Im Oktober 2004 trafen sich je eine Delegation der ungarischen Gruppe Barikád Kollektíva und der Internationalen Kommunistischen Strömung für eine Diskussion über die folgenden Punkte:
– Russische Revolution, Rolle und Charakter der Bolschewiki und der Linken Fraktionen der Komintern
– Dekadenz des Kapitalismus
– Aktualität: Imperialismus und Klassenkampf
Trotz großer inhaltlicher Divergenzen in praktisch allen Fragen war die Diskussion freundschaftlich und offen. Die jeweiligen Standpunkte kamen ausführlich zur Sprache. Dies war sicher zu einem wesentlichen Teil dem Umstand geschuldet, dass beide Gruppen das gleiche Ziel erreichen wollen, nämlich die klassenlose Gesellschaft, und sich beide auch darüber einig sind, dass dies nur auf dem Weg der revolutionären Überwindung des Kapitalismus auf Weltebene geschehen kann.
Auch darüber hinaus gibt es eine Reihe von programmatischen Gemeinsamkeiten:
– Die einzige Klasse, die heute in der Lage ist, eine solche Revolution durchzuführen, ist das Proletariat.
– Das Proletariat kann auf seinem Weg zur Revolution keine Bündnisse mit der Bourgeoisie oder Teilen von ihr eingehen.
– Angesichts des imperialistischen Krieges verteidigen die Revolutionäre eine internationalistische Haltung.
– Die so genannten nationalen Befreiungsbewegungen und der Antifaschismus sind bürgerliche Anliegen, die nichts mit dem proletarischen Kampf zu tun haben.
– Die Arbeiterklasse ist über alle Grenzen hinweg eine Einheit. Die Revolutionäre haben diese einheitlichen und allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse hervorzuheben.
– Ein Ausdruck der Einheit der Arbeiterklasse ist ihre Tendenz zur Zentralisierung des Kampfes.
Es hier aus Platzgründen nicht möglich, über alle Diskussionspunkte des Treffens zu berichten und eine umfassende Bilanz zu ziehen (1). Wir konzentrieren uns auf zwei Punkte, die in der heutigen Zeit besonders wichtig sind: Einerseits die Verteidigung der historischmaterialistischen Methode und damit die Frage der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution; andererseits die Verantwortung der Revolutionäre, schonungslos die Ausweglosigkeit der heutigen kapitalistischen Realität aufdecken.
Zur Marxistische Methode
Einer der vorgesehenen Diskussionspunkte war die Frage der Dekadenz des Kapitalismus. Die ungarischen Genossen lehnen die von der IKS vertretene Auffassung ab, wonach jede bisherige Produktionsweise eine aufsteigende und eine niedergehende Phase durchlaufen hat. Die IKS verteidigt bekanntlich die Ansicht, dass der Kapitalismus vor rund 90 Jahren aufgehört hat, für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte günstige Bedingungen darzustellen; dass vielmehr umgekehrt der I. Weltkrieg mit seiner Zerstörungswut den Eintritt in die Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise offenbart hat. Dies war auch die Auffassung der meisten Revolutionäre zur damaligen Zeit und in den darauf folgenden Kämpfen der Arbeiterklasse (in Russland, Deutschland, Ungarn etc.), das heißt in der revolutionären Welle von 1917–23.
Die Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD) beispielsweise stellte 1920 in ihrem Programm fest: „Die aus dem Weltkrieg geborene Weltwirtschaftskrise mit ihren ungeheuerlichen ökonomischen und sozialen Auswirkungen, deren Gesamtbild den niederschmetternden Eindruck eines einzigen Trümmerfeldes von kolossalem Ausmaß ergibt, besagt nichts anderes, als dass die Götterdämmerung der bürgerlichkapitalistischen Weltordnung angebrochen ist. Nicht um eine der in periodischem Ablauf eintretenden, der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlichen Wirtschaftskrisen handelt es sich heute, es ist die Krise des Kapitalismus selbst (…) Immer deutlicher zeigt sich, dass der sich von Tag zu Tag noch verschärfende Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, dass der auch den bisher indifferenten Schichten des Proletariats immer klarer bewusst werdende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht gelöst werden kann. Der Kapitalismus hat sein vollständiges Fiasko erlebt, er hat im imperialistischen Raubkriege sich selbst historisch widerlegt, er hat ein Chaos geschaffen, dessen unerträgliche Fortdauer das internationale Proletariat vor die welthistorische Alternative stellt: Rückfall in die Barbarei oder Aufbau einer sozialistischen Welt.
(…)
In Verfolg ihrer maximalistischen Absichten entscheidet sich die KAPD auch für die Ablehnung aller reformistischen und opportunistischen Kampfmethoden, in denen sie nur ein Ausweichen vor ernsten und entscheidenden Kämpfen mit der bürgerlichen Klasse sieht. Sie will diesen Kämpfen nicht ausweichen, sie fordert sie vielmehr heraus. In einem Staat, der alle Merkmale der eingetretenen Periode des kapitalistischen Zerfalls aufweist, gehört auch die Beteiligung am Parlamentarismus zu den reformistischen und opportunistischen Kampfmethoden.“
Die Genossen des Barikád-Kollektivs dagegen sind der Meinung, dass eine solche Aufteilung der Geschichte in aufsteigende und niedergehende Phasen keinen Sinn mache, sondern vielmehr mechanistisch sei. Mit dem Auftauchen des Privateigentums habe es immer auch schon Unterdrückte gegeben, die sich gegen die Ausbeutung und die herrschende Klasse zur Wehr gesetzt hätten; der Spartacus-Aufstand der Sklaven im Alten Rom oder die Bauernkriege in Deutschland im 16. Jahrhundert seien Beweise dafür. So wie es ständig Klassenkampf gebe, sei grundsätzlich auch die revolutionäre Überwindung der herrschenden Klassenverhältnisse jederzeit möglich. Es sei eine Ablenkung von dieser revolutionären Aufgabe, wenn man behaupte, dass die proletarische Revolution 1871, zur Zeit der Pariser Kommune, noch nicht möglich gewesen sei.
Da sich das Barikád-Kollektiv sonst bei seinen Positionen auch und insbesondere auf Marx und Engels bezieht, versuchte die Delegation der IKS herauszufinden, inwieweit (wenn überhaupt) es in dieser Frage eine Übereinstimmung mit den Begründern der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung gibt. Für Marx und Engels war der Parlamentarismus im 19. Jahrhundert eine notwendige Waffe im Arsenal der Arbeiterklasse; sie unterstützten zu jener Zeit auch verschiedene nationale Kämpfe als wichtig für die Reifung der Voraussetzungen der proletarischen Revolution. Im niedergehenden Phase des Kapitalismus hingegen sind diese Mittel und Kämpfe nicht nur nutzlos, sondern auch konterrevolutionär. Die ungarischen Genossen hielten dazu fest, dass Marx’ und Engels’ Unterstützung von gewissen nationalen Kämpfen eine „Sünde“ gewesen sei. Das Barikád Kollektíva erachte die Methode von Marx und Engels nicht als gültig.
Auch für die IKS sind Namen und Personen für sich allein nicht ausschlaggebend. Wir sind nicht der Meinung, dass jeder Satz von Marx oder anderen Revolutionären als richtig unterschrieben werden muss. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil sie sich manchmal selber widersprochen und frühere Ansichten als Irrtümer oder als an eine bestimmte Zeit gebunden anerkannten. Die einen konnten mehr zur Weiterentwicklung der revolutionären Theorie beitragen als andere, ohne dass letztere allein wegen ihren Fehlern als konterrevolutionär betrachtet werden müssten. Was aber die historische und materialistische Methode von Marx und Engels betrifft, so erscheint sie uns als unabdingbar, wenn es darum geht, die vergangenen und gegenwärtigen Klassenverhältnisse im Hinblick auf ihre revolutionäre Überwindbarkeit zu analysieren. Marx stellte nach den Kämpfen von 1848 zurecht fest, dass er und die anderen Genossen des Kommunistischen Bundes die Möglichkeiten einer Revolution überschätzt hatten: „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig erst entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution überhaupt keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten.“ (Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW Bd. 7 S. 98)
Damit eine Revolution erfolgreich sein kann, müssen verschiedene objektive und subjektive Bedingungen erfüllt sein. Die alte Ordnung, die überwunden werden soll, muss aufgehört haben, eine Perspektive anzubieten, an der es sich lohnt festzuhalten. Sie muss ihre Vitalität verloren haben und so hinfällig und überlebt erscheinen, dass selbst die Herrschenden sie nicht mehr verteidigen können. Gleichzeitig muss eine Klasse vorhanden sein, die eine neue Perspektive, die zukünftige Gesellschaft verkörpert und die auch in der Lage und willens ist, den revolutionären Umsturz an die Hand zu nehmen. Vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend kann man mindestens vier geschichtliche Bedingungen für den Erfolg einer revolutionären Bewegung unterscheiden:
a) Die alte Gesellschaftsordnung muss für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu eng geworden sein.
b) Die Herrschenden haben ihre Legitimität zur Fortsetzung der Herrschaft verloren. Sie können nicht mehr regieren.
c) Die revolutionäre Klasse ist nicht mehr bereit, sich länger unterdrücken zu lassen. Sie will nicht mehr regiert werden.
d) Im maßgeblichen geographischen Rahmen verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen der herrschenden und der revolutionären Klasse so stark zugunsten der letzteren, dass der Sieg der letzteren auch militärisch zu halten ist (wobei die proletarische Revolution eine Weltrevolution ist, so dass das Kräfteverhältnis im Weltmaßstab zugunsten des Proletariats kippen muss).
Es liegt in der Natur der Sache, dass die verschiedenen Bedingungen zueinander in einem Verhältnis stehen und nicht völlig voneinander getrennt werden können. Aber man kann diese Faktoren voneinander unterscheiden und feststellen, dass eine Revolution scheitern muss, wenn auch nur eine dieser vier Voraussetzungen nicht erfüllt ist. Marx und Engels erkannten sowohl nach 1848 als auch 1871, dass der Kapitalismus seine historische Mission noch nicht zu Ende gebracht hatte; es lag also an der ersten Voraussetzung, dass der Juni-Aufstand 1848 und die Kommune in Niederlagen endeten.
Die Revolutionen in Deutschland und Ungarn 1919/20 können natürlich auch nicht isoliert betrachtet werden; sie waren Teil der weltrevolutionären Welle. Aber entscheidend bei ihrem Scheitern war der dritte Faktor: Der Wille und die Fähigkeit der revolutionären Klasse und ihrer Avantgarde, die begonnene Umwälzung zu Ende zu führen, waren nicht genügend weit entwickelt, so dass es der herrschenden Klasse gelang, sich mit einer neuen Regierung wieder fest zu etablieren (zweiter Faktor).
Für das Scheitern der Russischen Revolution war schließlich der vierte Faktor ausschlaggebend: ein Land allein kann die proletarische Revolution nicht vollenden. Das Kräfteverhältnis hätte international kippen müssen. In Russland konnte die kapitalistische Produktionsweise nie abgeschafft werden. Das Gegenteil zu behaupten, war Etikettenschwindel und in der Konsequenz (stalinistische) Konterrevolution.
Wenn die Marxisten mit dieser historisch-materialistische Methode die Bedingungen der Revolution untersuchen, so hat dies überhaupt nichts mit einer mechanistischen Herangehensweise zu tun. Die oben erwähnten Beispiele zeigen zur Genüge, dass wir nicht allein objektive, sondern auch subjektive Faktoren betrachten. Letztlich hängt alles vom Proletariat ab, von seinem Bewusstsein, seinem Willen und der Einheit. Von der Dekadenz der Kapitalismus als einer notwendigen Voraussetzung für die proletarische Revolution zu sprechen, hat insbesondere nichts zu tun mit einem Fatalismus, demzufolge die kapitalistische Gesellschaftsordnung von allein zusammenbrechen würde. Es braucht den bewussten Akt der Arbeiterklasse, um diesem System ein Ende zu bereiten. „Der Zusammenbruch des Kapitalismus bei Marx hängt in der Tat von dem Willen der Arbeiterklasse ab; aber dieser Wille ist nicht Willkür, nicht frei, sondern selbst vollkommen bestimmt durch die ökonomische Entwicklung.“ (Anton Pannekoek, Die Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus)
Illusionen über die gegenwärtigen Lage
Für Barikád Kollektíva und für die IKS war es ein wichtiges Anliegen, auch über die Einschätzung der aktuellen Lage zu diskutieren. Aus Zeitgründen konzentrierten wir uns auf die Frage des Imperialismus.
Auch hier waren die Auffassungen kontrovers. Beide Gruppierungen vertreten zwar gegenüber den imperialistischen Kriegen einen internationalistischen Standpunkt, demzufolge in all den imperialistischen Konflikten keine kriegführende Partei unterstützt werden kann: weder Israel noch Palästina, keine Fraktion in den irakischen Wirren, in Tschetschenien oder anderswo – das Proletariat hat in all diesen Kriegen nichts zu gewinnen. Einig waren wir uns auch, dass Pazifismus nicht weiterhilft, sondern der Kapitalismus als solcher überwunden werden muss, damit auch die Kriege aufhören.
Was hingegen die konkreten Hintergründe in den einzelnen imperialistischen Auseinandersetzungen betrifft, hörten die Gemeinsamkeiten schnell auf. Während die IKS davon ausgeht, dass es reale Widersprüche zwischen den verschiedenen Kriegsgegnern und insbesondere zwischen den Großmächten gibt, die sich gegenseitig Schaden zufügen und ihre eigene Macht ausbauen wollen, vertritt das Barikád-Kolletiv die Auffassung, dass diese Widersprüche nur die Oberfläche darstellen würden und die Kriege im Grunde genommen gegen die Arbeiterklasse gerichtet seien. Der Kapitalismus leide an einer Überproduktion, und zwar v.a. an einer Überproduktion der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie ziele mit ihren dauernden Kriegen vor allem auf die Eliminierung der Proletarier ab. Diese seien ja auch die Opfer der Massaker auf dem Balkan, in Afrika und im Nahen Osten. Der II. Weltkrieg sei eine Antwort der Weltbourgeoisie auf die Kämpfe der Arbeiterklasse in den 1930er Jahren gewesen, die in Spanien, Frankreich und China stattgefunden hätten. Für die Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern seien bekanntlich nicht allein die Nazis, sondern auch die Alliierten verantwortlich. Auch bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto habe sich die Komplizenschaft der verschiedenen Imperialisten, konkret von Hitler und Stalin, gezeigt.
Die IKS antwortete darauf mit einer Kritik auf zwei Schienen: Einerseits unterschätzt das Barikád-Kollektiv die Ernsthaftigkeit des Zustandes der kapitalistischen Welt, andererseits überschätzt es die Fähigkeit der Bourgeoisie, den Absturz ins Chaos zu kontrollieren bzw. ad infinitum hinauszuschieben. Es trifft natürlich zu, dass die Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat geeint auftreten kann und dies auch immer dann tut, wenn es für die herrschende Ordnung gefährlich wird oder werden könnte. Die Arbeitsteilung zwischen den Nationalsozialisten und der Roten Armee gegenüber dem Aufstand im Warschauer Ghetto ist ein Beispiel; die Komplizenschaft der Bourgeoisien aller Länder gegenüber dem kämpfenden Proletariat im November 1918 ist ein weiteres – der Krieg wurde sofort beendet, damit die herrschende Klasse in Deutschland, Österreich und Ungarn die Hände frei hatte zur Bekämpfung der entstehenden Rätemacht. Und für die IKS gibt es natürlich keinen Zweifel daran, dass die Alliierten und die Nazis für den Holocaust gemeinsam verantwortlich waren; schon 1945 stellten unsere politischen Vorgänger von der Kommunistischen Linken Frankreichs (Gauche Communiste de France) die gesamte internationale Bourgeoisie für deren makabre Demagogie im Zusammenhang mit den Konzentrationslagern an den Pranger (2).
Doch diese Einigkeit der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat darf uns nicht über die Tatsache hinweg täuschen, dass die herrschende Klasse an den Nationalstaat gebunden bleibt und die Widersprüche zwischen den einzelnen Staaten nicht überwinden kann. Erst die Arbeiterklasse ist eine wahrhaft internationale Klasse, die über alle Grenzen hinweg die gleichen Interessen hat. Die Bourgeoise dagegen funktioniert immer nach den Gesetzen der Konkurrenz: jeder gegen jeden. Insbesondere seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, seit der Weltmarkt grundsätzlich aufgeteilt ist und keine bedeutenden außerkapitalistischen Märkte mehr erobert werden können, spitzte sich diese Konkurrenz zu einem mörderischen Kampf zu, in dem jeder Nationalstaat dauernd darauf bedacht sein muss, seine Einflusssphäre gegen alle Rivalen zu verteidigen bzw. möglichst zu vergrößern. Genau aus diesem Grund werden seither so zahlreiche und so zerstörerische Kriege geführt wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die ganze Barbarei der dekadenten kapitalistischen Ausbeutungsordnung kommt nicht allein in der Hölle der Produktionsstätten und im Massenelend zum Ausdruck, sondern auch in den unkontrollierbaren Konflikten zwischen den Nationalstaaten. Es ist eine gefährliche Illusion zu meinen, dass es hinter diesem Abschlachten des Proletariats in all den Kriegen, die seit 1914 geführt worden sind und immer noch werden, eine ökonomische Rationalität gebe.
Die Situation ist äußerst ernst. Und nur die bewusste, geeinte Tat des Proletariats kann den Untergang der Menschheit (und vielleicht jeden Lebens auf dem Planeten) aufhalten (3). Sich darüber Illusionen zu machen, wäre nicht nur dumm, sondern verantwortungslos. Denn die Zeit läuft gegen uns: Wenn die Barbarei der Massaker, der kriegerischen Zerstörung, des Raubbaus an der Natur noch lange fortdauert, wird ein Punkt eintreten, an dem es kein Zurück mehr gibt und die Perspektive einer klassenlosen Gesellschaft definitiv verloren geht, weil schlicht der Boden, auf dem eine solche Gesellschaft wachsen sollte, zerstört ist – im wörtlichen und im übertragenen Sinn.
Wie Pannekoek im bereits zitierten Aufsatz sagte: Die Beseitigung alter Illusionen ist die erste Aufgabe der Arbeiterklasse!
31.01.05
Fußnoten:
1) Die beiden Delegationen vereinbarten, dass jede eine Bilanz verfassen und diese vor der Veröffentlichung der anderen zur Vermeidung allfälliger Missverständnisse beim Zitieren der Position der anderen Gruppe unterbreiten sollte. Die Bilanz von Barikád Kollektíva befindet sich auf dem Internet unter anarcom.lapja.hu (auf Englisch und Ungarisch)
2) Vgl. dazu den Artikel „Die gemeinsame Verantwortung der Alliierten und der Nazis für den Holocaust“.
3) Wenn das Proletariat nicht geschlagen ist, kann die Bourgeoisie auch nicht einen Weltkrieg lostreten. Deshalb ist die Analyse von Barkikád, wonach der 2. Weltkrieg eine Antwort auf die Kämpfe der Arbeiterklasse in Spanien, Frankreich und China in den 1930er Jahren gewesen sei, falsch. Das Gegenteil trifft zu: Nur aufgrund der Niederlage der Arbeiterklasse nach der revolutionären Welle konnte die Bourgeoisie der verschiedenen Staaten in den verallgemeinerten Krieg ziehen (vgl. unser Buch The Italian Communist Left 1926–1945, auf Englisch, Französisch oder Italienisch bzw. Auszüge in Broschürenform auf Deutsch).
Dein Leserbrief dreht sich um die Themen Rassismus und Spaltung der Arbeiterklasse, und zwar anhand der Protestkundgebungen von Roma in der Ostslowakei im Frühjahr 2004. Die Roma protestierten gegen die Kürzung der Sozialhilfe um die Hälfte. Die Demonstration wurde von der Polizei auseinandergejagt, wobei es zahlreiche Verletzte und auch einen Toten (natürlich unter den Roma) gab. Du schreibst, dass für Dich grotesk gewesen sei, „dass die ‚slawischen’ Arbeiter einfach zusahen, obwohl viele von ihnen ebenfalls von dieser Halbierungsmaßnahme hart getroffen werden“. Du gehst weiter gestützt auf verschiedene Quellen davon aus, dass der Rassismus gegen Roma in Osteuropa weit verbreitet ist und sagst, dass Du es für nötig hältst, dass „Kommunisten dazu Stellung beziehen und eine Taktik gegenüber dem Rassismus entwickeln (...)
Dein Leserbrief dreht sich um die Themen Rassismus und Spaltung der Arbeiterklasse, und zwar anhand der Protestkundgebungen von Roma in der Ostslowakei im Frühjahr 2004. Die Roma protestierten gegen die Kürzung der Sozialhilfe um die Hälfte. Die Demonstration wurde von der Polizei auseinandergejagt, wobei es zahlreiche Verletzte und auch einen Toten (natürlich unter den Roma) gab. Du schreibst, dass für Dich grotesk gewesen sei, „dass die ‚slawischen’ Arbeiter einfach zusahen, obwohl viele von ihnen ebenfalls von dieser Halbierungsmaßnahme hart getroffen werden“. Du gehst weiter gestützt auf verschiedene Quellen davon aus, dass der Rassismus gegen Roma in Osteuropa weit verbreitet ist und sagst, dass Du es für nötig hältst, dass „Kommunisten dazu Stellung beziehen und eine Taktik gegenüber dem Rassismus entwickeln (...) Lenin soll etwa zu Anfang des 20. Jahrhunderts einmal in der Immigrantenfrage - in Russland gab es das ‚Problem’, dass aus allen vor allem den östlichsten Regionen des Zarenreiches wandernde Proletarier in die eher westlichen Zentren drängten - gesagt haben: ‚Lasset sie kommen, auf dass wir sie organisieren!’ Es hat tatsächlich einen fortschrittlichen Charakter, wenn Proletarier aus der Provinz und der Peripherie in die Zentren des Kapitalismus wandern, weil sie hier die proletarische Armee stärken, ganz besonders dann, wenn wir Kommunisten sie ihrer Diskriminierung, ihrer Assimilierung und Integrierung durch den bürgerlichen Staat zum Trotz, wenn wir sie agitieren. Der Kampf gegen Rassismus ist kein gesonderter Teil des Kampfes, sondern integraler Teil des Gesamtkampfes gegen den Kapitalismus. (...) Wenn in einem bürgerlichen Staat Schutzgesetze gegen Diskriminierung ... gegen Folter bestehen, fordern wir deren Einhaltung und denunzieren deren Nichteinhaltung und deren Alibifunktion.“ Im Anhang zu Deinem Brief weist Du weiter auf die Gefahr hin, dass sich Arbeitsimmigranten mit ihrem Herkunftsstaat identifizieren, was sich als politisches Hindernis auf dem Weg zur Kooperation mit der proletarischen Weltgemeinschaft erweise. Schliesslich kommst Du noch auf Gefahren für die Proletarier der Roma-Minderheit zu sprechen: „Die Proletarier der Roma dürfen nicht den Fehler machen, sich politisch mit den Minderheiten-Organisationen zu identifizieren. Sie müssen sich politisch auf das internationale Klassenterrain begeben. Nur auf dem internationalen Klassenterrain können sie ihre Klassenschwestern und -Brüder finden. (...) Auch in der Roma-Minderheit-Gruppe gibt es die Spaltung in Proletarier und Bourgeois.“
Wir möchten mit unserer Antwort gleich mit diesem letzten Gedanken beginnen, da er letztlich den Rahmen für die Stellungnahme zu den übrigen Ausführungen gibt: Entscheidend ist bei jedem Kampf, bei jedem Protest, bei jeder Bewegung, auf welchem Klassenterrain sie sich befinden. Ist der Kampf ein proletarischer oder ein Klassen übergreifender? Die Arbeiterklasse hat ihre spezifischen Interessen. Sie muss in ihren Kämpfen darauf achten, dass sie die Kontrolle über ihre Mittel und Ziele nicht verliert; sie muss ihre Selbständigkeit gegenüber anderen Klassen (Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Lumpenproletariat) und gegenüber den Organen des Staates (Gewerkschaften) verteidigen. Über diese Grundsätze sind wir uns wahrscheinlich einig.
Weniger klar ist aufgrund der vorhandenen Informationen der genaue Charakter der Proteste der Roma vor gut einem Jahr. Es spricht aber vieles dafür, dass sich die Roma als Leute, die die gleiche Sprache sprechen, zur Wehr setzten, und nicht als Arbeiter. Aus den Zeitungsberichten, die Du uns seinerzeit zukommen liessest, ergibt sich nicht, dass sich primär die Roma-Arbeiter an den Protestkundgebungen versammelt hätten. Vielmehr veranstalteten anscheinend die Roma-Familien als Roma, eben klassenübergreifend, den Protest. Dass beispielsweise irgendwo Arbeiter in einen Streik getreten wären, liess sich den Meldungen aus der Presse (die natürlich die bürgerliche ist und mit Vorsicht genossen werden muss) nicht entnehmen. Es ist ohnehin davon auszugehen, dass sich primär Sozialhilfeempfänger an diesen Protestaktionen beteiligten, die zwar zum grösseren Teil zur Arbeiterklasse gehören dürften, aber ohne Beteiligung von Arbeitern, die noch im Produktionsprozess stehen, einen schweren Stand haben mussten. Dies erklärt wohl auch zu einem guten Teil, weshalb anscheinend nur Roma an den Kundgebungen teilnahmen, denn wenn sich Arbeiter in den Betrieben gegen Angriffe auf die Lebensbedingungen zur Wehr setzen, spielen Hautfarbe und Muttersprache meistens keine Rolle mehr.
Wenn sich Roma als Volksgruppe zur Wehr setzen, kann auch kein Gefühl einer Klassenidentität aufkommen, selbst wenn die meisten Proletarier wären (was im konkreten Fall alles andere als verbürgt ist). Dies ist in der heutigen Zeit die grosse Herausforderung für die Arbeiterklasse, nicht nur am östlichen Rand von Mitteleuropa, sondern selbst dort, wo sich die starken Konzentrationen der Arbeiterklasse befinden: Deutschland, Frankreich, Italien, Grossbritannien etc. Die Arbeiter müssen sich wieder als Klasse wahrnehmen, begreifen und Vertrauen in ihre Stärke gewinnen. Dieser Prozess wird aber voraussichtlich zuerst in den Zentren der kapitalistischen Wirtschaft in Gang kommen - er ist bereits in Gang, wenn auch erst schüchtern und uneinheitlich. Die Proteste von verarmten Bauern in Bolivien, von Arbeitslosen in Argentinien, von Roma in der Ostslowakei sind zwar verständlich, aber meist nicht nur ohnmächtig, sondern darüber hinaus dazu verdammt, auf dem Roulette-Tisch der Bourgeoisie von Gewerkschaften, Piqueteros, der Mafia, NGOs etc. hin- und hergeschoben zu werden (vgl. dazu auch den Artikel des NCI in der neusten Internationalen Revue Nr. 35 „Die Mystifikation der Piqueteros in Argentinien“). Es sind diese bürgerlichen Organisationen, die daraus ihren Nutzen ziehen, manchmal die einen, manchmal die anderen - in jedem Fall jede gegen jede.
Wir teilen Deine Empörung gegenüber dem Rassismus, gegenüber jeder Art von Pogrommentalität. Wir haben bereits im letzten längeren Brief (vom 20. Februar) auf die Wichtigkeit einer proletarischen Ethik hingewiesen. Aber für die Lage der Roma in Osteuropa ist der „Rassismus der Slawen“ (Du sagst es zwar nicht so, aber den Gedanken konsequent zu Ende geführt, bedeutet er dies) weder der Kern des Problems noch der Ansatzpunkt für eine Lösung. Der Schlüssel liegt vielmehr, wie Du richtig mit Deinem Hinweis auf den Internationalismus vermutest, in der Erkenntnis der Arbeiter welcher Zunge auch immer, dass sie alle Arbeiter sind und ein gemeinsames Interesse haben: dasjenige an der Abschaffung der Lohnsklaverei und der Profitlogik.
Zu den „Schutzgesetzen gegen Diskriminierung und Folter“: Wir sind damit einverstanden, dass eine revolutionäre Organisation die Nichteinhaltung dieser Gesetze und deren Alibifunktion entlarven muss. Aber „deren Einhaltung“ zu „fordern“, ist nicht unsere Funktion - im Gegenteil: Dies würde die Illusion nähren, dass ihnen doch irgendwie noch eine positive, progressive Funktion zukomme. Und genau diese Lüge müssen wir ja schonungslos als solche beleuchten und zerreissen. Die Demokratie gehört auf den Müllhaufen der Geschichte, sie soll nicht mehr eingefordert werden, nicht einmal in Teilaspekten.
Was den von Dir zitierte Satz Lenins betrifft, so darf man nicht vergessen, dass der Kapitalismus zur damaligen Zeit (Anfang des 20. Jahrhunderts) noch eine andere Dynamik hatte als heute. Die relativ hoch entwickelte Industrie im Westen des Zarenreichs, war noch in der Lage, die anströmenden proletarisierten oder sich proletarisierenden Bauern in den Produktionsprozess zu integrieren, ihnen Arbeit zu geben und sie als Arbeitskräfte auszubeuten. Die Putilov-Werke in St. Petersburg waren die grösste Fabrik der Welt. Wie fürchtet sich dagegen das deutsche Kapital heute vor einer Öffnung der EU-Tore für die türkischen Arbeiter! Heute findet gewissermassen der umgekehrte Prozess statt: Es sind nicht mehr die Bauern aus der Peripherie, die sich in den Zentren proletarisieren, sondern Arbeiter von überall, die auch im Zentrum keine Anstellung mehr finden und in der Konsequenz der absoluten Verarmung preisgegeben sind. Der Kapitalismus ist in seiner Endphase angelangt, wo er sein „letztes Wort“ spricht - in seiner Zerfallsphase: „Man begreift die Narrheit der ökonomischen Weisheit, die den Arbeitern predigt, ihre Zahl den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals anzupassen. Der Mechanismus der kapitalistischen Produktion und Akkumulation passt diese Zahl beständig diesen Verwertungsbedürfnissen an. Erstes Wort dieser Anpassung ist die Schöpfung einer relativen Überbevölkerung oder industriellen Reservearmee, letztes Wort das Elend stets wachsender Schichten der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht des Pauperismus.“ (Marx, Kapital, MEW 23, 674)
Die Zeit des Kapitalismus ist abgelaufen; doch nicht nur dies - sie läuft mittlerweile auch gegen die Arbeiterklasse. Die Bedingungen für die proletarische Revolution werden nicht besser, sondern mit jedem Tag schwieriger. Dies war vor 100 Jahren wesentlich anders. Insofern gilt auch für den von Dir zitierten Satz Lenins: Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Oder wie Engels sagte: „Darin aber grade lag die wahre Bedeutung und der revolutionäre Charakter der Hegelschen Philosophie (...), dass sie der Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus machte.“ (MEW 21, 267) Eine Invarianz ist dem Marxismus fremd, zutiefst zuwider.
Wir möchten diesen Brief hiermit einstweilen abschliessen. Vielleicht hat es andere wichtige Aspekte in Deinem Schreiben, auf die wir noch nicht eingegangen sind. Wir haben nicht zu jedem Punkt, mit dem wir einverstanden sind, ausdrücklich Stellung genommen, sondern sind eher auf diejenigen Fragen eingegangen, die für uns in Deinem Brief unklar oder mit denen wir nicht einverstanden sind. Schreib uns aber gerne, wenn Du auch eine Stellungnahme zu anderen, hier nicht behandelten Themen wünschst. Und selbstverständlich sind wir an Deiner Replik auf unsere Antwort interessiert.
Mit den besten Wünschen und Grüssen
IKS
Wer waren die ersten Opfer der terroristischen Angriffe im Zentrum Londons am 7. Juli 2005? Wie in New York 2001 und Madrid 2004 richteten sich die Bomben bewusst gegen Arbeiter, Menschen, die U-Bahn und Busse auf ihrem Weg zur Arbeit benutzten. Al Qaida, das die Verantwortung für diesen Massenmord übernommen hat, sagt, dass es aus Rache für die „britischen militärischen Massaker im Irak“ gehandelt habe. Doch das endlose Gemetzel an der Bevölkerung im Irak ist nicht die Schuld der arbeitenden Menschen in Großbritannien; es geht auf das Konto der herrschenden Klasse Großbritanniens, Amerikas – nicht zu vergessen die Terroristen des so genannten „Widerstandes“, die Tag für Tag ihren eigenen Part beim Töten unschuldiger Arbeiter und Zivilisten in Bagdad und anderen irakischen Städten spielen.
Wer waren die ersten Opfer der terroristischen Angriffe im Zentrum Londons am 7. Juli 2005? Wie in New York 2001 und Madrid 2004 richteten sich die Bomben bewusst gegen Arbeiter, Menschen, die U-Bahn und Busse auf ihrem Weg zur Arbeit benutzten. Al Qaida, das die Verantwortung für diesen Massenmord übernommen hat, sagt, dass es aus Rache für die „britischen militärischen Massaker im Irak“ gehandelt habe. Doch das endlose Gemetzel an der Bevölkerung im Irak ist nicht die Schuld der arbeitenden Menschen in Großbritannien; es geht auf das Konto der herrschenden Klasse Großbritanniens, Amerikas – nicht zu vergessen die Terroristen des so genannten „Widerstandes“, die Tag für Tag ihren eigenen Part beim Töten unschuldiger Arbeiter und Zivilisten in Bagdad und anderen irakischen Städten spielen. Die Architekten des Krieges gegen den Irak, die Bushs und Blairs, sind dagegen gut aufgehoben; darüber hinaus verschaffen ihnen die Gräueltaten der Terroristen die perfekte Ausrede, ihr nächstes militärisches Abenteuer in Angriff zu nehmen, so wie sie es in Afghanistan und im Irak im Kielwasser des 11. Septembers gemacht haben.
All dies befindet sich in der Logik des imperialistischen Krieges: Kriege, die im Interesse der kapitalistischen Klasse ausgefochten werden, Kriege um die Vorherrschaft über den Planeten. Die weite Mehrheit der Opfer solcher Kriege sind die Ausgebeuteten, die Unterdrückten, die Lohnsklaven des Kapitals. Die Logik des imperialistischen Krieges rührt nationalen und rassischen Hass auf und macht ganze Völker zu „Feinden“, die beleidigt, angegriffen und vernichtet werden. Sie hetzt Arbeiter gegen Arbeiter auf und macht es ihnen unmöglich, ihre gemeinsamen Interessen zu verteidigen. Schlimmer noch, sie ruft die Arbeiter dazu auf, sich hinter der Nationalfahne und dem Nationalstaat einzureihen, um bereitwillig in den Krieg zu ziehen für Interessen, die nicht die ihren sind, sondern die Interessen ihrer Ausbeuter sind.
In seiner Stellungnahme zu den Bombenanschlägen in London auf dem Treffen der Reichen und Mächtigen anlässlich des G8-Gipfels sagte Blair: „Es ist jedoch wichtig, dass jene, die sich am Terrorismus beteiligen, erkennen, dass unsere Entschlossenheit, unsere Werte und unseren Lebenswandel zu verteidigen, größer ist als ihre Entschlossenheit, unschuldigen Menschen Tod und Zerstörung zu bringen“.
Die Wahrheit ist, dass Blairs Werte und Bin Ladens Werte exakt dieselben sind. Beide sind gleichermaßen bereit, bei der Verfolgung ihrer schmutzigen Absichten unschuldigen Menschen Tod und Zerstörung zu bringen. Der einzige Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass Blair ein großer imperialistischer Gangster und Bin Laden ein kleiner ist. Wir sollten entschieden all jene zurückweisen, die uns auffordern, für die eine oder die andere Seite Partei zu ergreifen.
Alle Solidaritätserklärungen der „Weltführer“ mit den Opfern der Londoner Bombenanschläge sind pure Heuchelei. Sie sind die Führer eines Gesellschaftssystems, das im letzten Jahrhundert in zwei barbarischen Weltkriegen und zahllosen anderen Konflikten, von Korea bis zum Golfkrieg, von Vietnam bis Palästina, zig Millionen Menschenleben auslöschten. Und im Gegensatz zu den Illusionen, mit denen Geldof, Bono und der Rest hausieren gehen, sind sie die Führer eines Systems, das schon wegen seines eigentlichen Charakters die Armut nicht „zu Geschichte machen“ kann, sondern Hunderte von Millionen zu wachsendem Elend verurteilt und bei der Verteidigung seiner Profite fleißig den Planeten vergiftet. Die Solidarität, die die Weltführer wollen, ist eine falsche Solidarität, die nationale Einheit zwischen Klassen, die es ihnen erlauben wird, künftig neue Kriege auszulösen.
Die einzig wahre Solidarität ist die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, die auf gemeinsamen Interessen beruht, die von den Ausgebeuteten aller Länder geteilt wird. Eine Solidarität, die über alle rassischen und religiösen Teilungen hinweg schreitet und die die einzige Kraft ist, die der kapitalistischen Logik des Militarismus und Krieges widerstehen kann.
Die Geschichte hat die Macht einer solchen Solidarität gezeigt: 1917-18, als Meutereien und Revolutionen in Russland und Deutschland dem Blutbad des Ersten Weltkrieges ein Ende gemacht haben. Und die Geschichte zeigte auch, welch fürchterlichen Preis die Arbeiterklasse zahlte, als diese Solidarität erneut von nationalem Hass und der Loyalität gegenüber der herrschenden Klasse ersetzt wurde: der Holocaust des Zweiten Weltkrieges. Heute verbreitet der Kapitalismus erneut Krieg über die Erde. Wenn wir ihn dabei aufhalten wollen, uns mit Chaos und Zerstörung zu überziehen, müssen wir all die patriotischen Appelle unserer Herrscher zurückweisen, für die Verteidigung unserer Interessen als Arbeiter kämpfen und uns gegen diese sterbende Gesellschaft, die uns nichts anderes anzubieten hat als Tod und Schrecken in ständig wachsenden Dimensionen, vereinen.
Internationale Kommunistische Strömung
7. Juli 2005
Wir veröffentlichen im Folgenden eine Antwort auf den Brief eines unserer Kontakte, der uns schrieb, um die, wie der Genosse sie nannte, „rätistische Bilanz der russischen Revolution“ zu verteidigen. Seit dem Verschwinden der holländischen Gruppe um „Daad en Gedachte“ gibt es innerhalb der proletarischen Bewegung keinerlei organisierten Ausdruck des Rätismus mehr. Nichtsdestotrotz erfreut sich die rätistische Position innerhalb der gegenwärtigen revolutionären Bewegung großer Beliebtheit.
Wie soll man mit dem „Russischen Rätsel“ umgehen?
Wir veröffentlichen im Folgenden eine Antwort auf den Brief eines unserer Kontakte, der uns schrieb, um die, wie der Genosse sie nannte, „rätistische Bilanz der russischen Revolution“ zu verteidigen. Seit dem Verschwinden der holländischen Gruppe um „Daad en Gedachte“ gibt es innerhalb der proletarischen Bewegung keinerlei organisierten Ausdruck des Rätismus mehr. Nichtsdestotrotz erfreut sich die rätistische Position innerhalb der gegenwärtigen revolutionären Bewegung großer Beliebtheit.
Der Rätismus verwirft einerseits liberale, anarchistische und sozialdemokratische Positionen, andererseits aber auch die Positionen der „Leninisten“, Stalinisten und Trotzkisten. Dies sieht auf den ersten Blick sehr attraktiv aus.
Den Kern der rätistischen Position bildet das so genannte „russische Rätsel“, eine Fragestellung von großer Bedeutung für die gegenwärtige und zukünftige Arbeiterbewegung. In ihr wird die Frage aufgeworfen, ob die russische Revolution einen Versuch darstellt, der – kritisch betrachtet, wie es die Art des Marxismus ist - als Grundlage für die nächste revolutionäre Welle dienen kann, oder ob sie - wie die Bourgeoisie, durch den Anarchismus und indirekt durch den Rätismus bestärkt, sagt - völlig abgelehnt werden müsse, da das Monster des Stalinismus seinen Ursprung im „Leninismus“ habe. [1]
Aus unserer Sicht ist es wichtig und notwendig, den Brief des Genossen zu beantworten, denn diese Debatte erlaubt uns, einerseits die rätistische Position zu widerlegen und andererseits zur Klärung innerhalb der revolutionären Bewegung beizutragen.
Werter Genosse,
zu Beginn deines Textes wirfst Du eine Frage auf, die wir vollständig teilen: „Das Verständnis von der Verteidigung der Russischen Revolution ist eine fundamentale Frage für die Arbeiterklasse, denn wir leben noch immer unter der Last des Scheiterns der revolutionären Welle, die mit der Russischen Revolution begonnen hatte: Dies vor allem, weil die Konterrevolution nicht die klassische Form der militärischen Wiederherstellung der alten Herrschaft annahm, sondern die des Stalinismus, der sich selbst ‚kommunistisch’ nannte. Dies bedeutete einen fürchterlichen Schlag für das internationale Proletariat. Die Bourgeoisie hat diesen Vorteil vollständig ausgeschlachtet, um unter den Arbeitern Verwirrung und Demoralisierung zu säen und den Kommunismus als historische Perspektive der Menschheit zu leugnen. Deshalb müssen wir eine historische Bilanz ziehen, die auf dem historischen Versuch der Arbeiterklasse und der wissenschaftlichen Methode des Marxismus beruht, so wie es die Fraktionen der Kommunistischen Linken während der 50 Jahre der Konterrevolution taten. Eine Bilanz, die wir an eine neue Generation von Arbeitern weitergeben können“.
Völlig richtig! Die Konterrevolution wurde nicht im Namen der „Wiederherstellung des Kapitalismus“ durchgeführt, sondern unter dem Banner des „Kommunismus“. Es war nicht die Weiße Armee, die die kapitalistische Herrschaft in Russland errichtete, sondern dieselbe Partei, die einst die Vorhut der Revolution gewesen war.
Dieses Ergebnis hat die gegenwärtigen Generationen von Arbeitern und Revolutionären traumatisiert und dazu verleitet, an der Fähigkeit ihrer Klasse und der Gültigkeit ihrer revolutionären Traditionen zu zweifeln. Trugen Lenin und Marx nicht, wenn auch unbeabsichtigt, zur stalinistischen Barbarei bei? Gab es wirklich eine authentische Revolution in Russland? Besteht nicht die Gefahr, dass „politisches Denken“ das, was die Arbeiter errichtet haben, zerstört?
Die Bourgeoisie hat diese Ängste mit ihren permanenten Verleumdungskampagnen gegen die Russische Revolution, den Bolschewismus und gegen Lenin, die alle von den stalinistischen Lügen genährt wurden, geschürt. Die demokratische Ideologie, die die Bourgeoisie auf hohem Niveau das 20. Jahrhundert hindurch propagiert hat, verstärkt diese Ressentiments durch das Beharren auf der „Unabhängigkeit des Individuums“ sowie dem „Respekt vor jedermanns Meinung“ und die Zurückweisung von „Dogmatismus“ und „Bürokratie“.
Der Begriff der Zentralisierung, die Klassenpartei und die Diktatur des Proletariats, die die Früchte des blutigen Kampfes, das Resultat enormer Bemühungen um politische und theoretische Klärung sind, sind vom schändlichen Stigma des Argwohns besudelt worden. Nicht zu vergessen Lenin, der total abgelehnt wird und dessen Beitrag einem hartnäckigen Scherbengericht ausgesetzt ist, in welchem Phrasen aus ihrem Zusammenhang gerissen werden, wie jene wohl bekannteste, wonach das Bewusstsein von außen komme! [2]
Diese Kombination von Befürchtungen und Zweifeln auf der einen sowie dem Druck der bürgerlichen Ideologie auf der anderen Seite beinhaltet die Gefahr, die Verbindung mit der historischen Kontinuität unserer Klasse, mit ihrem Programm und ihrer wissenschaftlichen Methode, ohne die keine neue Revolution möglich ist, zu verlieren.
