseren Analysen nirgends, dass der Populismus die bürgerliche Demokratie und ihren Staat schwäche oder gar in Frage stelle. Für uns sind alle Fraktionen der herrschenden Klasse reaktionär, und der Populismus, als politischer Ausdruck, ist ein Teil der herrschenden Klasse und reiht sich voll und ganz in die Verteidigung der kapitalistischen Interessen ein. Die populistischen Parteien sind ein Teil der herrschenden Klasse, Parteien des kapitalistischen totalitären Staates. Was sie auszeichnet, ist die bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologie und deren Verhaltensweisen: Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Autoritarismus und der kulturelle Konservatismus. Sie manifestieren Ängste, drücken den Willen zur Abkapselung aus und stellen die “Eliten” in Frage. Der Populismus ist ein Produkt des Zerfalls, der das politische Spiel durcheinander bringt, mit der Konsequenz eines Kontrollverlustes des bürgerlichen politischen Apparates auf der Ebene der Wahlen. Doch dies hindert die herrschende Klasse nicht im Geringsten daran, dieses politisch negative Phänomen des Populismus so weit wie möglich für ihre Interessen auszunützen und es gegen die Arbeiterklasse zu verwenden. Sie verstärkt damit die Verherrlichung der bürgerlichen Demokratie, in der “jede Stimme zählt”, und prangert die mangelnde Beteiligung an den Wahlen als “Begünstigung der extremen Rechten” an. In diesem Rahmen versuchen die traditionellen bürgerlichen Parteien ihren Anti-Populismus herauszustreichen und sich als “humanistischer” und “demokratischer” als die Populisten darzustellen. All dies ist für die Arbeiterklasse eine gefährliche Falle und dient dazu, sie in die falsche Alternative zu locken: Populismus oder bürgerliche Demokratie.

Anders als wir, die IKS, verwirft die IKP die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus, welche für den Marxismus grundlegend ist, wie dies die Gründer der Dritten International erkannt hatten und nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des Oktobers 1917 in Russland in ihrer Plattform von 1919 ausdrückten: “Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats”. Es ist schon ein Jahrhundert vergangen, seit die Bolschewiki und vor allem Rosa Luxemburg aufzeigten, dass die durch den Ersten Weltkrieg eröffnete historische Periode zwei Alternativen eröffnete: Krieg oder Revolution, Sozialismus oder Barbarei. Im Gegensatz dazu wiederholt die IKP auf der Grundlage ihrer “invarianten” Interpretation des Kommunistischen Manifests von 1848, dass die Krisen des Kapitalismus „zyklisch“ seien und ignoriert die Auswirkungen des Eintritts in die Dekadenz, dies vor allem bei der Frage des Krieges. Durch die Ablehnung der grundlegenden Erkenntnis der Dekadenz des Kapitalismus fehlt Le Prolétaire logischerweise die Klarheit über das Wesen der Krisen und der imperialistischen Kriege im 20. Jahrhundert, sowie die Klarheit über die aktuelle Situation und ihre Entwicklung hin zur letzten Phase der Agonie des Kapitalismus, des Zerfalls.[2]

Die IKP ist politisch nicht dazu gewappnet, zu verstehen, dass der Zerfall durch die Widersprüche des Kapitalismus eine neue Dimension erhalten hat, allem voran “die Unfähigkeit (…) der beiden sich gegenüberstehenden Klassen, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, ihre eigene Perspektive durchzusetzen (Krieg oder Revolution), was zu einer Situation der “momentanen Blockade” und einem Verrotten der Gesellschaft führte”. Im Gegenteil interpretieren sie daraus in ironischer Art und Weise, ohne die wirkliche Natur dieser Analyse zu verstehen, dass “die Arbeiter, welche im Alltag die Zuspitzung ihrer Ausbeutung und die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen sehen, glücklich sind zu erfahren, dass ihre Klasse fähig sei, die Bourgeoisie zu blockieren und sie daran zu hindern, ihre “Perspektive” umzusetzen”.

Die IKP interpretiert das, was wir wirklich über die Idee der “Blockade der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse” sagen, falsch, ohne sich ernsthaft mit den politischen Inhalten, die wir vertreten, auseinanderzusetzen: Die gesamte Gesellschaft steht in einer Situation, in der keine der zwei bestimmenden Klassen der Gesellschaft ihre Perspektive durchsetzen kann. Sie steht in einer Situation der perspektivlosen, täglichen kapitalistischen Ausbeutung. In diesem Kontext ist die Bourgeoisie nicht in der Lage, einen politischen Horizont aufzuzeigen, der eine Mobilisierung und Unterstützung erlaubt. Auf der anderen Seite ist die Arbeiterklasse nicht fähig, sich als Klasse wahrzunehmen und eine entscheidende und genügend bewusste Rolle zu spielen. Es ist diese Situation, welche zur Blockade jeglicher Perspektive führt. Die Phase des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist mitnichten eine “Erfindung” oder eine “vage Idee” der IKS. Marx selbst formulierte am Anfang des Kommunistischen Manifests diese Möglichkeit aufgrund der historischen Erfahrungen der Klassengesellschaften: “Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigner, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zu einander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen”. Als “kämpfende Klassen” gibt es heute nur die Bourgeoisie und das Proletariat. Der Marxismus ist die Frage der historischen Alternative nie in einer schematischen Art und Weise angegangen. Wenn unter den heutigen Bedingungen die revolutionäre Klasse nicht in der Lage ist, sich durchzusetzen und den Weg einer neuen Produktionsweise einzuschlagen, den Kommunismus, dann wird durch ihre Unfähigkeit und historische Niederlage die kapitalistische Gesellschaft ins Chaos und die Barbarei versinken: genau dies ist der “gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen”.