Der Rätismus ist Ausdruck dieses Gewichts und zeigt sich durch seine Fixierung auf das Unmittelbare, Lokale und Ökonomische – auf Dinge, die als nahe liegend und am besten kontrollierbar betrachtet werden. Gleichzeitig weist er ostentativ all das zurück, was nach Politik und Zentralisierung riecht, gilt dies doch seit jeher als abstrakt, weit weg und feindlich.
Richtigerweise sprachst Du von „den Beträgen der Fraktionen der Kommunistischen Linken, die gegen den Strom während der 50 Jahre Konterrevolution gerichtet waren“. Wir stimmen damit völlig überein. Doch der Rätismus gehört nicht zu diesen Bemühungen, er steht außerhalb von ihnen.
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, zwischen dem Rätekommunismus und dem Rätismus zu unterscheiden. [3] Der Rätismus ist ein extremer Ausdruck der Entartung jener theoretischen Fehler, die in den 1930ern inmitten der originären Bewegung des Rätekommunismus begangen wurden. Er ist ein unverhohlen opportunistischer Versuch, Positionen zur Frage der Russischen Revolution, der Diktatur des Proletariats, der Partei, der Zentralisierung etc., die die Bourgeoisie schon Tausende Male aggressiv vertreten hat und die vom Anarchismus wiedergekäut wurden, in ein marxistisches Gewand zu kleiden.
Indem wir uns fest auf die russische Erfahrung stützen, sehen wir, dass der Rätismus hauptsächlich zwei Pfeiler des Marxismus angreift: den internationalen und den grundsätzlich politischen Charakter der proletarischen Revolution.
Im Folgenden konzentrieren wir uns auf zwei Fragen: Wie bildet sich das Klassenbewusstsein?
Und: Worin besteht die Rolle der Partei und wie sehen ihre Verbindungen zur Klasse aus?
Selbstverständlich gibt es noch viele andere Fragen, die es zu beantworten lohnt. Jedoch können wir aus Platzgründen nicht auf alle eingehen. Vor allem diese beiden, die Du hervorgehoben hast, scheinen uns allerdings für die Lösung des ‚russischen Rätsels‘ besonders entscheidend zu sein.
Weltrevolution oder „Sozialismus in einem Land“?
An verschiedenen Stellen Deines Textes warnst Du davor, die Weltrevolution als Entschuldigung für die Vertagung des Kampfes für den Kommunismus auf unbestimmte Zeit und als Rechtfertigung für die Diktatur der Partei zu nehmen. „Es gibt diejenigen, die alle bürokratischen Entartungen der Revolution mit dem Bürgerkrieg und seinen Verwüstungen, mit der Isolation der Revolution .wegen des Ausbleibens einer Weltrevolution und dem rückständigen Charakter der russischen Ökonomie entschuldigen wollen. All dies erklärt aber nicht die innere Degeneration der Revolution. Warum wurde sie nicht von außen, auf dem Schlachtfeld, sondern vielmehr von innen heraus zerstört? Die einzige Erklärung, die uns solche Entschuldigungen geben, ist, dass wir unsere Wünsche dahingehend formulieren, dass die nächste Revolution doch in den hochentwickelten Ländern stattfinden und nicht isoliert bleiben soll“ Ein wenig später äußerst Du: „Die Revolution kann sich nicht bis zum Sieg der Weltrevolution mit der Verwaltung des Kapitalismus begnügen. Sie muss die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (Lohnarbeit und Warenwirtschaft) abschaffen“.
Die bürgerlichen Revolutionen waren nationale Revolutionen. Der Kapitalismus entstand zunächst in den Städten und existierte lange Zeit inmitten einer bäuerlichen Welt, die durch den Feudalismus beherrscht wurde; seine sozialen Beziehungen konnten sich isoliert von anderen Ländern in einem Land entwickeln. So konnte die Bourgeoisie in England 1640 triumphieren, während auf dem übrigen Kontinent noch das Feudalregime herrschte.
Kann das Proletariat denselben Weg gehen? Kann das Proletariat damit anfangen, „kapitalistische Produktionsverhältnisse in einem Land abzuschaffen“, ohne auf die „weit entfernte“ Weltrevolution zu warten?
Wir sind uns sicher, dass Du Stalins Position des „Sozialismus in einem Land“ nicht teilst. Doch wenn Du forderst, dass das Proletariat beginnen soll, Lohnarbeit und Warenwirtschaft abzuschaffen, ohne auf den Sieg der Weltrevolution zu warten, dann lässt Du diese Auffassung durch die Hintertür wieder hinein. Es gibt keinen Mittelweg zwischen der weltweiten Errichtung des Kommunismus und dem Aufbau des „Sozialismus in einem Land“.
Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den bürgerlichen und den proletarischen Revolutionen. Erstere sind in ihren Wegen, Mitteln und Zielen national. Auf der anderen Seite steht die proletarische Revolution. Sie ist die erste weltweite Revolution der Geschichte und dies sowohl bezogen auf ihr Ziel, den Kommunismus, wie auch in Bezug auf ihre Mittel (den internationalen Charakter sowohl der Revolution selbst wie auch der Errichtung der neuen Gesellschaft).
Die Arbeiter haben kein Vaterland, da mit ihnen„die Großindustrie eine Klasse schuf, die in allen Ländern dasselbe Interesse hat, womit jede Nationalität schon tot ist“ (Deutsche Ideologie, Seite 78, englische Studienausgabe). „Die große Industrie hat schon dadurch, dass sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung miteinander gebracht, dass jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht. Sie hat ferner in allen zivilisierten Ländern die gesellschaftliche Entwicklung so weit gleichgemacht, dass in allen diesen Ländern Bourgeoisie und Proletariat die beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, der Kampf zwischen beiden der Hauptkampf des Tages geworden ist. Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d.h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein“ (Grundsätze des Kommunismus, 1847, MEW, Bd. 4, S. 374).
Gegen diese internationalistische Denkweise propagierte Stalin 1926-1927 die These vom „Sozialismus in einem Land“ – eine These, die Trotzki und alle Tendenzen der Kommunistischen Linken (einschließlich der Deutsch-Holländischen Kommunisten) als Verrat betrachteten und die die italienische Linksgruppierung Bilan als Todesurteil der Kommunistischen Internationalen charakterisierte.
Der Anarchismus für seinen Teil argumentiert im Wesentlichen ähnlich wie der Stalinismus. Mit seiner Gegnerschaft zum Prinzip der Zentralisierung grenzt er sich zwar einerseits von der Position des „Sozialismus in einem Land“ ab, aber andererseits propagiert er durch Begrifflichkeiten wie „Autonomie“ und „Selbstverwaltung“ den Sozialismus in einem Dorf oder in einer Fabrik Sicherlich erwecken solche Formulierungen einen „demokratischeren“ Anschein, setzen sie doch auf die Initiative der Massen. Doch letztendlich führen sie genauso wie der Stalinismus zur Verteidigung der kapitalistischen Ausbeutung und des bürgerlichen Staates. [4] Natürlich ist der Weg verschieden: Während der Stalinismus zum Mittel der brutalen bürokratischen Hierarchie griff, zieht es der Anarchismus vor, demokratische Vorstellungen wie die „Souveränität“ und „Autonomie“ des „freien“ Individuums auszubeuten und zu fördern sowie die Arbeiter dazu zu verleiten, ihr eigenes Elend durch lokale und sektorale Organe selbst zu verwalten.
Was ist die Position des Rätismus? Wie wir schon eingangs sagten, hat es eine Entwicklung der verschiedenen Komponenten dieser Strömung gegeben. So führten die von der GIK vertretenen „Thesen des Bolschewismus“ [5] zwar zu großen Verwirrungen. Jedoch stellte die GIK nie die Natur der weltweiten proletarischen Revolution offen in Frage, auch wenn ihre Betonung des angeblich ökonomischen Charakters der Revolution der Abwendung von diesem Prinzip Tür und Tor öffnet. Die nachfolgenden rätistischen Gruppen, besonders jene aus den 1970er Jahren, erörterten hingegen offen die These von der Errichtung eines „lokalen und nationalen“ Sozialismus. Wir haben dies in verschiedenen Polemiken unserer Internationalen Revue bekämpft und uns in etlichen Artikeln gegen die Auffassungen verschiedener rätistischer Gruppen über Fragen wie die der Drittwelttheorien und der Selbstverwaltung gewandt. [6]
Im Gegensatz zu dem, was Du uns zu verstehen gibst, ist der proletarische Internationalismus kein frommer Wunsch oder eine Möglichkeit unter anderen, sondern vielmehr die konkrete Antwort auf die historische Entwicklung des Kapitalismus.
Seit 1914 haben alle Revolutionäre verstanden, dass die einzige Revolution, die auf der Tagesordnung stand, nur die sozialistische, internationale und proletarische sein konnte. „Aber nicht unsere Ungeduld, nicht unsere Wünsche, sondern die vom imperialistischen Krieg erzeugten objektiven Bedingungen haben die Menschheit in eine Sackgasse geführt und sie vor das Dilemma gestellt: entweder zulassen, dass weitere Millionen Menschen zugrunde gehen und die ganze europäische Kultur endgültig vernichtet wird, oder in allen zivilisierten Ländern die Macht dem revolutionären Proletariat übergeben, die sozialistische Umwälzung verwirklichen“ (Lenin, Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter, April 1917, Gesammelte Werke, Bd. 23, S. 384).
Es ist nicht nur die Reife der historischen Situation, die die Weltrevolution auf die Tagesordnung setzt. Auch die Analyse des Kräfteverhältnisses der Klassen im Weltmaßstab erlaubt diese Schlussfolgerung. Die frühest mögliche Gründung der Internationalen Partei des Proletariats ist auch ein grundlegendes Element, die Balance des Kräfteverhältnisses mit dem Feind zugunsten des Proletariats zu verändern. Denn die rasche Gründung einer internationalen Partei erschwert es der Bourgeoisie, die revolutionären Brennpunkte zu isolieren. Schon vor der Machtübernahme 1917 kämpfte Lenin in den Reihen der Zimmerwalder Linken daher um die unverzügliche Konstituierung einer neuen Internationalen: „Gerade wir müssen, gerade jetzt, ohne Zeit zu verlieren, eine neue revolutionäre, proletarische Internationale gründen, oder richtiger gesagt, wir dürfen uns nicht fürchten, vor aller Welt zu erklären, dass sie schon gegründet ist und wirkt“.
(„Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, 1917. Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 68)
Im September 1917 stellte Lenin in einem Brief an den bolschewistischen Kongress der nördlichen Region (8. Oktober 1917) die Notwendigkeit der Machtübernahme fest, wobei er sich auf eine Analyse des internationalen Kräfteverhältnisses zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie stützte: „Unsere Revolution macht eine im höchsten Maße kritische Zeit durch. Diese Krise fällt zusammen mit der großen Krise des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution und ihrer Bekämpfung Durch den Weltimperialismus (...) Die Sowjets der beiden Hauptstädte [müssen] die Macht ergreifen“ (Brief an die Genossen Bolschewiki, 8. Okt. 1917, Lenin, Werke, Bd. 26, S. 169) „Dadurch retten sie sowohl die Weltrevolution (...) wie auch die russische Revolution“ (ebenda, 1. Okt. 1917, S. 125) Die Revolution in Russland befand sich nach dem Fehlschlag des Kornilow-Putsches in einer delikaten Lage: Wenn die Sowjets nicht in die Offensive gegangen wären (die Machtübernahme), hätten Kerenski und seine Freunde neue Anstrengungen unternommen, sie zu lähmen und später zu liquidieren, um auf diese Weise die Revolution zu zerstören.
Dies hatte eine noch größere Bedeutung für Deutschland, Österreich, Frankreich, England etc., wo die Unzufriedenheit der Arbeiter entweder einen mächtigen Impuls durch die russische Revolution erhielt oder im Gegenteil Gefahr lief, sich in einer Reihe von Einzelgefechten aufzureiben.
Die Machtübernahme in Russland wurde überall als ein Beitrag zur Weltrevolution betrachtet und nicht als eine Aufgabe nationalen Wirtschaftsmanagements. Einige Monate nach jenem Oktober sprach Lenin auf der Konferenz der Fabrikkomitees in der Moskauer Region in diesem Sinne „Die russische Revolution ist nur ein Kontingent der internationalen sozialistischen Armee, von deren Aktion der Erfolg und der Triumph unserer Revolution abhängt. Dies ist ein Fakt, den niemand von uns aus den Augen verlieren darf (…) Angesichts der Isolation ihrer Revolution ist sich das russische Proletariat sehr wohl bewusst, dass eine wesentliche Bedingung und eine zentrale Erfordernis für ihren Sieg die gemeinsame Aktion der Arbeiter der ganzen Welt ist“.
Ökonomische oder politische Revolution?
Indem Du Dir die rätistische Position zu Eigen machst, betrachtest Du als die treibende Kraft die Durchführung der kommunistischen ökonomischen Maßnahmen vom ersten Tag der Revolution an. Du bringst das in zahlreichen Passagen deines Textes zum Ausdruck, so wenn Du schreibst „… im April 1918 veröffentlichte Lenin ‚Die unmittelbaren Aufgaben der Sowjetmacht’, worin er die Idee der Errichtung eines Staatskapitalismus unter der Kontrolle der Partei mit dem Ziel untersucht, die Produktivität, Rentabilität und Arbeitsdisziplin zu erhöhen sowie um der kleinbürgerlichen Mentalität und dem anarchistischen Einfluss ein Ende zu bereiten, und wo er ohne Zweifel bürgerliche Methoden propagierte wie zum Beispiel: den Einsatz bürgerlicher Spezialisten, Akkordarbeit, die Anwendung des Taylorismus, Ein-Mann- Management [7]… Als ob die Methoden der kapitalistischen Produktion neutral seien und ihre Anwendung durch die Arbeiterpartei ihren sozialistischen Charakter garantieren würde. Der Zweck des sozialistischen Aufbaus rechtfertigt die Mittel.“ Als eine Alternative schlägst Du vor, dass sich „die Revolution nicht selbst auf die Verwaltung des Kapitalismus beschränken darf bis zum weit entfernt liegenden Triumph der Revolution, sie muss die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (wie Lohnarbeit und Warenwirtschaft) abschaffen“, indem „sie die Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse mit der Berechnung der notwendigen, gesellschaftlichen Arbeit für die Herstellung der Güter“ entwickelt.
Der Kapitalismus hat die Bildung des Weltmarktes mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts abgeschlossen. Dies bedeutet, dass das Wertgesetz in der ganzen Weltwirtschaft wirksam ist und sich kein Land oder keine Ländergruppe diesem Gesetz entziehen kann. Die proletarische Bastion (das Land oder die Länder, in denen die Revolution gesiegt hat) bildet darin keine Ausnahme. Die Machtergreifung in der proletarischen Bastion bedeutet nicht die Bildung eines „befreiten Gebietes“. Im Gegenteil, dieses Gebiet wird solange dem Feind gehören, wie es weiterhin dem Wertgesetz der kapitalistischen Welt unterworfen ist.[8] Die Macht des Proletariats ist hauptsächlich politisch und die wesentliche Rolle des Gebietes, das gewonnen wurde, besteht darin, als Brückenkopf der Weltrevolution zu agieren.
Der Kapitalismus hat der Menschheitsgeschichte zwei Vermächtnisse hinterlassen: die Bildung des Proletariats und den objektiv internationalen Charakter der Produktivkräfte. Diese zwei Vermächtnisse werden von der Theorie der „unmittelbaren Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse“ grundsätzlich angegriffen: so durch die vermeintliche „Abschaffung“ der Lohnarbeit und die Errichtung eines Marktes auf der Ebene der Fabrik, der Stadt oder des jeweiligen Landes. Einerseits kehrt dies die Produktion um in eine Mischung kleiner, autonomer Einheiten, wodurch sie zum Gefangenen der Tendenz zur Explosion und Fragmentierung wird, die den Kapitalismus in dieser Phase der Dekadenz prägt und in dramatischer Art und Weise in ihrer Endphase des Zerfalls konkretisiert wird. [9] Andererseits führt es zur Spaltung des Proletariats, wenn es an die Interessen und Bedürfnisse einzelner lokaler, sektoraler oder nationaler Einheiten gebunden wird, die von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen „befreit“ sind.
Du sagst weiter, dass „in Russland sich seit 1917 ein revolutionärer Zyklus geöffnet hat, der sich 1937 schloss. Die russischen Arbeiter waren zwar fähig, die Macht zu übernehmen, aber nicht dazu fähig, sie für eine kommunistische Umwandlung zu nutzen. Rückständigkeit, Krieg, ökonomischer Zusammenbruch und internationale Isolation als solche erklären aber nicht den Rückfluss. Diese Erklärung wäre eine politische, die die Macht fetischisiert und von der ökonomischen Umwandlung abgekoppelt ist, welche von den Klassenorganen durchgeführt wird: Versammlungen und Räte, in denen die Spaltung zwischen politischen und gewerkschaftlichen Aufgaben überwunden ist. Die leninistische Konzeption überschätzt die Frage der politischen Macht, die in ihren Augen die Vergesellschaftung der Wirtschaft und die Umwandlung der Produktionsverhältnisse bestimmt: Der Leninismus ist die bürokratische Krankheit des Kommunismus. Wenn die Revolution in erster Linie eine politische ist, dann beschränkt sie sich selbst darauf, den Kapitalismus in der Hoffnung auf die Weltrevolution zu verwalten. Damit stärkt sie eine Macht, die keine andere Aufgabe hat als die Unterdrückung und den Kampf gegen die Bourgeoisie. Ein Kampf, der dazu führt, dass diese Macht sich verewigt, zunächst mit dem Anspruch, die Perspektive der Weltrevolution zu verfolgen, dann um sich selbst zu erhalten“.
Der wahre Grund, warum Du so verzweifelt „kommunistische, wirtschaftliche Maßnahmen“ in den Mittelpunkt stellst, ist Deine Furcht davor, dass die proletarische Revolution „auf der politischen Ebene steckenbleiben könnte“ und sie in eine hohle Phrase verwandelt, die keinerlei bedeutsame Veränderung in den Bedingungen der Arbeiterklasse erbringt.
Die bürgerliche Revolution war in erster Linie ökonomischer Natur und schloss die Aufgabe der Ausmerzung der politischen Macht der alten Feudalklasse ab oder erreichte zumindest eine Verständigung mit ihr. „ Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune; hier unabhängige städtische Republik (…) dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie (…), dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft“. („Kommunistisches Manifest“, 1848, MEW, Bd. 4, S. 464) Die Bourgeoisie erlangte im Verlauf von drei Jahrhunderten eine unumstrittene Position auf ökonomischem Gebiet (Handel, Kreditwesen, Manufaktur, Großindustrie), was sie schließlich in die Lage versetzte, die politische Macht durch die Revolution zu erobern, wofür Frankreich 1789 beispielhaft stand.
Diese historische Entwicklung entspricht ihrem Wesen als eine ausbeutende Klasse (wobei sie eine neue Form der Ausbeutung anstrebt, nämlich die „freie“ Lohnarbeit als Gegenstück zur feudalen Leibeigenschaft) und den Charakteristiken ihrer Produktionsweise: private und nationale Aneignung des Mehrwertes.
Soll das Proletariat in seinem Kampf für den Kommunismus etwa denselben Weg folgen? Sein Ziel ist nicht die Schaffung einer neuen Form der Ausbeutung, sondern die Abschaffung jedweder Ausbeutung. Das bedeutet, es darf nicht danach streben, innerhalb der alten Gesellschaft eine ökonomische Machtposition zu errichten, von der aus es zur Eroberung der politischen Macht startet. Vielmehr muss es den entgegengesetzten Weg verfolgen: die Ergreifung der politischen Macht auf Weltebene und von hier aus den Aufbau einer neuen Gesellschaft.
Die Ökonomie bedeutet die Unterwerfung des menschlichen Lebens unter die objektiven Gesetze, unabhängig von ihrem Willen. Die Ökonomie bedeutet Ausbeutung und Entfremdung. Marx sprach nicht von einer „kommunistischen Wirtschaft“, sondern von der Kritik der politischen Ökonomie. Kommunismus bedeutet die Herrschaft der Freiheit anstatt der Herrschaft der Notwendigkeit, die die Geschichte der Menschheit unter der Ausbeutung und Unterdrückung bestimmt hat. Der grundsätzliche Irrtum der „Prinzipien der Kommunistischen Produktion und Verteilung“ [10], ein zentraler Text für die Rätebewegung, besteht in dem Versuch, die Arbeitszeit als neutralen und unpersönlichen Automatismus darzustellen, der die Produktion reguliert. Marx kritisierte diese Idee in der „Kritik des Gothaer Programms“, indem er aufzeigte, dass sich die Vorstellung „gleiche Arbeit für gleiches Geld“ durchaus noch im Rahmen des bürgerlichen Rechtsraumes bewegt. Lange zuvor hatte er bereits im „Elend der Philosophie“ betont: „In einer zukünftigen Gesellschaft, wo der Klassengegensatz verschwunden ist, wo es keine Klassen mehr gibt, würde der Gebrauch nicht mehr von dem Minimum der Produktionszeit abhängen, sondern die Produktionszeit, die man den verschiedenen Gegenständen widmet, würde bestimmt durch die gesellschaftliche Nützlichkeit“. (MEW, Bd. 4, S. 93) „Die Konkurrenz führt das Gesetz durch, nach welchem der Wert eines Produktes durch die zu seiner Herstellung notwendige Arbeitszeit bestimmt wird. Die Tatsache, dass die Arbeitszeit als Maß des Tauschwertes dient, wird auf diese Art zum Gesetz einer beständigen Entwertung der Arbeit “. (idem, Seite 94 f) [11]
In Deinem Text stellst Du den „Leninismus“ als „Fetischisierung“ des Politischen dar. Demnach hätte sich die gesamte Arbeiterbewegung, bei Marx angefangen, dieses „Fehlers“ schuldig gemacht. Aber es war gerade Marx in seiner Polemik gegen Proudhon (siehe den oben angeführten Band 4) der aufzeigte, dass „der Gegensatz zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie ein Kampf Klasse gegen Klasse (ist), ein Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet. Braucht man sich übrigens zu wundern, dass eine auf dem Klassengegensatz gegründete Gesellschaft, auf den brutalen Widerspruch hinausläuft auf den Zusammenstoß Mann gegen Mann als seine letzte Lösung?“.
Man sage nicht, dass die gesellschaftliche Bewegung die politische ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre.
Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Entwicklungen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der Gesellschaftswissenschaft stets lauten:
„Kampf oder Tod, blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.“ (aus der Einleitung zu Georg Sands historischem Roman: „Jean Ziska“) (MEW, Bd. 4, S. 182)
Die Rätebewegung begründet die Verteidigung des ökonomischen Charakters der proletarischen Revolution mit folgendem Syllogismus: Da die Grundlage der Ausbeutung des Proletariats die Ökonomie ist, ist es erforderlich, kommunistisch-ökonomische Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu beseitigen.
Um auf diesen Sophismus zu antworten, ist es nötig, den schlüpfrigen Boden der formalen Logik zu verlassen und sich stattdessen auf den festen Boden der historischen Entwicklung zu begeben. In der Geschichte der menschlichen Entwicklung haben zwei, sich eng aufeinander beziehende, aber auch voneinander unabhängige Faktoren eine wesentliche Rolle gespielt: einerseits die Entwicklung der Produktivkräfte sowie die Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse (der ökonomische Faktor) und andererseits der Klassenkampf (der politische Faktor). Die Aktionen der Klasse basieren sicherlich auf der Entwicklung des ökonomischen Faktors, aber sie sind beileibe keine bloße Widerspiegelung dessen; sie sind nicht bloße Antworten auf ökonomische Impulse in der Art der Pawlowschen Hunde. Wir haben in der Geschichte der menschlichen Entwicklung eine klare Tendenz zu einem wachsenden Gewicht des politischen Faktors (dem Klassenkampf) gesehen: Die Auflösung des alten primitiven Kommunismus und sein Ersatz durch die Skavenhaltergesellschaft war ein von Grund auf gewaltsamer, objektiver Prozess, das Produkt Jahrhunderte langer Entwicklungsgeschichte. Der Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus entstand aus dem allmählichen Prozess des Niederganges der alten Ordnung und der Herausbildung einer neuen, wobei der bewusste Faktor nur ein begrenztes Gewicht hatte. Dagegen hatten in der bürgerlichen Revolution die Aktionen der Klassen ein größeres Gewicht, obgleich „die Bewegung der übergroßen Mehrheit im Interesse einer Minderheit stattfand“. Nichtsdestoweniger wurde, wie wir oben gezeigt haben, die Bourgeoisie von der überwältigenden Stärke der enormen ökonomischen Umwälzung getragen, die in großen Teilen das Produkt eines objektiven und unvermeidlichen Prozesses war. Das Gewicht des ökonomischen Faktors war immer noch erdrückend.
Andererseits ist die proletarische Revolution das Endergebnis des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, was von Anfang an ein hohes Maß an Bewusstsein und eine aktive Teilnahme erfordert. Diese fundamentale und grundlegende Dimension des subjektiven Faktors (das Bewusstsein, die Einheit, die Solidarität, das Vertrauen der Arbeiterklasse) kennzeichnet den Vorrang des politischen Charakters der proletarischen Revolution, die die erste wirklich massenhafte und bewusste Revolution in der Geschichte ist.
Du bevorzugst eine proletarische Revolution, die durch die aktive und bewusste Teilnahme der großen Mehrheit der Arbeiter getragen wird, was sich durch ein Maximum an Einheit, Solidarität, Bewusstsein, Hingabe und kreativen Willen ausdrückt. Gut, genau darin liegt der politische Charakter der proletarischen Revolution.
„Die ökonomische Revolution“ des Rätismus in der Praxis.
Deine Bilanz der russischen Revolution kann wie folgt zusammengefasst werden: Wenn sie statt der Fetischisierung des Politischen und der doch „so weit entfernten Weltrevolution“ die Abschaffung der Lohnarbeit und des Warentausches in Angriff genommen hätte, dann hätte sie keinen „Bürokratismus“ hervorgebracht und die Revolution wäre vorangeschritten. Diese Lehre übte einen großen Reiz auf den Rätekommunismus aus und wird vom heutigen Rätismus vulgarisiert.
Indem der Rätismus diese Position bezieht, bricht er mit der Tradition des Marxismus und verbindet sich mit dem Anarchismus und dem Ökonomismus. Diese Position des Rätismus ist nicht neu: Proudhon vertrat sie – und wurde von Marx in seiner Kritik auseinandergenommen. Später wurde sie von der Theorie der Genossenschaften einverleibt und anschließend vom Anarchosyndikalismus und revolutionären Syndikalismus, sowie in Russland vom Ökonomismus vertreten. 1917-1923 wurde sie durch den Austromarxismus [12] sowie von Gramsci und seiner „Theorie“ der Fabrikräte wiederbelebt; [13] Otto Rühle und einige Theoretiker der AUUD schlugen denselben Weg ein. Trotz richtiger Argumente, wie jene von der Gruppe Demokratischer Zentralismus, verfiel Kollontais Arbeiteropposition in Russland denselben Ideen. 1936 kürte der Anarchismus die spanischen „Kollektive“ zur großen Alternative zur bolschewistischen [14] „Bürokratie und zum Staatskommunismus“.
Das Gemeinsame all dieser Anschauungen – und damit auch die Wurzel des Rätismus- ist eine Konzeption von der Arbeiterklasse als eine rein ökonomische und soziologische Kategorie. Sie betrachtet die Arbeiterklasse nicht als geschichtliche Klasse, geprägt durch die Kontinuität ihres Kampfes und ihres Bewusstseins, sondern als Summe von Individuen, die durch die beschränktesten ökonomischen Interessen motiviert werden [15].
Die Rechnung des Rätismus ist die folgende: Um die Revolution zu verteidigen, müssen die Arbeiter „sicherstellen“, dass es unmittelbare Erfolge gibt, dass sie sich der Früchte der Revolution bemächtigen. Darunter wird ihre „Kontrolle“ der Fabriken verstanden, die ihnen erlaubt, sich selbst zu verwalten. [16]
„Fabrikkontrolle“? Welche Kontrolle soll es geben, wo doch die Produktion den Kosten und der Profitrate unterworfen ist, die Ausdruck der Konkurrenz auf dem Weltmarkt ist?
Entweder - oder: Entweder verkündet man die Autarkie und bewirkt damit einen Rückschritt unkalkulierbaren Ausmaßes, was die ganze Revolution vernichten würde, oder man arbeitet inmitten eines kapitalistischen Weltmarktes, wobei man sich seinen Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen hat.
Der Rätismus proklamiert die “Aufhebung der Lohnarbeit“ durch Beseitigung der Löhne und ihren Ersatz durch „Arbeitszeitgutscheine“. Dies umgeht das Problem mit schön klingenden Worten: Es ist notwendig, eine bestimmte Anzahl von Stunden zu arbeiten und wie korrekt auch immer die Arbeitszeitgutscheine sind, es fallen immer Stunden an, die bezahlt werden, und Stunden, die unbezahlt bleiben - der so genannte Mehrwert. Die Losung: „ein gerechtes Tagewerk für einen gerechten Lohn“ ist Teil des bürgerlichen Gesetzes und beinhaltet die schlimmsten Ungerechtigkeiten, wie Marx schon aufzeigte.
Der Rätismus proklamiert die „Abschaffung der Warenwirtschaft“ und ihren Ersatz durch die „Buchhaltung zwischen den Fabriken“. Aber auch hier befinden wir uns in demselben Dilemma: Was produziert wird, muss sich nach dem Tauschwert richten, den die Konkurrenz auf dem Weltmarkt vorgibt.
Der Rätismus versucht das Problem der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft durch „Formen und Namen“ zu lösen, vermeidet es aber, das Problem an der Wurzel zu packen.
„Herr Bray ahnte nicht, dass dieses egalitäre Verhältnis, dieses Verbesserungsideal, welches er in die Welt einführen will, selbst nichts anderes ist als der Reflex der gegenwärtigen Welt und dass es infolgedessen total unmöglich ist, die Gesellschaft auf einer Basis rekonstruieren zu wollen, die selbst nur der verschönerte Schatten dieser Gesellschaft ist. In dem Maße, wie der Schatten Gestalt annimmt, bemerkt man, dass diese Gestalt, weit entfernt, ihre erträumte Verklärung zu sein, just die gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft ist.“ („Das Elend der Philosophie“, MEW, Bd. 4, S. 105).
Die Vorstellungen des Anarchismus und Rätismus zur „ökonomischen Revolution“ gehen in dieselbe Richtung wie die des Herrn Bray: Wenn dieser Schatten Gestalt annimmt, wird deutlich, dass er nichts anderes als die aktuelle Gestalt der bestehenden Gesellschaft ist. 1936 tat der Anarchismus mit seinen Kollektiven nichts anderes, als ein Regime von extremer Ausbeutung im Dienst der Kriegswirtschaft zu errichten. Das Ganze versuchte er mit den Ideen von der „Selbstverwaltung“, der „Abschaffung des Geldes“ und anderem Unsinn zu verschönern.
Wie dem auch sei, es gibt einige sehr ernste Konsequenzen aus diesen rätistischen Vorstellungen: Sie verleiten die Arbeiterklasse dazu, ihre historische Mission für einen Apfel und ein Ei, für die „sofortige Beschlagnahme der Fabriken“ zu verraten.
In Deinem Text hast Du betont, dass „Klasse und Partei nicht die gleichen Absichten haben. Die Bestrebungen der Arbeiter gehen in Richtung der Übernahme der Führung der Fabriken und ihrer Produktionsleitung“. „Übernahme der Führung der Fabriken“ bedeutet, dass jeder Teil der Arbeiterklasse seinen Teil der Beute an sich nimmt, die dem Kapitalismus zuvor entrissen worden war, und ihn nun, natürlich in Koordination mit den Arbeitern anderer Fabriken, zu seinem Nutzen verwendet. Das heißt, wir kommen vom Eigentum des Kapitalisten zum Eigentum des einzelnen Arbeiters. Nur den Kapitalismus, den haben wir nicht überwunden!
Schlimmer noch, es bedeutet, dass jene Arbeitergeneration, die die Revolution macht, die Reichtümer, die sie zuvor dem Kapitalismus genommen hat, konsumieren wird, ohne auch nur einen Gedanken an die Zukunft zu „verschwenden“. Dies führt die Arbeiterklasse dazu, ihre historische Aufgabe, den Kommunismus im Weltmaßstab zu errichten, zu verleugnen und stattdessen der Illusion zu verfallen, „alles sofort zu haben“.
Die Versuchung, die Fabriken „unter sich aufzuteilen“, stellt eine reale Gefahr für den nächsten revolutionären Versuch dar, weil der heutige Kapitalismus in seine letzte Phase, die des Zerfalls, getreten ist.[17] Zerfall bedeutet Chaos, Auflösung, Zusammenbruch der Wirtschaft und Zersplitterung der gesellschaftlichen Strukturen in ein aus den Fugen geratenes Mosaik von Fragmenten, und auf der ideologischen Ebene den Verlust einer historischen, weltweiten und einheitlichen Sichtweise, die die bürgerliche Ideologie als „Totalitarismus“ und „Bürokratie“ zu verunglimpfen sucht. Die Kräfte der Bourgeoisie tun dies im Namen der „demokratischen Kontrolle“, der „Selbstverwaltung“ und anderer ähnlicher Phrasen. Es besteht die Gefahr, dass die Klasse aufgrund des völligen Verlustes der historischen Perspektive geschlagen und in die einzelne Fabrik oder Lokalität eingesperrt wird.
Dies wird nicht nur eine fast endgültige Niederlage sein, sondern bedeutet auch, dass die Arbeiterklasse durch den Mangel an einer historischen Perspektive, durch den Egoismus, den Drang zur Unmittelbarkeit und die völlige Abwesenheit von Zielen zermürbt wird. Genau das ist es, was von der gesamten bürgerlichen Ideologie in der gegenwärtigen Phase des Zerfalls propagiert wird.
Die wirklichen Lehren der Russischen Revolution
Die proletarische Bastion wird inmitten eines brutalen und quälenden Widerspruchs geboren: Einerseits führt der Kapitalismus einen Kampf auf Leben und Tod gegen diese Bastion mit wirtschaftlichen, militärischen und imperialistischen Mitteln (militärische Invasion, Blockade, den Zwang, Warenhandel selbst zu den ungünstigsten Bedingungen zu betreiben, um zu überleben). Andererseits muss die Arbeiterklasse das Eisen um ihren Hals mit den einzigen Waffen, die sie hat, brechen: die Einheit und das Bewusstsein der gesamten Klasse sowie die weltweite Ausdehnung der Revolution.
Dies zwingt sie dazu, eine komplexe, zeitweilig widersprüchliche Politik zu betreiben, um eine Gesellschaft, die vom Zerfall bedroht ist, über Wasser zu halten (Versorgung, minimales Funktionieren des Produktionsapparates, militärische Verteidigung) und gleichzeitig den Hauptteil ihrer Kräfte auf die Ausdehnung der Revolution und die Auslösung weiterer proletarischer Aufstände zu richten.
In den ersten Jahren der Räteherrschaft verfolgten die Bolschewiki diese Politik standhaft. In ihrer kritischen Studie der russischen Revolution verdeutlichte Rosa Luxemburg dies: „Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen (Ereignissen) abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellte, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik“ (Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“, Werke Bd. 4, S. 334).
So stellte die Resolution des territorialen Moskauer Büros der Bolschewistischen Partei vom Februar 1918 bezüglich der Brest-Litowsk-Debatte fest „Im Interesse der internationalen Revolution gehen wir das Risiko des Verlustes der Macht der Räte ein, die zu etwas rein Formalen gemacht werden; heute wie gestern gilt das Ziel der Ausdehnung der Revolution auf alle Länder.[18]
Innerhalb dieser Politik begingen die Bolschewiki eine Reihe von Fehlern. Und dennoch konnten diese Fehler korrigiert werden, solange die Kräfte der Revolution weiterlebten. Erst von 1923 an, als der Revolution in Deutschland ein tödlicher Schlag versetzt worden war, setzte sich die Tendenz der Bolschewiki, sich zum Gefangenen des russischen Staatsapparates zu machen und sich damit endgültig in einen nicht lösbaren Widerspruch zum internationalen Proletariat zu begeben, endgültig durch. Die bolschewistische Politik fing, an, zu einem bloßen Sachwalter des Kapitals zu werden.
Eine marxistische Kritik dieser Fehler hat nichts gemein mit der Kritik, wie sie vom Rätismus vorgetragen wird. Die rätistische Kritik führt zum Anarchismus und zur Bourgeoisie, während die marxistische Kritik die Stärkung der proletarischen Positionen ermöglicht. Viele Fehler wurden vom Rest der internationalen Arbeiterbewegung (Luxemburg, Bordiga, Pannekoek) geteilt. Unser Ziel hier ist es nicht, die Bolschewiki von „ihren Sünden rein zu waschen“, sondern einfach aufzuzeigen, dass dies ein Problem der gesamten internationalen Arbeiterklasse war und nicht das Produkt des „Bösen“, des „Machiavellismus“ und des „versteckten bourgeoisen Charakters der Bolschewiki“, wie die Rätisten annehmen.
Wir können hier nicht die marxistische Kritik der bolschewistischen Fehler darlegen, aber wir haben ausführlich dazu in der Presse unserer Strömung geschrieben. Wir möchten besonders die folgenden Texte hervorheben:
- die Artikelserien zum Kommunismus in der englischen Ausgabe der Internationalen Revue
- die Broschüre „Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus,
- die Broschüre „Die Russische Revolution“.
Diese Dokumente könnten als Grundlage für die Fortsetzung der Diskussion dienen.
Wir hoffen, einen Beitrag zu einer klaren und brüderlichen Debatte geleistet zu haben.
Mit kommunistischen Grüßen
Accion Proletaria/Internationale Kommunistische Strömung
Fußnoten:
[1] Die extremsten Vertreter des Rätismus lassen es nicht dabei bewenden, Lenin in Frage zu stellen. Sie machen auch vor Marx nicht Halt und umarmen dabei Proudhon und Bakunin. Tatsächlich folgen sie der unerbittlichen Logik einer Position, die behauptet, es gäbe eine Kontinuität zwischen Lenin und Stalin. Siehe hierzu unseren Artikel „Zur Verteidigung des proletarischen Charakters des Oktobers 1917“ in der Internationalen Revue, Nr. 5 und 6, der ein grundsätzlicher Artikel für die Diskussion über die russische Frage ist.
[2] Natürlich weisen wir die Kampagne der Bourgeoisie gegen Lenin auf das Schärfste zurück. Dies bedeutet aber nicht, dass wir alle seine Positionen blind akzeptieren. Im Gegenteil, in verschiedenen Texten haben wir seinen Irrtümern und Verwirrungen bezüglich des Imperialismus sowie bezüglich des Verhältnisses von Partei und Klasse Rechnung getragen. Solche Kritik stellt einen Teil der revolutionären Tradition dar. (Sie ist für uns, wie Rosa Luxemburg sagt, die notwendige Luft zum Atmen). Aber die revolutionäre Kritik hat eine Methode und eine Zielrichtung, die den Lügen und Verdrehungen der Bourgeoisie und der Parasiten diametral entgegengesetzt ist.
[3] Wir wollen hier die Frage nicht vertiefen. Wir haben Dir das Buch über die deutsch-holländische Linke, das wir auf Französisch und Englisch herausgegeben haben, zugeschickt.
[4] Siehe hierzu unseren Artikel „Der Mythos der anarchistischen Kollektive“, veröffentlicht in der Internationalen Revue, Nr.4, und in unserem Buch „1936: Franco y la Republica aplastan al proletariado“. Leider können wir hier die Frage nicht vertiefen: Verglichen mit dem vermeintlich bürokratischen und autoritären russischen „Modell“, galt das spanische Modell von 1936 demgegenüber als „demokratisch“, „selbst bestimmt“ und „auf der autonomen Initiative der Massen basierend“.
[5] Im Rahmen dieser Antwort können wir die Schlüsselbehauptung der „Thesen zum Bolschewismus“ – in denen von der bürgerlichen Natur der Russischen Revolution die Rede ist - nicht widerlegen. Wir haben jedoch in der International Review, Nr. 12, 13 (s. Fußnote 1) und in der„Antwort von Pannekoek auf Lenin als Philosoph“ in: International Review Nr.25, 27 und 30 auf diesen Punkt ausreichend geantwortet. Dieser Artikel Pannekoeks stellt einen Bruch mit der früheren Position dar, die von vielen Mitgliedern der Rätebewegung einst vertreten worden war: 1921 stellte Pannekoek fest, dass „die Taten der Bolschewiki von unermesslichem Nutzen für die Revolution in Westeuropa sind. Sie haben dem Weltproletariat erstmalig mit der Machtergreifung ein Beispiel gegeben. Durch ihre Praxis haben sie das große Prinzip des Kommunismus aufgezeigt: Diktatur des Proletariats und das System der Räte oder die Räteversammlungen (zitiert aus unserem Buch „Die deutsche und holländische kommunistische Linke“, Fußnote 69, S. 194 in der englischen Ausgabe).
[6] siehe hierzu „Die Epigonen des Rätismus in der Praxis“ in der International Review, Nr.2, „Brief an Arbetamarket“ in der International Review, Nr.15, „Die rätistische Gefahr“ in der International Review, Nr.40, sowie den Artikel „Die Armut des modernen Rätismus“ in der International Review, Nr. 42.
[7] Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir gewisse Produktionsmethoden, die von Lenin befürwortet wurden, kritisieren und dass sie auch innerhalb der Partei von Gruppen wie die Gruppe Demokratischer Zentralismus kritisiert wurden. Siehe hierzu den Artikel aus der Serie zum Kommunismus veröffentlicht in der International Review, Nr.99.
[8] Das proletarische Bollwerk muss Nahrungsmittel, Medizin, Rohstoffe, Industriegüter etc. zu hohen Preisen kaufen. Zudem wird es mit Blockaden und, was ebenso wahrscheinlich ist, mit einem äußerst schlecht organisierten Transportwesen zu tun haben. Dies war nicht allein ein Problem des rückständigen Russlands. Wie wir in unserer Broschüre „Russland 1917:Der Beginn der Weltrevolution“ aufgezeigt haben, wird uns dieses sehr schwerwiegende Problem gerade auch in zentralen Ländern wie Deutschland oder England begegnen. Hinzu kommt der Kampf, den die Bourgeoisie gegen die proletarische Bastion führen wird, die Handelsblockaden, militärische Kriege, Sabotage etc. Und schlussendlich werden die zukünftigen revolutionären Versuche des Proletariats mit der schweren Last der Konsequenzen des dahinsiechenden, verfaulenden Kapitalismus konfrontiert sein: mit dem Zusammenbruch der Infrastruktur, der chaotischen Kommunikation und Versorgung, den verheerenden Folgen einer endlosen Reihe regionaler Kriege, mit der Umweltzerstörung.
[9] All das gegenwärtige Gerede über die „Globalisierung“ des Kapitalismus, das sowohl von den Anhängern des „Neoliberalismus“ als auch von seinen Gegnern, der „Antiglobalisierungsbewegung“, geteilt wird, leugnet die Tatsache, dass sich der Weltmarkt vor einem Jahrhundert gebildet hat und dass das Problem, vor dem das System heute steht, seine unheilbare Tendenz zur Explosion und brutaler Selbstzerstörung vor allem durch imperialistische Kriege ist.
[10] Wir können an dieser Stelle keine Kritik der ‚Grundprinzipien‘ entwickeln. Wir möchten, wie bereits geschehen, nochmals auf unser Buch zur Geschichte der Deutsch-Holländischen Linken verweisen: hier die Seiten 248 bis 269 in der englischen Ausgabe.
[11] Pannekoek formulierte aus gutem Grund ernsthafte Bedenken gegen die ‚Grundprinzipien‘, siehe unser o.g. Buch.
[12] siehe den Artikel „Vom Austromarxismus zum Austrofaschismus“ in der International Review, Nr.2.
[13] siehe hierzu die deutliche Kritik, die Bordiga an Gramscis Spekulationen übt, in dem Buch „Debatte um die Betriebsversammlungen“.
[14] siehe Fußnote [4].
[15] Es ist keineswegs paradox, dass der Rätismus denselben Fehler begeht, den Lenin in „Was tun?“ macht. Nämlich zu sagen, dass die Arbeiter nur zu einem gewerkschaftlichen Bewusstsein in der Lage wären. Und doch gibt es eine ganze Welt von Unterschieden zwischen Lenin und den Rätisten: Obwohl Lenin seinen Fehler korrigieren konnte, und zwar nicht, wie Du ihm unterstellst, aus taktischen Gründen, sind die Rätisten nicht in der Lage, dies anzuerkennen.
[16] Bei allen Differenzen und ohne den Vergleich zu übertreiben, sehen die Rätisten die Arbeiter in derselben Rolle wie die Bauern in der Französischen Revolution. Letztere wurden vom Joch des Feudalismus sowie von der bäuerlichen Armut befreit und wurden zu enthusiastischen Soldaten in der revolutionären Armee, besonders in der napoleonischen. Abgesehen von dieser Einschätzung wird hier eine Sichtweise deutlich, die das Proletariat gering schätzt und als ‚bewusstlos‘ betrachtet. Sie widerspricht allen Plädoyers für die „Teilnahme“ und die „Initiative“ der Massen, die der Rätismus hält. Was aber noch ernster zu nehmen ist, ist, dass vergessen wird, dass, während die Bauern durch eine Umverteilung des Landbesitzes befreit werden können, sich die Arbeiter niemals durch einen Besitzerwechsel der Fabriken befreien können. Die proletarische Revolution besteht nicht lediglich aus der lokalen und juristischen Befreiung vom kapitalistischen Herrn, sondern vielmehr aus der Befreiung des Proletariats und der ganzen Menschheit vom Joch der globalen und objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, die über die persönlichen und die Eigentumsverhältnisse hinaus wirken: die Verhältnisse der kapitalistischen Produktion, basierend auf der Warenwirtschaft und der Lohnarbeit.
[17] siehe Internationale Revue, Nr. 12, „Thesen zum Zerfall des Kapitalismus“.
[18] Unter Bezug auf den Vertrag von Brest-Litowsk sagst Du, „die Zurückweisung des revolutionären Krieges, obwohl dieser in der kurzen Zeit den vorläufigen Verlust der Städte bedeutete, habe die Entwicklung eines Volkskrieges mit der Herausbildung von Milizen auf dem Lande und des Zusammenschlusses der revolutionären Arbeiter mit den Bauern unmöglich gemacht. Dabei hätte genau das, wie die Bolschewistische Linke behauptete, die Chancen der Herausbildung einer kommunistischen Produktionsform begünstigt“. Wir können diese Frage hier nicht vertiefen, verweisen aber auf unsere französische Broschüre, siehe Fußnote [8]. Wie dem auch sei, Deine Überlegungen werfen einige Fragen auf. An erster Stelle: Was ist die „bäuerliche Revolution?“. Welche „Revolution“, die mit dem „revolutionären Arbeiter“ verschmelzen muss, können die Bauern machen? Die Bauern sind keine Klasse, sondern eine soziale Schicht, in der verschiedene Gesellschaftsklassen mit völlig entgegengesetzten Interessen vorkommen: Gutsbesitzer, mittlere und kleine Landbesitzer, Tagelöhner…
Andererseits: wie soll auf Basis des Guerillakrieges auf dem Lande und mit Städten, in denen der Feind herrscht, eine „kommunistische Produktionsform“ aufgebaut werden?
Wir veröffentlichen nachfolgend eine Erklärung des ‚Nucleo Comunista Internacional‘ (NCI – Kern internationaler Kommunisten) aus Argentinien, in der dieser gegenüber den drei Erklärungen des ‚Circulo de Comunistas Internacionalistas‘ (Zirkel internationalistischer Kommunisten) Stellung bezieht, die einen Frontalangriff auf die IKS sind (). Wie der Text zeigt, „Der NCI erklärt förmlich, dass der Inhalt dieser Erklärungen (des ‚Zirkels‘) eine Reihe von Lügen und schändlichen Verleumdungen gegen die IKS ist“.
Wir veröffentlichen nachfolgend eine Erklärung des ‚Nucleo Comunista Internacional‘ (NCI – Kern internationaler Kommunisten) aus Argentinien, in der dieser gegenüber den drei Erklärungen des ‚Circulo de Comunistas Internacionalistas‘ (Zirkel internationalistischer Kommunisten) Stellung bezieht, die einen Frontalangriff auf die IKS sind[1]. Wie der Text zeigt, „Der NCI erklärt förmlich, dass der Inhalt dieser Erklärungen (des ‚Zirkels‘) eine Reihe von Lügen und schändlichen Verleumdungen gegen die IKS ist“.
Da der ‚Zirkel‘ sich auf seiner Webseite als der ‚Nachfolger der NCI‘ vorstellt, wollen wir kurz untersuchen, welche Verbindung tatsächlich zwischen den beiden besteht.
Welche Verbindung gibt es zwischen dem ‚Zirkel‘ und dem NCI?
Der NCI ist eine Gruppe von suchenden Leuten, die mit dem Trotzkismus gebrochen hatten und im Internet 2002 Organisationen der Kommunistischen Linken entdeckt haben. Im Oktober 2003 hat er Kontakt mit der IKS aufgenommen. In dieser Zeit haben sie Diskussionen über die Positionen der IKS geführt und schliesslich eine Plattform ausgearbeitet (die sich in groben Zügen auf die der IKS stützt) und den NCI gebildet.
Im April 2004 hat eine erste Delegation der IKS den NCI in Buenos Aires getroffen. Gemeinsam entscheiden der NCI und die IKS, dass die Presse der IKS (auf spanisch und in anderen Sprachen) von dem NCI verfasste Artikel zu verschiedenen Aspekten der Lage in Argentinien oder zu internationalen Fragen (insbesondere zur Bewegung der ‚piqueteros‘) veröffentlichen wird.
Im Mai 2004 hat der NCI von den Bulletins der selbsternannten ‚Internen Fraktion der IKS’ (IFIKS) erfahren. Er beschließt einstimmig, der IKS eine ‚Stellungnahme‘ zu schicken (Datum 22. Mai), in der er unterstreicht, dass er „die IFIKS als außerhalb der Arbeiterklasse stehende Organisation bezeichnet, deren Ausschluss und Herausschmiss aus den Reihen des Proletariats wir aufgrund ihres bürgerlichen Verhaltens befürworten.“ Auf unserer Website und in unserer französischen und spanischen Presse haben wir auszugsweise diese ‚Stellungnahme‘ veröffentlicht.
Im August 2004 fand ein zweites Treffen zwischen der IKS und dem NCI in Argentinien statt. Am 27. August wurde die erste öffentliche Diskussionsveranstaltung der IKS in Buenos Aires durchgeführt (über die wir in unserer territorialen Presse auf französisch und spanisch berichteten).
Unmittelbar nach der Ankunft der Delegation der IKS drängt ein Mitglied der NCI, B., auf Biegen und Brechen, dass die IKS sofort in einem Kommuniqué mitteilt, dass der NCI in die IKS eintreten werde.
Die anderen Genossen der NCI waren jedoch der Auffassung (und wir haben uns dieser Auffassung angeschlossen), dass solch ein Integrationsprozess nicht überstürzt stattfinden sollte.
In der ganzen Zeit, als sich unsere Delegation vor Ort aufhielt, hat B. zu keinem Zeitpunkt die geringste Divergenz gegenüber den Positionen der IKS geäußert.
Im Laufe des Monats September schickt B. der IKS mehrere provozierende E-mails mit dem Ziel, dass die IKS dazu verleitet wird, mit ihm und dem NCI zu brechen (in dessen Namen er spricht, während die anderen Genossen der NCI nicht einmal über die Korrespondenz zwischen B. und der IKS informiert sind).
Erst am Vorabend der Diskussionsveranstaltung des IBRP in Paris am 2. Oktober hat die IKS zufällig anhand eines Links auf der Webseite des IBRP von der Existenz eines ‚Kollektiv Internationalistischer Kommunisten‘ erfahren, bei dem es sich um unseren berühmten ‚Zirkel‘ handelt.
Ein Schwindler – unter dringendem Verdacht
Während unsere Delegation sich Ende August noch in Buenos Aires aufhielt, war der Bürger B. schon umgeschwenkt, aber er hatte weder den Mut noch die Ehrlichkeit, uns über die ‚Änderung‘ seiner Meinung zu informieren. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass er bereits seit einiger Zeit heimlich mit der IFIKS Kontakt aufgenommen hatte, während er uns gleichzeitig hinters Licht führte und gar überstürzt die Integration des ganzen Kerns der NCI in die IKS anstrebte. Das Doppel- (oder dreifache?) Spiel dieses Individuums (und seine unglaubliche Dreistigkeit) wurden von der IKS erst Anfang Oktober entdeckt. Nachdem die IFIKS die erste Erklärung des Zirkels veröffentlicht hat, die im Namen des NCI abgegeben worden war, hat die IKS angefangen, das undurchsichtige Verhalten des Treibens dieses angeblichen ‚Zirkels‘ öffentlich zu machen[2].
Es hat sich herausgestellt, dass:
– dieser ‚Zirkel‘ nur aus einer einzigen Person besteht, dem Element B, der Mitglied des NCI war und mit der IKS gebrochen (ohne jedoch irgendeine Divergenz zum Ausdruck gebracht zu haben), sich der IFIKS und dem IBRP genähert hat;
– die anderen Mitglieder der NCI haben nicht mit der IKS gebrochen, wie das die IFIKS und das IBRP auf ihren Websites behaupten.
Deshalb haben wir diesen Schwindler entlarven können. Durch unsere Telefonanrufe (die Herrn B. zufolge „die ekelerregenden Methoden der IKS“ offenbaren) haben wir erfahren, dass die anderen Genossen der NCI überhaupt nicht informiert waren über die Existenz dieses „Zirkels“, der sie angeblich repräsentieren sollte! Sie wussten nicht einmal etwas von dessen ekelerregenden „Erklärungen“ gegen die IKS, welche – so wird in den ‚Erklärungen‘ immer mit Nachdruck wiederholt – „kollektiv“, „einstimmig“ und nach „Befragung“ aller Mitglieder der NCI gefällt wurden. Es handelt sich um eine reine Lüge.
Das Element B. hatte ganz allein (mit einstimmigen Votum der Abwesenden!) diese verleumderischen ‚Erklärungen‘ gegen die IKS verfasst.
Wie konnte er so hinter dem Rücken der NCI handeln?
Dieses Element besaß als einziger das Passwort für die Informatikwerkzeuge des NCI (E-Mail Adresse, Website), was ihm ermöglichte, hinter dem Rücken der Genossen des NCI eine „fiktive Gruppe“ (den berühmten ‚Zirkel‘) zu proklamieren, der im Namen und an Stelle des NCI sprach (siehe unseren Artikel im Internet auf französisch und spanisch „Schwindel oder Wirklichkeit“?). Die Militanten des NCI, die über keine Möglichkeiten des Zugangs zum Internet verfügten, konnten diese Manöver nicht aufdecken.
Sie haben von den in ihrem Namen veröffentlichten Texten sowie von der Korrespondenz zwischen der IKS und dem NCI (in Wirklichkeit nur B., da er die E-Mails für sich behielt) erst erfahren, nachdem die IKS ihnen diese Dokumente per Briefpost geschickt hat.
Welche Bedeutung haben diese ‚ekelerregenden Methoden‘ dieses Schwindlers?
Offensichtlich handelt es sich bei dessen undurchsichtigen Handeln um die Aktvitäten eines Manipulators, der keine wirkliche politische Überzeugung besitzt und der genauso wenig wie die IFIKS etwas im proletarischen Lager zu suchen hat. Seine plumpen Lügen sowie sein fieberhaftes Treiben im Internet hatten uns dazu bewogen ,noch bevor der NCI seine ‚Erklärung‘ abgab, zu sagen, dass „nur diejenigen, die keinen Verstand im Kopf haben“ diesen Unfug glauben könnten (siehe unsere französische oder spanische Website – „Circulo de Comunistas Internacionlistas – eine neue, seltsame Erscheinung“).
Genau das ist mit der IFIKS und dem IBRP geschehen, die den Lügen des ‚Zirkels‘ Glauben geschenkt haben, indem sie öffentlich ankündigten, dass der NCI mit der IKS gebrochen habe, und vor allem indem sie auf ihren Websites (in mehreren Sprachen) dessen ‚Erklärung‘ vom 12. Oktober veröffentlichten, die angeblich die „ekelerregenden Methoden“ der IKS „aufdeckt“.
Mit Hilfe seiner Computertricks hat dieser Webmaster (und große Lügner!) es geschafft, einen Preis als internationaler Superstar einzuheimsen, indem er nicht nur von der IFIKS sondern auch vom IBRP groß ins Rampenlicht gestellt wurde.
Dass die IFIKS solch eine enthusiastische Allianz mit dem Bürger B. eingegangen ist, überrascht nicht. Wer sich ähnelt, schließt sich zusammen. Aber viel schwererwiegend ist die Tatsache, dass eine Organisation der Kommunistischen Linken, das IBRP, dem Element B. einen nützlichen Dienst erwiesen hat und seine ‚ekelerregenden Methoden‘ unterstützt[3].
Dieser ‚Zirkel kommunistischer Internationalisten‘ (Mehrzahl!) ist nichts anderes als ein gewaltiger Schwindel.
Es ist unsere Verantwortung, ihn als solchen zu entblößen und das gesamte proletarische politische Milieu vor dem Treiben dieses besonders heimtückischen ‚Zirkels‘ zu warnen!
IKS, 3. November 2004
[1]Die Erklärungen vom
– 2. Okt., in der der ‚Zirkel‘ sich mit der IFIKS solidarisiert (die auf der Website der IFIKS veröffentlicht wurde)
– 12. Oktober „gegen die ekelerregende Methode der IKS“ (die auf der Websites der IFIKS und des IBRP veröffentlicht wurde)
– 21. Oktober „Antwort auf die Beilage von Révolution Internationale aus Frankreich“, die bis dato nur auf Spanisch auf der Website des ‚Zirkels‘ existiert.
[2]Siehe unsere drei Artikel im Internet auf Französisch und spanisch über den „Zirkel Internationalistischer Kommunisten“ (Circulo de Comunistas Internacionalistas)
– „Eine seltsame Erscheinung“
– „Eine neue, seltsame Erscheinung“
– „Schwindel oder Wirklichkeit?“
[3]Andere Leute und Gruppen in Lateinamerika (insbesondere in Mexiko und Brasilien) wurden ebenfalls durch den „Circulo“ kontaktiert, der vorgab, Nachfolger des NCI zu sein, und Verleumdungen über die IKS verbreitete. Doch die Haltung dieser kontaktierten Leute und Gruppen war eine ganz andere: Sie informierten umgehend die IKS, einige brachten auch ihre Zweifel an der Zugehörigkeit dieses „Zirkels“ zum Lager der Kommunistischen Linken zum Ausdruck.
Erklärung des Nucleo Comunista Internacional (Kern internationaler Kommunisten) zu den Erklärungen des “Circulo de Comunistas Internacionalistas” (Zirkel internationalistischer Kommunisten)
1) Der NCI hat die drei ‘Erklärungen’ des ‘Circulo de Comunistas Internacionalistas’ vom 2., 12. und 21. Oktober gelesen. Der NCI erklärt förmlich, dass der Inhalt dieser Erklärungen eine Reihe von Lügen und schändlichen Verleumdungen gegen die IKS ist.
2) Der NCI erklärt sich mit diesen Erklärungen des sog. ‘Zirkels’ nicht einverstanden, welche hinter dem Rücken und ohne Absprache mit dem NCI von einer Einzelperson gemacht wurden, die der NCI angehörte, aber die der Kern heute nicht mehr als Mitglied akzeptiert.
3) Der NCI hält seine Erklärung vom Mai 2004 aufrecht, in der er die IFIKS und ihr Verhalten verurteilt. Er steht weiterhin zu seinen Analysen, insbesondere zu den Ereignissen in Argentinien 2001 und hinsichtlich der Frage der Dekadenz des Kapitalismus.
4) Der NCI setzt die Diskussionen mit dem Ziel der politischen Klärung mit Unterstützung der IKS fort.
5) Lügen, Verleumdungen sind unwürdige Verhaltensweisen, die die Arbeiterklasse verwerfen muss.
6) Der NCI verpflichtet sich, eine Zusammenfassung seines Werdegangs von seiner Entstehung bis heute zu verfassen.
Beschlossen von dem NCI auf seinem Treffen am 27. Okt. 2004.
Achtung: Die alte E-Mail-Adresse des NCI ist für diesen nicht mehr zugänglich. Er wird so bald wie möglich eine neue Kontaktadresse mitteilen.
Der Ausbruch von massiven Klassenkämpfen im Mai 1968 in Frankreich und in der Folge auch in Italien, Grossbritannien, Spanien, Polen und anderswo setzte der konterrevolutionären Periode ein Ende, die seit der Niederschlagung der revolutionären Welle 1917–23 so schwer auf der internationalen Arbeiterklasse gelastet hatte. Der proletarische Riese ist auf der historischen Szene wieder aufgestanden. Diese Kämpfe hatten auch in Lateinamerika ein grosses Echo, zuerst 1969 im „Cordobaza“ in Argentinien. Zwischen 1969 und 1975 führten die Arbeiter in der ganzen Region, vom Süden Chiles bis nach Mexiko an der Grenze zu den USA, einen erbitterten Kampf gegen die Versuche der Bourgeoisie, die Kosten der Wirtschaftskrise auf sie abzuwälzen. Und in den folgenden Kampfwellen, von denen jene von 1977–80 im polnischen Massenstreik kulminierte und jene von 1983–89 von umfangreichen Bewegungen in Belgien, Dänemark und bedeutenden Kämpfen in zahlreichen anderen Ländern gekennzeichnet war, setzte auch das Proletariat Lateinamerikas den Kampf fort, wenn auch nicht auf dieselbe spektakuläre Weise. Es zeigte, dass die Arbeiterklasse einen einzigen und gleichen Kampf gegen den Kapitalismus führt, dass sie eine einzige und gleiche internationale Klasse ist, was auch immer die Unterschiede in den Bedingungen seien.
Heute erscheinen diese Kämpfe in Lateinamerika wie ein ferner Traum. Die aktuelle gesellschaftliche Situation in der Region kennt keine massiven Kämpfe und ähnliche Manifestationen oder gar bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und den Repressionskräften. Sie ist von einer allgemeinen gesellschaftlichen Instabilität gekennzeichnet. Der „Aufstand“ in Bolivien im Oktober 2003, die massiven Strassendemonstrationen, die im Dezember innert weniger Tage fünf argentinische Präsidenten aus dem Amt spülten, die venezolanische „Volksrevolution“ von Chavez, der in den Medien breitgetretene Kampf der Zapatistas in Mexiko, all diese und ähnliche Ereignisse haben die gesellschaftliche Bühne dominiert. In diesem Mahlstrom allgemeiner Unzufriedenheit, der sozialen Revolte gegen die sich ausbreitende Verarmung und Verelendung erscheint die Arbeiterklasse als eine unzufriedene Schicht unter anderen, die zu ihrer Verteidigung gegen die Verschlechterung ihrer Lage an der Revolte der anderen unterdrückten und verarmten Schichten der Gesellschaft teilnimmt und in ihnen aufgeht. Angesichts dieser Schwierigkeiten der Arbeiterklasse dürfen die Revolutionäre nicht einfach die Arme verschränken, sondern sie müssen unbeugsam die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verteidigen.
„Die Autonomie des Proletariats gegenüber allen Klassen der Gesellschaft ist die erste Vorbedingung für die Entwicklung des Klassenkampfs hin zur Revolution. Alle Bündnisse mit anderen Klassen oder Schichten und insbesondere jene Bündnisse mit Fraktionen der Bourgeoisie können nur zur Entwaffnung des Proletariats gegenüber seinen Feinden führen, da diese Bündnisse die Arbeiterklasse zur Aufgabe der einzigen Grundlage führen, wo das Proletariat seine Kräfte stärken kann: auf der Grundlage seines Kampfes als Klasse.“(1)
Da einzig die Arbeiterklasse eine revolutionäre Klasse ist, trägt auch nur sie eine Perspektive für die gesamte Menschheit in sich. Doch heute ist sie von Manifestationen des anwachsenden gesellschaftlichen Zerfalls des dahinsiechenden Kapitalismus umzingelt und hat grosse Schwierigkeiten, den Kampf als autonome Klasse mit eigenständigen Interessen aufzunehmen. Mehr denn je muss man in dieser Zeit an Marx erinnern, der schrieb: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (2)
Der Klassenkampf in Lateinamerika von 1969 bis 1989
Die Geschichte des Klassenkampfes in Lateinamerika in den letzten 35 Jahren ist Teil des internationalen Klassenkampfes. Sie ist eine Geschichte harter Kämpfe, gewaltsamer Zusammenstösse mit dem Staatsapparat, zeitweiliger Siege und bitterer Niederlagen. Die spektakulären Bewegungen vom Ende der 60er und dem Beginn der 70er-Jahre haben eine Phase von schwierigeren und schmerzhafteren Kämpfen eröffnet. In dieser Phase stellte sich die fundamentale Frage, wie die Klassenautonomie zu verteidigen und zu entwickeln sei, mit noch grösserer Schärfe.
Der Kampf der Arbeiter 1969 in der Industriestadt Cordoba war besonders wichtig. Er manifestierte sich in einer einwöchigen bewaffneten Auseinandersetzung zwischen dem Proletariat und der argentinischen Armee. Die Kämpfe in ganz Argentinien, in Lateinamerika, ja der ganzen Welt sind dadurch stimuliert worden. Es handelte sich um den Beginn einer Kampfwelle, die in Argentinien 1975 mit dem Kampf der Metallarbeiter von Villa Constitución, dem bedeutendsten Zentrum der Stahlproduktion des ganzen Landes, den Höhepunkt erreichte. Die Arbeiter von Villa Constitución waren mit der gesamten Macht des Staatsapparates konfrontiert; denn die herrschende Klasse wollte mit der Niederschlagung dieses Kampfes ein Exempel statuieren. Daraus ergab sich ein sehr hohes Niveau der Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat: „Die Stadt wurde unter militärische Besetzung durch 4.000 Mann gestellt (...) Jedes Viertel wurde systematisch durchkämmt und es wurden Verhaftungen vorgenommen, was aber nur die Wut der Arbeiter provozierte: 20.000 Arbeiter sind in den Streik getreten und haben Fabriken besetzt. Trotz Mordanschlägen und Bombardierungen von Arbeiterhäusern hat sich sofort ein aussergewerkschaftliches Kampfkomitee gebildet. Viermal wurde die Streikführung eingekerkert, aber jedes Mal entstand sofort ein neues Komitee. Wie in Cordoba 1969 haben bewaffnete Arbeitergruppen die Verteidigung der Arbeiterquartiere übernommen und haben den Aktivitäten der paramilitärischen Banden ein Ende bereitet.
Die Aktion der Stahl- und Metallarbeiter, die eine Lohnsteigerung um 70 Prozent forderten, hat sehr schnell von der Solidarität der Arbeiter in anderen Betrieben des Landes – in Rosario, in Cordoba und Buenos Aires – profitiert. In Buenos Aires haben beispielsweise die Arbeiter von Propulsora, die aus Solidarität in einen Streik getreten waren und die ihre ganzen Lohnforderungen (130.000 Pesos monatlich) durchsetzen konnten, entschieden, die Hälfte ihres Lohnes den Arbeitern von Villa Constitución zu spenden.“ (3)
Aus dem gleichen Grund haben die Arbeiter in Chile zu Beginn der 70er-Jahre ihre Klasseninteressen verteidigt und es abgelehnt, sie zugunsten der Volksfront-Regierung Allendes zu opfern: „Der Widerstand der Arbeiter gegen Allende begann 1970. Im Dezember 1970 traten 4.000 Minenarbeiter in Chuquicamata in den Streik und forderten höhere Löhne. Im Juli 1971 legten 10.000 Minenarbeiter in Lota Schwager ihre Arbeit nieder. Beinahe zur gleichen Zeit breitete sich eine Streikwelle in den Minen von El Salvador, El Teniente, Chuquicamata, La Exotica und Rio Blanco aus. Überall wurden höhere Löhne gefordert (...) Im Mai/Juni 1973 setzten sich die Minenarbeiter erneut in Bewegung. In den Minen von El Teniente und Chuquicamata traten 10.000 Arbeiter in den Streik. Die Minenarbeiter von El Teniente forderten eine Lohnerhöhung um 40 Prozent. Allende setzte die Provinzen O’Higgins und Santiago unter Militärkontrolle, weil die von El Teniente ausgehende Lähmung eine ernsthafte Bedrohung für die Wirtschaft darstellte.“ (4)
Wichtige Arbeiterkämpfe haben sich auch in anderen bedeutenden Arbeiterkonzentrationen Lateinamerikas zugetragen. In Lima, Peru, brachen 1976 aufstandsartige Streiks aus. Sie wurden blutig unterdrückt. Einige Monate später traten die Minenarbeiter von Centramin in den Streik. In Riobamba, Ecuador, fand ein Generalstreik statt. Im Januar des gleichen Jahres brach in Mexiko eine Streikwelle aus. 1978 gab es erneut Generalstreiks in Peru. Nach zehn ruhigen Jahren setzten sich 200.000 Metallarbeiter in Brasilien an die Spitze einer Streikbewegung, die von Mai bis Oktober dauerte. In Chile kam es 1976 zu Streiks der Metro-Angestellten von Santiago und der Minenarbeiter. In Argentinien brachen trotz des Terrors der Militärjunta 1976 Streiks in den Elektrizitätswerken und in der Automobilindustrie aus, die in gewaltsame Zusammenstösse zwischen Arbeitern und der Armee mündeten. Die 70er-Jahre waren auch von wichtigen Kampfepisoden in Bolivien, Guatemala und Uruguay gekennzeichnet.
Auch in den 80er-Jahren hat das Proletariat Lateinamerikas an der internationalen Kampfwelle teilgenommen, die 1983 in Belgien begonnen hatte. Die entwickeltsten dieser Kämpfe waren von den entschiedenen Anstrengungen seitens der Arbeiter gekennzeichnet, die Bewegung auszuweiten. So kämpften beispielsweise die Angestellten des Bildungssektors in Mexiko für eine Erhöhung der Gehälter: „Die Forderung der Arbeiter des Erziehungswesens stellte bereits von Beginn an die Frage nach der Ausweitung der Kämpfe, denn es herrschte eine allgemeine Unzufriedenheit gegenüber den Austeritätsplänen. Auch wenn die Bewegung gerade schwächer wurde, als jene im Erziehungswesen begann, streikten und demonstrierten doch 30.000 Angestellte des öffentlichen Sektors ausserhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle. Sie erkannten, dass die Ausdehnung und Einheit des Kampfes notwendig waren: Zu Beginn haben die Arbeiter aus dem Süden von Mexiko City Delegierte zu anderen Beschäftigten des Bildungssektors entsandt und sie dazu aufgerufen, sich dem Kampf anzuschliessen. Sie sind auch auf die Strassen gegangen und haben Kundgebungen durchgeführt. Sie haben sich dagegen gewehrt, den Kampf einzig auf die Lehrer einzugrenzen, und haben alle Arbeiter des Erziehungswesens (Lehrer, Verwaltungsangestellte, Handarbeiter) in den Massenversammlungen zusammengerufen, um den Kampf zu kontrollieren.“ (5)
Die gleichen Tendenzen haben sich auch in anderen Teilen Lateinamerikas gezeigt: „Selbst die bürgerlichen Medien haben von einer ‚Streikwelle’ in Lateinamerika gesprochen, mit Kämpfen in Chile, Peru, Mexiko (...) und auch in Brasilien, wo Arbeiter aus Banken, von den Docks, aus dem Gesundheits- und Bildungssektor gleichzeitig gegen das Einfrieren der Löhne protestierten.“ (6)
Die Arbeiterklasse Lateinamerikas hat von 1969 bis 1989 trotz aller Rückschläge, Schwierigkeiten und Schwächen gezeigt, dass sie vollumfänglich am historischen Wiederaufschwung der internationalen Arbeiterklasse teilnahm.
Der Fall der Berliner Mauer und die darauf folgende Propagandaflut der Bourgeoisie über den „Tod des Kommunismus“ haben einen tiefgreifenden Einbruch in den Klassenkämpfen auf internationaler Ebene herbeigeführt. Das hat sich vor allem im Verlust der Klassenidentität des Proletariats gezeigt. Dieser Rückschlag zeitigte bei den Arbeitern Südamerikas weit schädlichere Auswirkungen, da die Entwicklung der Krise und des gesellschaftlichen Zerfalls die verarmten, unterdrückten und verelendeten Massen in den Strudel der interklassistischen Revolten zogen. Das erschwert die schwierige Aufgabe, sich als autonome Klasse zu behaupten und die Distanz gegenüber der „Volksmacht“ und den Volksaufständen zu wahren.
Die schädlichen Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls und der interklassistischen Revolten
Der Zusammenbruch des Ostblocks war sowohl Produkt als auch Beschleunigungsfaktor des Zerfalls des Kapitalismus vor dem Hintergrund einer sich vertiefenden Wirtschaftskrise. Lateinamerika wurde davon mit voller Wucht getroffen. Millionen von Menschen wurden dazu gezwungen, ihr Dorf zu verlassen und sich auf der verzweifelten Suche nach inexistenten Arbeitsplätzen in die Slumsiedlungen der grossen Städte zu begeben, während gleichzeitig Millionen von jungen Arbeitern aus dem Lohnarbeitsprozess ausgeschlossen wurden. Dieses Phänomen ist seit 35 Jahren wirksam und erfuhr in den letzten zehn Jahren eine brutale Verschärfung. Es hat zu einem massiven Wachstum jener Gesellschaftsschichten geführt, die zur nichtausbeutenden und keinen Lohn empfangenden Schichten der Bevölkerung gehören. Diese dem Verhungern nah überlassenen Teile der Gesellschaft, die um ihr tagtägliches Brot kämpfen müssen, nehmen ständig zu.
In Lateinamerika leben 221 Millionen Menschen (41 Prozent der Bevölkerung) in Armut. Diese Zahl ist allein im letzten Jahr um sieben Millionen (von denen sechs Millionen in eine extreme Armut absanken) und in den letzten zehn Jahren um 21 Millionen angestiegen. Gegenwärtig leben 20 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in äusserster Armut. (7)
Die Verschärfung des gesellschaftlichen Zerfalls zeigt sich im Wachstum der informellen, scheinselbstständigen Wirtschaft des Strassenverkaufs. Das Ausmass dieses Sektors variiert entsprechend der Wirtschaftskraft eines Landes. In Bolivien übertraf im Jahr 2000 die Zahl der Scheinselbstständigen die der Lohnempfänger (47,8 zu 44,5 Prozent der aktiven Bevölkerung), während in Mexiko das Verhältnis noch 21:74,4 beträgt.
Auf dem ganzen Kontinent leben 128 Millionen Menschen oder 33 Prozent der städtischen Bevölkerung in Elendsquartieren. Diese Millionenmassen leben beinahe ohne jegliche sanitäre Installationen und elektrischen Strom. Ihr Leben ist geprägt von Kriminalität, von Drogen und vom Bandenwesen. In den Elendsvierteln von Rio finden seit Jahren Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs statt, eine Situation, die im Film La Ciudade de Deus anschaulich porträtiert wurde. Die Arbeiter Lateinamerikas und insbesondere jene in den Elendsquartieren sind mit den weltweit höchsten Kriminalitätsraten konfrontiert. Die Zerstörung der familiären Bindungen hat zu einer massiven Zunahme von ihrem Schicksal überlassenen Strassenkindern geführt.
Millionen von Bauern haben immer grössere Schwierigkeiten, dem Boden auch nur die miserabelsten Subsistenzmittel zu entreissen. In einigen tropischen Gebieten hat, neben der Holzindustrie, dies zu einer Beschleunigung der Umweltzerstörung geführt, da die landhungrigen Bauern dazu gezwungen sind, auf den Boden des Regenwaldes vorzudringen. Diese Lösung bringt jedoch nur eine kurze Atempause, da die dünne Humusschicht des Regenwaldes schnell ausgelaugt ist, und endet in einer Spirale der Entwaldung.
Die Zunahme der Schicht der Verelendeten hatte eine bedeutende Auswirkung auf die Fähigkeit des Proletariats, die eigene Klassenautonomie zu verteidigen. Das hat sich ganz klar Ende der 80er-Jahre gezeigt, als in Venezuela, Argentinien und Brasilien Hungerrevolten ausbrachen. Mit Hinweis auf den Aufstand in Venezuela, in dem mehr als Tausend Menschen umkamen und ebenso viele verletzt wurden, warnten wir damals vor den Gefahren solcher Aufstände für das Proletariat: „Die treibende Kraft dieser gesellschaftlichen Tumulte war eine blinde, perspektivlose Wut, die sich über lange Jahre systematischer Angriffe gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener, die noch eine Arbeit hatten, aufgestaut hatte. In ihnen entluden sich die Frustrationen von Millionen von Arbeitslosen, von Jungen, die nie gearbeitet haben und die von der Gesellschaft gnadenlos in den Sumpf der Verelendung getrieben wurden. Die Länder der Peripherie des Kapitalismus sind unfähig, diesen Menschen auch nur die geringste Lebensperspektive aufzuzeigen (...)Aufgrund des Mangels einer politischen Orientierung auf eine proletarische Perspektive sind diese Strassenunruhen mit den Brandschatzungen von Autos, den ohnmächtigen Konfrontationen mit der Polizei und später mit den Plünderungen von Lebensmittel- und Elektrowarengeschäften einzig von der Wut und der Frustration angetrieben worden. Die Bewegung, die als Protest gegen die wirtschaftlichen Massnahmen entstanden war, hat sich also sehr rasch in Plünderungen und perspektivlosen Zerstörungen aufgelöst.“ (8)
In den 90er-Jahren wurde die Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten in zunehmendem Masse von Teilen des Bürgertums und des Kleinbürgertums ausgenutzt. In Mexiko haben sich die Zapatistas mit ihren Ideen über die „Volksmacht“ und ihrer Eigendarstellung als Repräsentant eben dieser Macht anfangs als Meister darin ausgewiesen. In Venezuela hat Chavez die nicht-ausbeutenden Schichten, vor allem die Bewohner der Elendsviertel, hinter der Idee einer „Volksrevolution“ gegen das alte, korrumpierte System mobilisiert.
Diese Volksbewegungen hatten reale Auswirkungen auf das Proletariat, insbesondere in Venezuela, wo nach wie vor die Gefahr einer teilweisen Verstrickung in einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie besteht.
Die Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts hat keine Verminderung der zerstörerischen Auswirkungen der Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten mit sich gebracht. Im Dezember 2001 ist das argentinische Proletariat – es ist eines der ältesten und erfahrensten der lateinamerikanischen Arbeiterklasse – in einen Volksaufstand gerissen worden, der in einem Zeitraum von 15 Tagen fünf Präsidenten hintereinander von der Macht weggeputzt hatte. Im Oktober 2003 ist der Hauptsektor der bolivianischen Arbeiterklasse, die Minenarbeiter, ebenfalls in einen blutigen, vom Kleinbürgertum und den Bauern angeführten Volksaufstand verstrickt worden, in dem es zahlreiche Tote und Verletzte gab – und dies alles im Namen der Verteidigung der bolivianischen Gasreserven und der Legalisierung der Koka-Produktion!
Die Tatsache, dass bedeutende Teile des Proletariats von diesen Revolten erfasst worden sind, ist von grosser Bedeutung, weil dies offenbart, dass die Arbeiterklasse die Klassenautonomie weitgehend verloren hat. Anstatt sich als Proletarier mit eigenen Interessen zu verstehen, haben sich die Arbeiter Boliviens und Argentiniens als Bürger verstanden, die gemeinsame Interessen mit den kleinbürgerlichen und nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft teilen.
Die absolute Notwendigkeit einer revolutionären Klarheit
Mit der Verschärfung der Lage wird es weitere Aufstände dieses Typs geben, in denen es, wie das bereits in Venezuela der Fall war, auch blutige Bürgerkriege und Massaker geben kann, die bedeutende Teile der internationalen Arbeiterklasse physisch und ideologisch vernichten können. Angesichts dieser düsteren Perspektive ist es die Pflicht der Revolutionäre, ihre Intervention auf die Notwendigkeit auszurichten, dass das Proletariat einen Kampf zur Verteidigung der eigenen, spezifischen Klasseninteressen führen muss. Unglücklicherweise befinden sich nicht alle revolutionären Organisationen diesbezüglich auf der Höhe der eigenen Verantwortung. Das Internationale Büro der revolutionären Partei (IBRP) verlor gegenüber dem Gewaltausbruch der argentinischen Bevölkerung jeglichen politischen Kompass und schätzte die Lage völlig falsch ein: „Spontan sind die Arbeiter auf die Strassen gegangen und haben die Jungen, Studenten und bedeutende Teile des proletarisierten und wie sie selber verarmten Kleinbürgertums mit sich gezogen. Gemeinsam haben sie ihre Wut gegen die heiligen Stätten des Kapitalismus gerichtet: gegen Banken, Büros, aber hauptsächlich gegen Kaufhäuser und allgemein gegen Geschäfte, die ebenso angegriffen wurden wie die Bäckereien in den mittelalterlichen Brotaufständen. Die Regierung entfesselte eine blutige Repression mit Dutzenden von Toten und Tausenden Verletzten und hoffte so, die Rebellen einzuschüchtern. Das hat aber kein Ende der Revolte herbeigeführt, sondern sie ist im Gegenteil auf den Rest des Landes ausgedehnt worden und nahm immer mehr einen Klassencharakter an. Selbst die Regierungsgebäude, Symbole der Ausbeutung und der finanziellen Plünderung, sind angegriffen worden.“ (9)
Erst kürzlich hat Battaglia Comunista angesichts des sozialen Aufruhrs in Bolivien, der in den blutigen Ereignissen vom Oktober 2003 kulminierte, einen Artikel veröffentlicht, der die indianischen Ayllu (Gemeinderäte) pries: „Die Ayllu hätten nur eine Rolle in der revolutionären Strategie spielen können, wenn sie den gegenwärtigen Institutionen den proletarischen Inhalt der Bewegung entgegengestellt und die archaischen und lokalistischen Aspekte überwunden hätten, d.h. also nur, wenn sie als wirksamer Mechanismus für eine Einheit zwischen Indianern, weissen und farbigen Proletariern zur Errichtung einer Front gegen die Bourgeoisie und jenseits jeglicher rassischer Rivalitäten gewirkt hätten (...) Die Ayllu hätten ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und Mobilisierung des indianischen Proletariats sein können, aber das ist noch unzureichend als Grundlage für die Errichtung einer vom Kapitalismus emanzipierten Gesellschaft.“ Dieser Artikel von Battaglia Comunista wurde im November 2003 veröffentlicht, also nachdem sich die blutigen Ereignisse vom Oktober zugetragen hatten, in denen just das indianische Kleinbürgertum das Proletariat und insbesondere die Minenarbeiter zu einer hoffnungslosen Auseinandersetzung mit den Armeekräften verleitete. Ein Massaker, in dem Proletarier geopfert wurden, damit die indianische Bourgeoisie und das indianische Kleinbürgertum ein grösseres „Stück vom Kuchen“ ergattern konnten bei der Neuverteilung von Macht und Profiten, die aus der Ausbeutung der Bergarbeiter und Landarbeiter stammen. Wie einer ihrer Führer, Alvero Garcia, freimütig zugab, haben die Indianer keine verschwommenen Träume über die Ayllu als Ausgangspunkt für eine bessere Gesellschaft.
Der Enthusiasmus des IBRP bezüglich der Ereignisse in Argentinien ist die logische Folge seiner Analyse über die „Radikalisierung des Bewusstseins“ der nicht-ausbeutenden Schichten in den peripheren Ländern: „Die Diversität der sozialen Strukturen, die Tatsache, dass das Aufzwingen der kapitalistischen Produktionsweise das alte Gleichgewicht umkippt und dass die Aufrechterhaltung ihrer Existenz auf die Grundlage und Ausweitung der Verelendung von immer grösseren Massen von Proletarisierten und Enterbten fusst, die politische Unterdrückung und Repression, die notwendig zur Unterjochung der Massen sind, all das führt zu einem grösseren Potenzial für die Radikalisierung des Bewusstseins in den peripheren Ländern als in den Metropolen (...) In vielen dieser (peripheren) Länder ist die ideologische und politische Integration des Individuums in die kapitalistische Gesellschaft noch kein Massenphänomen wie in den Ländern der Metropolen.“ (10)
Gemäss diesem Standpunkt sind diese massiven und gewaltsamen Volksaufstände positiv. In der Vorstellung des IBRP ist das Untertauchen des Proletariats in der Welle des Interklassismus nicht der Ausdruck einer sterilen und zukunftslosen Revolte, sondern die Konkretisierung „einer Radikalisierung des Bewusstseins“. Infolgedessen hat sich das IBRP als völlig unfähig erwiesen, die wirklichen Lehren aus Ereignissen wie die des Dezembers 2001 in Argentinien zu ziehen.
Sowohl in den „Thesen“ als auch in den Analysen der konkreten Situationen begeht das IBRP zwei Fehler, die gewisse Allgemeinplätze der Linken und der Antiglobalisierungsbewegung widerspiegeln. Der erste Fehler ist die theoretische Ansicht, dass die Bewegungen zur Verteidigung nationaler, bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Interessen, die mit denen des Proletariats unvereinbar sind (wie die Ereignisse in Bolivien oder der Aufstand vom Dezember 2001 in Argentinien), in Arbeiterkämpfe umgewandelt werden könnten. Der zweite, eher empirische Fehler besteht in der Einbildung, dass diese wundersame Umwandlung auch tatsächlich stattgefunden hat und dass Bewegungen, die vom Kleinbürgertum und von nationalistischen Sprüchen dominiert werden, wirkliche Arbeiterkämpfe sind.
Wir sind bereits in einem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 30 („Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden“) mit dem IBRP bezüglich seiner politischen Desorientierung angesichts der Ereignisse in Argentinien ins Gericht gegangen. Am Ende dieses Artikels fassen wir unseren Standpunkt zusammen: „Unsere Analyse bedeutet absolut nicht, dass wir die Kämpfe des Proletariats in Argentinien und in anderen Zonen, wo der Kapitalismus schwächer ist, mit Verachtung strafen oder unterschätzen. Sie bedeutet einfach, dass Revolutionäre, als die Vorposten des Proletariats und mit einer klaren Vision von der Marschrichtung der proletarischen Bewegung als Ganzes ausgestattet, die Verantwortung haben, deutlich und exakt auf die Stärken und Grenzen des Arbeiterkampfes hinzuweisen, darauf, wer die Verbündeten sind und welche Richtung sein Kampf einschlagen sollte. Um dem gerecht zu werden, müssen sich Revolutionäre mit all ihrer Kraft der opportunistischen Versuchung – durch Ungeduld, Immediatismus oder einen historischen Mangel an Vertrauen in das Proletariat – entgegenstemmen und dürfen nicht eine Klassen übergreifende Revolte (wie wir sie in Argentinien gesehen haben) mit einer Klassenbewegung verwechseln.“ (11)
Das IBRP hat auf unsere Kritik geantwortet (12) und die Position, wonach das Proletariat diese Bewegung angeführt hatte, verteidigt und gleichzeitig die Auffassung der IKS verurteilt: „Die IKS unterstreicht die Schwächen des Kampfes und weist auf die interklassistische und heterogene Natur und die linksbürgerliche Führung hin. Sie beklagt sich über die Gewalt innerhalb der Klasse und über die vorherrschenden bürgerlichen Ideologien wie den Nationalismus. Für die IKS macht der Mangel an kommunistischem Bewusstsein aus dieser Bewegung eine ‚sterile Revolte ohne Zukunft’.“Es ist klar, dass das IBRP unsere Analyse nicht verstanden hat, oder besser: sie ziehen es vor, sie als das zu betrachten, als was sie sie betrachten wollen. Wir können die Leser nur dazu ermutigen, unseren Artikel zu lesen.