Die Grundlagen der Phase des Zerfalls

Was bestimmt und erklärt die gegenwärtige Phase des Versinkens des dekadenten Kapitalismus im Zerfall der Gesellschaft?[3] Die Bourgeoisie ist in einer dauerhaften ökonomischen Krise gefangen, was für die Arbeiterklasse immer mehr Elend, Unsicherheit, Angriffe gegen die Lebensbedingungen und Ausbeutung bedeutet. Auf der anderen Seite gelingt es der Bourgeoisie nicht, ihre „Lösung“ gegenüber der ökonomischen Krise durchzusetzen: einen neuen Weltkrieg. Zwischen 1968 und 1989 konnte die Bourgeoisie wegen des internationalen Wiedererstarkens des Klassenkampfes die Arbeiterklasse nicht in die Vorbereitungen für einen neuen Weltkonflikt lotsen. Nach 1989, mit dem Verschwinden der zwei imperialistischen Blöcke infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks, verschwanden die diplomatischen und militärischen Bedingungen für einen neuen Weltkrieg: Die Bourgeoisie war nicht mehr in der Lage, neue imperialistische Blöcke zu bilden.

Die Auflösung der imperialistischen Blöcke bedeutete aber keineswegs das Ende der militärischen Konflikte. Der Imperialismus verschwand keineswegs, er nahm lediglich andere Formen an, indem jeder Staat versucht, seine eigenen Interessen und Gelüste gegen die Interessen der anderen durchzudrücken, dies auf Kosten stabiler Allianzen. Es entstand eine Situation des „Jeder gegen Jeden“ und einer Tendenz hin zum Chaos und grausamen militärischen Konflikten. Seit 1989 haben sich Konflikte vermehrt, in denen sich die großen und mittleren imperialistischen Mächte mittels kleiner Staaten, bewaffneter Banden oder instrumentalisierter ethnischer Gegensätze bekämpfen.

Die Bourgeoisie kann die Arbeiterklasse also nicht länger für den Traum einer „neuen Weltordnung des Friedens und Wachstums“ mobilisieren, wie ihn Bush sen. nach dem Zusammenbruch des Ostblocks versprach und der kurz darauf kläglich verpuffte.

Die Arbeiterklasse, welche zwischen 1968 und Ende der 1980er Jahre immer wieder Wellen des Widerstandes gegen die Krise und die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen hervorbrachte, zeigte in den zentralen Ländern, dass sie nicht bereit war, sich für einen neuen Weltkrieg zu opfern. Dennoch gelang es der Arbeiterklasse nicht, ihre Kämpfe zu politisieren und damit die bewusste Perspektive einer Überwindung des Kapitalismus greifbar zu machen, nicht zuletzt wegen des enormen Gewichts der langen Jahre der Konterrevolution und den anhaltenden Illusionen in einen angeblich proletarischen Charakter der linken Parteien und der Gewerkschaften. Im Gegensatz zu 1905 und 1917, und vor allem nach dem August 1980 in Polen, war die Arbeiterklasse nicht fähig, sich auf ein politisches Terrain zu begeben, eine Bedingung für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft, und auch nicht fähig, ihre Verteidigungskämpfe in einen internationalen politischen Kampf zu verwandeln, der eine revolutionäre Perspektive in sich trägt.

Der Bankrott der stalinistischen Regime während des brutalen Zusammenbruchs des Ostblocks erlaubte es der Bourgeoisie, die größte Lüge des 20. Jahrhunderts zu stärken – die Identifikation des Stalinismus mit dem Kommunismus – und eine riesige Kampagne über den „Bankrott des Marxismus“ und den „Tod des Kommunismus“ zu entfalten, welche die Idee beinhaltet, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gebe. All das erklärt die enormen Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse heute konfrontiert ist: der Verlust der Klassenidentität und des Selbstvertrauens, der Verlust des Vertrauens in ihren Kampf, hin zu einer Orientierungslosigkeit.

Das Aufkommen des Populismus und antisozialer Phänomene

Diese Schwierigkeiten, neben anderen, erlaubten die Entstehung populistischer Ideen in der Gesellschaft, inklusive innerhalb der schwächsten Teile der Arbeiterklasse. Denn die Arbeiterklasse ist ebenfalls von der schädlichen Atmosphäre, welche durch den zerfallenden Kapitalismus und die Politik der Bourgeoisie entsteht, beeinflusst.