Im Gegensatz zu diesem Standpunkt analysiert der Nucleo Comunista Internationalista (NCI) – eine Gruppe, die sich in Argentinien Ende des Jahres 2003 gebildet hat – diese Ereignisse ganz anders und zieht entsprechend auch andere Schlussfolgerungen. In der zweiten Nummer seines Bulletins führte der NCI eine Polemik mit dem IBRP über die Natur der Ereignisse in Argentinien: „Das IBRP sagt fälschlicherweise, dass das Proletariat Studenten und andere soziale Schichten hinter sich gerissen habe. Das ist ein grosser Irrtum, den es mit den Genossen der GCI12 teilt. Tatsache ist, dass die Arbeiterkämpfe, die während des Jahres 2001 stattgefunden haben, die Unfähigkeit des argentinischen Proletariats aufgezeigt haben, nicht nur die Führung der Gesamtheit der Arbeiterklasse, sondern auch der auf den Strassen protestierenden sozialen Bewegung zu übernehmen und alle nicht ausbeutenden Schichten hinter sich zu scharen. Im Gegenteil waren es nicht-proletarische Schichten, die sich in den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember an die Spitze stellten. Also können wir sagen, dass die Entwicklung dieser Bewegungen keine historische Zukunft aufwiesen, was sich auch im darauf folgenden Jahr bestätigt hat.“ (13)
Die GCI sagt bezüglich der Verstrickung von Proletariern in Plünderungen Folgendes: „Es gab mehr als nur den Willen, den Unternehmen und Banken soviel Geld wie möglich zu klauen. Es handelte sich um einen allgemeinen Angriff auf die Welt des Geldes, des Privateigentums, der Banken und des Staates, gegen diese Welt, die eine Beleidigung für das menschliche Leben ist. Das ist nicht nur eine Frage der Enteignung, sondern auch eine Behauptung des revolutionären Potenzials, des Potenzials zur Zerstörung einer Gesellschaft, die die Menschen zerstört.“ (14)
Der NCI stellt sich gegen eine solche Sichtweise und präsentiert eine ganz andere Analyse über die Beziehung zwischen diesen Ereignissen und der Entwicklung des Klassenkampfes:
„Die Kämpfe in Argentinien in der Periode 2001–2002 sind kein isoliertes Ereignis, sie waren das Produkt einer längeren Entwicklung, die wir in drei Teile aufteilen können:
a) Erstes Element 2001: Wie wir bereits weiter oben gesagt haben, war 2001 von einer Serie von Kämpfen für typische Arbeiterforderungen geprägt. Ihr gemeinsamer Nenner war die Isolierung gegenüber anderen Abteilungen des Proletariats und die Prägung der Konterrevolution: die Vermittlung, die von der Hegemonie der politischen Führung der Gewerkschaftsbürokratie gesichert war.
Trotz dieser Begrenztheit konnte man bedeutende Manifestationen von Arbeiterselbstorganisation erkennen wie beispielsweise der Minenarbeiter von Rio Turbio im Süden des Landes, in Zanon und in Norte de Salta (zusammen mit den Bauarbeitern und arbeitslosen, ehemaligen Erdölarbeitern). Diese kleinen Arbeiterabteilungen bildeten die Avantgarde, die die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse und der streikenden Proletarier zur Debatte stellten.
b) Zweitens die zwei Tage vom 19. und 20. Dezember: Wir wiederholen, dass dies weder eine von Teilen der Arbeiterklasse noch eine von Arbeitslosen angeführte Revolte war, sondern ein interklassistischer Aufstand. Das Kleinbürgertum war darin das zentrale Element, denn die ökonomischen Angriffe der Regierung De La Rua waren direkt gegen seine Interessen und auch, mit dem Dekret vom Dezember 2001 zur Einfrierung der Bankguthaben, gegen ihre Wählerbasis und politische Unterstützung gerichtet ( ...)
c) Drittens muss man vorsichtig sein und sich davor hüten, die so genannten Volksversammlungen zu verherrlichen, die sich in den kleinbürgerlichen Vierteln von Buenos Aires, weit ab von den Arbeitervierteln, an die Spitze der Bewegung stellten. Dennoch gab es in dieser Zeit eine Entwicklung von sehr bescheidenen Kämpfen auf dem Terrain der Arbeiterklasse, die im Begriff waren zu wachsen: Gemeindearbeiter und Lehrer demonstrierten, forderten die Auszahlung ihrer Löhne; Industriearbeiter kämpften gegen die Entlassungen durch die Unternehmerorganisationen (z.B. die Lastwagenfahrer).
Damals besassen die beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter die Möglichkeit nicht nur einer wahren Einheit, sondern auch der Aussaat einer späteren autonomen Klassenorganisation. Dagegen hat die Bourgeoisie versucht, die Arbeiterklasse mit Hilfe der neuen Bürokratie der Piqueteros zu spalten und irrezuführen. Damit ist die Erfahrung, die eine bedeutende Waffe in den Händen der Arbeiter war, verschmäht worden, wie im Fall der so genannten Nationalversammlung der beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter.
Aus diesen Gründen denken wir, dass es ein Fehler ist, die Kämpfe, die sich 2001 und 2002 hindurch ereigneten, mit den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember 2001 zu identifizieren, denn sie unterscheiden sich und das eine ist nicht die Konsequenz des anderen.
Die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember hatten absolut keinen proletarischen Charakter, da sie weder von Arbeitenden noch von Arbeitslosen angeführt worden waren. Letztere lieferten die Munition für die Slogans und Interessen des Kleinbürgertums von Buenos Aires, die vollständig verschieden sind von den Zielen des Proletariats ( ...)
Dies zu erwähnen ist sehr wichtig, weil in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus das Proletariat Gefahr läuft, die Klassenidentität und das Vertrauen in die eigene Rolle als Subjekt der Geschichte und entscheidende Kraft der gesellschaftlichen Umwandlung zu verlieren. Das ist ein Ergebnis des Rückflusses des Klassenbewusstseins, der wiederum das Resultat des Zusammenbruchs des stalinistischen Blocks und des Gewichts der kapitalistischen Propaganda über die Niederlage des Klassenkampfs auf das Denken der Arbeiter ist. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie den Arbeitern eingeredet, dass es keinen Klassengegensatz gebe, dass die Leute vielmehr durch die Beteiligung am bzw. den Ausschluss vom Markt vereint oder getrennt würden. Sie versucht also, den blutigen Graben zwischen Proletariat und Bourgeoisie einzuebnen.
Diese Gefahr hat man in Argentinien während der Ereignisse vom 19. und 20. Dezember 2001 gesehen, in denen die Arbeiterklasse nicht fähig war, sich in eine autonome Kraft im Kampf für die eigenen Interessen zu verwandeln. Sie ist vielmehr in den Strudel der interklassistischen Revolte unter der Führung von nicht-proletarischen Schichten gerissen worden ...“ (s.o.)
Der NCI stellt die Ereignisse in Bolivien in denselben Rahmen: „Natürlich muss man den kämpfenden bolivianischen Arbeitern Respekt zollen und sie voll und ganz unterstützen, dennoch ist es notwendig, die Tatsache klarzustellen, dass die Kampfbereitschaft der Klasse nicht das einzige Kriterium zur Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist, da die Arbeiterklasse in Bolivien nicht fähig war, eine massive und vereinte Bewegung zu entwickeln, die hinter sich den Rest der nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hätte vereinigen können. Das Gegenteil hat sich zugetragen: Die Bauern und die Kleinbürger haben diese Revolte angeführt.
Das bedeutet, dass die bolivianische Arbeiterklasse sich in einer interklassistischen ‚Volksbewegung’ aufgelöst hat. Wir behaupten dies aus verschiedenen Gründen:
a) Die Bauernschaft hat diese Revolte mit zwei Zielsetzungen angeführt: die Legalisierung des Kokaanbaus und die Verweigerung des Verkaufs von Erdgas an die USA.
b) Es wurde die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung als Mittel erhoben, um aus der Krise herauszukommen und ‚die Nation wieder aufzubauen’.
c) Nirgendwo hat diese Bewegung den Kampf gegen den Kapitalismus zuvorderst gestellt.
Die Ereignisse in Bolivien weisen eine grosse Ähnlichkeit mit denen in Argentinien 2001 auf, wo das Proletariat ebenfalls durch die Slogans des Kleinbürgertums aufgerieben worden ist. Diese ‚Volksbewegungen’ enthielten tatsächlich einen ziemlich reaktionären Aspekt, indem sie den Wiederaufbau der Nation oder den Rauswurf der ‚Gringos’ und die Rückgabe der Rohstoffe an den bolivianischen Staat propagierten (...) Die Revolutionäre müssen Klartext sprechen und sich illusionslos und ohne Selbsttäuschung auf die Tatsachen des Klassenkampfs stützen. Es ist notwendig, eine proletarische, revolutionäre Position einzunehmen, denn es wäre ein ernster Fehler, eine soziale Revolte mit einem engen politischen Horizont mit einem proletarischen antikapitalistischen Kampf zu verwechseln.“ (15)
Diese Analyse des NCI stützt sich auf die wirklichen Tatsachen und zeigt ganz klar auf, dass das IBRP die eigenen Wünsche zur Realität erhebt, wenn es die Idee der „Radikalisierung des Bewusstseins“ unter den nicht-ausbeutenden Schichten propagiert. Die konkrete Situation in der Peripherie ist die wachsende Zerstörung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Propagierung des Nationalismus, des Populismus und anderer ähnlich reaktionärer Ideologien, die alle sehr ernste Folgen für die Fähigkeit des Proletariats haben, die eigenen Klasseninteressen zu verteidigen.
Glücklicherweise scheint diese Tatsache doch nicht vollständig unbemerkt von gewissen Publikationen des IBRP zu bleiben. Die Nummer 30 der Revolutionary Perspectives (Organ der Communist Workers Organisation, der Gruppe des IBRP in Grossbritannien) präsentiert im Editorial „Die imperialistischen Rivalitäten spitzen sich zu, der Klassenkampf muss sich zuspitzen“ ein der Realität viel näheres Bild der Ereignisse in Argentinien und in Bolivien: „Wie in Argentinien waren diese Proteste interklassistisch und ohne klare soziale Zielsetzung. Wir haben dies im Fall Argentiniens gesehen, wo die gewaltsame Agitation vor zwei Jahren den Weg für die Austerität und Verarmung geebnet hatte (...) Während der Ausbruch der Revolte die Wut und die Verzweiflung der Bevölkerung in vielen peripheren Ländern aufzeigt, können solche Ausbrüche gleichwohl keinen Ausweg aus der dort existierenden katastrophalen gesellschaftlichen Lage finden. Der einzige Weg nach vorn ist der Klassenkampf und seine Verbindung mit den Arbeiterkämpfen der Metropolen.“
Der Artikel denunziert indessen unglücklicherweise nicht die Rolle des Nationalismus oder der indianischen Kleinbourgeoisie in Bolivien. So bleibt die offizielle Position des IBRP bezüglich dieser Frage notwendigerweise jene, die von Battaglia Comunista vertreten wird, wonach „die Ayllu ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und die Mobilisierung des indianischen Proletariats sein könnten“. Die Realität ist, dass die Ayllu der Ausgangspunkt für die Mobilisierung des indianischen Proletariats hinter dem indianischen Kleinbürgertum, den Bauern und Kokapflanzern in ihrem Kampf gegen die regierende Fraktion der Bourgeoisie waren.
Diese Verirrung von Battaglia Comunista, den „indianischen Gemeinderäten“ ein Potenzial bei der Entwicklung des Klassenkampfes zuzuschreiben, ist vom NCI nicht unbemerkt geblieben. Er sah es als notwendig an, Battaglia zu dieser Frage zu schreiben. Nachdem er betont hatte, was die Ayllu tatsächlich sind, nämlich „ein Kastensystem zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der Bourgeoisie, gleich, ob weiss, mestizisch oder eingeboren, und dem Proletariat“, richtet der NCI in seinem Brief (datiert vom 14. November 2003) folgende Kritik an Battaglia: „Unserer Ansicht nach handelt es sich bei dieser Position um einen schwerwiegenden Irrtum, da sie dieser traditionellen eingeborenen Institution die Fähigkeit zuspricht, Ausgangspunkt für die Arbeiterkämpfe in Bolivien zu sein, auch wenn sie in der Folge ihre Grenzen aufzeigt. Wir betrachten die Aufrufe der Anführer der Volksrevolte zur Wiederherstellung der mythischen Ayllu als Spaltung zwischen den weissen und den indianischstämmigen Arbeitern. Dies ist auch der Fall bei der Forderung an die herrschende Klasse nach einem grösseren Anteil am Kuchen, der vom Mehrwert, das aus dem bolivianischen Proletariat, gleich, welcher Herkunft, herausgepresst wurde, produziert wird.
Jedoch glauben wir fest daran, dass im Gegensatz zu eurer Erklärung der ‚Ayllu’ niemals als ‚ein Beschleuniger und Integrator in einem einzigen und gemeinsamen Kampf’ wird wirken können, da er von reaktionärer Natur ist und die ‚eingeborene’ Annäherung eine Idealisierung (eine Verfälschung) der Geschichte dieser Gemeinden darstellt, da ‚im Inkasystem die Gemeindeelemente des Ayllu in ein unterdrückerisches Kastensystem im Dienste der Oberschicht, der Inkas, eingebunden waren’ (Osvaldo Coggiola, „L’indigénisme bolivarien“). Aus diesem Grund ist es ein schwerwiegender Fehler zu meinen, dass der Ayllu als Beschleuniger und Integrator der Kämpfe wirken könnte.
Es ist wahr, dass die bolivianische Rebellion von eingeborenen Gemeinschaften von Bauern und Kokapflanzern angeführt worden ist, aber gerade hier liegt auch der grosse Schwachpunkt und nicht etwa die Stärke, da es sich um eine einfache und simple Volksrebellion handelt, in der die Arbeiter nur eine zweitrangige Rolle spielen. Die bolivianische interklassistische Revolte leidet also an der Abwesenheit einer revolutionären Arbeiterperspektive. Im Gegensatz zu den Gedanken gewisser Strömungen des trotzkistischen und guevaristischen Lagers kann man diese Revolte keinesfalls als ‚Revolution’ bezeichnen. Die eingeborenen Bauernmassen setzten sich in keinem Augenblick den Umsturz des kapitalistischen Systems in Bolivien zum Ziel. Im Gegenteil: Wir haben bereits gesagt, dass die Ereignisse in Bolivien sehr stark vom Chauvinismus geprägt sind: Verteidigung der nationalen Würde, Verweigerung des Erdgasverkaufs an Chile, Widerstand gegen die Ausmerzung der Kokapflanze.“
Die Rolle der Ayllu in Bolivien findet in der mexikanischen AZLN (Zapatistische Armee der nationalen Befreiung) ein Ebenbild: Sie hat die eingeborenen Gemeindeorganisationen zur Mobilisierung der indianischen Kleinbourgeoisie, der Bauern und Proletarier von Chiapas und anderen Regionen Mexikos im Kampf gegen die Hauptfraktion der mexikanischen Bourgeoisie gebraucht. Dieser Kampf stand auch im interimperialistischen Spannungsfeld zwischen den USA und gewissen europäischen Mächten.
Diese Sektoren der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas sind weder ins Proletariat noch in die Bourgeoisie integriert worden und sind einer extremen Armut und Marginalisierung ausgeliefert. Diese Situation „hat Intellektuelle und gewisse Strömungen des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie dazu veranlasst, nach Argumenten zu suchen, weshalb die Indianer ein gesellschaftlicher Körper mit einer historischen Alternative seien und wie sie als Kanonenfutter für den so genannten Kampf für die ethnische Verteidigung zu gebrauchen seien. Tatsächlich befinden sich hinter diesen Kämpfen aber die Interessen der Bourgeoisie. Man hat das nicht nur in Chiapas, sondern auch in Ex-Jugoslawien gesehen, wo die ethnischen Fragen von der Bourgeoisie manipuliert wurden, um einen formellen Vorwand für den Kampf der imperialistischen Mächte zu liefern.“ (16)
Die vitale Rolle der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern des Kapitalismus
Das Proletariat ist mit einer sehr ernsthaften Verschlechterung der gesellschaftlichen Umwelt konfrontiert, in der es leben und kämpfen muss. Seine Fähigkeit, ein Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, ist vom zunehmenden Gewicht der Hoffnungslosigkeit der nicht-ausbeutenden Schichten bedroht. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte nutzen diese Situation für ihre eigenen Zwecke aus. Es wäre eine sehr schwerwiegende Vernachlässigung unserer Verantwortung, wenn wir diese Gefahr unterschätzen würden.
Nur durch die Entwicklung der Unabhängigkeit als Klasse und die Behauptung der Klassenidentität, durch die Stärkung des Vertrauens in die Fähigkeiten zur Verteidigung der eigenen Interessen wird das Proletariat zu einer Kraft werden, der es möglich ist, die anderen nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hinter sich zu scharen.
Die Geschichte des Arbeiterkampfes in Lateinamerika zeigt, dass die Arbeiterklasse eine lange und reiche Erfahrung aufweist. Die Anstrengungen der argentinischen Arbeiter 2001 und 2002 zur Wiederaufnahme von unabhängigen Klassenkämpfen (beschrieben in den Zitaten vom NCI (17)) zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse intakt ist. Sie trifft jedoch auf grosse Schwierigkeiten, die Ausdruck von bereits langanhaltenden Schwächen des Proletariats in der Peripherie des Kapitalismus und der enormen materiellen und ideologischen Kraft des Zerfallsprozesses in diesen Regionen sind. Es ist kein Zufall, wenn die bedeutendsten Ausdrücke der Klassenautonomie in Lateinamerika in den 60er- und 70er-Jahren liegen, mit anderen Worten: vor dem Prozess des Zerfalls und seiner negativen Auswirkungen auf die Klassenidentität des Proletariats. Eine solche Situation verstärkt nur die historische Verantwortung des Proletariats in den industriellen Konzentrationen im Herzen des Kapitalismus. Dort befinden sich die am weitesten vorangeschrittenen und die gegenüber den zersetzenden Auswirkungen des Zerfalls widerstandsfähigsten Teile der Arbeiterklasse. Das Signal zur Beendigung der fünfzigjährigen konterrevolutionären Phase Ende der 60er-Jahre war in Europa ertönt und das Echo hallte in Lateinamerika wider. Aus demselben Grunde wird die Rekonstituierung der Arbeiterklasse als historisches Gegengift zum kapitalistischen Verfall notwendigerweise von den konzentriertesten und politisch erfahrensten Bataillonen der Arbeiterklasse ausgehen, an erster Stelle von jenen in Westeuropa. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiter Lateinamerikas keine vitale Rolle in der zukünftigen Generalisierung und Internationalisierung der Kämpfe spielen werden. Von allen Sektoren der Arbeiterklasse in der Peripherie des Systems sind sie gewiss die politisch am fortgeschrittensten. Das beweist die Existenz einer revolutionären Tradition in diesem Teil der Welt und auch das gegenwärtige Auftauchen von neuen Gruppen auf der Suche einer revolutionären Klarheit. Diese Minoritäten sind der Gipfel eines proletarischen Eisbergs, der die unsinkbare Titanic des Kapitals zum Sinken bringt.
Phil
Fußnoten:
1 s. Punkt 9 der Plattform der IKS.
2 Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, S. 38.
3 s. Argentinien sechs Jahre nach Cordoba“, in: World Revolution, Nr. 1, 1975, S. 15f.
4 s. Der unaufhaltsame Fall von Allende, in: World Revolution Nr. 268.
5 s. Mexiko: Arbeiterkämpfe und revolutionäre Intervention, in: World Revolution, Nr. 124, Mai 1989.
6 Der schwierige Weg zur Vereinheitlichung des Klassenkampfes, in: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.
7 nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC).
8 s. Kommuniqué an die gesamte Arbeiterklasse, in: Internacionalismo, Organ der IKS in Venezuela, zit. nach: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.
9 s. Lektionen aus Argentinien: Positionsbezug des IBRP: Entweder die revolutionäre Partei und der Sozialismus oder die verallgemeinerte Armut und der Krieg, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.
10 s. Thesen über die kommunistischen Taktiken für die Peripherie des Kapitalismus, siehe: www.ibrp.org [10]. Die IKS kritisiert diese Thesen in: Der Kampf der Arbeiterklasse in den peripheren Ländern des Kapitalismus, in: Revue Internationale Nr. 100.
11 s. Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden, in: Internationale Revue, Nr. 30, November 2002.
12 s. Arbeiterkämpfe in Argentinien: Polemik mit der IKS“, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.
13 s. Zwei Jahre nach dem 19. und 20. Dezember, in: Revolucion Comunista, Nr. 2.
14 s. A propos Klassenkampf in Argentinien, in: Communismo, Nr. 49.
15 Die bolivianische Revolte, in: Revolucion Comunista, Nr. 1.
16 s. Einzig die proletarische Revolution kann die Indianer befreien, in: Revolucion Mundial, Nr. 64, September/Oktober 2001. Organ der IKS in Mexiko.
17 s. Révolution Internationale, Nr. 315, September 2001.
So wie beim Erdbeben im iranischen Bam vor zwei Jahren, das Zehntausende von Menschen tötete, oder beim Tsunami im Dezember, der Hunderttausende von Toten in der Region des Indischen Ozeans hinterließ, so hat auch in New Orleans, Mississippi und Alabama das kapitalistische System eine Naturkatastrophe in ein soziales Desaster verwandelt. So wie beim Erdbeben im iranischen Bam vor zwei Jahren, das Zehntausende von Menschen tötete, oder beim Tsunami im Dezember, der Hunderttausende von Toten in der Region des Indischen Ozeans hinterließ, so hat auch in New Orleans, Mississippi und Alabama das kapitalistische System eine Naturkatastrophe in ein soziales Desaster verwandelt.
Die albtraumartigen Szenen, die sich derzeit in den USA abspielen, machen dies deutlicher denn je. Hier handelt es sich nicht um etwas, was durch ein vages Gerede über die Unterentwicklung und globale Armut wegdiskutiert werden kann. Diese Katastrophe, deren Todes- und Zerstörungsrate noch nicht kalkuliert werden kann, ereignet sich in der reichsten, mächtigsten Nation der Welt. Sie beweist, dass die herrschende Gesellschaftsordnung trotz all ihrer technologischen und materiellen Ressourcen die Menschheit nur in den Ruin treiben kann.
Die Katastrophe, die vom Hurrikan „Katrina“ ausgelöst wurde, ist in jedem einzelnen ihrer Aspekte eine Anklage gegen Kapitalismus und Klassengesellschaft.
Zu den Ursachen der Katastrophe. Die Katastrophe, die nichts Geringeres als die City von New Orleans zerstört hat - eine einzigartige Erinnerung an all dem, was das Beste der amerikanischen Kultur ausmacht -, ist seit langer Zeit vorausgesagt worden. Eine Umweltstudie über die Zerstörung des Schwemmlandes rings um New Orleans, das Schutz bieten könnte gegen die riesigen Wassermassen, die die City von New Orleans umgeben, kam zu dem Schluss, dass die City schon durch einen ganz „normalen“ Hurrikan verwüstet werden könnte, ganz zu schweigen von einem Orkan der Stärke 5. Im Jahr 2003 änderte die US-Regierung ihre bisherige Politik, einen Nettoverlust von Schwemmland zu vermeiden, und öffnete die Tür für eine massive „Entwicklung“ und eine auf schnelles Geld ausgerichtete Bebauung von Schwemmland. Es wurde auch vor dem gefährlichen Zustand der Dämme gewarnt, die zum Schutz der Stadt errichtet worden waren. Auch darüber wurden Studien angefertigt, doch auch hier hatte der Staat andere Prioritäten. Die Times-Picayune berichtete am 2. September: „Jene zweite Studie sollte vier Jahre dauern und ungefähr 4 Mio. Dollar kosten, sagte Al Naomi, Projektleiter des Ingenieurskorps der Armee. Ungefähr 300.000 Dollar Bundesmittel waren für den Etat von 2005 avisiert, und der Staat hatte zugesagt, diesen Betrag aufzubringen. Doch seinem Vernehmen nach zwangen die Kosten des Irakkrieges die Bush-Administration, dem Distrikt von New Orleans anzuweisen, keine neue Studien zu beginnen, und auch der Etat von 2005 enthielt nicht mehr die benötigten Gelder.“
Gar nicht erst zu reden über das Thema der globalen Erwärmung: Es gibt wachsende Hinweise darauf, dass die Erwärmung der Weltmeere – das Produkt eines dem Kapitalismus innewohnenden Bedürfnisses nach einem ungehemmten Wirtschaftswachstum – die Ursache für die sich häufenden extremen Wetterlagen ist, die überall auf der Welt zu spüren sind. Doch die US-Regierung ist nicht einmal bereit, die Existenz dieses Problem zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
Zum Fiasko der „Evakuierung“ vor dem Sturm. Es enthüllt einen völligen Mangel an Planung und ein totales Versagen, die ärmsten und prekärsten Teile der Bevölkerung zu versorgen. Alles, was die lokalen und nationalen Behörden angesichts des kommenden Sturms taten, war, die Menschen aufzufordern, aus New Orleans und Umgebung zu fliehen. Nicht ein Gedanke wurde daran verschwendet, wie die Armen, die kein Auto und nicht genug Geld für Zug- oder Bustickets besaßen, wegkommen sollten. Noch vielsagender war die Aufgabe ganzer Krankenhäuser und Altenheime. Der Anblick von älteren Patienten, die unter offenem Himmel zurückgelassen wurden, und jener, die verzweifelt versuchten, ihnen zu helfen, gehört zu den erschütternsten Bildern dieser Katastrophe. Dies ist der Preis dafür, alt und arm zu sein im 21. Jahrhundert.
Zur Farce der „Hilfsaktion“ nach dem Sturm. Tagelang waren jene, die zurückgelassen wurden, höllischen Bedingungen auf den Straßen, in den Ruinen und im Superdome, wo sie Schutz suchen sollten, ausgesetzt. Es fehlte an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Schutz vor der drückenden Schwüle und an den einfachsten Sanitäreinrichtungen, während die mächtigen US-Behörden unfähig schienen, sie über Land oder über See zu erreichen. Die Administration selbst erklärte diese Verzögerungen als „inakzeptabel“, bot aber bisher keine weitergehende Erklärung an. Und einmal mehr bestimmte die Klassenzugehörigkeit die Überlebenschancen, wie am Gegensatz zwischen den Bedingungen, denen die Superdome-Flüchtlinge ausgesetzt waren, und den Umständen einer privilegierten Gruppe von Gästen des Hyatt-Hotels deutlich wird: „Gordon Russell von der Times-Picayune wies treffend darauf hin, dass diese höllischen Bedingungen ‚in starkem Kontrast standen zu jenen von Leuten im nahe gelegenen, Zugangsbeschränkten Centre- und Hyatt-Hotel aus New Orleans’. Eine Reihe von Staatspolizisten, mit Gewehren in Anschlag, fuhr die Menge von Zuflucht suchenden Flüchtlingen vom Hoteleingang zu den Einrichtungen.“ Später stellte dieselbe Polizei sicher, dass diesen VIPs Vorrang vor den anderen Überlebenden gewährt wurde, als die Evakuierung begann; und es stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen Funktionäre des Bürgermeisters, Ray Nagin, waren.
Als aber die Evakuierung des Superdomes begann, gab es keinerlei Anzeichen von Großzügigkeit. Laut der World Socialist Website stieg, „während Bush seine Runde machte, (…) die Todesrate in New Orleans weiterhin rapide an. Nach der Ankunft eines riesigen, von der Nationalgarde eskortierten Konvois von Lastwagen, beladen mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser, und Hunderten von Bussen, begann die Massenevakuierung aus dem Louisiana-Superdome, dem größten Notlager für die obdachlosen Menschen. Doch die Busse setzten viele Flüchtlinge nur einige Meilen entfernt, an einer Kreuzung von Zufahrten zur Interstate 10, aus, wo Tausende von obdachlosen Flüchtlingen der brütenden Sonne ausgesetzt waren. Von mindestens einem halben Dutzend Toten unter den sich selbst überlassenen Flüchtlingen wurde berichtet.“ (3.9.2005)
Zu den künftigen ökonomischen und ökologischen Konsequenzen dieser Katastrophe: Schon ist viel von der Aufgabe des „Wiederaufbaus“ dieser Region – ein Gebiet, größer als Großbritannien und mit einigen der ärmsten Landstriche in den USA – die Rede, doch die USA ist bereits vor dem Sturm unaufhaltsam in die offene Wirtschaftskrise geschlittert, und die Katastrophe wird diese - alles deutet darauf hin – noch verschlimmern. Dies hat sich bereits in dem abrupten Anstieg des Ölpreises gezeigt, der aus den enormen Engpässen in der Versorgung resultiert. Der Sturm hat ein Loch in die Erdöl-Infrastruktur gerissen: Totalverluste von 30 Ölplattformen, weitere 20 aus ihren Verankerungen gerissen und stillgelegte Raffinerien. Dies hinderte die Erdölkonzerne nicht daran, eine schnelle Mark zu machen – ihre Börsennotierungen stiegen unmittelbar nach dem Sturm. Doch die langfristigen Auswirkungen dieses Anstiegs des Ölpreises bereiten den Wirtschaftsexperten der Bourgeoisie bereits erhebliche Sorgen.
Der Hurrikan beschwört noch weitere ökonomische Kalamitäten herauf: Die Küstenregion war bereits vor dem Sturm wegen der Konzentration von Raffinerien und Chemiefabriken als mit dem Krebs „im Bunde“ bekannt. Nun sind diese durch den Sturm übel zugerichtet worden, und ganze Gebiete von New Orleans drohen dadurch unbewohnbar zu werden. Kommentatoren sprechen von einem „Hexengebräu“ von toxischem Müll, der von den Wasserfluten davongetragen wurde und für die gestrandeten Überlebenden zu einem schnell wachsenden Krankheitsherd wird.
Zur Abzweigung von gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg: Eine Frage, die die Opfer immer wieder stellten: Wie kann es sein, dass die USA zwar eine Armee mobilisieren können, um in ein Tausende von Kilometern entferntes Land einzumarschieren, aber nicht im Stande sind, andere Amerikaner zu retten? Die grausame Priorität, die dem Krieg gegenüber dem Schutz von menschlichem Leben eingeräumt wird, fand ihren Ausdruck in der Tatsache, dass Gelder aus dem Etat für die Verbesserung von Schutzeinrichtungen für New Orleans abgezogen wurden, um das Irak-Abenteuer zu finanzieren; auch große Mengen an Ausrüstung und Manpower der Nationalgarde wurden für den Irak abgeschöpft, was teilweise als Erklärung für die Langsamkeit der Rettungsbemühungen herhalten muss.
Zur Tatsache, dass Privateigentum vor Menschenleben gesetzt wird: Und wie viele Truppen, die vom Irak-Krieg verschont blieben, wurden nach New Orleans geschickt, um „Recht und Ordnung“ wiederherzustellen, statt den Bedürftigen Hilfe zu bringen? Natürlich erschienen die Repressionsorgane noch vor den Helfern. Sie wurden von einer riesigen Medienkampagne über Plünderungen, Schießereien und Vergewaltigungen begleitet. Kein Zweifel, kriminelle Banden versuchten, Nutzen aus dieser Situation zu schlagen; kein Zweifel, die Verzweiflung trieb manchen zu irrationalen und zerstörerischen Handlungen. Doch der Zynismus der herrschenden Klasse erreichte neue Höhen, als sie systematisch eine Medienkampagne in Gang setzte, um die Aufmerksamkeit vom Versagen des Staates auf allen Ebenen auf jene Menschen zu lenken, die verzweifelt versuchten, in den Ruinen von New Orleans zu überleben. Plötzlich wurden die Opfer für ihr eigenes Leid verantwortlich gemacht, und statt Hilfe zu schicken, nahm dies die herrschende Klasse zum Vorwand, New Orleans dichtzumachen, die Rettungsbemühungen einzustellen und statt Trinkwasser und Lebensmittel Waffen, bewaffnete Fahrzeuge und Truppen zu schicken.
Damit über eins Klarheit besteht: Die Mehrheit der „Plünderer“ waren gewöhnliche Menschen, die vom Verhungern und von der schlimmsten Not bedroht waren und die sich aus den verwaisten Geschäften nahmen, was sie konnten; in vielen Fällen verteilten sie uneigennützig die Waren, die sie gefunden hatten. Web-Tagebücher, die aus erster Hand informiert waren, erzählten von zahllosen Akten der elementaren menschlichen Solidarität von Menschen, die selbst alles verloren hatten, gegenüber Mitmenschen, die sich aufgrund ihres Alters, von Verletzungen oder Krankheit in einer noch schlechteren Lage befanden. Und auch wenn die Katastrophe allgemeines Chaos bewirkte, so gab es dennoch auch Bemühungen von Menschen, auf der Stelle provisorische Hilfe zu leisten. So gab es im Fernsehen Bilder von „Plünderern“, die Nahrungsmittel ausgaben. Eine Gruppe von Ärzten einer HIV-Konferenz organisierte eine Klinik in einem der betroffenen Gebiete. In den Krankenhäusern arbeiteten die Angestellten weiter, um trotz fürchterlicher Umstände ein Mindestmaß an Pflege aufrechtzuerhalten. Wir sehen also, dass die Arbeiterklasse und die Besitzlosen die Solidarität gegenüber den Leidenden über die eigene Sicherheit stellten, während die herrschende Klasse nichts als plumpe Schaunummern und Repression anbieten konnte.
Ströme von Spott haben sich sowohl innerhalb wie außerhalb Amerikas über Bush und seine Kumpane wegen der unpassenden Reden, leeren Gesten und der zeitlupenartigen Reaktion auf die Katastrophe ergossen. Und sicherlich fügt sich die neue Krise in das Elend einer Administration ein, die bereits zuvor in wachsendem Maße unpopulär geworden ist. Doch der „Anti-Bushismus“ ist äußerst vereinfachend und kann leicht von anderen bürgerlichen Parteien in den USA und von den imperialistischen Rivalen Amerikas vereinnahmt werden. Dabei spiegeln die Exzesse der gegenwärtigen Bande im Weißen Haus – ihre Inkompetenz, Korrumpierung, Irrationalität und Abgestumpftheit – nur die ihnen zugrunde liegende Realität des US-Kapitalismus wider: eine zerfallende Supermacht, die die Aufsicht über eine „Weltordnung“ führt, welche im Chaos versinkt. Und diese Situation reflektiert ihrerseits den im Endstadium befindlichen Niedergang des Kapitalismus als Gesellschaftssystem, das den ganzen Planeten beherrscht. Wir leben in einer Produktionsweise, deren Weiterbestehen das Überleben der menschlichen Spezies bedroht. So sehr er auch Bush oder Amerika kritisiert, der Rest der herrschenden Klasse hat keine Alternative zum blinden Marsch in die Zerstörung durch Krieg, Hungersnot und ökologische Katastrophen. Die Hoffnung für die Menschheit verbirgt sich nicht in irgendeiner Fraktion der ausbeutenden Klasse, sondern wird von jenen verkörpert, die stets die ersten Opfer der Kriege und Katastrophen des Systems sind: die ausgebeutete Klasse, das Proletariat. Unsere Solidarität, unsere Empörung, unser kollektiver Widerstand, unsere Bemühungen, den wirklichen Charakter des gegenwärtigen Systems zu begreifen – dies ist die Saat für eine Gesellschaft, in der Arbeit, Wissenschaft und menschliche Kreativität nicht mehr im Dienst von Krieg und Profit stehen, sondern dem Leben und seiner Verbesserung dienen. World Revolution, 3.9.05
In den vorherigen Artikeln dieser Serie haben wir gesehen:
- warum der Kommunismus heute nicht nur für das Gedeihen der Menschheit, sondern auch für ihr nacktes Überleben notwendig ist;
- warum er zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr nur ein schöner Traum, sondern – aufgrund der Tatsache, dass die Menschheit heute die materiellen Bedingungen besitzt, um diesen riesigen Schritt nach vorn zu machen –eine reelle Möglichkeit ist;
-- warum der Mensch wirklich fähig ist, solch eine Gesellschaft in Gang zu setzen und in ihr zu leben;
-- warum es trotz der Entfremdung, die auf dem Bewusstsein des Menschen lastet, eine Klasse in der Gesellschaft gibt - das Proletariat - die in der Lage ist, ihren Kampf gegen die Ausbeutung und Unterdrückung in einen Kampf für die Etablierung einer neuen Ordnung zu verwandeln, der Ausbeutung, Unterdrückung und alle Klassenteilungen abschafft.
In diesem Artikel setzen wir unsere Untersuchung der Perspektiven des Kommunismus fort und betrachten, wie das Proletariat sich selbst organisieren kann, um die Revolution durchzuführen.
Lange Zeit haben die Revolutionäre gemeinsam mit dem Proletariat in seiner Gesamtheit nach einer Antwort auf die Frage gesucht, wie sich die Arbeiter selbst organisieren können, um die Revolution durchzuführen. Zunächst wurden (von Babeuf bis Blanqui) kleine konspirative Sekten bevorzugt. Danach schienen unterschiedliche Arbeitergesellschaften wie Gewerkschaften und Kooperativen oder jene in der Internationalen Arbeiterassoziation (die Erste Internationale, 1864 gegründet) versammelten Gruppierungen diese Selbstorganisation der Arbeiterklasse mit dem Ziel ihrer Emanzipation zu repräsentieren. Anschließend stellten sich die großen Massenparteien, die in der Zweiten Internationalen (1889 – 1914) versammelt waren, und die ihnen angeschlossenen Gewerkschaften als Hebel der gesellschaftlichen Umwandlung dar. Doch die Geschichte zeigte, dass, auch wenn diese Organisationsformen die Arbeiterklasse in bestimmten Entwicklungsstufen in die Lage versetzten, gegen die Ausbeutung zu kämpfen und sich über die Ziele dieses Kampfes bewusst zu werden, keine von ihnen dazu geeignet war, ihre historische Aufgabe tatsächlich zu vervollständigen: die Zerstörung des Kapitalismus und die Etablierung des Kommunismus. Erst als die historischen Bedingungen des Kapitalismus selbst die proletarische Revolution auf die Tagesordnung setzten, fand die Arbeiterklasse die geeignete Organisationsform, um diese Mission auszuführen: die Arbeiterräte. Ihr Erscheinen in Russland 1905 bedeutete einen Wendepunkt in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft, das Ende ihrer progressiven Epoche, ihren Eintritt in die Dekadenz, in die “Ära der imperialistischen Kriege und proletarischen Revolutionen”, wie die Revolutionäre nach und nach begriffen. Auch wenn seit Blanqui die Revolutionäre bereits die Notwendigkeit der Errichtung der Diktatur des Proletariats als einen Hebel zur gesellschaftlichen Umwandlung kannten, konnte die konkrete Form dieser Diktatur erst mit der Erfahrung der Klasse selbst und noch dazu mit Verspätung deutlich werden. In die Fußstapfen der alten Konzepte von Marx und Engels tretend, schrieb Trotzki noch 1906, fünfundzwanzig Jahre nach 1871: “Der internationale Sozialismus meint, dass die Republik die einzig mögliche Form für die sozialistische Befreiung ist, vorausgesetzt, dass das Proletariat sie aus den Händen der Bourgeoisie reißt und umwandelt’ von einer Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere’, damit sie zu einer Waffe für die sozialistische Emanzipation der Menschheit wird”.
Die Arbeiterräte: die Diktatur des Proletariats in Gestalt
So wurde lange Zeit eine “wahrhaft demokratische Republik”, in der die proletarische Partei eine führende Rolle spielen sollte, als Gestalt und Form der Diktatur des Proletariats betrachtet. Erst mit der Revolution von 1917 begriffen die Revolutionäre und insbesondere Lenin wirklich, dass die “endlich gefundene Form” der Diktatur des Proletariats nichts anderes als die Macht der Arbeiterräte war, jenen Organen, die im Verlauf der revolutionären Kämpfe in Petrograd 1905 spontan entstanden waren und die sich auszeichneten durch:
-ihr Zustandekommen auf der Grundlage allgemeiner Versammlungen
-die Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit der Delegierten
-die Einheit zwischen Beschlussfassung und –ausführung (Abschaffung der Trennung zwischen Legislative und Exekutive);
-die Umgruppierung und Zentralisierung nicht auf der Basis der Industrie oder Gewerkschaft, sondern im territorialen Rahmen (so sollen sich die Arbeiter nicht nach Berufszweigen sammeln, sondern mit allen anderen Arbeitern der Fabrik, der Stadt, der Region etc., um die Delegierten des Arbeiterrats dieses Gebietes zu wählen).Diese besondere Form der Organisation der Arbeiterklasse ist direkt den Aufgaben angepasst, die das Proletariat in der Revolution erwarten.Denn sie ist an erster Stelle eine allgemeine Organisation der Klasse, die alle Arbeiter in sich sammelt. Alle früheren Formen, einschließlich der Gewerkschaften, gruppierten nur einen Teil der Klasse um sich. Zwar reichte dies für die Arbeiterklasse, um zur Verteidigung ihrer Interessen innerhalb des Systems Druck auf den Kapitalismus auszuüben, doch erst durch ihre Selbstorganisation in toto ist die Klasse im Stande, die Zerstörung des Kapitalismus einzuleiten und den Kommunismus zu etablieren. Als die Bourgeoisie ihre Revolution machte, reichte es aus, dass lediglich ein Teil dieser Klasse die Macht übernahm. Deshalb bildete sie einen kleinen Teil der Bevölkerung, deshalb war sie eine ausbeutende Klasse und deshalb konnte sich nur eine Minderheit der Bourgeoisie über die Interessenskonflikte erheben, die aus den wirtschaftlichen Rivalitäten zwischen den vielfältigen Bereichen herrührten. Innerhalb der Arbeiterklasse herrschen solche Rivalitäten nicht. Da die Gesellschaft, die etabliert werden soll, alle Ausbeutung und alle Klassenteilungen abschafft, ist die Bewegung, die dahin führt, “Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl”(Kommunistisches Manifest) Daher ist nur die Selbstorganisation der Klasse in ihrer Gesamtheit geeignet, diese historische Aufgabe zu erfüllen.
An zweiter Stelle drücken Wahl und sofortige Abwählbarkeit der Amtsträger den eminent dynamischen Charakter des revolutionären Prozesses aus – die unaufhörliche Umwälzung der gesellschaftlichen Bedingungen und die konstante Entwicklung des Klassenbewusstseins. So sind jene, die für diese oder jene Aufgabe oder aufgrund der Tatsache nominiert werden, dass ihr Maß an Verständnis einem bestimmten Bewusstseinsniveau entspricht, nicht immer notwendigerweise auf der Höhe der Zeit, wenn neue Aufgaben auftauchen oder das Bewusstseinsniveau steigt.
Wahl und Abwählbarkeit von Delegierten drücken gleichermaßen die Negation aller definitiven Spezialisierungen durch die Klasse aus, aller Teilungen zwischen den Massen und den “Führern”. Die wesentliche Aufgabe Letzterer (die meist entwickelten Elemente der Klasse) ist es tatsächlich, alles zu tun, um die Bedingungen zu eliminieren, die ihr Auftreten veranlassen: die Heterogenität des Bewusstseins innerhalb der Klasse.
Wenn in den Gewerkschaften ständige Funktionäre existieren konnten, auch als Erstere noch Organe der Arbeiterklasse waren, so war dies der Tatsache geschuldet, dass die Verteidigungsorgane der Arbeiterinteressen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gewisse Charakteristiken der Gesellschaft in sich trugen. Gleichermaßen reproduzierte das Proletariat, wenn es spezifisch bürgerliche Instrumente wie das allgemeine Wahlrecht und das Parlament benutzte, gewisse Züge seines bürgerlichen Feindes. Die statische gewerkschaftliche Organisationsform drückte die Kampfmethode der Arbeiterklasse aus, als die Revolution noch nicht möglich war. Die dynamische Form der Arbeiterräte ist das Ebenbild der Aufgabe, die letztlich zur ersten Pflicht wird: die kommunistische Revolution.
Gleichermaßen drückt die Einheit zwischen Entscheidung und Ausführung die gleiche Negation aller institutionalisierten Spezialisierungen durch die revolutionäre Klasse aus. Sie zeigt, dass die gesamte Klasse nicht nur die wesentlichen Beschlüsse fasst, die sie betreffen, sondern auch an der praktischen Umwandlung der Gesellschaft teilnimmt.
An dritter Stelle drückt eine Organisation auf territorialer (und nicht gewerkschaftlicher oder industrieller) Grundlage die unterschiedliche Natur der proletarischen Aufgaben aus. Als es allein darum ging, Druck auf eine Arbeitgebervereinigung auszuüben, um Lohnerhöhungen oder Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durchzusetzen, machten gewerkschaftliche oder branchenmäßige Organisationen noch Sinn. Selbst eine Organisation, die so archaisch war wie die Berufsgewerkschaft, wurde von den Arbeitern wirksam gegen die Ausbeutung benutzt; sie hinderte die Bosse insbesondere daran, andere Arbeiter einzustellen, wenn es einen Streik gab. Die Solidarität der Drucker, Zigarrenmacher oder (Bronzegießer war das Embryo der realen Klassensolidarität, eine Stufe in der Vereinigung der Arbeiterklasse. Selbst unter dem Gewicht der kapitalistischen Unterschiede und Spaltungen war die Gewerkschaftsorganisation ein wirkungsvolles Mittel des Kampfes innerhalb des Systems. Andererseits: wenn es darum geht, sich nicht nur gegen diesen oder jenen Sektor des Kapitalismus zu erheben, sondern Letztgenannten in seiner Totalität zu konfrontieren, ihn zu zerstören und eine andere Gesellschaft zu errichten, kann die spezifische Organisation der Drucker oder der Gummiindustriearbeiter keinen Sinn machen. Um die Leitung der gesamten Gesellschaft zu übernehmen, muss sich die Arbeiterklasse auf territorialer Basis organisieren, auch wenn die Basisversammlungen auf der Ebene der Fabrik, des Büros, des Krankenhauses oder des Industriegebiets abgehalten werden.
Eine solche Tendenz ist heute bereits in den Tageskämpfen gegen die Ausbeutung zu erkennen. Hier gibt es eine tiefe Neigung, aus der Gewerkschaftsform auszubrechen und sich in souveränen allgemeinen Versammlungen zu organisieren, gewählte und jederzeit abwählbare Streikkomitees zu formen, um sich der berufsmäßigen oder industriellen Grenzen zu entledigen und sich auf territorialer Ebene auszuweiten.
Diese Tendenz drückt die Tatsache aus, dass der Kapitalismus in seiner Dekadenzperiode eine immer statischere Form annimmt. Unter diesen Umständen erweist sich die alte Unterscheidung zwischen den politischen Kämpfen (die in der Vergangenheit das Privileg der Arbeiterparteien waren) und den ökonomischen Kämpfen (für die die Gewerkschaften verantwortlich waren) als immer weniger sinnvoll. Jeder ernsthafte ökonomische Streik wird politisch und konfrontiert den Staat, entweder seine Polizei oder seine Repräsentanten in der Fabrik – die Gewerkschaften. Dies weist auch auf die tiefe Bedeutung der gegenwärtigen Kämpfe als Vorbereitung auf die entscheidenden Konfrontationen der revolutionären Periode hin. Selbst wenn es ökonomische Faktoren (Krise, unerträgliche Verschärfung der Ausbeutung) sind, die die Arbeiter in diese Konfrontationen schleudern, sind die Aufgaben, die sich ihnen später stellen, eminent politisch: frontale und bewaffnete Angriffe gegen den bürgerlichen Staat, die Etablierung der proletarischen Diktatur.
Die proletarische Revolution: politische Macht als Grundlage für die gesellschaftliche Umwandlung
Diese Einheit zwischen Politik und Ökonomie, die ihren Ausdruck in der Organisierung des Proletariats in den Arbeiterräten findet, erfordert eine Erklärung. Welcher der beiden Gesichtspunkte ist vorrangig?
Seit Babeuf haben die Kommunisten erkannt, dass in der proletarischen Revolution der politische Gesichtspunkt zuerst kommt und die Ökonomie bedingt. Dies ist ein Schema, das völlig jenem widerspricht, das in der bürgerlichen Revolution vorherrschte. Die kapitalistische Ökonomie entwickelte sich innerhalb der feudalen Gesellschaft, sozusagen in ihren Rissen. Die neue revolutionäre Klasse, die Bourgeoisie, konnte also die Wirtschaftsmacht in der Gesellschaft erobern, während die politischen und administrativen Strukturen noch immer mit dem Feudalismus verknüpft waren (Absolutismus, wirtschaftliche und politische Privilegien für den Adel etc.). Erst als die kapitalistische Produktionsweise dominierend wurde, erst als sie die Gesamtheit des Wirtschaftslebens bestimmte (einschließlich jener Bereiche, die nicht direkt kapitalistisch waren, wie die landwirtschaftliche und handwerkliche Kleinproduktion), richtete die Bourgeoisie ihre Angriffe gegen die politische Macht des Feudalismus. Dies befähigte sie umgekehrt, die politische Macht ihren besonderen Bedürfnissen anzupassen und das Fundament für eine neue wirtschaftliche Expansion zu legen. Dies war es, was sie tat, besonders in der Englischen Revolution in den 1640er Jahren und in der Französischen Revolution 1789. In diesem Sinn vervollständigte die bürgerliche Revolution eine ganze Periode des Übergangs, in deren Verlauf die Bourgeoisie sich innerhalb der feudalistischen Gesellschaft entwickelte, bis sie an den Punkt gelangte, Letztere auf der Basis einer neuen wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft zu verdrängen. Das Schema der proletarischen Revolution ist völlig anders. In der kapitalistischen Gesellschaft besitzt die Arbeiterklasse keinerlei Eigentum, kein etabliertes materielles Sprungbrett für ihre zukünftige Dominierung der Gesellschaft. Alle Versuche, die von Utopisten oder Proudhonisten angeregt worden waren, waren gescheitert: Das Proletariat kann keine “Inseln” des Kommunismus innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft schaffen. Alle Arbeiterkommunen oder Kooperativen wurden entweder zerstört oder vom Kapitalismus einverleibt. Im Gegensatz zu den Utopisten, Proudhon und den Anarchisten begriffen Babeuf, Blanqui und Marx dies. Das Ergreifen der politischen Macht durch das Proletariat ist der Ausgangspunkt seiner Revolution, der Hebel, mit dem es Zug um Zug das Wirtschaftsleben der Gesellschaft umwandeln wird, mit der Perspektive der Abschaffung aller Ökonomie. “Die Revolution überhaupt - der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse - ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg. (Marx, Kritische Randglossen, 31.7.1844)
Da der Kapitalismus seine ökonomische Basis bereits vor der bürgerlichen Revolution geschaffen hatte, war Letztere im Wesentlichen politisch. Die Revolution des Proletariats beginnt im Gegensatz dazu mit einem politischen Akt, der die Entwicklung nicht nur der ökonomischen Aspekte, sondern auch und vor allem ihrer gesellschaftlichen Aspekte bedingt.
Somit sind die Arbeiterräte keineswegs Organe des “Selbstmanagements”, Organe für das Management der kapitalistischen Wirtschaft (d.h. des Elends). Sie sind politische Organe, deren vorrangige Aufgabe es ist, den kapitalistischen Staat zu zerstören und die proletarische Diktatur auf Weltebene zu errichten. Doch sie sind auch Organe für die ökonomische und soziale Umwandlung der Gesellschaft, und dieser Aspekt macht sich von Anbeginn des revolutionären Prozesses bemerkbar (Enteignung der Bourgeoisie, Organisierung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung etc.). Mit der politischen Niederlage der Bourgeoisie kommt die ökonomische und soziale Dimension immer mehr zur Geltung.
(aus: Revolution International, Nr. 64)
Buchbesprechung zu Cajo Brendels "Anton Pannekoek – Denker der Revolution"
In letzter Zeit haben uns mehrere Sympathisanten angesprochen, um unsere Meinung zu Cajo Brendels Buch über Anton Pannekoek zu erfahren. Die deutsche Ausgabe dieses vor ca. 30 Jahren auf niederländisch geschriebenen Buches von Brendel ist 2001 im ¸a ira Verlag erschienen. Die Genossen, die uns darauf ansprachen, haben das Buch durchweg begrüßt und gelobt. Zum einen waren sie erfreut darüber, weil dadurch Pannekoeks Beitrag zum Marxismus einem breiteren deutschsprachigen Publikum wieder bekannt gemacht wird. Zum anderen waren sie daran interessiert, durch dieses Buch die Gedankenwelt Cajo Brendels näher kennenzulernen. Brendel gilt als der letzte Vertreter des sog. Rätekommunismus der Nachkriegsjahre in den Niederlanden. Diese politische Strömung, welche sich vornehmlich durch die Ablehnung einer spezifischen politischen Organisation der Revolutionäre auszeichnet, beruft sich gern auf Pannekoek als eine Art theoretischer Ziehvater.
Auch wir begrüßen das Erscheinen dieses Buches. Denn es bietet eine wertvolle Anregung, sich mit dem Lebenswerk eines der größten marxistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts zu befassen. Zwar gab es vor und nach dem 1. Weltkrieg eine besonders enge Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung der Revolutionäre in Deutschland und den Niederlanden. Pannekoek selbst lebte und wirkte einige Jahre lang in Deutschland. Er verfasste einige seiner wichtigsten Schriften ursprünglich auf Deutsch. Auch die meisten seiner anderen wichtigeren Schriften, mit Ausnahme seines Buches über die Arbeiterräte, sind ins Deutsche übersetzt worden. Doch die meisten dieser Ausgaben (von denen mehrere unter der Mitarbeit von Cajo Brendel erschienen) sind längst vergriffen und leider auch in Vergessenheit geraten. Brendels jetzt erschienenes Buch enthält eine nützliche Bibliographie der Bücher, Broschüren und Artikel Pannekoeks, von denen ein Teil durch öffentliche Bibliotheken angefordert oder auch im Internet abgerufen werden kann. Darüber hinaus fasst Brendel auch einige der Hauptideen in den Schriften Pannekoeks zusammen, welche dem Leser sonst unzugänglich geblieben wären, die des Holländischen nicht mächtig sind. So sind etwa die Kapitel Brendels "Betrachtungen über die Entstehung des Menschen und der Einfluß Josef Dietzgens", "Der Beitrag Pannekoeks zur Imperialismusdebatte" oder seine Beiträge zum Verständnis der Gewerkschaftsfrage unbedingt lesenswert. Auch die Ausführungen über die von Pannekoek angewandte wissenschaftliche Methode enthalten viel Wertvolles.
Keine Frage: Brendel kennt die Schriften sowie den Werdegang Pannekoeks wie kaum ein zweiter. Außerdem arbeitet er sehr gewissenhaft mit den vorhandenen Quellen. Und dennoch liefert Brendel teilweise ein sehr verzerrtes Bild des jahrzehntelangen Wirkens Anton Pannekoeks in der organisierten Arbeiterbewegung. Dies hängt mit der ahistorischen, unmarxistischen Sichtweise des "Rätekommunismus" zusammen. Die Folge: Pannekoek bleibt als Vorkämpfer der marxistischen Linken in einer Zeit des historischen Umbruchs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts außen vor. Pannekoek als Produkt der organisierten Arbeiterbewegung wird überhaupt nicht sichtbar. Statt dessen präsentiert uns Brendel einen Pannekoek, der angeblich jahrelang Mitarbeiter einer bürgerlichen Reformbewegung war. Schon im zweiten Absatz der Einleitung zu seinem Buch (S. 9) behauptet Brendel, dass die Sozialdemokratie, welcher sich Pannekoek Ende des 19. Jahrhunderts anschloss, von Anfang an kein Ausdruck der Arbeiterklasse war. "In Wahrheit aber war sie doch nur der radikalste Flügel der sich konsolidierenden Bourgeoisie", behauptet Brendel. Er erweckt den Eindruck, als ob Pannekoek schon immer der einsame, nicht organisiert arbeitende Theoretiker gewesen sei, der er gegen Ende seines Lebens unter dem Eindruck der historischen Niederlage der Arbeiterbewegung tatsächlich wurde. Er zeichnet ein Bild des großen Theoretikers, das ihn als isoliertes Individuum darstellt, welches allein, im stillen Kämmerlein, seinen Beitrag zum Marxismus geleistet hätte. Und zwar so gut, dass seine angebliche Mitarbeit in einer bürgerlichen Organisation diesem Beitrag offensichtlich nichts anhaben konnte. Es entsteht der Eindruck, als ob Pannekoek mit seiner theoretischen Weiterentwicklung sich immer mehr aus der organisierten Arbeiterbewegung zurückgezogen habe, als ob er erkannt habe, dass sie per se bürgerlich und die theoretische Arbeit das Werk von Einzelnen ist. Dies scheint offenbar die Meinung Brendels zu sein. Die Auffassung Pannekoeks war es jedenfalls nicht. In seinen in Amsterdam während der deutschen Besatzungszeit bei Kerzenschein niedergeschriebenen Erinnerungen ("Herinneringen uit de arbeidersbeweging") schildert er sein Mitwirken an der damaligen Arbeiterbewegung keineswegs als eine Irrfahrt ins Klassenlager der Bourgeoisie. Vielmehr vertrat er die Ansicht, welche er bereits im Verlauf des 1. Weltkriegs - angesichts des Überlaufens der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auf die Seite des Kapitals - dargelegt hat, dass die Massenorganisationen aus der Zeit der II. Internationale zunächst durchaus den Bedürfnissen eines bestimmten Zeitabschnitts des Arbeiterkampfes entsprachen. Die naive, ahistorische Annahme des späteren "Rätismus", die Kapitulation von Arbeiterorganisationen vor den Interessen des Kapitals sei Beweis genug dafür, dass diese Organisationen "schon immer" bürgerlich gewesen seien, teilte Pannekoek nicht. Kein Wunder, denn gerade Pannekoek lieferte eine der ersten und fundiertesten marxistischen Analysen des Opportunismus: das Phänomen der Anpassung proletarischer Organisationen an die Ideologie und an die Realität der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihren späteren Verrat vorbereitet. In "Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung" (1), einem Standardwerk zu diesem Thema, führt Pannekoek den Opportunismus auf die Auflösung der dialektischen Einheit zwischen dem Endziel und der Bewegung der Arbeiterklasse zurück. Dabei zeigt er die fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen dem offen reformistischen und dem anarchistischen Opportunismus innerhalb der damaligen Arbeiterbewegung auf. Beide wollen den Klassenkampf ohne die wissenschaftliche Waffe des Marxismus führen. Beide verherrlichen die individuelle Freiheit und fühlen sich abgestoßen durch das kollektive Wesen des Arbeiterkampfes. Beide bringen die Ungeduld und die schwankende Haltung des Kleinbürgertums zum Ausdruck. Somit hat Pannekoek bereits 1909 die tieferen Wurzeln des späteren Verrats sowohl der Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg als auch der CNT im Spanischen Bürgerkrieg aufgedeckt. Der spätere Rätekommunismus hingegen hat zwar die gesamte Sozialdemokratie vor 1914 (und damit auch ihren linken revolutionären Flügel) in Bausch und Bogen verurteilt, andererseits aber den Anarchismus als legitimen, wenn auch theoretisch schwachen Ausdruck des revolutionären Proletariats angesehen. Das kommt daher, dass dieser Rätismus vom Schlage eines Cajo Brendels selbst eine Spielart des Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung darstellt - und zwar eine Art "Zentrismus", d.h. eine schwankende Haltung zwischen Marxismus und Anarchismus.
Weit entfernt davon, abgeschieden von der Arbeiterbewegung seine Weltsicht auszuarbeiten, bildete sich der große Theoretiker Pannekoek in und durch die politischen Kämpfe der Arbeiterklasse heraus. Neben Rosa Luxemburg war er der leidenschaftlichste und tiefsinnigste Vertreter der Position der revolutionären Linken in der sog. Massenstreikdebatte, gegen das "Zentrum" um Kautsky, innerhalb der deutschen Arbeiterpartei. Zusammen mit Lenin, Trotzki und anderen Vertretern der internationalen Linken bezog Pannekoek Stellung gegen den um sich greifenden Opportunismus, welcher bestritt, dass die revolutionären Lehren aus dem Massenstreik von 1905 in Rußland allgemeine, weltweite Gültigkeit besaßen. Im Verlauf dieser Debatte war Pannekoek - wie Lenin später in "Staat und Revolution" anmerkte - der erste, der die von Marx und Engels aus der Erfahrung der Pariser Kommune gezogenen Lehren von der Notwendigkeit der vollständigen Zertrümmerung des bürgerlichen Staates wiederherstellte. Wenn Pannekoek in seiner 1912 in der "Neuen Zeit" erschienenen Polemik gegen Kautsky - "Massenaktion und Revolution" - gegen die Auffassung Stellung bezog, dass die Arbeiterpartei und ihre Kriegskasse bzw. die Gewerkschaftskasse reiner Selbstzweck seien, der sogar das Ausweichen vor dem Kampf rechtfertigen würde, tat er dies keineswegs aus Geringschätzung gegenüber dem Kampf um die Organisation und ihrer Finanzierung, sondern als ein Parteigenosse, welcher bereits in den Niederlanden die besonders verantwortliche Stellung des Schatzmeisters bekleidet hatte. "Die Organisation des Proletariats", schrieb er, "die wir als sein wichtigstes Machtmittel bezeichnen, ist nicht zu verwechseln mit der Form der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Verhältnissen einer noch festen bürgerlichen Ordnung äußert. Das Wesen dieser Organisation ist etwas Geistiges, ist die völlige Umwälzung des Charakters der Proletarier."(2)
Dieser Kampf gegen den Opportunismus vor 1914 gehört zu den größten Leistungen Pannekoeks. Er führte diesen Kampf als aktiver Bestandteil der organisierten Arbeiterbewegung in Holland, in Bremen, als Mitarbeiter der Parteischule in Deutschland, als Vordenker der linken Opposition innerhalb der 2. Internationale. Und im Rahmen dieses Kampfes entwickelte er seine Grundüberzeugungen über die marxistische Methode, vertiefte er sein Verständnis der proletarisch-materialistischen Auffassung, wobei er auf den großen Beitrag Dietzgens hinwies, und entwickelte Fragen der Philosophie sowie der Ethik weiter.
Der zweite große Kampf, welchen Pannekoek führte, war die Verteidigung des proletarischen Internationalismus im 1. Weltkrieg. In enger Zusammenarbeit mit den deutschen Spartakisten, den russischen Bolschewiki und anderen Internationalisten gehörte Pannekoek, wie sein nicht weniger berühmter niederländischer Mitstreiter Herman Gorter, zu den Wegbereitern der Oktoberrevolution in Russland, des Kampfes um die Rätemacht in Europa und der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationalen.
Doch der vielleicht wichtigste Beitrag Pannekoeks zum Marxismus war sein Mitwirken bei der Ausarbeitung der Konsequenzen des Eintritts des Kapitalismus in seine Niedergangsphase für die Kampfbedingungen des Proletariats. Indem er besonders klar erkannte, dass der Parlamentarismus sowie die Gewerkschaften keine Bühne des Klassenkampfes mehr sein konnten, wurde er einer der bedeutendsten Vordenker der Kommunistischen Linken. Aber auch diesen Beitrag leistete er nicht allein, sondern als Mitstreiter im Kampf der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) sowie der sich formierenden Tradition der "deutsch-holländischen Linken" gegen den wachsenden Opportunismus innerhalb der Kommunistischen Internationalen, vor allem innerhalb der russischen und der deutschen Partei.
Im Gegensatz hierzu gehören die späteren politischen Werke Pannekoeks wie "Lenin als Philosoph" (1938) oder "Die Arbeiterräte" (1946) trotz mancher Vorzüge theoretisch zu seinen schwächeren Leistungen. In den Augen von Cajo Brendel und anderer "Rätisten" hingegen stellen diese Werke die Krönung des Pannekoekschen Lebenswerks dar. Brendels Schilderung eines sich stets fortentwickelnden Pannekoeks, der sein Weltbild ununterbrochen perfektionierte und dessen Sicht gegen Ende seines Lebens immer klarer wird, bleibt nicht ohne Reiz. Brendel führt diese angebliche Vervollkommnung außerdem auf die stete Fortentwicklung des Arbeiterkampfes sowie des Kapitalismus zurück. "Dass die Ergebnisse seiner Analyse verschieden ausgefallen sind, je nach dem Zeitpunkt, zu dem er sie vornahm, liegt nicht an dieser Methode, auch nicht an ihm, der sich ihrer bediente, sondern an der Tatsache, dass der Kampf der Arbeiter so wie das kapitalistische System nun einmal durch eine große Dynamik gekennzeichnet sind." (S. 14) Hier erblickt man erneut die große Schwäche von Brendels Analyse. Erstens verläuft der Prozess der Höherentwicklung selten geradlinig. Zweitens zeichnete sich die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert nicht so sehr durch eine vorwärts gerichtete "Dynamik" als vielmehr durch einen Rückfall in die Barbarei aus. Drittens wurde die "Dynamik" des Klassenkampfes nach der Niederlage der proletarischen Revolution Anfang der 20er Jahre jahrzehntelang durch die längste Konterrevolution der Geschichte unterbrochen. All das hatte schwerwiegende Konsequenzen für die politische Entwicklung Pannekoeks. Zum einem ist es besonders schwer, in einer Zeit der allgemeinen Niederlage der Arbeiterklasse dem Druck der bürgerlichen Ideologie standzuhalten. Zum anderen löste Pannekoek in dieser Zeit der Niederlage tatsächlich allmählich seine Verbindung zur organisierten revolutionären Bewegung auf. Da aber die proletarische theoretische Arbeit, wie der Arbeiterkampf insgesamt, einen zutiefst kollektiven Charakter aufweisen, führte seine wachsende Isolierung zwangsläufig zu einem gewissen theoretischen Rückschritt Pannekoeks gegenüber bestimmten Fragen. Hier gibt es einige Parallelen zwischen Pannekoek und Amadeo Bordiga, dem Begründer der Tradition des "italienischen Linkskommunismus". Beide sind der Sache des Proletariats bis zu ihrem Lebensende treu geblieben. Beide betrieben ihre theoretische Arbeit im Verlauf der 30er und 40er Jahre in zunehmender Isolation. Beide vollzogen dabei in gewissen Fragen eine theoretische Regression, welche bei Bordiga mit einem sterilen Rückgriff auf eine Leninsche "Orthodoxie", bei Pannekoek mit einem ebenso sterilen "Anti-Leninismus" einhergingen.
Während Pannekoek zurecht in seiner Schrift "Lenin als Philosoph" darauf hinwies, dass Lenin in seinem 1908 verfassten Werk "Materialismus und Empiriokritizismus" den Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Materialismus ungenügend begriffen hatte, war es mehr als an den Haaren herbeigezogen, daraus schlusszufolgern, dass Lenin ein bürgerlicher Politiker gewesen sei, und dass die damals bevorstehende Revolution in Russland notwendigerweise eine bürgerliche Revolution werden müsse.
Cajo Brendel übernimmt natürlich dieses Argument. Schließlich handelt es sich bei der Ablehnung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution um die Frage, wo die "Rätekommunisten" sich am meisten berechtigt sehen, sich zumindest auf den späteren Pannekoek berufen zu können.
Doch gerade hier springt die Armseligkeit der Argumentationslinie sowohl von Brendel wie von Pannekoek von 1938 förmlich ins Auge. Denn das ungenügende Verständnis des proletarischen Materialismus war vor 1914 kein ausschließlich russisches Phänomen, sondern weit verbreitet innerhalb der damaligen II. Internationalen. Pannekoek selbst hat stets und zu Recht eine der Ursachen dieses Unvermögen in einer ungenügenden Würdigung der Bedeutung Hegels durch die damalige Arbeiterbewegung erblickt. Doch gerade Lenin hat sich am Vorabend der russischen Revolution vertieft mit Hegel befasst. Genau so wie Marx, bevor er den ersten Band des Kapitals schrieb, besann sich Lenin auf die Methode Hegels, bevor er Staat und Revolution verfasste. Sowohl "Das Kapital" wie "Staat und Revolution" stellen daher Musterbeispiele der Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode des Proletariats dar.
Das andere Hauptargument von "Lenin als Philosoph" war, dass es im Russland von 1917 noch bedeutende Überreste des Feudalismus bzw. der zersplitterten Kleinproduktion gab. Doch dies traf auch auf Deutschland zu, wo die Bourgeoisie bis November 1918 die Macht mit dem preußischen Militäradel teilen musste. Ja, im Grunde wurde die Macht der Krautjunker innerhalb des deutschen Militärs erst unter den Nationalsozialisten gebrochen.
Tatsächlich stellte die Annahme, dass man zuerst in jedem einzelnen Land die Aufgaben der bürgerlichen Revolution gewissermaßen zu Ende führen müsste, bevor man zur proletarischen Revolution übergehen könne, eine alte Konfusion innerhalb der Arbeiterbewegung vor 1917 dar. So stand es auch im alten Programm der Bolschewiki geschrieben, worauf sich die Mehrheit des Zentralkomitees der Partei nach dem Sturz des Zarenregimes im Februar 1917 berief, um die "Duldung" der linksbürgerlichen, "provisorischen" Regierung und die "kritische Unterstützung" der Fortsetzung des imperialistischen Krieges zu rechtfertigen.
Es waren Lenins berühmte "Aprilthesen" von 1917, die diese letztendlich nationale Sichtweise verwarfen. In ihnen wies Lenin nach, dass die proletarische Revolution nicht erst dann zur Notwendigkeit wird, wenn alle Aufgaben der bürgerlichen, "demokratischen" Revolution erledigt sind, sondern dann auf die geschichtliche Tagesordnung kommt, wenn die weltweiten Widersprüche des Kapitalismus einen bestimmten Reifegrad erreicht haben.
Dass Pannekoek diese Lehre später vergaß, kann nur im Zusammenhang mit der Enttäuschung und Konfusion auf Grund der Niederlage der Weltrevolution und des Absterbens der Revolution in der isolierten russischen Bastion verstanden werden. Schließlich war Pannekoek (wie auch Rosa Luxemburg bis zu ihrer Ermordung 1919) noch Anfang der 1920er Jahre ein zwar kritischer, aber stets leidenschaftlicher Befürworter der russischen Oktoberrevolution.
Dennoch muss man feststellen, dass Pannekoek sich selbst weniger klar als beispielsweise Lenin darüber war, dass die Oktoberrevolution in Russland nur als Auftakt, als Anstoß zur proletarischen Revolution in Europa verstanden werden konnte. Durch das Ausbleiben der Revolution in Westeuropa enttäuscht und entmutigt, überschätzte er maßlos die Rolle Russlands nicht nur in der Durchführung der Revolution, sondern noch mehr beim Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft. Während Lenin und Trotzki im proletarischen Russland v.a. eine ausgehungerte, ohne die Rettung durch eine baldige Weltrevolution hoffnungslos ausgelieferte Bastion sahen, setzte Pannekoek Anfang der 20er Jahre seine Hoffnungen umgekehrt auf die illusorische Perspektive, dass der Ausbau einer kommunistischen Wirtschaftsordnung im Osten die Klassenherrschaft der Bourgeoisie im Westen untergraben würde. In seiner ansonsten großartigen Schrift "Weltrevolution und kommunistische Taktik", welche eine erste bedeutende Kritik des wachsenden Opportunismus der Bolschewiki enthält, schreibt hierzu Pannekoek:
"Zur selben Zeit, als Westeuropa mühsam sich aus seiner bürgerlichen Vergangenheit emporringt, wirtschaftlich stagniert, blüht im Osten, in Russland, die Wirtschaft in der kommunistischen Ordnung empor. (...)
Inzwischen erhebt sich im Osten die Wirtschaft unbehindert im kräftigen Aufschwung, eröffnet neue Wege, sich stützend auf die höchste Naturwissenschaft - die der Westen nicht zu gebrauchen weiß - vereint mit der neuen Sozialwissenschaft, der neu gewonnenen Herrschaft der Menschheit über ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte. Und diese Kräfte, hundertfach gesteigert durch die neuen Energien, die aus der Freiheit und Gleichheit entsprießen, werden Russland zum Zentrum der neuen kommunistischen Weltordnung machen." (Hervorhebung durch die IKS).
Um diese völlig irreale, Russland-fixierte Sichtweise zu untermauern, welche die marxistischen Lehren über den internationalen Charakter der Revolution vergisst, unternimmt der Pannekoek von 1920 sogar einen Ausflug in die Natur. "Es besteht sogar ein dementsprechendes Gesetz in der organischen Natur, das als Gegenstück zu Darwins ‚das Überleben der Passendsten' mitunter als ‚survival of the unfitted', das ‚Überleben der Nichtangepassten' bezeichnet wird." (4)
Die Tatsache, dass Pannekoek seine ursprüngliche Unterstützung der russischen Revolution später revidierte und den Oktober 1917 im Nachhinein als bürgerliche Revolution bezeichnete, muss sicherlich als Reaktion auf die stalinistische Konterrevolution verstanden werden. Doch gewisse Wurzeln dieser Fehler waren bereits 1920 in der marxistisch unhaltbaren Erwartung angelegt, dass in der belagerten Festung Russland auf Dauer etwas anderes blühen könnte als Not und Niedergang. Die theoretischen Rückschritte, welche diese falsche Analyse mit sich brachte, waren gravierend. Zum einem wurde das Verständnis getrübt, welche alle echten Revolutionäre 1917 teilten, dass der Kapitalismus nunmehr ein niedergehendes Gesellschaftssystem geworden war, so dass allein die proletarische Revolution auf der Tagesordnung stand. Zum anderen öffnete die Infragestellung der proletarischen Oktoberrevolution Tür und Tor für die Idee, dass die gesamte Arbeiterbewegung, welche in den Jahrzehnten zuvor die Oktoberrevolution vorbereitet hatte, ebenfalls bürgerlich war. Diesen Weg, welchen Bilan, das Organ der italienischen Linken Anfang der 30er Jahre, als eine Art "proletarischen Nihilismus" bezeichnete, ging Pannekoek zwar nicht, aber seine späteren rätistischen Epigonen beschritten ihn ohne Bedenken.
Doch diese Schwächen schmälern die Bedeutung Pannekoeks und seine Relevanz für heute nicht grundlegend. Im zweiten, abschließenden Teil dieses Artikels werden wir nachweisen, welch tiefer Gegensatz zwischen Pannekoeks marxistischer Sicht der aktiven Rolle der Theorie und der revolutionären Begeisterung im Klassenkampf sowie dem platten, ökonomistischen Vulgärmaterialismus eines Cajo Brendels besteht. Urs
(1) Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung. Reprint Verlag. 1973.
(2) Massenaktion und Revolution. In "Die Massenstreikdebatte." Europäische Verlagsanstalt. 1970. S. 274.
(3) Lenin als Philosoph. Europäische Verlagsanstalt. 1969.
(4) Weltrevolution und kommunistische Taktik. 1920. Wiederveröffentlicht in Pannekoek, Gorter: Organisation und Taktik der proletarischen Revolution. Verlag Neue Kritik. 1969. S. 157f
Wir veröffentlichen hier unsere Antwort auf einen Brief von einem Kontakt aus Norddeutschland zum Thema Irrationalität.
In deinem Brief entwickelst Du verschiedene Argumente gegen die Annahme der IKS, dass der imperialistische Krieg der Gegenwart Ausdruck einer zunehmenden Irrationalität des kapitalistischen Systems ist. Dabei gehst Du davon aus, dass die Annahme der Irrationalität dieser Kriege notwendigerweise zu der Schlussfolgerung führen muss, „dass der Kapitalismus auch ohne Kriege leben kann.“...
es tut uns Leid, dass wir dich solange haben warten lassen auf unsere Antwort zu deinem Brief über die Frage der Irrationalität im Kapitalismus. Wir möchten dabei nicht verhehlen, dass uns eine Antwort auf deine Fragen nicht leicht gefallen ist. Schließlich mutet es auf den ersten Blick etwas paradox an, die Frage der Irrationalität, wörtlich: Unvernunft, mit den Kategorien der Vernunft zu klären.
In deinem Brief entwickelst Du verschiedene Argumente gegen die Annahme der IKS, dass der imperialistische Krieg der Gegenwart Ausdruck einer zunehmenden Irrationalität des kapitalistischen Systems ist. Dabei gehst Du davon aus, dass die Annahme der Irrationalität dieser Kriege notwendigerweise zu der Schlussfolgerung führen muss, „dass der Kapitalismus auch ohne Kriege leben kann.“
Somit stellst Du die Frage auf einer sehr grundsätzlichen Ebene – was sehr zu begrüßen ist. Deswegen ist es zunächst erforderlich, deutlicher zu machen, was wir unter „Irrationalität“ verstehen.
Du sagst völlig zu Recht, dass die „Sichtweise des Rationalen und Irrationalen (…) aus verschiedenen Sichtweisen gesehen werden (muss). Verschiedene Klassenideologien, Interessensgemeinschaften und Meinungen haben andere (unterschiedliche) Einstellungen zum Rationalen und Irrationalen.“ In der Tat war es eine der wesentlichen Erkenntnisse der bürgerlichen Aufklärung, dass sowohl die Individuen als auch die gesellschaftlichen Klassen von ihren materiellen Interessen geleitet werden, und nicht, wie es bis dahin Glaube war, von bloßen Ideen bzw. der „göttlichen Vorsehung“. Dass es dabei zu unterschiedlichen Betrachtungsweisen der verschiedenen Interessen oder – wie du sagst – zu „verschiedenen Klassenideologien, Interessensgemeinschaften und Meinungen“ kommt, liegt auf der Hand. Und dass es dabei zu Konfrontationen zwischen den verschiedenen Interessen in Gestalt von antagonistischen Gesellschaftsklassen, kurz: zum Klassenkampf kommt, der seinerseits das antreibende Moment der Geschichte ist, ist nicht erst seit Marx gesicherte Erkenntnis.
Somit liegt es auf der Hand, dass es Dinge geben kann, welche vom Standpunkt der Bourgeoisie rational und vom Standpunkt des Proletariats irrational (oder umgekehrt) erscheinen oder auch sind. So entlassen die Unternehmer immer wieder Arbeitskräfte, um die Produktion zu „rationalisieren“, während es den betroffenen Proletariern gar nicht einleuchten will, weshalb die Vernichtung so vieler Existenzgrundlagen bei gleichzeitiger Auspowerung der verbleibenden Arbeitskräfte etwas mit Rationalität zu tun haben soll.
Wenn die IKS aber von der Irrationalität des Krieges in der Niedergangsphase des Kapitalismus spricht, so ist damit nicht gemeint, dass diese Kriege vom Standpunkt der Bourgeoisie rational, aber vom Standpunkt des Proletariats irrational sind. Betrachtet man die Haltung der Marxisten zur Kriegsfrage im Verlauf der Geschichte, so wird man feststellen, dass die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert zwar die Barbarei der kapitalistischen Kriegsführung anprangerte, aber dennoch viele dieser Kriege für „rational“ hielt, nicht nur vom Standpunkt der Bourgeoisie, sondern vom Standpunkt des Proletariats d.h. vom übergeordneten Standpunkt des geschichtlichen Fortschritts. M.a.W. solange die Bourgeoisie eine fortschrittliche gesellschaftliche Kraft darstellte, waren Kriege möglich, welche sowohl den Interessen der Bourgeoisie als auch dem gesellschaftlichen Fortschritt dienten. Diese Kriege waren somit im konkreten und umfassenden Sinne zweckdienlich. Unsere These lautet also, dass in der Dekadenzphase des Kapitalismus der imperialistische Krieg nicht nur vom Standpunkt des Proletariats oder vom übergeordneten Standpunkt des geschichtlichen Fortschritts, sondern vom Standpunkt der Bourgeoisie selbst immer weniger zweckdienlich ist. Der Hauptzweck der Produktion im Kapitalismus ist nicht mehr (wie in vorkapitalistischen Klassengesellschaften) die Befriedigung der Konsum- und Luxusbedürfnisse der herrschenden Klasse, sondern das Profitbestreben: Die Akkumulation des Kapitals. Da der moderne imperialistische Krieg immer weniger imstande ist, dieses Grundbedürfnis des Kapitals zu befriedigen, fühlen wir uns berechtigt, von einer zunehmenden Irrationalität zu sprechen. Diese Kriege können weiterhin selbstverständlich für einzelne Unternehmen äußerst gewinnträchtig sind. Vom Standpunkt des Gesamtsystems, und zunehmend auch vom Standpunkt der kriegsführenden Mächte selbst, ist dies jedoch immer weniger der Fall. Wir werden im weiteren Verlauf konkrete Beispiele hierfür anführen. Wir wollen jedoch nicht übersehen, dass man vom marxistischen Standpunkt aus schwerwiegende Bedenken grundsätzlicher Art gegen diese Vorstellung erheben kann. Das eine lautet: Ist das Konzept der Irrationalität überhaupt vereinbar mit der marxistischen Vorstellung, dass die Verfolgung der materiellen Interessen gesellschaftlicher Klassen den Motor der heutigen Geschichte darstellt? Das andere lautet: Kann man überhaupt von einer solchen Irrationalität des Krieges sprechen, ohne Tür und Tor zu öffnen für die pazifistische Annahme, dass es im besten Interesse der Bourgeoisie selbst läge, keinen Krieg zu führen? V.a. diesen zweiten Einwand hast du in deinem Brief erhoben.
Tatsächlich bildet die Einsicht, dass die ökonomischen Klasseninteressen die mächtigsten Triebfedern der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen, eine wesentliche und unverzichtbare Grundlage des historischen Materialismus. Berechtigt uns diese Annahme aber zu der Schlussfolgerung, dass jede Handlung einer gesellschaftlichen Klasse sozusagen automatisch den materiellen Interessen dieser Klasse dient? Oder anders ausgedrückt: Lehrt uns der Marxismus, dass die Klassen in der Verfolgung ihrer materiellen Interessen stets erfolgreich sind?
Dies war beispielsweise die Annahme des bürgerlichen Materialismus. Bereits vor dem Marxismus begann die revolutionäre Bourgeoisie zu erkennen, welche Rolle die materiellen Interessen im Leben der Einzelnen wie der gesellschaftlichen Klassen spielt. Der Marxismus hat sich sogar auf diese Errungenschaften der revolutionären Bourgeoisie stützen können. Jedoch besaß die aufsteigende Bourgeoisie eine nicht nur unvollständige, sondern auch sehr mechanistische, primitive Auffassung des Zusammenhangs zwischen Interessenslage und Handlungsweise der Menschen. So argumentierte z.B. die Philosophie des Utilitarismus, dass der Mensch stets egoistisch handelt. Diese einseitige, undialektische Sichtweise verstand nicht, dass neben dem Egoismus auch der Altruismus eine große Rolle im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben spielt. Außerdem schloss diese mechanistische Herangehensweise die Augen vor der Erkenntnis – welche die moderne Psychologie beispielsweise bestätigt hat – dass die Menschen oft auf Grund von Wahnvorstellungen oder anderer krankhafter Veranlagungen systematisch ihren eigenen Interessen zuwider handeln können.
Während der Marxismus also die positiven Errungenschaften des bürgerlichen Materialismus bereitwillig übernahm, war er zugleich bestrebt, seine mechanistischen und einseitigen Veranlagungen zu überwinden und zu bekämpfen. Denn Überreste solcher Veranlagungen lebten in den Reihen der Arbeiterbewegung fort. Dieses Problem wurde z.B. in der 1915 geschriebenen Einleitung thematisiert, welche Henriette Roland-Holst für die niederländische Ausgabe von Trotzkis Schrift “Der Krieg und die Internationale“ schrieb. Was dort sichtbar wird, ist, dass viele Revolutionäre unter anderem deshalb so überrascht und überrollt waren von der Begeisterung, mit der die Arbeiter sich für den imperialistischen Krieg zunächst mobilisieren ließen, weil sie angenommen hatten, der historische Materialismus schließe aus, dass eine Klasse sich so sehr für fremde Interessen einspannen lassen könne. Diese Revolutionäre hatten eben nicht verstanden, dass der Marxismus keineswegs davon ausgeht, dass die Klassen immer und automatisch in ihrem eigenen Interesse handeln. Denn wie Marx festgestellt hat: Die herrschende Ideologie ist in der Regel die Ideologie der herrschenden Klasse. Was bedeutet, dass die ausgebeuteten Klassen oft dazu neigen, anstatt den eigenen Interessen den Interessen ihrer Ausbeuter zu dienen.
Dies unterstreicht, dass das Verhältnis zwischen Interesse und Handlungsweise auch bei gesellschaftlichen Klassen komplizierter ist als der Vulgärmaterialismus gemeinhin annimmt. Tatsächlich handeln die Proletarier zutiefst irrational, wenn sie bereitwillig in den imperialistischen Weltkrieg marschieren, um ihre eigenen Klassenbrüder- und Schwestern abzuschlachten. Wenn aber die Bourgeoisie solche Kriege vom Zaun bricht, denn kann die von uns unterstellte Irrationalität wohl kaum darin liegen, dass sie, ohne es zu wissen, fremden Klasseninteressen dient. Diese Art der Irrationalität ist eine Eigenschaft ausgebeuteter Klassen, während die Ausbeuter umgekehrt darin spezialisiert sind, andere für ihre eigenen Interessen einzuspannen
Wie kann es also überhaupt dazu kommen, dass die Bourgeoisie in der Verfolgung ihrer Interessen nicht immer erfolgreich sein muss? Es ist nicht schwer zu begreifen, dass dieses Schicksal einzelne Kapitalisten ereilen kann. Schließlich ergeben sich solche „Schicksale“ wie eine Naturnotwendigkeit aus dem Konkurrenzcharakter des Kapitalismus und der Anarchie des Marktes von selbst. Aber kann dies ganzen nationalen Bourgeoisien oder gar der gesamten Kapitalistenklasse passieren?
Wir meinen ja – bestimmte geschichtliche Bedingungen vorausgesetzt. Die bei weitem wichtigste dieser Bedingungen ist der Niedergang der Produktionsweise, welche diese Ausbeuterklasse vertritt. Dazu Marx: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um.“ Da der Kapitalismus die bisher dynamischste Produktionsform der Menschheitsgeschichte ist, fällt dieser Zusammenstoß zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen um so zerstörerischer aus. Insbesondere der Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der Produktion und der auf der Grundlage von Nationalstaaten organisierten und geschützten privaten Aneignung führt zu immer zerstörerischen Kriegen. Da diese Kriege in der Dekadenzphase nicht mehr vornehmlich gegen vorkapitalistische Gesellschaften und um die Eroberung neuer Märkte, sondern zwischen kapitalistischen Mächten um eine bereits aufgeteilte Welt geführt werden, werden sie immer kostspieliger und zerstörerischer, während die daraus zu erzielenden wirtschaftlichen Vorteile immer bescheidener ausfallen.