Im Rahmen von mangelnden politischen Perspektiven verstärkt sich das Misstrauen gegen alles, was sich als „politisch“ ausgibt (so diskreditieren sich die traditionellen politischen Parteien der Bourgeoisie), während umgekehrt die populistischen Ideen Zulauf erhalten, welche die „Ablehnung der Eliten“ predigen. Dies kombiniert sich mit dem Gefühl des „No future“ und dem Aufblühen aller Arten von individualistischen Ideologien, dem Rückzug auf reaktionäre, archaische und nihilistische Modelle.

Der Artikel von Le Prolétaire behauptet: „Die populistische Orientierung ist von typisch kleinbürgerlicher Natur: Das Kleinbürgertum, das sich zwischen den zwei Hauptklassen der Gesellschaft befindet, hat Angst vor dem Kampf dieser zwei Klassen und davor, zermalmt zu werden. Deshalb wendet es sich gegen alles, was den Klassenkampf aufwecken könnte, und schwört auf „das Volk“ und die „Einheit des Volkes“. Für die IKP war der Populismus von Beginn weg Ausdruck des Wesens und der Ideologie des Kleinbürgertums, und nichts weiter. Sie analysieren den Populismus nicht als einen Ausdruck des perspektivlosen Kapitalismus und seiner Dynamik in der Periode des Zerfalls. Auch wenn der Populismus durch verschiedene Faktoren vorangetrieben wird (Wirtschafskrise von 2008, Auswirkungen der Kriege, Terrorismus, Flüchtlingskrise), so ist er allem voran ein konzentrierter Ausdruck der gegenwärtigen Unfähigkeit der beiden Hauptklassen in der Gesellschaft, der Menschheit eine Zukunft anbieten zu können.

Dies ist die globale Wirklichkeit, mit der die Arbeiterklasse und die gesamte Gesellschaft konfrontiert sind. Es ist wichtig zu erkennen, dass das gegenwärtige Anwachsen anti-sozialer Verhaltensweisen und die gegenwärtige Schwäche der Arbeiterklasse, eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln, zentrale Aspekte dieser Situation sind. Es zeigt ein grundsätzliches Problem auf, welches nicht identisch ist mit der Situation unmittelbar nach den 1990er Jahren, und noch weniger mit der simplen kleinbürgerlichen Natur des Populismus des 19. Jahrhunderts.

Die IKP teilt unsere Analyse nicht, und deshalb sollte sie einen generellen Rahmen für eine andere Sichtweise gegenüber der gegenwärtigen Situation aufzeigen. Eine lediglich ironische Antwort genügt da keinesfalls.

Die wirklichen Fragen für die Arbeiterklasse angesichts des Zerfalls

Wenn das Proletariat nicht in der Lage ist, den Weg des revolutionären Kampfes zu finden, wird die Gesellschaft als Ganzes in Katastrophen aller Art versinken: Bankrotte, ökologische Katastrophen, Ausweitung lokaler Kriege, Versinken in Barbarei, soziales Chaos, Hungersnöte ... Das hat nichts mit einer Prophezeiung zu tun. Es kann aus dem einfachen und guten Grund nicht anders sein, weil die zerstörerische Logik von Kapital und Profit, die wir jeden Tag am Werk sehen, dem System zutiefst innewohnt und unumkehrbar ist. Der Kapitalismus kann seinem Wesen nach nicht "vernünftig" werden und bleibt in seinen eigenen Widersprüchen stecken.

1. Der Klassenkampf des Proletariats ist nicht, wie die IKP meint, das mechanische "Instrument" eines absolut bestimmten "historischen Schicksals". In der Deutschen Ideologie kritisieren Marx und Engels eine solche Vision heftig: "Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materialien, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andererseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert, was sich nun spekulativ so verdrehen lässt, dass die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird, z.B. dass der Entdeckung Amerikas der Zweck zugrunde gelegt wird, der Französischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen.“

2. Das bedeutet nicht, dass das Proletariat, weil ein Teil an der Urne für die populistischen Parteien stimmt, fremdenfeindlich oder fundamental nationalistisch geworden ist. Wie wir in unserer auf dem 22. Kongress der IKS angenommenen Resolution zum internationalen Klassenkampf betont haben: „Viele Arbeiter_innen, die heute für populistische Kandidaten stimmen, können sich von einem Tag zum nächsten im Kampf vereint mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern befinden; dasselbe trifft auch auf Arbeiter_innen zu, die von anti-populistischen Demonstrationen eingefangen sind.“

Der Ausgang des Klassenkampfes ist aber keinesfalls schon festgelegt, wie dies in der falschen Vision Bordigas ausgedrückt wird: „Ein Revolutionär ist (unserer Meinung nach) jemand, für den die Revolution so sicher ist, als wäre sie bereits geschehen“. Nein, die proletarische Revolution ist nicht schon im Voraus bestimmt! Sie kann nur durch die bewusste Handlung der Arbeiterklasse in einem lebendigen historischen Kampf erreicht werden, gegen alle Hindernisse und gegen die herrschende Klasse, welche sich verteidigen wird und dabei ihr Gift und ihre Grausamkeit einsetzen wird.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen das Proletariat konfrontiert ist, müssen Revolutionäre mehr denn je die ideologische Instrumentalisierung, die die Bourgeoisie aus den Tendenzen zur Auflösung der gegenwärtigen Gesellschaft einsetzt, analysieren und anprangern.