Daraus wird deutlich: Nicht der Krieg „an sich“ wird irrational, sondern der Kapitalismus insgesamt. Die Irrationalität des Krieges ist somit nur eine Folge – allerdings einer der gravierendsten Folgen – der historischen Sackgasse des Systems insgesamt. Darin liegt auch der Grund, weshalb aus der Tatsache, dass die imperialistische Kriegsführung immer weniger gewinnträchtig wird, keineswegs folgt, dass die herrschende Klasse gut beraten wäre, den imperialistischen Krieg zu unterlassen. Sie kann den imperialistischen Krieg schon deshalb nicht unterlassen, weil sie sich historisch unentrinnbar in einer Situation des „fressen oder gefressen werden“ befindet. Wird die Kriegsführung zunehmend gefährlich, so wird die Nicht-Kriegsführung nicht weniger gefährlich, und oft noch viel gefährlicher.
Im Kapitalismus hat diese Irrationalität eine Dimension erreicht, die nicht Hochkulturen oder Herrschaftssysteme in Frage stellt, sondern die Lebensgrundlage der Menschheit schlechthin bedroht. Es ist in diesem Zusammenhang geradezu ein Witz, wenn die bürgerlichen Ideologen anlässlich des 60. Jahrestages des Abwurfs der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki behaupten, es sei die Vernunft der Herrschenden gewesen, die die Eskalation des Kalten Krieges in einen Nuklearkrieg verhindert habe. Die unzähligen Angriffs- und Verteidigungspläne, die in den Schubläden der Militärs auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auf ihre Umsetzung warteten, und die Entwicklung immer raffinierterer Variationen der Atombombe (wie die Neutronenbombe) sowie so genannter taktischer Atomwaffen sprechen eine andere Sprache. Sie machen deutlich, dass die Herrschenden in Ost und West durchaus willens waren, entgegen aller Vernunft ihre eigene und die Existenz der gesamten Menschheit aufs Spiel zu setzen. Ganz abgesehen von den monströsen ökonomischen Kosten dieses nuklearen Wettlaufs, die den einen Blockführer, die Sowjetunion, in den Zusammenbruch trieben und den anderen, die USA, zum Hauptschuldner der Weltwirtschaft machten. Es war nicht die angebliche Rationalität der Herrschenden, die letztendlich den III. Weltkrieg verhindert hat, sondern in erster Linie der Unwillen der Arbeiterklasse auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, sich für diesen Wahnsinn mobilisieren zu lassen.
Die Irrationalität des dekadenten Kapitalismus drückt sich nicht nur in selbstzerstörerischen Kriegen aus, sondern auch in der Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Planeten durch die kapitalistische Warenproduktion. Obwohl sich die seriösen Wissenschaftler dieser Welt nur noch darum streiten, um wie viel Grad die Erderwärmung zunehmen wird, und die großen Versicherungskonzerne bereits die zu erwartenden gigantischen Kosten aus den durch die Klimaänderung verursachten Schäden in ihre Kalkulationen aufnehmen, steuert die Weltbourgeoisie die Menschheit und sich selbst wider besseren Wissens in die ökologische Katastrophe.
Du fragst: „Wer ist auf diese Schlussfolgerung gekommen, dass Militäreinsätze irrationaler oder rationaler Natur sind?“ Nun, es mag sein, dass niemand so dezidiert die Irrationalität des Krieges im dekadenten Kapitalismus betont wie die IKS. Doch der Aspekt der Irrationalität im Kapitalismus an sich ist keine „Erfindung“ der IKS. Bereits Rosa Luxemburg hat in ihre Juniusbroschüre darauf hingewiesen. „Heute funktioniert der Krieg nicht als eine dynamische Methode, dem aufkommenden jungen Kapitalismus zu den unentbehrlichsten politischen Voraussetzungen seiner „nationalen“ Entfaltung zu verhelfen....Auf seinen objektiven historischen Sinn reduziert, ist der heutige Weltkrieg als Ganzes ein Konkurrenzkampf des bereits zur vollen Blüte entfalteten Kapitalismus um die Weltherrschaft, um die Ausbeutung der letzten Reste der nichtkapitalistischen Weltzonen. Daraus ergibt sich ein gänzlich veränderter Charakter des Krieges selbst und seiner Wirkungen. (...) All das zusammen ergibt als die Wirkung des Krieges noch vor jeder militärischen Entscheidung über Sieg oder Niederlageein in den früheren Kriegen der Neuzeit unbekanntes Phänomen: den wirtschaftlichen Ruin aller beteiligten und in immer höherem Masse auch der formell unbeteiligten Länder“. (Luxemburg Werke Band 4, Seite 153, 154).
Außerdem: Schon Marx und Engels haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass der Kapitalismus sich – im Gegensatz zu allen früheren Gesellschaften – zwar anschickte, den blinden, unkontrollierten Gewalten der Natur die Zügel anzulegen, dass er sich gleichzeitig aber neuen, ebenso blinden Gesetzen unterwarf, die sich außerhalb seiner Kontrolle befinden. „… jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, dass in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. Keiner weiß, wie viel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wie viel davon überhaupt gebraucht wird, keiner weiß, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kosten herausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion.“ (F. Engels, MEW, Bd. 42, S. 721f.) An anderer Stelle drückt sich Engels noch pointierter aus, wenn er sagt, dass nicht der Kapitalist das Produkt beherrscht, sondern umgekehrt das Produkt den Kapitalisten.
Wenn die Unkontrollierbarkeit der Marktmechanismen, die jeder Vernunft eigentlich Hohn sprachen, zu Lebzeiten von Marx und Engels noch nicht in eine selbstzerstörerische Irrationalität umschlug, dann lag dies daran, dass der Kapitalismus damals noch ein junges, entwicklungsfähiges Gesellschaftssystem war. Zwar führte die von Engels beschriebene Anarchie der Produktion regelmäßig zu Wirtschaftskrisen, die ganz Europa erschütterten und Millionen von Arbeitern in die vorübergehende Arbeitslosigkeit stürzten, doch konnte der Kapitalismus den momentanen Engpass für sein (völlig planlos akkumuliertes) Kapital schnell durch die Eroberung neuer Märkte zuhause und in Übersee überwinden. Und nicht nur das: Erst die planlose, ungezügelte Konkurrenz, eben die Anarchie der Produktion, verlieh dem Kapitalismus in seinem Aufstieg jene Dynamik, mit der er die Welt eroberte.
Es ist die Epoche der Dekadenz, des Eintritts des Kapitalismus in seine Niedergangsphase, in der die im kapitalistischen Gesellschaftssystem von Anbeginn wurzelnde Irrationalität zu einer quasi autoagressiven, selbstzerstörerischen Kraft in der Gesellschaft wurde. Dabei müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Welt von heute sich in einem Zyklus von Krise-Krieg-Wiederaufbau befindet, der, falls die Arbeiterklasse nicht eingreift, sich ewig wiederholt und die Bourgeoisie nach einem jeden Krieg wie Phönix aus der Asche emporsteigen lässt. Wir sind vielmehr Zeuge (und Opfer) einer Entwicklung, die – statt an einem Kreislauf – an eine Spirale erinnert, eine Spirale, die mit jeder weiteren Drehung, mit jeder weiteren Krise, mit jedem weiteren Krieg die menschliche Zivilisation dem endgültigen point of no return ein Stück näher bringt. Was wir heute erleben, ist nicht der ewige und rationale Gleichklang von Zerstörung und Wiederaufbau, sondern die Eskalation einer Irrationalität, die neben der Arbeiterklasse zunehmend auch die Existenz der Bourgeoisie gefährdet
„Die Intensität des Krieges muss steigen, nicht fallen, weil umso größer der Kapitaleinsatz ist, um so größer ist auch die kriegerische Auseinandersetzung (…) Je größer der Schaden eines Krieges, umso florierender das kapitalistische Geschäft.“ Wenn du damit behauptest, dass der Krieg das „kapitalistische Geschäft“ ankurbelt, dann geben wir dir insofern Recht, als es beispielsweise dem Rüstungshersteller nur zu gut in seinem Kram passt, wenn irgendwo auf der Welt Krieg geführt wird. In der Tat kann es dem einzelnen Kapitalisten herzlich egal sein, welches Produkt sich zu Geld machen lässt. Ob Lebensmittel, Maschinen, Luxusgüter oder eben Waffen – für den einzelnen Kapitalisten beschränkt sich der Nutzen einer Ware lediglich auf ihre Verwertbarkeit, sprich: Realisierbarkeit. Doch wie bereits Rosa Luxemburg in ihrem bahnbrechenden Werk Die Akkumulation des Kapitals feststellte: „Was dem Einzelkapitalisten völlig Hekuba (Redewendung für: gleichgültig), wird für den Gesamtkapitalisten ernste Sorge. Während für den Einzelkapitalisten gehupft wie gesprungen ist, ob die von ihm produzierte Ware Maschine, Zucker, künstlicher Dünger oder ein freisinniges Intelligenz ist, vorausgesetzt nur, dass er sie an den Mann bringt, um sein Kapital nebst Mehrwert herauszuziehen, bedeutet es für den Gesamtkapitalisten unendlich viel, dass sein Gesamtprodukt eine ganz bestimmte Gebrauchsgestalt hat, und zwar, dass in diesem Gesamtprodukt dreierlei Dinge vorzufinden sind: Produktionsmittel zur Erneuerung des Arbeitsprozesses, einfache Lebensmittel zur Erhaltung der Arbeiterklasse und bessere Lebensmittel mit dem nötigen Luxus zur Erhaltung des Gesamtkapitalisten selbst.“ (Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 55)
So Gewinn bringend also die Ankurbelung der Kriegswirtschaft und die Auslösung von Kriegen für einzelne Bereiche des Kapitals sind, so Verlust bringend sind sie für das Gesamtkapital, so kontraproduktiv sind sie für die gesamtgesellschaftliche Akkumulation. Panzer und Militärjets kann man nicht essen, sie dienen nicht der „Erneuerung des Arbeitsprozesses“, und bis auf ein paar Snobs, die sich gern mit ausrangiertem Militärgerät schmücken, entsprechen sie auch nicht den Luxusbedürfnissen der Bourgeoisie. Ihr einziger ökonomischer Sinn verbirgt sich in der Widersinnigkeit, Kapital zu vernichten.
Das Phänomen der Kriegswirtschaft, das erstmals im Verlauf des 1. Weltkriegs auftauchte, und ab den 30er Jahren zu einem ständigen Phänomen wurde, sorgte zunächst durchaus für eine gewisse Belebung der krisengeschüttelten Wirtschaften Europas. Gerade in Hitlerdeutschland wurde durch die forcierte Kriegsproduktion das Millionenheer der Arbeitslosen binnen kurzer Zeit nahezu in Vollbeschäftigung umgewandelt. Dieses Strohfeuer der wirtschaftlichen Wiederbelebung durch die Kriegsproduktion stürzte auch einen Teil der italienischen Linkskommunisten rund um Bilan in einige Verwirrung. So behauptete Vercesi, ein führendes Mitglied der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken, dass die Steigerungen des staatlichen Rüstungsetats per Kredit „doch den Interessen des Kapitalismus dienen (können), vor allem indem sie den ökonomischen Kollaps verhinderten“.
Doch die Geschichte hat gezeigt, dass diese Art von wirtschaftlicher Stimulans schnell verpuffte und, schlimmer noch, die Krise des Systems letztendlich um ein Vielfaches verschlimmerte sowie den Marsch in den Krieg nur noch mehr beschleunigte. Lassen wir einen bürgerlichen Historiker sprechen, um das Dilemma des Hitlerregimes bei seiner imperialistischen Aufrüstungspolitik zu veranschaulichen: „Die Aufrüstung und erst recht der Krieg funktionierten fortan als politisch-militärische Spekulationsbasis, als Schneeballsystem, das in dem Moment auffliegen musste, in dem die Expansion an Grenzen stieß. Deshalb konnte Hitler-Deutschland zu keinem Zeitpunkt – nicht einmal nach der Niederlage Frankreichs – einen komfortablen Sieg-Frieden eingehen. Denn selbst ein solcher, gewiss räuberischer Friedensschluss hätte den Bankrott des Reiches sofort sichtbar werden lassen.“ (Götz Aly, aus: Der Spiegel, Nr. 10 / 2005)
Nein, die Kriegsproduktion ist vom Standpunkt des Gesamtkapitals (in Gestalt des staatskapitalistischen Regimes oder in der abstrakteren Form des Weltkapitals) beileibe kein Ausweg aus der Krise des dekadenten Kapitalismus und die Schäden, die der Krieg anrichtet, kein Expansionsfeld für eine neue Runde in der Akkumulation des Gesamtkapitals. Die Wiederaufbauperiode nach dem II. Weltkrieg mitsamt ihres Booms in den 50er und 60er Jahren müssen in diesem Zusammenhang eher als eine historische Ausnahme betrachtet werden, die der Tatsache geschuldet ist, dass es damals mit den USA noch eine Großmacht gab, die – anders als heute – schuldenfrei und somit in der Lage war, den Wirtschaftsboom im Europa der Wiederaufbauperiode mit gewaltigen Krediten zu finanzieren. Vor allem aber erlaubte die internationale Koordination der Wirtschaftspolitik der Nationalstaaten auf der Ebene der imperialistischen Blöcke die wirkungsvolle Erschließung der weltweit noch vorhandene, vorkapitalistische Märkte.
Die Regel war vielmehr finanzielle, wirtschaftliche und politische Zerrüttung der Krieg führenden Länder, unabhängig davon ob sie zu den Siegern oder den Verlierern zählen. So verhielt es sich mit dem I. Weltkrieg, der ein Europa hinterließ, das vollständig aus den Fugen geraten war und dessen Vormachtstellung in der Welt aufs Schwerste erschüttert war. So erging es auch den unzähligen Ländern, die Schauplatz jener lokalen und regionalen Kriege waren, welche nach dem II. Weltkrieg nahezu ununterbrochen im Gange waren. Kaum einer dieser Kriege mündete in einem Wiederaufbau, der dem in Europa nach dem II. Weltkrieg auch nur im Entferntesten ähnelte. Fast jeder dieser Kriege vergrößerte lediglich das Elend der betroffenen Länder und legte die Saat für den nächsten Krieg. Jüngstes Beispiel ist der Irak-Krieg. Während das Land Tag für Tag immer tiefer in die Anarchie versinkt, erweist sich das Irak-Abenteuer für die USA selbst als ein finanzielles Fass ohne Boden, das riesige Löcher in den US-Haushalt reißt (allein 2004 erwirtschaftete der Haushalt der US-Administration ein Defizit von 422 Milliarden Dollar) und auch die Weltwirtschaft in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Und was das Irak-Abenteuer endgültig irrational macht: Statt den Irak unter ihre Kontrolle zu bringen und ihrer Disziplin zu unterwerfen, muss die US-Bourgeoisie mehr oder weniger hilflos mit ansehen, wie das Land unaufhaltsam in das Chaos des Terrorismus und des Religionskrieges abdriftet.
Du kommst zur Schlussfolgerung: „Wer aus diesen Fakten immer noch behauptet, dass Kriege irrational sind, geht einer falschen Theorie nach: dass der Kapitalismus auch ohne Kriege leben kann.“ Wir hingegen sagen: Gerade die Tatsache, dass der dekadente Kapitalismus trotz dessen kontraproduktiven Charakters nicht mehr ohne den Krieg existieren kann, macht ihn ja so irrational. Diese Irrationalität ist keine frei gewählte Attitüde der Bourgeoisie, sondern – wie wir weiter oben bereits erwähnt hatten – die Manifestation der Beherrschung der Bourgeoisie durch eine außerhalb ihrer Kontrolle stehenden Macht, die sich ihr in Gestalt von so genannten Sachzwängen aufdrängt und keine andere Wahl lässt. In diesem Sinn möchten wir auf deine Frage, ob die Bourgeoisie weiß, was sie tut, antworten, dass, selbst wenn sie die Tragweite ihres irrationalen Handelns erkennen könnte, sie unfähig wäre, zur Vernunft zurückzukehren
Kommen wir zum Schluss: Wir hoffen, dass wir mit diesem Brief etwas zur Klärung dieses doch recht komplexen Themas beigetragen haben. Vieles haben wir nur angesprochen, und sicherlich ist auch Etliches unerwähnt geblieben. Wir würden uns daher freuen, wenn wir diese Diskussion mit dir (und anderen?) fortsetzen und vertiefen könnten, und hoffen auf eine Antwort von dir
IKS, August 2005
Am 28.Dezember 2003 starb der Genosse Robert im Alter von 90 Jahren. Robert war seit über 28 Jahren ein wirklicher Lebensgefährte unserer Organisation.
Seit der Gründung der IKS nahm er als Beobachter an zahlreichen Konferenzen und Kongressen sowie als regelmäßiger Teilnehmer an unseren öffentlichen Veranstaltungen in Belgien teil. Trotz reeller Differenzen identifizierte er sich mit der grundsätzlichen Orientierung unserer Organisation und unterstützte sie nach besten Kräften.
Heute erweisen wir mit Robert nicht nur einem Genossen die Ehre, den Loyalität, Hingabe und Leidenschaft für die revolutionäre Sache des Proletariats auch in den dunkelsten Kapiteln der Geschichte auszeichnete. Wir ehren ihn auch als Mitglied einer ganzen Generation von Militanten der Arbeiterklasse in Belgien, die nun zusammen mit ihm ausstirbt.
Robert war der letzte überlebende revolutionäre Kommunist einer Generation von Militanten, die auch in der schlimmsten Periode der Konterrevolution, die die Arbeiterklasse zwischen den 30ern und 60er Jahren heimsuchte, das Banner des Internationalismus hochhielt.
In seiner Jugend erlebte Robert in den Arbeitervierteln von Brüssel die ganzen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft; hier wurde er zum ersten Mal mit der harten Realität des Klassenkampfes konfrontiert. 1930 war Brüssel das politische Zentrum Belgiens, der Brennpunkt der meisten wichtigen politischen Debatten. Diese Diskussionen trugen zu Roberts revolutionärem Werdegang bei. In den Diskussionen ging es darum zu klären, ob es an der Zeit sei, eine neue Kommunistische Partei zu gründen oder besser die Arbeit als Fraktion fortzusetzen. Ferner um die Klärung des Wesens des Krieges in Spanien, darum, ob die Gründung der trotzkistischen 4. Internationale richtig war, um den Klassencharakter der UdSSR, den Aufstieg des Faschismus sowie die Verteidigung des Internationalismus angesichts des drohenden Weltkrieges.
Die wichtigsten Bestandteile des damaligen revolutionären Milieus waren die „trotzkistischen“ Gruppen der internationalen Linksopposition (PSR, Contre le Courant, etc) und die internationale, kommunistische Linke (die italienische Fraktion um die Zeitschrift Bilan und die belgische Fraktion um Communisme).
Robert entschied, sich der trotzkistischen Opposition um Vereeken (Contre le Courant) anzuschließen, die gegen die Gründung der 4. Internationale war. Sie erkannte die Voreiligkeit dieser Gründung und wies darauf hin, dass Trotzki zu den Schwierigkeiten und der Zersplitterung der wenigen revolutionären Kräfte beigetragen habe. Diese Gruppe denunzierte das sozialpatriotische Auftreten der offiziellen Trotzkisten während des 2.Weltkrieges und praktizierte eine Politik des revolutionären Defätismus gegenüber allen sich bekämpfenden imperialistischen Mächten.
Bei Kriegsausbruch am 1.September 1939, entschieden sich einige Militante, konfrontiert mit Verhaftungen und schwerster Repression, ins Exil zu gehen und dort die politische Arbeit fortzusetzen. Robert floh zunächst nach Paris, dann nach Marseille, einer Stadt, die zeitweilig vielen Revolutionären Asyl bot. Viele von ihnen verloren in den kritischsten Momenten ihre Überzeugung. Robert hingegen vertraute auf die Arbeiterklasse und verteidigte standfest die internationalistische Position gegenüber beiden Krieg führenden Lagern.
Durch seine politischen Beziehungen mit dem internationalistischen Milieu kam Robert mit jenem Zirkel in Kontakt, der unter dem Einfluss unseres alten Genossen Marc stand. Letzterer hatte von 1940 an versucht, die politische Arbeit der Fraktion der internationalen Linkskommunisten wiederzubeleben, die angesichts des Krieges zum Stillstand gekommen war. Von 1941 an kam es immer wieder zu Diskussionen und Kontakten.
Im Mai 1942 konstituierte sich der französische Kern der internationalen kommunistischen Linken. Es nahmen verschiedene neue Elemente daran teil, unter ihnen Robert. Durch ihn kam es zur Zusammenarbeit mit der Gruppe RKD, einer österreichischen Gruppe, die mit dem Trotzkismus gebrochen hatte, sowie den Communistischen Revolutionären, ihrer Schwestergruppe in Frankreich. Tatsächlich war es die RKD über ihre Kontakte mit der Vereekengruppe, auf die er stieß, durch die er das Interesse der RKD an den politischen Positionen des französischen Kerns der kommunistischen Linken weckte.
Die Charakterisierung der UdSSR als Ausdruck einer generellen Tendenz zum Staatskapitalismus, die Haltung des proletarischen Internationalismus gegenüber dem Krieg und die Kritik an der trotzkistischen 4. Internationale - all dies waren gemeinsame Positionen, die die politischen Bande stärkte. Es wurden gemeinsame Aktionen und Propaganda an die Adresse der Arbeiter und Soldaten aller Nationen einschließlich der deutschen Arbeiter in Uniform gegen den imperialistischen Krieg durchgeführt. Im Dezember 1944 fragte der Kern als französische Fraktion der internationalen kommunistischen Linken um die Aufnahme im Internationalen Büro der Fraktion nach.
Die Maikonferenz der Fraktion entschied 1945 in Folge der Ankündigung der Gründung einer kommunistischen Partei in Italien sowie des politischen Wiedererscheinens von Bordiga die Auflösung der italienischen Fraktion und forderte ihre Mitglieder auf, als Individuen dieser neuen Partei beizutreten. Unser Genosse Marc bekämpfte diesen unverantwortlichen Schritt, der ohne jede vorherige Diskussion oder ein politisches Abwägen stattfand, auf das Schärfste; er war völlig gegen die Integration in eine Partei, deren politische Positionen nicht einmal der Fraktion bekannt waren. Gleichzeitig wurde der Aufnahmeantrag des französischen Kerns abgelehnt und eine Namensänderung in Gauche Communiste de France erzwungen. Auf der anderen Seite vereinigte sich die belgische Fraktion, die sich nach dem Krieg wieder um Vercese rekonstruiert hatte, mit der PCInt um Damen, Maffi und Bordiga.
Nach dem Krieg kehrte Robert wieder nach Belgien zurück. Da er politisch nicht auf sich allein gestellt sein wollte, beschloss er, die belgische Fraktion wiederzubeleben, ohne jene Überzeugung über Bord zu werfen, zu der er in der Periode des französischen Kerns gekommen war.
Er hielt Kontakt mit der GCF, insbesondere mit Marc. Die Gruppe in Belgien blieb den wesentlichen Positionen Bilans vor dem Krieg treu und stand faktisch in Widerspruch zur PCInt. Die belgische Fraktion öffnete sich, so wie sie es vor dem Krieg getan hatte, zunehmend den internationalen Diskussionen. Ende 1945, Anfang 1946 fragte die belgische Fraktion nach weiteren Erläuterungen der Gründe für die Nichtaufnahme der GCF in die Reihen der Kommunistischen Linken. Es scheint, dass Robert sehr vehement diese Anfrage unterstützt hat. Die belgische Fraktion schlug ebenfalls vor, ein theoretisches Organ gemeinsam mit den belgischen Trotzkisten um Vereeken herauszugeben. Dies zu einem Zeitpunkt, bevor diese Gruppe endgültig an die 4. Internationale verloren wurde. Dieser Vorschlag wurde von der PCInt abgelehnt.
Im Mai 1947 nahm die belgische Fraktion auch an einer internationalen Konferenz teil, die vom holländischen kommunistischen Spartacusbond organisiert worden war. Ihr wohnten Gruppen bei, die ebenso wie die belgische Fraktion der Gruppe Spartacus in Belgien nahe standen. Mit dabei waren die GCF, die CR, die RKD, die Schweizer Gruppe Lutte de Classe und die autonome Turiner Fraktion der PCInt.
1950-52 zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine revolutionäre Nachkriegswiederbelebung des Klassenkampfes, ähnlich jener nach dem 1. Weltkrieg. Viele revolutionäre Organisationen gerieten in die Isolation, die GCF eingeschlossen. Robert unterhielt mit Marc, der nun in Venezuela lebte, regelmäßigen Briefkontakt, worin er ihn über die Situation des revolutionären Milieus informierte.
Nach Vercesis Tod 1957 weigerte sich die belgische Fraktion, sich den Positionen der bordigistischen PCI zu unterwerfen, aber tatsächlich fiel sie allmählich noch dahinter zurück.
Robert nahm weiter an verschiedenen organisatorischen Ausdrücken der Kommunistischen Linken teil, so auch an dem Studienzirkel um Roger Dangevilles Zeitschrift „Le Fil du Temps“ (einem Ableger der PCI, der eine Zeitlang an einem Diskussionszirkel teilnahm, der auf Initiative von Maximilian Rubel entstanden war, seinerseits ehemaliges Mitglied der GCF).
Schließlich kam er nach 1968 über Marc mit der Gruppe Révolution International in Frankreich in Kontakt. Trotz deutlicher Meinungsverschiedenheiten in Fragen des historischen Kurses und der Partei war Robert sich der politischen Bedeutung der revolutionären Organisation und der Notwendigkeit der Verteidigung des revolutionären Erbes sehr bewusst.
Eben deshalb verhielt er sich loyal gegenüber der Internationalen Kommunistischen Strömung (IKS). Er unterstützte uns auch während der schwierigsten Perioden, indem er Stellung für unsere Verteidigung bezog.
Die Militanten der IKS, die den revolutionären Kampf, für den er lebte und kämpfte, fortsetzen, erbieten ihm die letzte Ehre. Sie werden sein Andenken in lebendiger Erinnerung behalten.
Während der letzten beiden Wochen waren wir Zeugen einer Reihe von aufsehenerregenden Szenen an der Südgrenze der Europäischen Union. Zunächst der massenhafte Ansturm auf die Sperranlagen, die von der spanischen Regierung errichtet worden waren, welche von Tausenden von Migranten überwunden werden konnten, auch wenn sich zahlreiche dabei verletzten und die Kleider zerrissen. Danach der Kugelhagel, der 5 Migranten das Leben raubte; Schüsse, die wahrscheinlich – obwohl die Medien davon ablenken wollen – von den Truppen der sehr “demokratischen und friedensliebenden” Regierung des Herrn Zapatero abgefeuert wurden, welcher sich gerne als ein Unschuldslamm darstellt.
Während der letzten beiden Wochen waren wir Zeugen einer Reihe von aufsehenerregenden Szenen an der Südgrenze der Europäischen Union. Zunächst der massenhafte Ansturm auf die Sperranlagen, die von der spanischen Regierung errichtet worden waren, welche von Tausenden von Migranten überwunden werden konnten, auch wenn sich zahlreiche dabei verletzten und die Kleider zerrissen. Danach der Kugelhagel, der 5 Migranten das Leben raubte; Schüsse, die wahrscheinlich – obwohl die Medien davon ablenken wollen – von den Truppen der sehr “demokratischen und friedensliebenden” Regierung des Herrn Zapatero abgefeuert wurden, welcher sich gerne als ein Unschuldslamm darstellt. Danach folgte der massive Aufmarsch der Truppen der Legion und der Guardia Civil mit der Anweisung, auf “menschliche Art und Weise”[1] die Migranten zurückzuhalten.
Am 6. Oktober trat dann - nach hinter den Kulissen geführten Verhandlungen zwischen der spanischen und marokkanischen Regierung - eine Wende ein: 6 Emigranten wurden auf marrokanischem Territorium niedergeschossen und tödlich verletzt. Diese Erschießungen lösten eine Reihe von immer brutaleren Handlungen aus: Südlich von Uxda, im marokkanischen Wüstengebiet, wurden Migranten am 7. Oktober ausgesetzt und ihrem Schicksal überlasen, umfangreiche Polizeirazzien in den marokkanischen Städten mit hohem Bevölkerungsanteil von Migranten, zwangsweise Rückführungen von mit Handschellen gefesselten Männern und Frauen nach Mali und in den Senegal; dann folgte die Nachricht, dass wieder zahlreiche Migranten per Bus in die Sahara verfrachtet und dort einfach ausgesetzt worden waren.
Vom 6. Oktober an übernahm die Regierung Zapatero wieder die Rolle des “Meisters der Verwandlung”. Es folgte eine lautstarker “Protest” gegenüber Marokko wegen der “unmenschlichen” Behandlung der Migranten; schließlich wurde in den Medien das Projekt eines “hochmodernen” Grenzzauns vorgestellt (in Wirklichkeit handelt es sich um drei übereinander angebrachte Sperrzäune), welche die Migranten am Eindringen hindern sollten, “ohne dass ihnen irgendein Kratzer zugefügt” werde. Andere Länder der EU reihten sich schnell in den Chor des “demokratischen Protestes” gegenüber den marokkanischen Ausschweifungen ein, und verlangen, dass die “Migranten respektvoller behandelt werden” und sie plärren mit dem üblichen Geschwätz von Europa als Aufnahmegebiet für Hilfsbedürftige und von der Notwendigkeit, die “Entwicklung” afrikanischer Länder stärker zu fördern. Der spanische Außenminister, ein Experte in scheinheiligem Lächeln, kündigt mit ernster Miene an, “Spanien wird keine illegale Zuwanderung dulden, und das ist durchaus vereinbar mit dem Respekt vor den Migranten”[2]
Bei dieser Krise erkennt man die beiden Gesichter der demokratischen Staaten. Vom 6. Oktober an will die Regierung Zapatero bei ihrem schmutzigen Krieg gegen die Migranten, nachdem sie zuvor Marokko mit gewissen Aufgaben beauftragt hat, ihr übliches Engelsgesicht zeigen, wonach sie den “Frieden”, die “Menschenrechte”, und den “Schutz der Personen” fördere. Das ist das Gesicht des Zynismus, der Lügen und der Manöver der übliche Deckmantel, den sich die “großen Demokratien” anlegen; es ist die widerwärtigste Heuchelei.
Denn in den Tagen zuvor trat die Regierung Zapatero mit einem anderen Gesicht auf: massiver Schusswaffeneinsatz, Guardia Civil, Misshandlungen eines Emigranten, Sperrzäune und umherfliegende Hubschrauber, Abschiebungen in afrikanische Staaten...
Eine Maske, die den Schleier des Geredes über die “Menschenrechte” und die “Freiheiten” zerreißt und die Tatsache nicht verheimlichen kann, dass der “Sozialist" Zapatero die Migranten genauso behandelt wie Sharon, der den Sperrzaun in den Palästinensergebieten und im Gaza-Streifen errichten ließ und dafür beschimpft wird, und die ostdeutschen Stalinisten Ulbricht und Honecker, die die Berliner Mauer bauen ließen.
Aber die beiden Gesichter, das der demokratischen Heuchelei und des Bluthundes, sind in Wirklichkeit keine Gegensätze, sondern ergänzen sich.
Sie stellen eine untrennbare Einheit bei der Herrschaftsform des Kapitalismus dar, ein Gesellschaftssystem, das eine zahlenmäßige, ausbeutende Minderheit unterhält, die Bourgeoisie, dessen Überleben immer mehr im Gegensatz zu den Interessen und Notwendigkeiten des Proletariats und der großen Mehrheit der Bevölkerung steht.
Das tragische Problem der Zuwanderung verdeutlicht, dass der Kapitalismus, der immer mehr und tiefer in eine Krise versinkt, und die in Kontinenten wie Afrika extremste Formen annimmt, nicht mehr dazu in der Lage ist, einer immer größeren Anzahl von Menschen ein Mindestmaß an Überlebensmöglichkeiten sicherzustellen, welche vor dem tödlichen Inferno des Hungers, der Kriege und Epidemien flüchten.
Bei ihrer Flucht werden sie von den Polizeikräften und den Mafia-Banden der Länder, die sie durchqueren, verprügelt und bestohlen, welche immer mit der Duldung durch die jeweiligen Staaten tätig sind, und wenn sie am ersehnten Ziel ankommen, stoßen sie auf eine neue Mauer der Schande, auf Sperrzäune, Kugeln, Abschiebungen...
Mit einer immer größeren Krise konfrontiert, sind die Länder der Europäischen Union immer weniger ein “Refugium des Friedens und des Wohlstands”, welches sie uns vorgaukeln wollen. Die Wirtschaft dieser Länder kann nur wenige Tropfen dieses gewaltigen Ozeans an Menschenmassen aufnehmen, während sich gleichzeitig die Ausbeutungsbedingungen in diesen Ländern immer mehr verschlechtern und sich immer mehr den Bedingungen der Länder nähern, aus denen die Migranten flüchten.
Diese Ereignisse finden statt auf dem Hintergrund wachsender imperialistischer Spannungen zwischen den Staaten, wobei jeder versucht, den anderen Schläge zu versetzen oder Erpressungsmittel in die Hand zu bekommen. Dadurch werden die Migranten zu einer leichten Beute für die Manipulationen der jeweiligen Regierungen. Marokko versucht Spanien zu erpressen, womit die Arbeit der Schlepperbanden erleichtert wird. Und Spanien wiederum versucht einen so hohen Preis wie möglich für seine Dienste als bissiger Wachhund aufgrund seiner Lage als Einfallstor am Südzipfel der Europäischen Union auszuhandeln.
Dieses blutige Spiel der Aufschneider und Betrüger wird auf Kosten des Lebens von Hunderttausenden Menschen betrieben, die zu einer tragischen Odyssee verdammt sind. Die stärksten Staaten wollen gegenüber der Welt das Bild vermitteln, sie seien die “menschlichsten und solidarischsten Gesellschaften”, ganz einfach, weil es ihnen bei diesem Kuhhandel gelungen ist, dass die weniger starken Teile unter ihnen die schmutzigsten Aufgaben übernehmen. Marokko erscheint in diesem Film als der Bösewicht (die Tradition wildester Brutalität seiner Polizeikräfte und seines Militärs verstärken dabei die Wirkung dieses Tricks), während Spanien und die anderen Mitglieder der Europäischen Union, ihre unverschämten Nachäffer, die Frechheit besitzen, ihnen Lehren der Demokratie und der Menschenrechte erteilen zu wollen.
Aber die wachsenden Widersprüche des Kapitalismus, die Vertiefung seiner historischen Krise, der Zerfallsprozess, der allmählich alles untergräbt, die langsame Zuspitzung des Klassenkampfes, führt dazu, dass diese großen Staaten, die geschickte Teilnehmer des Schauspiels der Demokratie sind, immer mehr ihr Gesicht als Bluthunde zeigen müssen. Vor 3 Monaten sahen wir, wie die britische Polizei, die ‚demokratischste Polizei der Welt”, kaltblütig einen jungen Brasilianer ermordete (2), vor weniger als einem Monat sahen wir, wie US-amerikanische Polizei und Militär auf die Bevölkerung einprügelte anstatt Lebensmittel zu verteilen und Hilfe für die Opfer des Hurrikans Katrina zu bringen; heute sehen wir, wie die Regierung Zapatero Migranten umbringt, Truppen mobilisiert und eine neue Mauer der Schande errichtet.
Es gibt keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Die Interessen der Menschheit sind mit den Bedürfnissen dieses Systems nicht vereinbar. Damit die Menschheit überleben kann, muss der Kapitalismus verschwinden. Den kapitalistischen Staat überall zu zerstören, die Grenzen und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen, dies ist die Orientierung, die das Proletariat in seinem Kampf einschlagen muss, damit die Menschheit auch nur anfängt zu leben.
Internationale Kommunistische Strömung 11.10.05
[1] In den letzten Tagen haben die Regierungsstellender EU den Marokkanischen Behörden die grossen Kredite in Erinnerung gerufen, die an Marokko gezahlt wurden, damit das Land seine Gendarmenrolle übernimmt, welche das Land bislang vernachlässigt hatte
Nach dem Anschlag vom 11. September 2001 in New York hat der US-amerikanische Staat die Notwendigkeit, dem Irak den Krieg zu erklären, mit drei Argumenten begründet. Das erste war die Gefahr, die von den „Massenvernichtungswaffen“ ausging, die es offensichtlich nicht gab. Das zweite war, dass man im Irak eine Demokratie nach dem Vorbild der USA herstellen müsse - die bürgerliche Demokratie im Irak rudert heute aber in der politischen Anarchie eines unregierbaren Landes. Drittens schließlich und vor allem hieß es, der militärische Angriff auf den Irak sei deshalb unbedingt notwendig, um einen totalen und erbarmungslosen Krieg gegen den internationalen Terrorismus führen zu können. Dabei wurde insbesondere unterstellt, dass es eine enge Verbindung zwischen dem Henker Saddam Hussein und der Organisation Al Kaida von Usama Bin Laden gebe. Seither ist die Welt weiter im blutigen Chaos versunken. Kein Tag vergeht in Afghanistan, im Irak, im Nahen Osten, in Afrika, ohne dass neue Massaker verübt würden. Die auf Video aufgenommene Köpfung von Geiseln ist eine Waffe im Krieg geworden, die ohne jede Hemmung und jenseits von jeder Menschlichkeit eingesetzt wird. Doch darüber hinaus werden nun die Zivilbevölkerung, auch Frauen und Kinder, von allen möglichen schwachen oder mächtigen imperialistischen Cliquen, die sich gegenseitig zerfetzen, als Geiseln genommen.
Nach dem terroristischen Attentat am 11. März 2004 in Madrid, das die arbeitende Bevölkerung, die sich gerade zur Arbeit begab, im Mark traf, hörte der Terrorismus nie auf, weitere Verheerung anzurichten. In den ersten Tagen des Monats August gab es im Irak nicht weniger als sechs Autobomben, die in Bagdad und Mossul die christliche Gemeinde zum Ziel hatten und mindestens zehn Tote und mehrere Dutzend Verletzte forderten. Die ersten zwei Anschläge galten in Bagdad einer armenischen bzw. einer altsyrischen Kirche, eine weitere Bombe explodierte bei einer chaldäischen Stätte. In Palästina fallen die Bomben mit einer alltäglichen Selbstverständlichkeit auf die Häuser von Leuten, die eh schon ohne jede Reserve im nackten Elend leben. Am 11. August nahmen Anschläge in der Türkei Hotels und ein Gaslager aufs Korn. Eine Gruppe, die sich „Abu-Hafa-Al-Masri-Brigade“ nannte, übernahm gemäss der englischen Tageszeitung The Independent die Verantwortung für sie. Diese Gruppe soll auf dem Internet erklärt haben: „Istanbul ist nur der Anfang eines blutigen Krieges, den wir den Europäern versprochen haben.“ Welches auch immer die wirklichen Urheber der Gräuel in Istanbul, Bagdad oder Madrid waren, diese blutigen Anschläge verfolgten das planmäßige Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Terrorismus tendiert dazu, sich als Kriegswaffe allgemein durchzusetzen. Gestern noch war sie die Waffe der schwächsten imperialistischen Staaten wie Syriens oder Libyens, heute wird sie zum bevorzugten militärischen Strandgut, das alle Kriegsherren und -cliquen, die mit der zunehmenden Schwächung der Nationalstaaten aus dem Boden schießen, einsammeln und -setzen. Diese allgemeine Tendenz der in Auflösung begriffenen Gesellschaft setzt sich als barbarische Wirklichkeit des Weltkapitalismus im Zerfall durch.
Südasien am Rande des Chaos
Unter der Führung des amerikanischen Imperialismus haben sich die politischen und religiösen Führer des Iraks am Sonntag, 15. August, in Bagdad versammelt, um eine erste Sitzung der Nationalkonferenz abzuhalten, die zum offiziellen Ziel gehabt hätte, die Abhaltung von Wahlen in diesem Land im Zeitraum 2005 zu organisieren. Die New York Times schreibt: “Die Amerikaner und die gegenwärtige irakische Regierung wollten mit dieser Konferenz aufzeigen, das die Vorbereitung dieser Wahlen ihren Lauf nimmt trotz der Gewaltakte, die das Land erschüttern.“ Diese Wahlperspektive ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zum Beweis dafür hält die New York Times folgendes fest: „Am Tag der Eröffnung der Konferenz war viel mehr von Aufrufen zur Beendigung der Kämpfe in Najaf zu hören als von den kommenden Wahlen.“ In der Tat gingen zwei Granaten in unmittelbarer Nähe der Konferenz nieder, kaum hatte sie begonnen, so dass sie gleich unterbrochen werden musste. Seit dem 5. August dieses Jahres nehmen Gewalt und Chaos im ganzen Land wieder stark zu. An diesem Datum erklärte der radikale Schiitenführer Muktada Sadr „den Jihad (Heiligen Krieg) gegen die amerikanischen Besetzer und gegen die britischen Truppen, nachdem diese am Vortag vier seiner Männer verhaftet hatten“, berichtet Al Hayat (Courrier internationale vom 6.8.04). Darauf begann die Belagerung der Stadt Najaf mit Billigung des Bürgermeisters der Stadt, Al Zorfi. Zur Zeit, wo wir diese Zeilen schreiben, haben sich die Männer Muktada Sadrs um das Mausoleum des Imams Ali verschanzt, welches für die Schiiten der ganzen Welt die heiligste ihrer Stätten ist, was Scheich Jawad Al-Chalessi, den Imam der großen Moschee von Kadimiya, zwingt klar zu stellen: „Weder dieser Pseudo-Bürgermeister, dieser ehemalige Übersetzer der amerikanischen Armee, der nur deshalb ausgewählt wurde, weil er für seine Fähigkeit, den verrücktesten Anordnungen zu folgen, bekannt ist, noch sonst jemand, und zwar inbegriffen die höchsten religiösen Würdenträger, haben das Recht, den Ungläubigen den Zutritt zum Mausoleum von Ali zu gestatten.“ Die Kämpfe weiteten sich in der Folge aus auf Kut, Amara, Diwaniya, Nassiriya und Basra, wie auch auf das schiitische Quartier Sadr City in Bagdad. Bis zur Stunde soll es auf Seiten der schiitischen Milizen mehrere Hundert Tote geben, und lediglich deren zwei auf Seiten der Amerikaner, berichtet ein Communiqué der amerikanischen Armee. Demonstrationen für Sadr und gegen die Amerikaner breiten sich auf das ganze Land aus. Der Irak taucht ab ins Chaos, und es gibt nichts, was ihn da rausziehen könnte; nicht einmal die höchstpersönliche Intervention des höchsten religiösen Oberhaupts der schiitischen Gemeinde, Al Sistani, zugunsten eines Waffenstillstandes, der nur vorübergehend sein kann. Die USA werden so, ob sie es wollen oder nicht, in eine kriegerische Flucht nach vorne gedrängt, was nur zum Ausdruck bringt, wie sehr sie je länger je weniger fähig sind, die Lage auch nur einigermaßen zu kontrollieren. Die USA sind sich bewusst, dass der Widerstand gegen sie zunimmt, und haben versucht, einen Vorschlag des Außenministers Colin Powell umzusetzen, den dieser in Saudi-Arabien diskutiert hatte und der darauf abzielte, im irakischen Pulverfass islamische Staaten militärisch einzusetzen. Dieser Versuch zeigt noch einmal die totale Sackgasse auf, in der sich der amerikanische Imperialismus befindet, und ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Der ägyptische Außenminister hat sofort klar gestellt, dass Ägypten keine Truppen entsenden werde. Der Rückzug der amerikanischen Truppen aus Najaf wäre ein vollumfängliches Eingeständnis ihrer Ohnmacht und ein gewaltiger Ansporn für alle, die gegen die USA Krieg führen. Wenn sie umgekehrt Najaf und die schiitische Kultstätte einnähmen, würde ein wahrhaftes Erdbeben in der ganzen schiitischen und islamischen Welt ausgelöst. Dies wäre unweigerlich ein sehr bedeutender Faktor der Beschleunigung der anti-amerikanischen Bewegung, des Krieges, des Chaos und des Terrorismus in der ganzen Region. Wie auch immer die Fortsetzung der Ereignisse in und um Najaf aussieht, ist der amerikanische Imperialismus einer noch größeren Radikalisierung der Gewalt und des Widerstandes der Schiiten nicht nur im Irak ausgesetzt, sondern in allen arabischen Ländern, in denen sie präsent sind. Angesichts dieses Schlangennestes, wo jeder nur gerade auf die Verteidigung seiner eigenen imperialistischen Interessen schaut, muss man davon ausgehen, dass der Iran sowohl politisch wie auch militärisch mit dem schiitischen Aufstand im Irak zu tun hat. Aus diesem Grund gab es in der letzten Zeit eine Reihe von Drohungen aus Washington an die Adresse von Teheran. Colin Powell selber beschuldigte am 1. August in Bagdad den Iran, sich in die irakischen Angelegenheiten einzumischen. Der Krieg im Irak betrifft die ganze Region, von Kurdistan über den Iran bis zur Türkei: Das ganze Gebiet wird immer mehr in einen Prozess der Destabilisierung und des Chaos hineingezogen. Im Irak demonstrieren die USA vor den Augen der ganzen Welt die immer größere Schwächung ihrer imperialistischen Macht. Dieser Sachverhalt freut natürlich ihre Hauptkonkurrenten auf der internationalen Bühne, nämlich Frankreich, Deutschland und auch Russland, und stärkt deren Entschlossenheit. Die Kampagne, die die USA gegen den Iran führen und von Israel unterstützt wird, betrifft auch die Frage des iranischen Atomprogramms. Während einer Pressekonferenz im August erklärte Verteidigungsminister Rumsfeld: „Der Iran war während mehreren Jahren auf der Liste der terroristischen Staaten, und eine große Besorgnis in der Welt betrifft die Verbindungen zwischen einem terroristischen Staat, der Massenvernichtungswaffen besitzt, und terroristischen Netzen. Es ist verständlich, dass die Nationen nicht nur in der Region, sondern auf der ganzen Welt tief beunruhigt sind.“ Man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass der amerikanische Imperialismus auf seiner kriegerischen Flucht nach vorn einen nächsten Schritt im Iran macht. Auch wenn die USA, die besonders geschwächt sind, ein Interesse daran hätten, sich in Zukunft auf den Iran abstützen zu können, schließen sie sich immer mehr der selbstmörderischen und je länger je barbarischeren Politik des israelischen Staates an; ein Artikel der Sunday Times vom 15. Juli zitierte „israelische Quellen“, wonach Israel „seine Warnungen eines Schlages gegen den Iran nicht länger wiederholen“ werde und „in keinem Fall zulassen wird, dass iranische Reaktoren, insbesondere derjenige von Bushehr, der mit Hilfe Russlands gebaut wird, eine kritische Schwelle überschreiten ... Wenn im schlimmsten Fall die internationalen Bemühungen scheitern, sind wir zuversichtlich, dass wir notfalls mit einem gezielten Schlag die nuklearen Ambitionen der Ayatollahs vernichten können.“
Der schleichende Zerfall der palästinensischen Behörde ist unumkehrbar
Diese kriegerische Politik einer Flucht nach vorn zeigt sich auf barbarische Weise auch im Nahen Osten. Eine gewichtigere Folge der Entfaltung des Chaos in diesem Teil der Welt ist der Zerfall der palästinensischen Regierungsbehörde. Ihre Gründung geht auf die Oslo-Abkommen zurück, die 1993 einen Embryo eines autonomen Gebietes auf palästinensischem Territorium vorsahen. Dieses Gebiet stellte den Ausgangspunkt für den zukünftigen palästinensischen Staat dar, der dann am Ende einer fünfjährigen Übergangszeit gegründet werden sollte. Diese illusorische Perspektive einer Stabilisierung des Nahen Ostens hat sich mit den Massakern, Morden, Bombardierungen und permanenten Attentaten ins radikale Gegenteil gekehrt, dem auch ein palästinensischer Staat nicht entrinnen kann. Die palästinensische Regierung verliert unter dem Druck des fortgeschrittenen Zerfalls in diesem Teil der Welt sowie der expansionistischen und kriegerischen Politik Israels ihre letzte Macht. Auch wenn Arafat noch versucht, seine Stellung als Präsident zu retten, so wird dies seine Helfershelfer nicht daran hindern, sich auf immer gewalttätigere Weise um die Machtbrocken zu zanken. Die von Korruption unterwanderte palästinensische Regierung lässt so den internen Spannungen freien Lauf, was nur die totale Ohnmacht der palästinensischen Behörde ausdrückt. Und auch wenn sich der „Krach“ zwischen dem palästinensischen Führer Yassir Arafat und seinem gegenwärtigen Premierminister Achmed Kurai gelegt hat, wird in Zukunft nichts das Auseinanderbrechen der palästinensischen Regierung sowie die weitere Stärkung von radikalisierten und bewaffneten Armeen verhindern, die die Verzweiflung der Bevölkerung für ihre selbstmörderischen und blindwütigen terroristischen Taten gebrauchen werden. Der israelische Staat unter der Fuchtel der Administration Sharon kann gar nicht anders als seine kriegerische Politik mit dem Ziel fortsetzen, jeglichen palästinensischen Widerstand auszuradieren und die totale Kolonisierung des Westjordanlandes anzustreben. Deshalb beschleunigt der israelische Staat den Bau der Mauer um das Westjordanland: Es wird in ein riesiges Konzentrationslager verwandelt. Die Angriffe auf Sharon aus seiner eigenen Partei und sein Wunsch, die israelische Linke mit S. Perez an der Regierung zu beteiligen, um so den geschwächten Zusammenhalt der israelischen Staatsstruktur anzugehen, werden die kriegerische Politik des hebräischen Staats nicht ändern. Die Ereignisse im Nahen Osten enthalten alle Ingredienzien für eine weitere Destabilisierung der gesamten Region: von Jordanien über Libanon und alle Staaten am Persischen Golf bis nach Ägypten. Weiter zeigt aber auch der Zank zwischen dem Präsidenten Frankreichs, Jacques Chirac, und Sharon um die Bedrohung der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich, dass die zunehmenden imperialistischen Spannungen auch die Beziehungen zwischen Frankreich und Israel ernsthaft betreffen, was sich mit den Spannungen zwischen Frankreich und den USA überschneidet.
Im Rahmen das Kapitalismus gibt es keine andere Perspektive als die Verallgemeinerung des Chaos und des Elends
Die zunehmende Schwächung der USA als erste imperialistische Weltmacht ermutigt die anderen Mächte, in erster Linie Franreich und Deutschland, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, indem sie versuchen, die USA so stark wie möglich in die Klemme zu treiben, wie dies gegenwärtig im Irak der Fall ist. Die gegenwärtige Situation der Herausbildung stets neuer Kriegsschauplätze, von Massakern, Genoziden und Attentaten ist bereits ein beschleunigender Faktor des Chaos auf der ganzen Welt und somit des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft. Kein Regierungswechsel in Israel oder den USA oder anderswo kann diese Perspektive verändern. Eine allfällige Wahl Kerrys als Präsident der USA würde an dieser Realität - Politik der Flucht nach vorn - nichts ändern. „Das Ankreiden der Inkompetenz von diesem oder jenem Regierungschef als Kriegsursache, erlaubt der Bourgeoisie, die Realität zu verzerren, die schreckliche Verantwortung des dekadenten Kapitalismus und mit ihm der Bourgeoisie auf der ganzen Welt zu verstecken“ (Der wirklich Schuldige ist der Kapitalismus, in: Revue Internationale, Nr. 115). Angesichts der beschleunigten Wirtschaftskrise versinkt der gesamte Kapitalismus unerbittlich in Zerfall und Chaos.
Tino (26. August)
In den ersten beiden Artikeln (s. Weltrevolution Nr. 124 und 125) hielten wir zunächst einmal fest, dass der Kommunismus nicht nur ein alter Traum der Menschheit oder das bloße Produkt des menschlichen Willens ist, sondern dass die Notwendigkeit und die Möglichkeit des Kommunismus direkt auf den materiellen Bedingungen beruht, die der Kapitalismus entwickelt hat; zweitens, dass entgegen aller Vorurteile über die "menschliche Natur", die es der Menschheit unmöglich mache, in solch einer Gesellschaft zu leben, der Kommunismus wirklich die Gesellschaftsform ist, die am besten geeignet ist, jedem Individuum seine vollständige Entfaltung zu ermöglichen. Wir müssen uns nun noch mit einer weiteren Frage hinsichtlich der Möglichkeit des Kommunismus befassen. ‚Gut, der Kommunismus ist notwendig und materiell möglich. Männer und Frauen könnten in einer solchen Gesellschaft durchaus leben. Doch heute ist die Menschheit derart entfremdet in der kapitalistischen Gesellschaft, dass sie niemals die Stärke aufbringen wird, um eine solche Transformation in Angriff zu nehmen, die so gigantisch wie die kommunistische Revolution ist.' Wir werden nun versuchen, darauf zu antworten.
Ist der Kommunismus unvermeidbar?
Bevor wir uns direkt mit der Frage der Möglichkeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus befassen, müssen wir uns Klarheit verschaffen hinsichtlich der Idee, wonach der Kommunismus gewiss und unvermeidlich sei.
Ein Revolutionär wie Bordiga konnte einst schreiben: "Die kommunistische Revolution ist so sicher, als wäre sie bereits geschehen." (eigene Übersetzung) Dies ist natürlich eine verzerrte Sichtweise des Marxismus. Während der Marxismus bestimmte Entwicklungsgesetze von Gesellschaften destillierte, lehnte er entschieden jeglichen Gedanken an einer Art menschliches Schicksal ab, das im Voraus im Großen Buch der Natur geschrieben steht. Genauso wie die Entwicklung von Arten keine Finalität beinhaltet, d.h. keine Bewegung der zielstrebigen Annäherung an irgendeine Art von vollkommenem Modell ist, bewegen sich auch die menschlichen Gesellschaften nicht auf ein Modell zu, das bereits im Voraus geschaffen wurde. Solch eine Sichtweise gehört dem Idealismus an: So meinte der Philosoph Hegel zum Beispiel, dass jede Gesellschaftsform ein weiterer Schritt zur Verwirklichung des "absoluten Ideals" sei, das über Mensch und Geschichte schwebe. Auch der Jesuit Teilhard de Chardin dachte, dass der Mensch sich zu einem "Omega-Punkt" entwickle, der für alle Zeiten feststehe. Während uns das Studium der Geschichte in die Lage versetzen kann, die allgemeinen Gesetze der gesellschaftlichen Evolution im Verhältnis zur Entwicklung der Produktivkräfte zu begreifen, lernen wir auch, dass die Geschichte voller Beispiele von Gesellschaften ist, die sich so gut wie gar nicht weiterentwickelt haben; Gesellschaften, die - weit davon entfernt, den Anstoß zu fortschrittlicheren Formen der Gesellschaftsentwicklung zu geben - entweder seit einigen tausend Jahren stagnieren, wie die asiatischen Gesellschaften, oder einfach zu Staub zerfallen sind, wie die antike griechische Gesellschaft. Als allgemeine Lehre lässt sich sagen, dass die bloße Tatsache, dass eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit in die Dekadenz eingetreten ist, keineswegs bedeutet, dass sie in sich die Basis für eine höhere soziale Form enthält; sie kann ganz leicht in der Barbarei kollabieren und die meisten kulturellen Errungenschaften und Produktionstechniken verlieren, die ihre frühere Entwicklung bestimmt und begleitet haben.
Der Kapitalismus ist eine sehr besondere Art von Gesellschaft, eine Gesellschaft, die sich auf den Ruinen der Feudalgesellschaft Westeuropas entwickelt und die (als dynamischste Gesellschaftsform, die jemals existiert hat) die materiellen Bedingungen für den Kommunismus auf Weltebene geschaffen hat. Doch der Kapitalismus ist, wie viele andere Gesellschaften, nicht immun gegen die Gefahr des Niedergangs und Zerfalls, der Vernichtung aller Fortschritte, die er erzielt hat, und der Katapultierung der Menschheit um etliche Jahrhunderte oder Jahrtausende zurück. Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses System die Mittel für die Selbstzerstörung der gesamten Menschheit geschaffen hat, eben weil es seine Vorherrschaft über den gesamten Planeten ausgebreitet und solch einen Grad an technischer Meisterschaft erreicht hat. Wie wir bereits gesehen haben, sind die Bedingungen, die den Kommunismus möglich und notwendig machen, auch die Umstände, die die Menschheit mit einem Rückfall in die Steinzeit oder mit der totalen Zerstörung bedrohen.
Revolutionäre sind keine Scharlatane; sie denken nicht daran, die unaufhaltsame Morgendämmerung eines Goldenen Zeitalters anzukündigen, das wir getrost abwarten können. Ihre Rolle ist es nicht, einer Menschheit in Nöten tröstende Worte zu predigen. Doch auch wenn sie keine Gewissheit über das Zustandekommen des Kommunismus haben (genau deshalb sind sie sich nicht sicher, ob sie ihr Leben für einen Kampf opfern, der am Ende die Möglichkeit des Kommunismus auch Wirklichkeit werden lässt), so müssen sie auf die echte Möglichkeit einer solchen Gesellschaft bestehen - nicht nur auf der Ebene der materiellen Möglichkeiten oder der theoretischen Kapazität der menschlichen Wesen, um in einer solchen Gesellschaft zu leben, sondern auch in Hinsicht auf die Fähigkeit der Menschheit, diesen entscheidenden Sprung vom Kapitalismus zum Kommunismus, die kommunistische Revolution, tatsächlich zu vollziehen.
Das Subjekt der kommunistischen Revolution
Aus dem Scheitern der vergangenen Revolutionen, ob sie zerschlagen wurden wie jene in Deutschland und Ungarn 1919 oder ob sie degenerierten wie in Russland, zieht der Durchschnittsbourgeois die Schlussfolgerung, dass die Revolution unmöglich ist. Er hat eine grimmige Warnung für all jene parat, die sich auf solche Unternehmen einlassen wollen: "Schlimmes widerfährt dem, der aufzubegehren versucht! Und wenn du es dennoch machst - schau, was in Russland passiert ist!" Es ist völlig verständlich, wenn die Bourgeoisie so denkt: Es befindet sich in einer Linie mit ihren Interessen als eine privilegierte, ausbeutende Klasse. Doch dies bedeutet nicht, dass die Bourgeoisie selbst etwa nicht entfremdet ist. Im Gegenteil, wie Marx und Engels schrieben: "Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in ihrer Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz." (Marx/Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW Bd. 2, S. 37)
Doch auch die Arbeiter sind, wie furchtbar ihre Ausbeutung, wie unmenschlich ihre Lebensbedingungen auch immer sein mögen, von solchen Argumenten beeindruckt worden, was so weit ging, dass sie eigentlich jegliche Hoffnung auf ihre eigene Emanzipation haben fahren lassen. Diese Verzweiflung hat alle Arten von Theorien aufblühen lassen, besonders jene von Professor Marcuse (1), derzufolge die Arbeiterklasse nicht mehr eine revolutionäre Klasse sei, sondern in das System integriert sei, so dass die einzige Hoffnung für die Revolution in den Randschichten liege, bei jenen, die aus der heutigen Gesellschaft ausgeschlossen sind, wie die ‚die Jungen', ‚die Farbigen', ‚Frauen', ‚Studenten' oder die Völker der Dritten Welt. Andere gelangten zur Idee, dass die Revolution das Werk einer ‚universellen Klasse' sei, die nahezu jeden in der Gesellschaft um sich sammelt.
Was sich wirklich hinter den Theorien über die "Integration" der Arbeiterklasse verbirgt, das ist eine kleinbürgerliche Geringschätzung der Klasse (daher der Erfolg dieser Theorien im Milieu des intellektuellen und studentischen Kleinbürgertums). Für die Bourgeois und für die Kleinbürger, die in den Fußstapfen Ersterer folgen, sind die Arbeiter nichts anderes als arme Blödmänner, denen es am Willen oder am Intellekt fehlt, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie würden ihr ganzes Leben lang verroht werden: Statt aus ihren Umständen auszubrechen, vertrödelten sie ihre Freizeit in der Kneipe oder vor dem Fernseher, das Einzige, was ihr Interesse wecke, sei das Pokalfinale oder der letzte Skandal. Und wenn sie etwas forderten, dann sei es eine lumpige Lohnerhöhung, damit sie durch die "Konsumgesellschaft" noch entfremdeter werden.
Es ist klar, dass angesichts des offenkundigen Fehlens von Bewegungen der Randschichten, die angeblich die herrschende Ordnung umstürzen sollen, jene, die solchen Theorien anhingen, heute jegliche Perspektive einer Gesellschaftsänderung aufgegeben haben. Die Klügsten unter ihnen werden zu "neuen Philosophen" oder Funktionären der sozialdemokratischen Parteien, die weniger gut Bemittelten driften in den Skeptizismus, die Demoralisierung, Drogen oder in den Selbstmord ab. Hat man einmal begriffen, dass es nicht von "allen gut gesinnten Menschen" (wie die Christen glauben), von der universellen Klasse (wie Invarianz (2) glaubt), von den hoch gerühmten Randschichten oder von den Bauern der Dritten Welt abhängt, wie Mao und Che Guevara behaupteten, dann ist man in der Lage zu sehen, dass die einzige Hoffnung auf eine Regeneration der Gesellschaft in der Arbeiterklasse liegt. Da sie aber eine statische Sichtweise von der Arbeiterklasse haben, glauben die Skeptiker von heute nicht, dass die Arbeiterklasse imstande ist, eine Revolution zu machen.
Schon 1845 entgegneten Marx und Engels auf solche Einwände mit folgenden Worten: "Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (Die heilige Familie..., S. 38)
Wenn man sich die Arbeiterklasse lediglich als eine Summe dessen vorstellt, was die einzelnen Glieder heute sind, dann - nein - wird eine Revolution niemals möglich sein. Doch solch eine Ansicht übersieht dabei zwei fundamentale Aspekte der Realität:
- Das Ganze ist stets mehr als eine Summe seiner Einzelteile.
- Realität ist Bewegung. Die Naturelemente sind genauso wenig wie die Elemente der menschlichen Gesellschaften unveränderlich. Aus diesem Grund sollte man es vermeiden, ein Photo von der gegenwärtigen Situation zu machen und anzunehmen, dies sei ewige Realität. Im Gegenteil, man muss begreifen, was genau dieses "historische Sein" des Proletariats ist, das es zum Kommunismus drängt.
Ausgebeutete Klasse und revolutionäre Klasse
Marx und Engels versuchten in Die heilige Familie, auf diese Frage zu antworten: "Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs, wie die kritische Kritik zu glauben vorgibt, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefasst sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewusstsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muss das Proletariat sich selbst befreien." (S.38) Jedoch ist diese Antwort nicht ganz ausreichend. Diese Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft kann auch auf alle anderen Klassengesellschaften angewendet werden; sie gilt für alle ausgebeuteten Klassen. Diese Passage erklärt, warum das Proletariat, wie alle anderen ausgebeuteten Klasse auch, gezwungen ist aufzubegehren, doch sagt sie nicht, warum diese Revolte zur Revolution führen kann und muss, d.h. zum Sturz der einen Gesellschaft und ihrer Ersetzung durch eine andere, kurzum: warum die Arbeiterklasse eine revolutionäre Klasse ist.
Wie Skeptiker aller Art gerne hervorstreichen, reicht es nicht aus, eine ausgebeutete Klasse zu sein, um revolutionär zu sein. Und in der Tat war in der Vergangenheit das Gegenteil der Fall gewesen. Zu ihren Zeiten waren der Adel, der gegen die Sklavengesellschaft kämpfte, und die Bourgeoisie, die gegen den Feudalismus kämpfte, revolutionäre Klassen. Dies machte sie aber längst nicht zu ausgebeuteten Klassen: Im Gegenteil, sie waren beide ausbeutende Klassen. Andererseits mündeten die Aufstände der ausgebeuteten Klassen in diesen Gesellschaften - Sklaven und Leibeigene - nie in eine Revolution. Eine revolutionäre Klasse ist eine Klasse, deren Vorherrschaft über die Gesellschaft sich in Übereinstimmung mit der Etablierung und Ausweitung der neuen Produktionsverhältnisse befindet, die durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte ermöglicht wurden, zum Schaden der alten, verkümmernden Produktionsverhältnisse.
Da sowohl die Sklavengesellschaft als auch die Feudalgesellschaft nur weitere ausbeuterische Gesellschaften hervorrufen konnten - entsprechend dem Entwicklungsgrad der Produktivkräfte in jenen Epochen -, konnte die Revolution nur angeführt werden:
- von einer ausbeutenden Klasse und
- von einer Klasse, die nicht zu den Besonderheiten der niedergehenden Gesellschaft zählte, während jene Klassen, die es waren, nicht revolutionär sein konnten, entweder weil sie ausgebeutet wurden oder weil sie Privilegien zu verteidigen hatten.
Im Gegensatz dazu kann im Kapitalismus, der die Bedingungen entwickelt hat, die die Eliminierung aller Ausbeutung sowohl möglich als auch notwendig machen, die Revolution nur gemacht werden:
- von einer ausgebeuteten Klasse,
- von einer Klasse, die eine Besonderheit der kapitalistischen Gesellschaft ist.
Das Proletariat ist die einzige Klasse in der heutigen Gesellschaft, auf die beide Kriterien zutreffen; es ist die einzige revolutionäre Klasse in der heutigen Gesellschaft. Somit können wir nun auf den zentralen Einwand antworten, den zu behandeln sich der Artikel vorgenommen hat. Ja, das Proletariat ist eine entfremdete Klasse, betroffen von dem ganzen Gewicht der herrschenden bürgerlichen Ideologie; doch weil es die Masse des gesellschaftlichen Reichtums produziert und weil ihm immer mehr Bürden der kapitalistischen Krise aufgehalst werden, wird es zur Revolte gezwungen sein. Und im Gegensatz zu den Aufständen früherer ausgebeuteter Klassen ist der Aufstand des Proletariats kein verzweifelter: Er enthält in sich selbst die Möglichkeit von Revolution und Kommunismus.
Es könnte der Einwand erhoben werden, dass es Versuche einer proletarischen Revolution bereits gegeben habe, doch dass alle scheiterten. Aber genauso wenig wie die Tatsache, dass die Pest Jahrhunderte lang die Menschheit dezimierte, bedeutete, dass die Menschheit ewig an dieser Geißel litt, kann uns das Scheitern vergangener Revolutionen zum Schluss führen, dass die Revolution unmöglich ist. Was die revolutionäre Welle von 1917-23 hauptsächlich aufhielt, war die Tatsache, dass das Bewusstsein des Proletariats hinter seiner materiellen Existenz hinterher hinkte: Obwohl seine alten Kampfbedingungen obsolet geworden waren, nachdem der Kapitalismus erst einmal seinen Höhepunkt überschritten hatte und in seine dekadente Phase eingetreten war, war sich die Klasse damals dessen nicht bewusst. Daher durchschritt sie eine fürchterliche Konterrevolution, die sie jahrzehntelang zum Schweigen verurteilte.
Und auch wir können nicht so tun, als sei der Sieg sicher. Doch selbst wenn es auch nur den Hauch einer Chance gibt zu gewinnen, ist das, was in den heutigen Kämpfen auf dem Spiel steht, so folgenschwer, dass es, fern jeder Demoralisierung, die Energien all jener mobilisieren sollte, die aufrichtig eine andere Gesellschaftsform anstreben. Fern jeglicher Verachtung, Ignoranz oder Unterschätzung des gegenwärtigen Kampfes der Arbeiterklasse müssen wir die entscheidende Bedeutung dieser Schlachten verstehen. Da das Proletariat sowohl eine ausgebeutete als auch eine revolutionäre Klasse ist, bereiten seine Kämpfe gegen die Auswirkungen der Ausbeutung den Weg zur Abschaffung der Ausbeutung vor; seine Kämpfe gegen die Auswirkungen der Krise ebnen den Weg zur Zerstörung einer Gesellschaft, die sich in der Agonie befindet; und die Einheit und das Bewusstsein, die in diesen Kämpfen geschmiedet werden, sind der Ausgangspunkt für die Einheit und das Bewusstsein, die das Proletariat in die Lage versetzen, den Kapitalismus zu stürzen und eine kommunistische Gesellschaft zu erschaffen. FM
(1) Marcuse war in den 60er Jahren ein Guru der Studentenbewegung und des Drittwelt-Radikalismus.
(2) Invarianz war eine Gruppe, die in den 70er Jahren aus dem Bordigismus entstand und die Idee einer universellen Klasse entwickelte, die an Stelle des Proletariats die Revolution machen solle.
Die lang erwartete Erweiterung der EU auf 25 Länder fand nun am 1. Mai 2004 statt. Und mit ihr natürlich auch grosse Festlichkeiten in den europäischen Hauptstädten. Wie nach dem Gipfel von Maastricht 1991 gab man uns Erklärungen über dieses grosse Europa, “ein Kontinent der endlich in seiner Ganzheit vereint ist” und über seinen Pazifismus(1). Und wegen der Wahlen vom 13. Juni konnten die Fanfaren der Bourgeoisie erneut erklingen. Gepriesen als historische Wende verkörpere die Vergrösserung der EU eine “wunderbare Maschine für den Export von Frieden und Stabilität”, die “prinzipiellen Errungenschaften” und “die bewundernswerte Vollendung Europas”(2).
Dass sich die Bourgeoisie selbst feiert, darf nicht Anlass für Illusionen sein. Wenn die Bourgeoisien sich untereinander verstehen, geschieht das auf Kosten der Arbeiter, ansonsten denken sie ausschliesslich daran sich zu bekämpfen.
Das Voranschreiten der europäischen Integration, welches vom allgemeinen Interesse der Regierungen Osteuropas verlangt wird, um eine Lasur von relativer Stabilität zu schaffen, damit das soziale und wirtschaftliche Chaos, welches durch die Implosion des Ostblocks entstanden ist, gedämmt werden kann, ist weit davon entfernt eine “ Einheit” zu sein. Als Hauptschauplatz von zwei Weltkriegen bildet Europa das Epizentrum der imperialistischen Spannungen, es gab nie die reelle Möglichkeit der Errichtung einer wirklichen Einheit, welche es erlauben würde, die gegensätzlichen Interessen der verschiedenen nationalen Bourgeoisien zu umgehen. Aufgrund seiner geographischen Situation ist Europa in Tat und Wahrheit im 20. Jahrhundert zum Schlüssel des imperialistischen Kampfes um die globale Herrschaft geworden(3).
Die EU, Ausdruck der imperialistischen Spannungen nach dem Zweiten Weltkrieg...
Zu einer gewissen Zeit gab die Teilung der Welt in zwei imperialistische Blöcke Europa eine gewisse Stabilität, als der EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) das Instrument der USA und des Westblocks gegen seinen russischen Rivalen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Errichtung der Europäischen Union von den USA unterstützt, um einen Wall gegen die Ansprüche der UdSSR in Europa zu bilden und um den Zusammenhalt des Westblocks zu verstärken. Obwohl vom amerikanischen “leadership” zusammengehalten und diszipliniert aufgrund der Notwendigkeit der Front gegen den gemeinsamen Feind, haben die bedeutsamen Spaltungen unter den wichtigsten europäischen Regierungen nie aufgehört zu existieren.
Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 hatte die Auflösung des gegnerischen Blocks und die Wiedervereinigung Deutschlands zur Folge, das nun zu einem höheren Rang unter den imperialistischen Mächten aufstieg und dazu entschlossen ist, von dieser Möglichkeit zu profitieren und sich an die Spitze eines potenziellen neuen Blocks gegen die USA zu stellen. Die Gründe für die Staaten des Westblocks “zusammen zu marschieren” sind jedoch unterschiedlich und dieses Phänomen hat seit 15 Jahren gravierend zugenommen. Und, entgegen allem Geschwätz über das unaufhaltsame Streben zur Vereinigung eines grossen Europas, ist die Tendenz viel eher hin zu einer Steigerung der Spannungen und unterschiedlichen Interessen innerhalb Europas.
Die historische Umgestaltung hat erneut den Kampf um die globale Hegemonie und die Neuverteilung der Karten auf dem Kontinent entfacht. Dieser erbitterte Kampf unter den Meistern des Friedens und der Demokratie um die Verteilung der Überreste des ehemaligen Ostblocks führte zum ersten Mal seit 1945, zur Rückkehr des Krieges in Europa Anfang der 90er Jahre in Ex-Jugoslawien (und zur Bombardierung einer europäischen Hauptstadt durch die Mächte der NATO, nämlich Belgrad 1999). Damals stellten sich Frankreich, Grossbritannien und die USA, die untereinander selbst Rivalen sind, zusammen gegen eine deutsche Expansion Richtung Mittelmeer via Kroatien. Auch der Krieg im Irak hat das vollständige Fehlen einer Einheit und die grundsätzlichen Uneinigkeiten und Rivalitäten zwischen den europäischen Nationen gezeigt.
...die sich nach dem Kalten Krieg noch verstärken
Seit 1989 meldet Deutschland unter dem Deckmantel des europäischen Aufbaus unaufhörlich seine imperialistischen Ansprüche auf sein traditionelles Ausdehnungsgebiet “Mitteleuropa” an. Deutschland setzt auf sein wirtschaftliches Gewicht, dem gegenüber die Länder in Osteuropa nichts Gleichwertiges in die Waagschale werfen können, und auf die durch die Erweiterung geschaffene institutionelle Annäherung, um diese Länder an seine Einflusssphäre anzukoppeln. Die deutsche Bourgeoisie stösst dabei aber einerseits auf das Gesetz des Jeder-für-sich, nach welchem sich jede dieser Nationen richtet, andererseits auf die Entschlossenheit der USA, selber auf dem Umweg über die NATO ihren Einfluss geltend zu machen. “Fünf der neuen Mitglieder - Estland, Lettland, Litauen, Slowakei und Slowenien - sind am 29. März in Washington mit grossem Pomp in die NATO aufgenommen worden, ein Monat vor ihrem Beitritt zur EU. Ungarn, Polen und die Tschechische Republik sind schon seit 1999 Teil der Allianz. Die USA führen bereits eine Kampagne zugunsten eines EU-Beitritts von Bulgarien und Rumänien, der beiden weiteren Partner der NATO.” (4) Die USA setzen auf die Länder des “neuen Europa”, um ihren gefährlichsten Rivalen zu lähmen und rechnen damit, dass “sich die EU umso weniger vertiefen wird, je mehr sie sich vergrössert, und dies wird die Bildung eines politischen Gegengewichts zur amerikanischen Vormacht erschweren”(4), wie dies das Tauziehen um die bevorstehende Annahme der EU-Verfassung beweist.
Während Deutschland im Osten trotz des herrschenden Jeder-für-sich seine Möglichkeiten zur Ausdehnung des imperialistischen Einflusses verstärkt, stösst es umgekehrt im Westen sowohl auf Frankreich als auch auf Grossbritannien, die auf die potenzielle Entwicklung des deutschen Imperialismus reagieren müssen.
Grossbritannien hat seinerzeit die Maastrichter Verträge abgelehnt und spielt seither die Rolle des Wasserträgers der USA; es unternimmt alles, um Zwietracht unter den europäischen Mächten zu säen. Grossbritannien ist der wichtigste Beistand der amerikanischen Intervention im Irak, hat aber dadurch nicht nur die Konsequenzen des Misserfolgs der USA mitzutragen, sondern wird in Europa auch zusehends isolierter. Die Entwicklung des irakischen Fiaskos hat die “pro-amerikanische” Koalition zwischen London, Madrid und Warschau zerschlagen, die eigentlich ein Gegengewicht zu den französisch-deutschen Ambitionen hätte darstellen sollen. Das Umschwenken der neuen Regierung von Zapatero auf einen pro-europäischen Kurs und der entsprechende Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak beraubten die Koalition des wichtigsten Partners in Europa. Dieses Überlaufen führte dazu, dass Polen, das gespalten und hin- und hergerissen ist bei der Wahl seiner imperialistischen Ausrichtung, in eine Regierungskrise gestürzt wurde, die mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten und dem faktischen Zusammenbruch der Regierungspartei endete. Trotz aller Schwierigkeiten wird Grossbritannien gezwungen sein, seine Sabotagearbeit gegenüber jedem dauerhaften Bündnis auf dem europäischen Festland fortzusetzen.
Frankreich träumte seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts davon, sich der amerikanischen Vormundschaft zu entledigen, und wird nie akzeptieren, dass sich Deutschland ein Europa nach seinen Wünschen zusammenzimmert. Erst recht wird sich Frankreich nicht mit der untergeordneten Rolle abfinden, die ihm Deutschland im Rahmen der europäischen Erweiterung vorbehalten will. Deshalb hofft Frankreich, dass es in der Verstärkung und Erweiterung der EU die Mittel finden wird, um eine “gemeinschaftliche” Kontrolle sicherzustellen, die den deutschen Ehrgeiz zügelt. Aus diesem Grund knüpft Frankreich auch wieder die “historischen” Verbindungen zu Polen und Rumänien und greift neuerdings ebenfalls auf die Beziehungen zu Russland zurück, die bereits entstanden waren, als es darum ging, sich gemeinsam der amerikanischen Intervention im Irak zu widersetzen. Russland ist übrigens absolut an diesem “Bündnis” mit Frankreich interessiert, da es selber Anlass zur Besorgnis angesichts des Verlustes seiner Einflusssphäre in Osteuropa hat; die EU und die NATO haben sich ja mittlerweile bis an die russischen Staatsgrenzen ausgeweitet. So zielt es darauf ab, Deutschland vom Westen und vom Osten her in die Zange zu nehmen. Innerhalb der EU mobilisiert sich Frankreich, um den Einfluss auf die südeuropäischen Länder, insbesondere Spanien, angesichts der Vormachtstellung Deutschlands zurück zu gewinnen. Und wenn Frankreich die britischen Angebote zur Entwicklung der europäischen Verteidigung und zum gemeinsamen Bau eines Flugzeugträgers annimmt, so geschieht dies mit der Absicht, den Trumpf der militärischen Stärke, welche Deutschland eben nicht hat, diesem Land gegenüber in den Händen zu behalten.
Wie passen diese Umstände zur ganzen Kampagne über die “europäische Einheit”? Die Propaganda ist ideologischer Natur und soll die Illusionen über die kapitalistische Welt aufrecht erhalten, die in Tat und Wahrheit aus allen Poren nach Verwesung und Elend stinkt.
Der Sog zum Chaos und das Gesetz des “Jeder-für-sich” sind keineswegs ein den Ländern des ehemaligen Ostblocks und der “Dritten Welt” vorbehaltenes Schicksal. Mit dem Verschwinden der beiden Blöcke wurde das Tor zu einer Entfesselung von neuen Kriegen aufgestossen, in denen jeder gegen jeden kämpft; Europa befindet sich im Zentrum der imperialistischen Gegensätze, was schon für sich allein jeden Gedanken an eine Einheit der verschiedenen nationalen Kapitale illusorisch macht. Vielmehr führt die Logik der geschilderten Entwicklung dazu, dass Europa letztlich der Schauplatz der imperialistischen Auseinandersetzung bleiben wird: Auf der einen Seite steht die Entschlossenheit der USA, ihre Überlegenheit auf der ganzen Welt um jeden Preis aufrecht zu erhalten, wobei Grossbritannien zur eigenen Interessenwahrung im Kielwasser der USA fährt; auf der anderen Seite wächst die Macht von Deutschland an, das sich je länger je mehr als Rivale der USA emporarbeitet.
(1) Le Monde, 2/3. Mai 2004
(2) Le Monde 4. Mai 2004
(3) siehe Internationale Revue Nr. 31, “Europa: Wirtschaftsbündnis und Terrain imperialistischer Manöver”
(4) Le Monde vom 29. April 2004
Scott (aus Révolution Internationale Nr. 347)
Öffentliche Diskussionsveranstaltung des IBRP in Paris (2. Teil) Politische Leere und mangelnde Methode des IBRP
In dem ersten Teil dieses Artikels zur öffentlichen Veranstaltung des IBRP in Paris am 2. Oktober zum Thema „Warum der Krieg im Irak?“ (unsere Leser finden den ersten Teil auf unserer Webseite im Internet) haben wir aufgezeigt, wie die prinzipienlose Umgruppierungspolitik des IBRP diese linkskommunistische Organisation dazu geführt hat, dass das IBRP von einer parasitären Gruppe (einer selbsternannten ‚Internen Fraktion der IKS‘) als Geisel genommen wird (). In diesem zweiten Teil des Artikels wollen wir über die Debatte zum Irakkrieg berichten.
Öffentliche Diskussionsveranstaltung des IBRP in Paris (2. Teil) Politische Leere und mangelnde Methode des IBRP
In dem ersten Teil dieses Artikels zur öffentlichen Veranstaltung des IBRP in Paris am 2. Oktober zum Thema „Warum der Krieg im Irak?“ (unsere Leser finden den ersten Teil auf unserer Webseite im Internet) haben wir aufgezeigt, wie die prinzipienlose Umgruppierungspolitik des IBRP diese linkskommunistische Organisation dazu geführt hat, dass das IBRP von einer parasitären Gruppe (einer selbsternannten ‚Internen Fraktion der IKS‘) als Geisel genommen wird[1]. In diesem zweiten Teil des Artikels wollen wir über die Debatte zum Irakkrieg berichten.
Wir haben (insbesondere in unserer Presse) immer die Notwendigkeit betont, dass die Organisationen, welche sich auf die Kommunistische Linke berufen, eine öffentliche Debatte führen, ihre jeweiligen Positionen den anderen gegenüberstellen, damit die nach einer Klassenperspektive suchenden Leute sich eine klare Vorstellung von den verschiedenen im proletarischen Lager vorhandenen Positionen machen können.
Eine Analyse mit variabler Geometrie?
Obgleich das IBRP (wie die Organisationen, die es gegründet haben, die IntKP und die CWO) immer den proletarischen Internationalismus gegenüber den schlimmsten, von der Bourgeoisie verübten nationalistischen Horrortaten verteidigt hat, erfasste seine Analyse der verschiedenen kriegerischen Konflikte während der letzten 20 Jahre überhaupt nicht das Wesentliche. Bezüglich des gegenwärtigen Irakkrieges hat das IBRP in seinem Einleitungsreferat die Analyse wiederholt, der zufolge dieser neue Krieg auch eine ökonomische Rationalität verfolge (die Ölrente und die Kontrolle der Ölquellen durch die USA). Diese Analyse hatte das IBRP schon in der Vergangenheit vertreten, insbesondere während des Afghanistankrieges 2001.
„Die USA brauchen den Dollar als gültige Währung im internationalen Handel, wenn sie ihre Stellung als globale Supermacht bewahren wollen. Vor allem sind die USA verzweifelt darum bemüht sicherzustellen, dass der internationale Ölhandel auch weiterhin primär in Dollars abgewickelt wird. Dies bedeutet, bei der Bestimmung der Routen für die Öl- und Gaspipelines und vor allem bei der Beteiligung von kommerziellen US-Interessen an der Ausbeutung der Quellen das letzte Wort zu haben. Dies steckt dahinter, wenn offen kommerzielle Entscheidungen durch die sie überwölbenden Interessen des US-Imperialismus als Ganzes gemäßigt werden, wenn der amerikanische Staat politisch und militärisch für langfristige Ziele eingespannt wird, Ziele, die sich oft gegen die Interessen anderer Staaten und in steigendem Maße gegen jene ihrer europäischen ‚Verbündeten‘ richten. Mit anderen Worten, dies ist der Kern der imperialistischen Konkurrenz im 21. Jahrhundert“ (zitiert aus Revolutionary Perspectives Nr. 23, in Internationale Revue Nr. 29, S. 29).
Auch während des ersten Golfkrieges 1991 hatte das IBRP eine ähnliche Analyse verfochten: „Die Golfkrise ist wirklich wegen des Öls und der Frage, wer das Öl kontrolliert, ausgebrochen. Ohne billiges Öl werden die Profite fallen. Die Profite des westlichen Kapitalismus werden bedroht, und aus diesem Grund – und keinem anderen – bereiten die USA ein neues Blutbad im Mittleren Osten vor“ (International Review Nr. 64, engl. Ausgabe).
In Anbetracht der nicht zu leugnenden Entwicklung der Wirklichkeit ist das IBRP aber hinsichtlich des Irak-Kriegs dazu gezwungen gewesen, seine Analyse ein wenig zu ändern. So hat das IBRP in seinem Einleitungsreferat drei Hauptgründe erwähnt, die die Auslösung dieses neuen Krieges erklären sollen:
1)geostrategische Gründe;
2)die Verteidigung des Dollars als dominante Währung und die Ölrente;
3)die Kontrolle der Ölförderung während der nächsten 20 Jahre.
Nach dem Einleitungsreferat hat die IKS das Wort ergriffen, um aufzuzeigen, dass die amerikanische Offensive hauptsächlich strategische Ziele verfolgt. Während die Frage des Öls eine wichtige Rolle spielt, ist dies hauptsächlich nicht auf ökonomische Faktoren zurückzuführen, sondern vornehmlich auf strategische und militärische. Wir haben daran erinnert, dass das Öl nicht erst seit heute und auch nicht erst seit den 1960er Jahren strategisch wichtig ist, sondern seit der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, als die Armeen mechanisiert wurden.
In unseren Redebeiträgen haben wir unterstrichen, dass das Einleitungsreferat des IBRP insofern einen gewissen Fortschritt des IBRP darstellt, als dieses bei der Liste der Ursachen der amerikanischen Offensive im Irak an erster Stelle „geostrategische“ Faktoren nannte. Trotz seiner mechanistischen und reduktionistischen Auffassung hinsichtlich der Verbindung zwischen Wirtschaftskrise und Krieg (ein Merkmal des Vulgärmaterialismus), kann das IBRP nicht völlig die Augen verschließen vor nicht zu leugnenden Tatsachen: Mehr als 10 Jahre später sind die Transportwege des Öls im Afghanistan durch den Krieg nicht sicherer geworden, sondern im Gegenteil zum Teil zerstört.
Leider waren wir ein wenig zu optimistisch, als wir behaupteten, dass das IBRP bei seinen Analysen einen gewissen Fortschritt gemacht habe.
Der Genosse des IBRP, der das Einleitungsreferat vorgetragen hatte, hat unseren Redebeitrag ‚korrigiert‘, als er behauptete, wir hätten den Inhalt des Einleitungsreferates nicht richtig gehört (oder nicht richtig verstanden), denn egal in welcher Reihenfolge die Ursachen erläutert worden seien, die ‚strategischen Ursachen‘ der US-Offensive im Irak seien aus der Sicht des IBRP zweitrangig. Der Genosse meinte gar, das IBRP hätte uns das Einleitungsreferat schriftlich zur Verfügung stellen sollen, damit wir jedes ‚Missverständnis‘ vermeiden. Nach der Diskussionsveranstaltung hat das IBRP auf seiner Webseite dieses Einleitungsreferat veröffentlicht. Dort kann der Leser nachlesen und sich davon überzeugen, dass der Hauptfaktor, den das IBRP als Erklärung vorgetragen hatte, sehr wohl der ist, den wir vernommen hatten: „Wenn das schwarze Gold bei den Überlegungen Washingtons gegenüber dem Irak einfließt, dann eher aus strategischen als aus ökonomischen Gründen. Durch diesen Krieg soll eher die US-Hegemonie verewigt – und somit Garantien für die Zukunft aufgebaut werden – als sofort die Gewinne von Exxon zu steigern.“ Das kann man klarer nicht ausdrücken (und wir sind mit dieser Analyse voll einverstanden)!