Den Populismus verstehen bedeutet, den Zerfall zu verstehen. Das heißt, die Gefahr, die über der Arbeiterklasse und der gesamten Menschheit schwebt, die Schwierigkeiten und Hindernisse denen wir in diesem Zusammenhang begegnen, zu verstehen, um sie besser bekämpfen zu können und uns gegen sie zu wappnen. Trotz des Gewichts des Populismus und seiner Gefahren hat die Arbeiterklasse immer noch die einzig mögliche Alternative zum Kapitalismus anzubieten, und ihre Ressourcen sind grundsätzlich intakt, um diesen Kampf zu führen und zu entwickeln.

CB, 26. März 2018


[1] Populisme, vous avez dit populisme?, Le Prolétaire Nr. 523, (Febr., März, April 2017)

[2] Wir empfehlen den Leser_innen die Lektüre unserer Polemik mit Le Prolétaire zur grundlegenden Frage der Dekadenz: Le rejet de la notion de décadence conduit à la démobilisation du prolétariat face à la guerre, Revue Internationale Nr. 77 und 78, 1994 (frz., engl., span. Ausgabe).    

[3] Wir empfehlen den Leser_innen unseren Text Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus vom Mai 1990. Internationale Revue Nr. 13 (/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [5]) sowie den Text Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen, Internationale Revue 10, 11, 12 (/content/1360/die-dekadenz-des-kapitalismus-verstehen [6], /content/1357/die-dekadenz-des-kapitalismus-verstehen-teil-2 [7], /content/1359/die-dekadenz-des-kapitalismus-verstehen-teil-3 [8]).   

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Weltrevolution Nr. 182

1918: Novemberrevolution Deutschland: Das Proletariat bringt den Krieg zu Ende

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Wir legen hier einen Artikel neu auf, den wir vor 20 Jahren – zum 80. Jahrestag der Novemberrevolution 1918 geschrieben und in Weltrevolution Nr. 91 abgedruckt haben. Damit diese für unsere Klasse wesentlichen Ereignisse nicht vergessen gehen und wir die Lehren aus den Stärken und Schwächen ziehen können, werden wir in unseren Publikationen – insbesondere online – in den verschiedenen Sprachen in nächster Zeit weitere Artikel zur Revolution in Deutschland vor 100 Jahren veröffentlichen. Folgender Artikel also zum Auftakt.

Weltrevolution, 27. August 2018

Am 4. Nov. 1918 meuterten in Kiel an der deutschen Ostseeküste die Matrosen gegen den Befehl des Militärs, zu einer weiteren Seeschlacht auszulaufen.

Ein Siedepunkt der Unzufriedenheit, der Ablehnung des Krieges war erreicht worden. Nach 4 Jahren mörderischen Abschlachtens mit mehr als 20 Mio. Toten, unzähligen Verletzten, den verlustreichen, zermürbenden Stellungskriegen mit ihren Giftgaseinsätzen in Frankreich, der Ausmergelung und Aushungerung der arbeitenden Bevölkerung, war diese restlos kriegsmüde geworden und nicht mehr bereit, den Preis für dieses Abschlachten mit ihrem eigenen Leben zu zahlen. Die militärische Führung dagegen wollte die Fortführung des Krieges mit brutaler Repression durchsetzen und verhängte drakonische Strafen gegen die meuternden Matrosen.

Dagegen erhob sich sofort eine breite Solidarisierungswelle, deren Zündungsfunke von Kiel ausging und der sofort auf andere Städte in ganz Deutschland übersprang. Arbeiter traten in den Ausstand, Soldaten verweigerten die Befehle; sie bildeten - wie zuvor schon Anfang des Jahres in Berlin geschehen, Arbeiter- und Soldatenräte, die sich in Windeseile auch auf andere Städte ausbreiteten. Am 5./6. November setzten sich Hamburg, Bremen und Lübeck in Bewegung; Dresden, Leipzig, Magdeburg, Frankfurt, Köln, Hannover, Stuttgart, Nürnberg, München befanden sich am 7. und 8. November in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte. Innerhalb einer Woche gab es keine deutsche Großstadt, in der nicht auch Arbeiter- und Soldatenräte gegründet waren.

In dieser Anfangsphase wurde Berlin schnell zum Zentrum der Erhebung: dort strömten am 9. November unzählige Arbeiter und Soldaten zu Demonstrationen auf die Straße. Die Regierung hatte zuvor noch die als "zuverlässig" bezeichneten Bataillone nach Berlin zum Schutz der Regierung kommen lassen. Aber am Morgen jenes 9. November "leerten sich die Fabriken in unglaublich schnellen Tempo. Die Straßen füllten sich mit gewaltigen Menschenmassen. An der Peripherie, wo die größten Fabrikbetriebe liegen, formierten sich große Demonstrationszüge, die in den Mittelpunkt der Stadt zuströmten ... Wo sich Soldaten zeigten, bedurfte es zumeist keiner Aufforderung, sie schlossen sich freiwillig den Arbeiterzügen an. Männer, Frauen, Soldaten, ein Volk in Waffen flutete durch die Straßen den zunächst gelegenen Kasernen zu" (R. Müller, Die Novemberrevolution, Bd. II, S. 11). Unter dem Übergewicht dieser auf den Straßen versammelten Massen wechselten die letzten regierungstreuen Truppen das Lager, schlossen sich den Aufständischen an und verteilten ihre Waffen an die Arbeiter. Das Polizeipräsidium, die großen Zeitungsbetriebe, Telegraphenbüros, das Reichstags- und andere Regierungsgebäude – sie alle wurden an dem Tag von bewaffneten Arbeitern und Soldaten besetzt, Gefangene aus den Gefängnissen befreit. Viele Regierungsbeamte hatten die Flucht ergriffen. Wenige Stunden hatten genügt, um diese Schaltstellen der bürgerlichen Macht zu besetzen. In Berlin wurde ein die Stadt übergreifender Rat der Arbeiter- und Soldatenräte gegründet: der Vollzugsrat.

Die Arbeiter in Deutschland traten damit in die Fußstapfen ihrer Klassenbrüder in Russland, die ebenfalls als eine Reaktion gegen den Krieg sich im Februar 1917 schon in Arbeiter- und Soldatenräten zusammengeschlossen und im Oktober 1917 siegreich die Macht übernommen hatten. Damit schickten sich die Arbeiter in Deutschland an, den gleichen Weg zu beschreiten, den Sturz des kapitalistischen Systems in Angriff zu nehmen: Übernahme der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte, Lahmlegung des bürgerlichen Staatsapparates, Bildung einer Arbeiterregierung ... Die Perspektive war: das Tor zur weltweiten Erhebung der Arbeiterklasse weiter aufzustoßen, nachdem in Russland zuvor schon die Arbeiter den ersten Schritt dazu getan hatten.

Mit dieser Aufstandsbewegung hatten die Arbeiter in Deutschland die größten Massenkämpfe in ihrer Geschichte in Gang gesetzt. All die von den Gewerkschaften während des Krieges geschlossenen Stillhalteabkommen, die Politik des Burgfriedens, waren damit unter den Paukenschlägen des Klassenkampfes zerplatzt. Durch diese Erhebung hatten die Arbeiter die Niederwerfung vom August 1914 abgeschüttelt und sich wieder aufgerichtet; der Mythos einer durch den Reformismus gelähmten Arbeiterklasse in Deutschland war verflogen. Dabei setzten die Arbeiter in Deutschland ebenso die neuen typischen Waffen des Proletariats in dem Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz ein, deren Gebrauch zuvor schon von den Arbeitern in Russland (1905 und 1917) erfolgreich erprobt worden war: Massenstreiks, Vollversammlungen, Bildung von Arbeiterräten, Massendemonstrationen, kurzum die Eigeninitiative der Arbeiter selbst. Neben dem Proletariat in Russland, das die Kapitalistenklasse ein Jahr zuvor erfolgreich gestürzt hatte, standen die Arbeiter in Deutschland an der Spitze der ersten großen internationalen, revolutionären Welle von Kämpfen, die aus dem Krieg hervorgegangen waren. In Ungarn und Osterreich hatten die Arbeiter 1918 sich auch schon erhoben und angefangen, Arbeiterräte zu errichten.

Die SPD - Speerspitze gegen das Proletariat

Aber während so auf örtlicher Ebene überall Herde proletarischer Aktivität entstanden, das Proletariat in Wallung gekommen war, blieb die herrschende Klasse nicht untätig. Die Ausbeuter und die Militärs in ihrer Mitte brauchten eine Kraft, die der Ausbreitung dieser revolutionären Erhebung entgegentreten könnte. Aus der Erfahrung in Russland lernend, zog die deutsche Bourgeoisie mit den Chefs der Obersten Heeresleitung die Fäden. General Groener, oberster Boss des Militärs, berichtete:

"Es gibt zur Zeit in Deutschland nach meinem persönlichen Dafürhalten keine Partei, die Einfluss genug im Volk, insbesondere bei den Massen hat, um eine Regierungsgewalt mit der Obersten Heeresleitung wiederherstellen zu können. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden, und mit den äußersten Radikalen zu gehen war natürlich ausgeschlossen. Es blieb nichts übrig, als dass die Oberste Heeresleitung dieses Bündnis mit der Mehrheitssozialdemokratie schloss ... Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen die Revolution, zum Kampf gegen den Bolschewismus ... An eine Wiedereinführung der Monarchie zu denken, war meines Erachtens vollkommen ausgeschlossen. Der Zweck unseres Bündnisses, das wir am 10. November abends geschlossen hatten, war die restlose Bekämpfung der Revolution, Wiedereinsetzung einer geordneten Regierungsgewalt, Stützung dieser Regierungsgewalt durch die Macht einer Truppe und baldigste Einberufung einer Nationalversammlung ...“ (W. Groener über die Vereinbarungen zwischen der Obersten Heeresleitung und F. Ebert vom 10. Nov. 1918).

Damit war die SPD wieder einmal zum Dreh- und Angelpunkt der Politik des Kapitals geworden, wie zuvor schon im August 1914 und im weiteren Verlauf des Krieges - als sie sich als sicherer Pfeiler des kapitalistischen Gerüsts erwiesen hatte.

Am 4. August 1914 hatte die parlamentarische Fraktion der Sozialdemokratie mit ihrer rechten Führung die Interessen des Proletariats verraten und den Krediten für den imperialistischen Krieg zugestimmt. Trotz des heftigsten Widerstands einer unbeugsamen Minderheit (deren prominenteste Vertreter K. Liebknecht, R. Luxemburg, Cl. Zetkin, O. Rühle waren und die sich später im Spartakusbund und als Linksradikale vor allem in Norddeutschland und Mitteldeutschland organisiert hatten) hatte diese kapitalistische Führung den ganzen Krieg über für diesen mobilisiert.

Aber die Opposition gegen diese Kriegspolitik erhielt vor allem an der Basis immer mehr Aufschwung, insbesondere durch die Streiks, die von 1916-17 an Deutschland in zunehmendem Maße erschütterten, und infolge des Drucks der Ereignisse in Russland 1917. Die Opposition in der Partei weigerte sich, dem kapitalistischen Vorstand Beiträge zu zahlen, immer mehr SPD-Zeitungen und immer mehr Ortsverbände bezogen gegen den Krieg und damit gegen den Vorstand Stellung. Als sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei gegen die kapitalstreue SPD-Führung zu wenden begannen, schloss diese die Opposition im April 1917 aus der Partei aus. Die so Ausgeschlossenen gründeten darauf eine neue Partei – Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland.

Engster Verbündeter des Kapitals während des Krieges waren auch die Gewerkschaften gewesen, die sofort nach Kriegsanfang ein generelles Streikverbot (Burgfrieden) erlassen hatten. Und wenn es dennoch Proteste, Streiks und Demonstrationen gab, und deren Häufigkeit nahm seit dem Sommer 1916 beständig zu, dann wurden die kämpferischsten Arbeiter, die sogenannten Rädelsführer, von den Gewerkschaften bei den Behörden denunziert, welche diese oft zwangsrekrutierten und als Kanonenfutter an die Front zum Abschlachten schickten. Hier hatten die Gewerkschaften zum ersten Mal unter Beweis stellen können, dass diese mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz zu staatstragenden Organen, zur eigentlichen Polizei im Betrieb geworden waren. Damit trat nun mit diesem Bündnis aus SPD, Gewerkschaften und den höchsten Stellen des Militärs im Hintergrund den Arbeitern ein mächtiges Bollwerk entgegen, das sich schon im Krieg für die Verteidigung der Interessen des Kapitals bewährt hatte.

Der Deckmantel der "Einigkeit" soll die Klassengegensätze übertünchen

Um nicht den gleichen Fehler wie die Herrschenden in Russland zu begehen – dort hatte die bürgerliche provisorische Regierung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 den imperialistischen Krieg weitergeführt und damit den erbitterten Widerstand der Arbeiter, Soldaten und Bauern auf sich gezogen, die Widersprüche auf die Spitze getrieben und unbeabsichtigt den Boden für die Oktoberrevolution bereitet –, reagierte die Kapitalistenklasse in Deutschland schnell und weitsichtiger: am 9. November wurde der Kaiser aus dem Verkehr gezogen und ins Ausland geschickt, am 11. November der Waffenstillstand vereinbart, wodurch der schmerzhafteste Dorn aus dem Fleisch der Arbeiterklasse gezogen und der erste Anlass des Widerstandes der revoltierenden Soldaten beiseite geschafft war. Damit gelang es den Kapitalisten in Deutschland, der Bewegung frühzeitig Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber neben der Absetzung des Kaisers und dem Abschluss des Waffenstillstandes war die Übergabe der Regierungsgeschäfte an die SPD ein entscheidender Schritt zur Eindämmung der Kämpfe.

Am 9. November bildeten drei SPD-Führer (Ebert, Scheidemann, Landsberg) zusammen mit drei USPD-Führern den Rat der Volksbeauftragten, die bürgerliche Regierung in treuen Diensten des Kapitals. Diese selbsternannte (bürgerliche) Regierung kam nur gegen den Widerstand der Spartakisten und anderer bewusster USPD-Mitglieder zustande, denn vielen war klar, dass die SPD als Speerspitze gegen die Revolution wirkte. "Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg. Die proletarische Revolution wird über seine Leiche hinwegschreiten ", hatte R. Luxemburg in den Spartakusbriefen schon im Oktober 1918 gewarnt. Und auch jetzt, am 10. November, schrieb die Rote Fahne, Zeitung der Spartakisten: "Vier Jahre haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten, euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse das "Vaterland" verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte. – Jetzt, da der deutsche Imperialismus zusammenbricht, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist und suchen die revolutionäre Energie der Massen zu ersticken. Es darf kein "Scheidemann" mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungsozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre lang verraten haben. Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten!" Während im Laufe des Krieges immer mehr Arbeiter angefangen hatten, die wahre Rolle der Mehrheitssozialdemokratie zu durchschauen, und es in jeder revolutionären Situation von entscheidender Bedeutung ist, dass sich die Klassengegensätze zunehmend polarisieren und die Gegner eindeutig erkennbar sind, versuchte die SPD diese Gegensätze, die wahren Fronten zu verdecken. So zog jetzt die SPD mit der Parole in den Kampf:

"Es darf keinen Bruderkampf geben ... Wenn Gruppe gegen Gruppe, Sekte gegen Sekte arbeitet, dann entsteht das russische Chaos, der allgemeine Niedergang, das Elend statt des Glückes ... Soll nun der Welt nach solchem herrlichen Triumph [der Absetzung des Kaisers und der Zustimmung der rechten USPD-Führung zur Bildung einer gemeinsamen, paritätisch besetzten bürgerlichen Regierung mit der SPD] das Schauspiel einer Selbstzerfleischung der Arbeiterschaft in sinnlosem Bruderkampf geboten werden? Der gestrige Tag hat in der Arbeiterschaft das Gefühl für die Notwendigkeit innerer Einheit hoch emporlodern lassen! Aus fast allen Städten ... hören wir, dass alte Partei und Unabhängige sich am Tage der Revolution wieder zusammengefunden und zu der alten geschlossenen Partei geeint haben. … Und wenn auch noch soviel Verbitterung sich eingefressen hat, wenn auch der eine Teil dem anderen manches aus der Vergangenheit vorwirft, und umgekehrt, ein Tag wie der gestrige ist groß und überwältigend genug, um all das vergessen zu machen. Das Versöhnungswerk darf nicht an einigen Verbitterten scheitern, deren Charakter nicht stark genug ist, um alten Groll überwinden und vergessen zu machen.... Die Bruderhand liegt offen – schlagt ein!" (Vorwärts, 10.11.1918)

Der Vorwärts war an diesem Tag die Zeitung, die sich jeder Arbeiter zu verschaffen suchte. War bis dahin alles, was aus den Reihen der SPD stammte, mit Misstrauen aufgenommen worden, schaffte die SPD es nun mit dieser Demagogie, den Klassengraben zwischen ihr und der Arbeiterklasse zu übertünchen; die ganze Kriegspolitik, der Burgfrieden mit der Bourgeoisie, mit ihren Wirkungen auf die Lage der Arbeiter, alles was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, wollte sie vergessen machen; und viele Arbeiter gingen ihr dabei auf den Leim. So hatte sie mit dieser Vorgehensweise Erfolg bei der ersten Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am 10. November. "‘Wir kennen keine verschiedenen sozialistischen Parteien mehr, wir kennen nur noch Sozialisten.‘ Die Flagge eines neuen Burgfriedens ist gehisst; fanatischer Hass wird gesät gegen jeden, der sich dem neuen Einigkeitstaumel entgegenwirft. Die lautesten Rufer nach Einigkeit ... finden ein hallendes Echo vor allem unter den Soldaten. Kein Wunder. Bei weitem nicht alle Soldaten sind Proletarier; und Belagerungszustand, Zensur, amtliche Propaganda und Stampferei waren nicht wirkungslos. Die Masse der Soldaten ist revolutionär gegen den Militarismus, gegen den Krieg und die offenkundigen Repräsentanten des Imperialismus; im Verhältnis zum Sozialismus ist sie noch zwiespältig, schwankend, unausgegoren. Ein großer Teil der proletarischen Soldaten wie der Arbeiter ... wähnt, die Revolution sei vollbracht, nun gelte es nur noch den Frieden und die Demobilisation [zu verwirklichen]. Sie wollen Ruhe nach langer Qual ... Aber nicht jede "Einigkeit" macht stark. Einigkeit zwischen Wolf und Lamm liefert das Lamm dem Wolfe zum Fraß; Einigkeit zwischen Proletariat und herrschenden Klassen opfert das Proletariat, Einigkeit mit Verrätern bedeutet Niederlage. Nur gleichgerichtete Kräfte stärken sich durch Vereinigung; einander widerstrebende Kräfte zusammenzuketten heißt sie lähmen ... Zerstreuung des Einigkeitsphrasennebels, Bloßstellung aller Halbheit und Lauheit, Entlarvung aller falschen Freunde der Arbeiterklasse ist dann das erste Gebot - heute mehr als je." So beschrieb Liebknecht im Namen der Spartakisten die Lage und die Aufgaben in der Roten Fahne vom 19. November 1918. Mit dieser Taktik des Einigkeitsrummels trat der Rat der Volksbeauftragten gegenüber der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte auf. Weil die bürgerliche Regierung unter dem Deckmantel des Rates der Volksbeauftragten zwischen SPD und USPD paritätisch besetzt war, bestand sie auf einer paritätischen Zusammensetzung der Leitung des Berliner A.- und S.-Rates (Vollzugsrat). Auch schaffte sie es, sich von dieser Vollversammlung ein "Mandat" als provisorische Regierung geben zu lassen, um so ihr konterrevolutionäres Treiben "demokratisch legitimiert" fortzusetzen.

Aber nach "der Beendigung des Weltkriegs und der Beseitigung der augenfälligsten politischen Vertreter des Systems, das zum Krieg geführt hat, darf das Proletariat sich nicht mit diesem Ergebnis begnügen. Es geht um die Aufhebung der kapitalistischen Klassenherrschaft, die Befreiung der Arbeiterklasse überhaupt." (Liebknecht, 28.11.1918) Hier zeichneten sich all die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse ab, das Ziel der Bewegung klar zu erkennen und damit auch die Täuschungs- und Betrugsmanöver der SPD zu durchschauen. "Man kann nicht erwarten, wenn man auf dem Boden historischer Entwicklung steht, dass man in dem Deutschland, das das furchtbare Bild des 4. August und der vier Jahre darauf geboten hat, plötzlich am 9. November 1918 eine großartige, klassen- und zielbewusste Revolution erlebt, - und was wir am 9. November 1918 erlebt haben, war zu drei Vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prinzips. Es war einfach der Moment gekommen, wo der Imperialismus wie ein Koloss auf tönernen Füßen, innerlich morsch, zusammenbrechen musste, und was darauf folgte, war eine mehr oder weniger chaotische, planlose, sehr wenig bewusste Bewegung, in der das einigende Band und das bleibende, das rettende Prinzip nur in der Losung zusammengefasst war: die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte" (Gründungsparteitag der KPD 1918/19).

Nur die Arbeiterklasse konnte den Krieg beenden

Mit ihren Erhebungen Anfang November 1918 hatte die Arbeiterklasse in Deutschland nach dem revolutionären Aufstand in Russland den Weltkrieg schließlich zu Ende gebracht. Der Aufstand eines zentralen Teils der Arbeiterklasse war nötig gewesen, um die Bourgeoisie zur Beendigung des Krieges zu zwingen. Der unbeugsame Widerstand der revolutionären Minderheit - allen voran die Spartakisten an ihrer Spitze - hatte seine Früchte getragen, denn nur dieser heldenhafte Kampf hatte der Arbeiterklasse den Weg zur Beendigung des Kriegs gezeigt. Die Einkerkerung R. Luxemburgs kurz nach Kriegsbeginn, um sie mundtot zu machen, selbst die Festungshaft im Zuchthaus für K. Liebknecht hatten diese bekanntesten Stimmen der Arbeiterklasse nicht zum Schweigen gebracht, sondern nur noch mehr die Widerstandskraft der Arbeiter gegen den Krieg angespornt. So streikten und demonstrierten beispielsweise im Juni 1916 55.000 Arbeiter allein in Berlin gegen den imperialistischen Krieg und die Verurteilung K. Liebknechts. Wie schon in Russland war es in Deutschland ebensowenig der Pazifismus gewesen, der den Krieg zu Ende brachte, sondern nur der Klassenkampf des Proletariats. Und dies ist das große Verdienst der Arbeiterklasse, den Beweis angetreten zu haben, dass sie die große Barriere gegen den Krieg ist und die einzige Kraft, um ihn zu beenden. Und bei dieser Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Klassenkrieg war die Arbeiterklasse gezwungen, einen Sturmlauf gegen den Staat und seine ihn verteidigenden Kräfte anzutreten. Während es der Arbeiterklasse in Russland gelungen war, die Regierung zu stürzen und die Macht zu ergreifen, stieß das Proletariat in Deutschland auf ungleich größere Hindernisse. Nicht nur hatte es hier mit einer viel intelligenteren und mächtigeren Bourgeoisie zu tun, sondern es befand sich auch in einer neuen historischen Situation, wo es die Konsequenzen des Eintritts des Kapitalismus in seinen Zeitraum der Dekadenz zu begreifen hatte.

Dino, November 1998

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Weltrevolution Nr. 182

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