So hat dieser kleine Winkelzug des IBRP, zu behaupten, die IKS habe „schlecht gehört“ oder „schlecht verstanden“, es dem IBRP während der ganzen Diskussion ermöglicht, der Frage der „strategischen Ursachen“ des Irakkriegs auszuweichen. In Wirklichkeit versuchte das IBRP dadurch zu vertuschen, dass seine Analysen „geometrisch variabel“ sind oder dass die Genossen des IBRP nicht alle mit den 'offiziellen‘ Analyen ihrer eigenen Organisation einverstanden sind.
Die Argumente der IKS
In unseren Redebeiträgen haben wir betont, dass der Krieg seit dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus anfangs des 20. Jahrhunderts jegliche ökonomische Rationalität für das Kapital als Ganzes, aber auch mehr und mehr für jeden einzelnen Staat verloren hat. Wir haben daran erinnert, dass das Konzept der Dekadenz keine Erfindung der IKS ist, da auch die Kommunistische Internationale 1919 dieses Konzept vertreten hat. Auch ist die Analyse der Irrationalität des Krieges im Zeitraum der Dekadenz keine tolle Erfindung der ‚Idealisten‘ der IKS. Schon die Kommunistische Linke Frankreichs (Gauche Communiste de France – GCF), auf die sich die IKS immer berufen hat, hatte diese Analyse schon vertreten, als sie behauptete, dass in der Niedergangsphase des Kapitalismus "die Produktion im Wesentlichen auf die Produktion von Zerstörungsmitteln ausgerichtet ist, d.h. im Hinblick auf den Krieg. Der Niedergang der kapitalistischen Gesellschaft spiegelt sich am deutlichsten in der Tatsache wider, dass die Kriege nicht mehr wie in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus die wirtschaftliche Entwicklung fördern, sondern dass die Wirtschaft in der Dekadenz hauptsächlich auf den Krieg ausgerichtet ist“ (Bericht auf der Konferenz der GCF, Juli 1944, zitiert in „Der historische Kurs“, Internationale Revue Nr. 5).[2]
Wir haben ebenso verdeutlicht, wie das IBRP, wenn es das – auf ökonomischer Ebene - irrationale Wesen des Krieges in der Dekadenz und ihre zunehmende Irrationalität in der Endphase dieses Niedergangs (die Zerfallsphase des Kapitalismus) verwirft, keinen Unterschied mehr macht zwischen der Funktion der Kolonialkriege und dem Aufbau der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert einerseits und den Kriegen, die seit 1914 die Welt verwüstet haben, andererseits.
Wir haben daran erinnert, dass im 19. Jahrhundert die Kriege „rentabel“ waren. Sie erfüllten eine ökonomische Rationalität (da sie die Ausdehnung des Kapitalismus auf den ganzen Erdball ermöglichten), während sie im 20. Jahrhundert einen immer irrationaleren Charakter annahmen. Und dies ist heute noch offensichtlicher: Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase (die mit dem Auseinanderbrechen der beiden, aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangenen imperialistischen Blöcke eröffnet wurde) hat diese Irrationalität auf wirtschaftlicher Ebene eine höhere Stufe erreicht, wie die Lage auf dem Balkan oder in Tschetschenien zeigt.
So wird die 1945 auf der Konferenz von Jalta festgelegte Weltordnung heute ersetzt durch einen Zeitraum des weltweiten Chaos, wo auf imperialistischer Ebene ‚jeder für sich‘ kämpft.
Die Kurzsichtigkeit des IBPR führt dazu, dass es nicht sieht, wie die imperialistische Logik des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase immer mehr nur der eigenen Logik folgt: Der grenzenlosen Flucht nach vorn in den Krieg und eine wachsende Barbarei.
Die Redebeiträge der IKS haben ebenso die Folgen der Analyse des IBRP aufgezeigt, der zufolge der Krieg der USA gegen den Irak noch eine ökonomische Rationalität besäße (insbesondere die berühmte ‚Ölrente‘). Diese Auffassung lässt in Wirklichkeit das IBRP die wirklichen Gefahren der gegenwärtigen historischen Lage (das blutige Chaos entfaltet sich immer mehr) unterschätzen und damit das, was für die Arbeiterklasse und die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht.
Wir haben in dieser Diskussionsveranstaltung ebenso an den Rahmen erinnert, anhand dessen die IKS die Ursachen dieses neuen Krieges im Irak festmacht: „Auf dem Hintergrund des Bankrotts des Kapitalismus und des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft zeigt uns die Wirklichkeit, dass die einzige mögliche Politik einer jeden Großmacht darin besteht, den anderen Schwierigkeiten zu bereiten, um zu versuchen, ihnen die eigenen Interessen aufzuzwingen. Dies sind die kapitalistischen Gesetze. So sind diese sich immer mehr ausdehnende Instabilität, die wachsende Anarchie und das Chaos keine Besonderheit dieses oder jenes exotischen oder rückständigen Gebietes der Erde, sondern das Ergebnis des Kapitalismus in der gegenwärtigen unumkehrbaren Zerfallsphase. Und da der Kapitalismus die Welt beherrscht, wird die ganze Welt mehr und mehr diesem Chaos unterworfen“ (Internationale Revue, Nr. 118).
Die mangelnde Ernsthaftigkeit der Argumente des IBRP
Das IBRP war nicht in der Lage, auf unsere Argumente mit einem Mindestmaß an Ernsthaftigkeit zu antworten. Was unsere Analyse des Zerfalls des Kapitalismus angeht, war das einzige politische Argument, das man vom IBRP hören konnte, dass es erneut den ‚Idealismus‘ der IKS mit einem unpassenden Sarkasmus anprangerte, als einer ihrer Vertreter sagte, „mit eurer Analyse des Zerfalls findet man alles zusammengeworfen in einem Topf, Chaos, Gott, die Engel...“!
Aber das ist nicht alles. Wir waren verblüfft, Argumente zu hören, bei denen sich Marx und Engels im Grabe herumgedreht hätten.
1) Wir stellten die Frage: „Vertritt das IBRP heute noch den Standpunkt, wenn ein Dritter Weltkrieg vor dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht stattgefunden hat, dann deshalb, weil es Atombomben und ein ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ gab?“ Anfänglich wollte kein Mitglied des IBRP auf unsere Frage antworten. Und erst nachdem wir die Frage zum dritten Mal gestellt hatten, hat ein Genosse des IBRP die Güte gehabt uns sehr knapp zu antworten, ohne auch nur irgendein Argument zu liefern: Das Gleichgewicht des Schreckens sei ‚einer der Faktoren‘, der erklärt, weshalb die Bourgeoisie einen dritten Weltkrieg nicht auslösen konnte... Kurzum, die klassische Analyse der herrschenden bürgerlichen Kreise, die jahrzehntelang gegenüber den Arbeitern den furchtbaren Rüstungswettlauf im Namen des ‚Schutzes des Friedens‘ gerechtfertigt haben. Wir verzichten auf jeden Kommentar!
Alle bei dieser Diskussionsveranstaltungen anwesenden suchenden Leute, die Zeuge wurden, wie das IBRP die Allgemeinheiten der bürgerlichen Propaganda wiederkäute, kamen bei diesem Treffen nicht auf ihre Kosten. Am Ende des Treffens waren sie nicht schlauer darüber, was „die anderen Faktoren“ waren, die ein Hindernis für die Auslösung eines dritten Weltkriegs darstellten (und vor allem, welcher ausschlaggebend ist). Dagegen hat die IKS auf dem Treffen unterstrichen, dass der Hauptfaktor darin besteht, dass seit dem Ende der 1960er Jahre ein neuer historischer Kurs (hin zu verstärkten Klassenzusammenstößen) eröffnet wurde, womit der lange Zeitraum der Konterrevolution zu Ende ging, unter der das Proletariat nach der Niederlage der revolutionären Welle von Kämpfen 1917-23 gelitten hat. Wenn ein dritter Weltkrieg nicht ausgebrochen ist, dann nicht, weil es Atomwaffen und ein ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ gab, sondern weil die Arbeiterklasse nicht bereit war, ihr Leben für ein Vaterland zu opfern.
2)Hinsichtlich der marxistischen Analyse der Dekadenz des Kapitalismus antwortete uns ein Sprecher des IBRP folgendes: „Ich habe genug davon, seit 25 Jahren mit der IKS zu diskutieren.“ Tatsächlich ist die IKS so ‚engstirnig‘, dass sie immer noch nicht das ABC des Marxismus begreifen will, der uns (nach der Aussage des Sprechers des IBRP) lehrt, dass „man im Kapitalismus zwei Dinge unterscheiden muss: die Gesellschaftsformation und die Produktionsform. Man kann sagen, dass es eine Dekadenz der Gesellschaftsformation gibt (auch wenn ich den Begriff ‚Dekadenz‘ nicht mag), aber die Produktionsform ist nicht dekadent. Denn wenn es keine gesellschaftliche Revolution gibt, werden die beiden weiterhin fortbestehen, mit einem Versinken der Gesellschaft in der Barbarei.“
Vorsichtig formuliert (es stimmt, wenn es zu keiner Revolution kommt, versinkt die Gesellschaft in der Barbarei) hat das IBRP in aller Ruhe behauptet, dass der Kapitalismus als ‚Gesellschaftssystem‘, d.h. auf der Ebene des Überbaus (herrschende Ideologie, Kultur, Freizeit, Sitten, Moral usw.) dekadent sein könnte, aber nicht als ‚Wirtschaftssystem‘, d.h. auf der Ebene der Basis (auf der Ebene der Produktionsform und der Art und Weise, wie die Menschen sich organisiert haben, um für ihre Existenz zu produzieren).
Im Namen des Marxismus, des ‚Materialismus‘ und natürlich gegen die ‚idealistische‘ Auffassung der IKS, wurde der IKS solch eine Lektion der ‚Dialektik‘ erteilt. Wir wollen es Marx überlassen, solchen Unfug zu widerlegen: „Hieraus geht hervor, dass eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine ‚Produktivkraft (...) Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewussteins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens “ (Deutsche Ideologie, MEW, Bd 3, S. 30 u. S. 26). So scheint das IBRP die „Sprache des wirklichen Lebens“ zu ignorieren. Aber wie Spinoza meinte, ist „Unwissenheit kein Argument“!
Aus marxistischer Sicht beeinflusst der Aufstieg wie der Niedergang einer Produktionsform alle Aspekte der Gesellschaft, denn der Zustand der Basis (die Wirtschaft) bestimmt den des Überbaus (das Gesellschaftsleben), auch wenn die Entwicklung oder der Rückschritt einer Zivilisation sich nicht gleichmäßig in allen Bereichen entfaltet. Das Gegenteil zu behaupten ist weder materialistisch noch marxistisch. Damit verfällt man dem dümmsten Idealismus.
3)Während der Diskussion hat einer unserer Sympathisanten das IBPR gefragt: „Wenn man eurer Analyse des Zyklus „Krise, Expansion, neue Krise usw. folgt, was haltet ihr von den nationalen Befreiungskämpfen? Wären sie heute noch unterstützenswert? Heißt dies, dass die Gewerkschaften noch Arbeiterorganisationen sind?“
Auf die Frage nach den nationalen Befreiungsbewegungen hat das IBRP überhaupt nicht geantwortet. Dagegen hat ein Genosse des Präsidiums behauptet, wenn das IBRP keine Arbeit in den Gewerkschaften befürwortet, dann „weil die Erfahrung bewiesen hat, dass man da nichts ausrichten kann, aber nicht weil der Kapitalismus dekadent wäre.“ Wir haben danach das IBRP gefragt, ob es damit die Position der IntKP von 1947 verwirft, die in ihren „Thesen zu den Gewerkschaften heute und kommunistische Aktivitäten“ (die auf dem 4. Kongress der IntKP verabschiedet wurden) unterstrich: „In der gegenwärtigen Phase der Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft sind die Gewerkschaften ein wesentliches Instrument der konservativen Politik und deshalb übernehmen sie genau die Funktion eines staatlichen Organismus“ (von der IKS hervorgehoben).
Der Genosse des Präsidiums, der auf die Frage nach dem Wesen der Gewerkschaften geantwortet hatte, schien sehr überrascht zu sein, dass das IBRP oder die IntKP solch eine Auffassung vertreten konnte. Offensichtlich schien er diese programmatische Position seiner eigenen Organisation erst zu entdecken (obwohl diese doch auch auf der Webseite des IBRP veröffentlicht ist)!
Jedenfalls kann die Infragestellung der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus, so wie sie von der Kommunistischen Internationale formuliert wurde, das IBRP nur dazu bringen, gewisse Positionen seiner eigenen Plattform zu ‚revidieren‘.
Die mangelnde Ernsthaftigkeit in der Debatte
Abgesehen von unseren Redebeiträgen in der Debatte und den von unseren Sympathisanten gestellten Fragen (auf die das IBRP entweder nicht oder zumindest sehr konfus geantwortet hat) wollen wir auf den Redebeitrag eines Anhängers des rätistischen Milieus (den wir seit langem kennen) hinweisen. Er kritisierte vor allem unsere Auffassung von der Dekadenz des Kapitalismus (die sich auf die Theorie der Sättigung der Märkte, wie sie von Rosa Luxemburg in der „Akkumulation des Kapitals“ entwickelt wurde, stützt). Auch er wollte uns erneut eine „Lektion in Marxismus“ erteilen, indem er behauptete, dass der Kapitalismus heute noch in der Phase der erweiterten Akkumulation stecke, wie beispielsweise die beeindruckende Entwicklung in China zeige.
Dieser Analyse (die heute von den ‚Experten‘ der herrschenden Klasse weit verbreitet wird) wurde von Seiten des IBRP nicht kritisiert. Die IKS hat deshalb das Wort ergriffen, um aufzuzeigen, dass die angebliche „wirtschaftliche Expansion“ Chinas auf Sand gebaut ist (siehe dazu den Artikel in Weltrevolution Nr. 127).
Einer der beiden Anhänger der IFIKS wollte in seinem langen (unverständlichen und völlig zusammenhanglosen) Beitrag aufzeigen, dass die Analyse der IKS (und auch der Komintern) von der Dekadenz des Kapitalismus absurd sei und außerhalb des Marxismus stünde.
Ebenso aufschlussreich waren die ‚Leistungen‘ der beiden ‚Tribunen‘ der IFIKS, die alles daran setzten, nicht zur Analyse des IBRP, wie sie vom Präsidium vertreten wurde, Stellung zu beziehen, sondern versuchten, die IKS-Analyse ‚auseinander zu nehmen‘[3].
Die mangelnde Ernsthaftigkeit der IFIKS wurde erneut durch das Verhalten von zwei ihrer Mitglieder (und ihrer beiden Anhänger) unter Beweis gestellt, die anstatt das Wort zu ergreifen, um eine politische Argumentation zu entwickeln, sich während des ganzen Treffens damit zufrieden gaben, zu grinsen und eine sarkastische Haltung an den Tag zu legen (und gar Beifall gegenüber den Kritiken an der IKS zu spenden, als ob diese Leute gekommen wären, um einem Fußballspiel beizuwohnen!). Diese mangelnde Ernsthaftigkeit hat übrigens auf dem Treffen die Teilnehmer, die sich auf der Suche nach Klärung befinden, zutiefst schockiert. Einer von ihnen hat das Wort ergriffen und gesagt, dass solch eine Haltung auf einem politischen Treffen ihn nicht dazu „ermutigt habe, sich an der Diskussion zu beteiligen“.
Es liegt auf der Hand: Wenn die IKS nicht anwesend gewesen wäre und keinen Diskussionsstoff geliefert hätte, hätte es keine kontroverse Debatte gegeben, keine Auseinandersetzung über die verschiedenen Positionen. Die IFIKS (die behauptet, „die wahre Verteidigerin der Plattform der IKS“ zu sein), hat sich davor gehütet, irgendeine Divergenz oder irgendeine Kritik an den Analysen des IBRP zur Sprache zu bringen. Zum Konzept der Dekadenz (das das IBRP ‚neu definiert‘, tatsächlich aber verwirft) haben die Mitglieder der IFIKS keinen Ton gesagt. Genauso haben sie schamhaft jede Auseinandersetzung mit dem IBRP zur Frage, warum die Bourgeoisie vor dem Zusammenbruch des Ostblocks keinen dritten Weltkrieg auslösen konnte, vermieden.
Deshalb ist die angebliche Öffnung hin zur öffentlichen Debatte, für die ‚Klärung‘ und die ‚Auseinandersetzung‘ der verschiedenen Standpunkte innerhalb des proletarischen Lagers, den die IFIKS beansprucht, nur ein Bluff, angereichert mit einer entsprechenden Portion Heuchelei. In Wirklichkeit ziehen das IBRP und die IKIKS, die eine ‚Einheitsfront gegen die IKS‘ errichten wollen, es vor, ihre Divergenzen zu verheimlichen und sie in ‚privaten‘ Treffen zu besprechen!
Wenn wir uns auf überhaupt keine ‚Debatte‘ mit den Leuten von der IFIKS (trotz ihrer provozierenden Redebeiträge) einlassen wollten, dann weil die IKS zu einer Veranstaltung des IBRP gegangen ist, und weil wir diese Leute der IFIKS daran hindern wollten, dass sie die Debatte sabotieren. Deshalb haben wir das Wort ergriffen, um auf die Argumente des IBRP zu antworten, nicht aber auf die der selbsternannten ‚Fraktion‘, die sich wie eine Diebesbande verhält (indem sie Material und Geld von der IKS gestohlen haben).
Und weil die IKS keine Angst vor der öffentlichen Auseinandersetzung über die Divergenzen mit dem IBRP hat, haben wir uns an dem Treffen beteiligt. Deshalb stimmen wir nicht mit der Position des IBRP überein (die auch am Ende des Treffens wiederholt wurde), der zufolge die Debatte zwischen der IKS und dem IBRP ‚zu nichts dient‘. Wir vertreten die Auffassung, dass öffentliche Debatten kein Wettkampf zwischen den Gruppen der Kommunistischen Linken sind, um zu wissen, wer der ‚Stärkere‘ ist oder wer am meisten Leute ‚erobert‘. Wenn wir für die öffentliche Debatte dieser Divergenzen eintreten, tun wir dies, um den suchenden Leuten zu ermöglichen, dass sie nicht nur die Positionen der IKS kennen, sondern auch die anderer Gruppen des proletarischen Lagers. Nur so können sie für sich selbst eine Klärung herbeiführen und auch entscheiden, in welcher Gruppe sie als Militante mitarbeiten wollen.
Gegenüber den nach einer Klassenperspektive suchenden Leuten ist es die Aufgabe der revolutionären Organisationen, Antworten auf all ihre Fragen zu liefern, sie mit einem Höchstmaß an Klarheit und Ernsthaftigkeit zu überzeugen. Ebenso müssen sie in ihren öffentlichen Veranstaltungen die Ernsthaftigkeit der politischen Debatte verteidigen, indem sie jegliche parasitäre Haltung verwerfen, die darin besteht, die Debatten durch Sarkasmen, Gekicher oder Beifall zu stören.
IKS, 18. 10.2004
Fußnoten:
1. Aus Platzgründen und um das Gleichgewicht unserer Zeitung nicht zu beeinträchtigen, veröffentlichen wir in unserer Zeitung nicht den ersten Teil des Artikels „Das IBRP – von Dieben als Geisel genommen“ (den wir auf unserer Webseite veröffentlicht haben). Wenn jedoch jemand keinen Zugang zum Internet hat, können wir ein gedrucktes Exemplar des ersten Teils des Artikels zuschicken. Wir schicken dann ebenfalls eine Kopie der Antwort, die das IBRP auf seiner Webseite mit dem Titel „Antwort auf eine auseinanderbrechende Organisation“ veröffentlicht hat.
2. Ein Mitglied der IFIKS versuchte in einem Redebeitrag unsere Auffassung von der Irrationalität des Krieges ‚lächerlich‘ zu machen, indem er uns ‚Revisionismus‘ vorwarf und uns gar vorhielt, wir seinen „Kautskyaner“! In Wirklichkeit sind diese Leute von der angeblichen ‚Fraktion‘ die wahren ‚Revisionisten‘, da sie heute die von der GCF entwickelte Analyse, auf die sich die IKS immer berufen hat, verwerfen. Somit verwerfen heute diese Renegaten, die von sich behaupten, ‚die wahren Verteidiger der programmatischen Positionen der IKS‘ zu sein, diese Grundposition unserer Plattform (um dem IBRP zu schmeicheln), auf den sich unser Rahmen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus stützt.
3. Und um die ‚kautskyschen‘ und ‚revisionistischen‘ Analysen der IKS zu bekämpfen, hörte man diejenigen, die das IBRP als die ehemaligen „Führer der alten Garde der IKS“ (sic!) bezeichnet, ‚Argumente‘ vorbringen, die an Kretinismus grenzen. So konnte man (neben anderen ‚Perlen‘ aus dem Mund der IFIKS) vernehmen: „Der Krieg im Irak stellt einen enorm wichtigen ökonomischen Gewinn für die USA dar“!; Im irakischen Morast „verstärkt die US-Armee ihre Position“. „Bevor es die Frage des Krieges begreifen kann, muss das Proletariat unter dem Krieg leiden und ihn an seinem eigenen Leib erleben“. Ohne Kommentar!
Am Samstag, 2. Oktober, wurde in Paris eine öffentliche Veranstaltung des IBRP zum Thema „Warum der Krieg im Irak?“ durchgeführt. Die IKS begrüßte diese Initiative des IBRP, wie sie auch die Abhaltung der öffentlichen Veranstaltungen in Berlin begrüßt hatte, über die wir in unserer Presse berichteten (vgl. Weltrevolution Nr. 124 und 125). Aber diese öffentliche Veranstaltung des IBRP in Paris stellte eine Besonderheit dar im Vergleich zu denjenigen, die in Deutschland durchgeführt worden waren: Ihre Abhaltung wurde nämlich beschlossen und organisiert durch eine parasitäre Gruppe, die sich selbst „Interne Fraktion der IKS“(IFIKS) nennt und dies lauthals in der in der Öffentlichkeit kundtut.
Am Samstag, 2. Oktober, wurde in Paris eine öffentliche Veranstaltung des IBRP[1] zum Thema „Warum der Krieg im Irak?“ durchgeführt. Die IKS begrüßte diese Initiative des IBRP, wie sie auch die Abhaltung der öffentlichen Veranstaltungen in Berlin begrüßt hatte, über die wir in unserer Presse berichteten (vgl. Weltrevolution Nr. 124 und 125). Aber diese öffentliche Veranstaltung des IBRP in Paris stellte eine Besonderheit dar im Vergleich zu denjenigen, die in Deutschland durchgeführt worden waren: Ihre Abhaltung wurde nämlich beschlossen und organisiert durch eine parasitäre Gruppe, die sich selbst „Interne Fraktion der IKS“(IFIKS) nennt und dies lauthals in der in der Öffentlichkeit kundtut.
Es ist diese Besonderheit, die es rechtfertigt, dass wir zunächst, d.h. vor dem Bericht über den Verlauf der Debatte und über die ausgetauschten Argumente zwischen IBRP und IKS betreffend die Analyse des Irakkrieges, einen ersten Teil dieses Artikels der Frage der „Zusammenarbeit“ zwischen IBRP und IFIKS widmen, die im Bulletin Nr. 27 der IFIKS (vgl. den „Bericht über eine Diskussion zwischen IBRP und der Fraktion“) angekündigt wurde.
Diese Frage zu behandeln scheint uns umso wichtiger, als der auf ihrer Website veröffentlichte Aufruf diese Veranstaltung wie folgt ankündigte:
„Seit dem Beginn der Krise, die die IKS gegenwärtig durchmacht und die die Gelegenheit der Bildung der „internen Fraktion“ dieser Organisation dargestellt hat, haben wir immer wieder eine peinliche Tatsache zu unterstrichen - eine ernsthafte Schwächung eines wichtigen proletarischen politischen Pols -, die sich vor allem in der Region von Paris darin ausgedrückt hat, dass die angeblich für das Publikum „offenen“ Veranstaltungen verödet oder für gewisse Leute verboten und insbesondere keine Orte der Debatte und der Konfrontation der Gesichtspunkte in der Arbeiterklasse mehr sind.
Wir haben auch unterstrichen, dass die Verstärkung und Umgruppierung der revolutionären Kräfte des proletarischen Lagers, die angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen Lage nötig sind, heute nur noch um den einzigen ernsthaften Pol: das IBRP stattfinden kann (...)
Auf unseren Vorschlag hin und mit unserer politischen und materiellen Unterstützung, wird das IBRP in Paris eine öffentliche Veranstaltung durchführen (von der wir hoffen, dass es lediglich die erste von mehreren sein wird), an der teilzunehmen wir unsere Leser aufrufen.“ (Hervorhebungen von uns)
Es fällt auf, dass es die IFIKS mit diesem öffentlichen Aufruf nicht für nötig befunden hat, auch nur einen Satz der Analyse oder Ablehnung des Irakkrieges zu schreiben (im Gegensatz zu dem, was im Einladungs-Flugblatt des IBRP stand). Dieser Aufruf ist vielmehr nur einer einzigen Frage gewidmet: Wie kann man in der französischen Hauptstadt nach dem (gemäss IFIKS) verifizierten Zusammenbruch der IKS wieder einen Umgruppierungspol der Revolutionäre bilden, da angeblich unsere öffentlichen Veranstaltungen „verödet“ und nicht mehr Orte der Debatte sind (was eine glatte Lüge ist, wie all jene Sympathisanten der IKS bestätigen können, die regelmäßig an unsere Veranstaltungen kommen und von denen auch etwa zehn an derjenigen des IBRP teilnahmen).
Das IBRP: einziger „ernsthafter Pol“ des politischen proletarischen Milieus?
An dieser öffentlichen Veranstaltung waren abgesehen von der Delegation des IBRP und vier Mitgliedern der IFIKS (von dieser war nur Jonas nicht da):
- zwei Unterstützer der IFIKS (wovon einer ein ehemaliges Mitglied der IFIKS ist);
- einer, der sich seit langem im rätistischen, gegen jede Partei eingestellten Milieu bewegt (den wir seit mehr als dreißig Jahren kennen).
Drei weitere Personen schauten herein und verschwanden gleich wieder aus dem Saal, ohne sich an der Debatte zu beteiligen.
So wäre diese öffentliche Veranstaltung, die (gemäss der Darstellung der IFIKS) den Beweis dafür hätte liefern sollen, dass das IBRP heute der „einzig ernsthafte Pol“ zum Diskutieren und Bezugspunkt der Kommunistischen Linken sei, ein totales Fiasko geworden, wenn nicht die IKS gekommen wäre und ihre Kontakte eingeladen hätte, ebenfalls teilzunehmen. Effektiv waren eine große Delegation der IKS und etwa zehn Sympathisanten unserer Organisation anwesend.
Die IFIKS hat also trotz ihrer großmäuligen Ankündigung dieser öffentlichen Veranstaltung vor allem eines bewiesen: Sie hat um sich herum eine Leere hergestellt. Es waren die IKS und ihre Sympathisanten, die mehr als zwei Drittel der Teilnehmer ausmachten und den Saal füllten. Dies war so offensichtlich, dass
- vor der Einführung ein Mitglied des IBRP zu einem unserer Genossen kam, um zu fragen: „Warum seid ihr so zahlreich gekommen?“[2]
- sich am Schluss der Veranstaltung das Präsidium genötigt fühlte, die Frage zu stellen: „Wer von den Anwesenden gehört denn nun nicht zur IKS?“ - Abgesehen von unseren Sympathisanten und den Mitgliedern der IFIKS … erhoben sich gerade drei Hände!
Die Zusammensetzung der Teilnehmer dieser öffentlichen Veranstaltung bewies, dass die IFIKS (und vielleicht auch das IBRP?) ihre Wünsche für die Wirklichkeit hält: Die IKS ist als „ernsthafter Pol“ des proletarischen Lagers noch nicht tot und begraben. Gerade weil öffentliche Veranstaltungen der IFIKS total öde wären, organisiert sie keine eigenen und hat keine andere Politik anzubieten als sich wie ein Blutegel an diejenigen der linkskommunistischen Gruppen zu hängen!
Doch noch wichtiger ist die Frage: Warum wurde diese öffentliche Veranstaltung, die die IFIKS mit Fanfaren als das große Ereignis ankündigte, von den Lesern des IFIKS-Bulletins und von unseren Abonnenten boykottiert?
Dies geschah genau deshalb, weil sie erfuhren, dass die Veranstaltung der IBRP auf „Anregung“ und mit der „politischen und materiellen Unterstützung“ dieser parasitären Gruppe organisiert worden war, deren Hauptaktivität darin besteht, die schlimmsten Verleumdungen über die IKS zu verbreiten!
Die einzigen Leute, die die IFIKS anziehen konnte, waren ihre eigenen Supporter, und das Beispiel hat gezeigt, dass es davon nicht gerade viele gibt.
Wenn die IFIKS nicht von allen Dächern geschrieen hätte, dass das IBRP diese öffentliche Veranstaltung mit der „politischen und materiellen Unterstützung“ des IFIKS organisierte, wären bestimmt weitere an Klärung interessierte Leute (die übrigens nicht alle mit unseren Positionen einverstanden sind) gekommen, um an der Debatte teilzunehmen.
Diese Lehre wird das IBRP aus der peinlichen Affäre ziehen müssen: Man ist nie besser bedient, als wenn man sich auf die eigenen Kräfte verlassen kann. Das Bündnis mit der IFIKS, die tonnenweise Verleumdungen über die IKS verbreitet hat, die sich offen wie eine Gruppe von Spitzeln aufgeführt und Material und Geld der IKS gestohlen hat - dies hat offensichtlich eine abstoßende Wirkung auf die ernsthaften Leute, die mit der Kommunistischen Linken sympathisieren, gehabt.
Die übertriebene Umarmung durch die IFIKS (wie auch die ganze Pomade, die sie dabei verwendete) haben dem IBRP nicht mehr gebracht, als es der Lächerlichkeit preis zu geben.
Was die IFIKS mit ihrem Einladungsschreiben vor allem beweisen wollte war, dass ohne sie das IBRP - eine Organisation der Kommunistischen Linken, die international besteht und seit Jahrzehnten präsent ist - nicht imstande gewesen wäre, die Initiative für diese öffentliche Veranstaltung zu ergreifen und sie durchzuführen!
Es ist bedauerlich, dass das IBRP nicht bemerkte, wie die IFIKS ihm eine lange Nase drehte, als sie in ihrem Bulletin Nr. 27 behauptete, dass sie, diese angebliche „Fraktion“, in der Frage des Parteiaufbaus „strengere Positionen als das IBRP verteidige“ („Bericht über eine Diskussion zwischen dem IBRP und der Fraktion“)! Dies bedeutet, dass die IKIKS vorgibt, viel „radikalere“ Positionen zu vertreten, und sich damit links des IBRP einordnen will.
In Tat und Wahrheit geht es aber dieser parasitären Gruppierung nur darum, ihre eigene Werbung zu betreiben (und sich ein „Respekts“-Zeugnis ausstellen zu lassen), wenn sie das IBRP als Aushängeschild benützt und gleichzeitig so tut, als hänge das IBRP am Rockzipfel des IFIKS! Das IBRP weigerte sich, dies zu erkennen (obwohl wir es davor gewarnt hatten), bevor es mit der IFIKS Hochzeit feierte. Wenn es die IKS ernst genommen hätte, wäre nicht diese Erfahrung nötig gewesen, um zu erkennen, dass (wie die Fabel von La Fontaine sagt) „jeder Schmeichler auf Kosten seines Zuhörers lebt“.
Warum ging das IBRP der IFIKS in die Falle?
Indem die IFIKS dem IBRP ihre „politische und materielle Unterstützung“ zur Durchführung dieser öffentlichen Veranstaltung zur Verfügung stellte, versuchte sie offensichtlich, sich als Gruppe anerkennen zu lassen, die dem politischen proletarischen Milieu angehöre. Leider hat diese Heirat zwischen IFIKS und IBRP noch andere Folgen gehabt als die, das IBRP der Lächerlichkeit preis zu geben. Sie hat auch dazu beigetragen, eine Organisation der Kommunistischen Linken in Verruf zu bringen, die bis jetzt nicht so weit gegangen ist, eines der Grundprinzipien der Arbeiterbewegung mit den Füssen zu treten: nämlich das Prinzip, jede Praxis des Diebstahls von Material anderer revolutionärer Organisationen abzulehen.
So verlangte die IKS im Verlaufe der öffentlichen Veranstaltung das Wort, um einen Brief vorzulesen, den einer unserer Abonnenten an das IBRP geschrieben und den zu veröffentlichen er uns gebeten hatte. Dieser Genosse (und er war nicht der einzige) hatte tatsächlich das Einladungsflugblatt des IBRP an seine persönliche Adresse zugeschickt erhalten. Er teilte uns sein Erstaunen mit (wie auch andere Abonnenten, denen das gleiche passiert war): Wie ist das IBRP zu seiner Adresse gekommen, wenn er sie doch zuvor nur der IKS gegeben hatte? Nach diesen Fragen von mehreren unserer Abonnenten entschloss sich die IKS am Vorabend dieser öffentlichen Veranstaltung, einen Protestbrief an das IBRP zu richten (und wir hoffen, dass er nicht zurückgewiesen wird, wie es mit anderen Briefen schon geschehen ist).
Sobald wir die Frage des Diebstahl unserer Adresskartei aufwarfen, versuchte das Präsidium, uns mit dem Argument das Wort abzuschneiden, dass das IBRP zwischen der IKS und der IFIKS nicht Partei ergreifen wolle, denn dies sei eine „interne“ Angelegenheit unserer Organisation. Auf unseren Protest hin versicherte uns das Präsidium zweimal, dass das IBRP die Adresskartei der Abonnenten nicht habe, und fügte hinzu: „Auch wenn man es uns vorgeschlagen hätte, hätten wir auf jeden Fall abgelehnt.“ Daraufhin fragten wir die Genossen des IBRP: „Bedeutet dies, dass ihr den Diebstahl der Adresskartei verurteilt?“ Trotz unseres Nachhakens hat das Präsidium nicht darauf geantwortet und stattdessen erklärt: „Wir werden diese Frag nach der öffentlichen Veranstaltung unter uns und mit der IFIKS klären.“
Dieser Zwischenfall ruft nach mehreren Bemerkungen:
1) Das IBRP verkauft uns für dumm, wenn es die Unverfrorenheit hat zu behaupten, nicht in einer „internen“ Angelegenheit der IKS „Partei ergreifen“ zu wollen. Wenn diese erste öffentliche Veranstaltung des IBRP in Paris mit der „materiellen und politischen Unterstützung“ der IFIKS organisiert wurde, wenn wir zur Kenntnis nehmen (im Bulletin 27 der IFIKS), dass das IBRP und die IFIKS begonnen haben, die „Grundlage für eine gemeinsame Arbeit zu legen“, wenn das IBRP mehr als sieben Jahre jegliche gemeinsame Arbeit mit der IKS ablehnte (unter dem fadenscheinigen Vorwand, dass unsere Divergenzen zu schwerwiegend seien), dann muss man schon blind und taub sein, um nicht zu erkennen, dass das IBRP vollständig für die IFIKS Partei ergriffen hat!
2) Was den Diebstahl der Adresskartei der IKS anbelangt, so weiß das IBRP sehr wohl, dass es sich hier nicht um eine „interne“ Angelegenheit der IKS handelt, denn seit zwei Jahren verurteilen wir ihn in unserer Presse; wir haben diese Angelegenheit also öffentlich abgehandelt!
3) Wenn das IBRP behauptet, dass es „auf jeden Fall abgelehnt hätte“, selbst wenn die IFIKS ihm unsere Adresskartei hätte geben wollen, so bedeutet dies ganz einfach, dass es den Diebstahl des Materials der IKS anerkennt und verurteilt. Wenn das IBRP kohärent sein will, muss es auch die sich aufdrängenden Schlussfolgerungen ziehen: Es hat die Grundlagen für die Zusammenarbeit mit Dieben gelegt.
4) Das IBRP hat erklärt, dass es diese Angelegenheit nach der Veranstaltung mit der IFIKS „klären“ würde. Wir sind der Meinung, dass diese Klärung keine „interne Angelegenheit“ des IBRP bleiben darf, sondern öffentlich kundgetan werden soll, denn:
- es ist in den Diebstahl von Material der IKS verstrickt, da dieses für den Versand des Aufrufs des IBRP zu seiner Veranstaltung verwendet wurde;
- es muss gegenüber unseren Abonnenten Rechenschaft ablegen, die die Frage stellten, wie denn der Aufruf des IBRP in ihrem Briefkasten gelandet sei.
Was uns anbetrifft, so können wir nur Kenntnis von der Erklärung nehmen, wonach das IBRP es niemals akzeptiert hätte, wenn die IFIKS „ihre Kriegsbeute“ als Mitgift in die Ehe gebracht hätte.
Auf jeden Fall (und wir glauben den Genossen des IBRP aufs Wort, wenn sie uns bestätigen, dass sie unsere Adresskartei nicht besitzen) begingen die Mitglieder der IFIKS hinter dem Rücken des IBRP eine schändliche Tat (so wie sie es unaufhörlich getan hatten, als sie sich noch in unserer Organisation befunden und geheime Versammlungen mit dem Ziel unserer „Destabilisierung“ abgehalten hatten!)[3]
Wir hoffen, dass das IBRP in der Lage sein wird, die Lehren aus dieser peinlichen Erfahrung zu ziehen. Wir haben mit unseren Ermahnungen zur Vorsicht vergeblich versucht, es davor zu bewahren. Wenn man einen Hund ins Bett nimmt[4], darf man sich nicht zu wundern, wenn man mit Flöhen erwacht.
Der Handel des IBRP mit der IFIKS ist offensichtlich ein Betrug. Das IBRP hat mit der Annahme der Dienstleistungen der sog. „Fraktion“, dadurch, dass es den Schmeicheleien erlegen und all die fetten Lügen für bare Münze genommen hat, das Risiko auf sich genommen, nicht nur jegliche Glaubwürdigkeit zu verlieren, sondern auch die Ehre einer zur Kommunistischen Linken gehörenden Gruppe.
Wir laden das IBRP ein, Stellung zu unseren „Thesen über den Parasitismus“ (Internationale Revue Nr. 22) zu beziehen, in denen wir darlegten, dass die Hauptaktivität von parasitären Gruppierungen die Diskreditierung der kommunistischen Organisationen ist. Diese Filzläuse machen je nach Lage von der Schmeichelei oder der Verleumdung Gebrauch und leben einzig auf Kosten der Gruppen des proletarischen Lagers, indem sie sein Blut saugen. Es scheint nun klar zu sein, dass sich die parasitäre Aktivität der IFIKS nicht auf die IKS begrenzt. Diese angebliche „Fraktion“ ist nicht nur ein Parasit der IKS, sondern der gesamten Kommunistischen Linken, wenn sie das IBRP benutzt, um sich Achtung zu verschaffen (wie sie es mit Le Prolétaire schon 2002 tat)[5], und es damit in Misskredit bringt.
Wenn das IBRP seine gemeinsame Arbeit mit der IFIKS fortsetzen und es weiterhin den Einfaltspinsel spielen will, können wir es bestimmt nicht daran hindern. Jedoch kann die IKS es nicht tolerieren, dass es Diebstahl (wenn auch nur indirekt mit seinem Handel mit der IFIKS) und Verleumdung gegen unsere Organisation und gegen unsere Militanten gebraucht, um seine Umgruppierungspolitik zu verfolgen.
Wo führt der Opportunismus des IBRP hin?
Die IKS hat den Opportunismus des IBRP schon immer gebrandmarkt, der es seit seiner Gründung zu einer prinzipienlosen Umgruppierungspolitik geführt hat. Wiederholt haben wir es vor der Gefahr gewarnt, die im Umgang mit Elementen und Gruppen der extremen Linken des Kapitals (wie der iranischen Gruppe SUCM) oder mit solchen, die nur einen unvollständigen Bruch mit der Linken (wie die Los Angeles Workers’ Voice) vollzogen haben, liegt. Die opportunistische Zusammenarbeit des IBRP mit der IFIKS offenbart heute die Gefahr, die dieser Organisation der kommunistischen Linken droht. Das IBRP riskiert mit der opportunistischen Anwendung linker Rekrutierungsmethoden (ohne offene und loyale Klärung von politischen Divergenzen), sich mehr und mehr von den Methoden und der Tradition der kommunistischen Linken zu entfernen und sich derjenigen des Trotzkismus anzunähern.[6] Das IBRP war der Meinung, dass es sich der IFIKS bedienen könne, um an dieser öffentlichen Veranstaltung einen fetten Fisch an Land zu ziehen. Das hat sich jetzt als großer Irrtum herausgestellt, aber weiter musste das IBRP auch Federn lassen.
Weit schlimmer ist noch die Tatsache, dass die opportunistische Abweichung des IBRP zu einer dem Proletariat vollständig fremden Praxis führt, die auf Diebstahl und Verleumdung beruht. Wenn diese Methoden klingende Münze bei den bürgerlichen Gruppen sind, so sind sie von den Organisationen des proletarischen Lagers immer verworfen und verurteilt worden.
Der Opportunismus ist „die Abwesenheit jeglichen Prinzips“ (Rosa Luxemburg). Das IBRP hat mit der Allianz mit Individuen, die diese bürgerlichen Methoden (Diebstahl von Material der IKS) gebrauchen, dieses Prinzip vollständig aus den Augen verloren, das es noch in der Lage war zu verteidigen, als es selbst Opfer der Gaunereien einer fiktiven Gruppe in der Ukraine (die ihm Geld stehlen wollte) wurde. Damals schrieb das IBRP: „Wenn das Ziel und die Mittel getrennt werden ... ist der Weg für die Konterrevolution offen“ (Erklärung des IBRP zu den „Radikalen Kommunisten der Ukraine“, 9.9.2003).
Die Revolutionäre haben in ihrem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus die bürgerliche Moral der Jesuiten, gemäß der „das Ziel die Mittel gerechtfertige“, verworfen. Sie haben ihr die proletarische Ethik entgegengestellt, die konform mit dem Wesen derjenigen Klasse ist, die den Kommunismus errichten wird (wie dies u.a. Trotzki in seiner Broschüre „Ihre Moral und unsere“ bereits aufgezeigt hatte). Deshalb müssen die proletarischen Organisationen strikt jegliche Umgruppierung verwerfen, die den Diebstahl von anderen kommunistischen Organisationen gehörendem Material begehen.
Diese schändliche Geschichte hat gezeigt, dass das IBRP eine Geisel von einer Bande von Dieben geworden ist (und man muss sich die Frage stellen, wie sich das IBRP von der IFIKS befreien wird). Wir hoffen, dass es zumindest dazu gezwungen wird, das Brett vor den Augen zu entfernen, um endlich die Natur dieser angeblichen „Fraktion“ zu verstehen.[7]
Nicht nur das Programm bestimmt die proletarische Natur einer politischen Gruppierung, sondern auch das politische Verhalten, d.h. die auf Prinzipien beruhende Praxis. Diese unsere Sichtweise hat rein gar nichts mit „Psychologie“ zu tun (wie die IFIKS behauptet). Und zwar deshalb weil, wie Marx in den Feuerbachthesen sagt, der Mensch „in der Praxis die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen“ muss.
Gegenüber dieser gefährlichen Abgleitung des IBRP ist es die Pflicht der kommunistischen Militanten, die Genossen dieser Organisation auf ihre Verantwortung aufmerksam zu machen. Sie müssen Maßnahmen ergreifen für die Zukunft der revolutionären Organisationen: jegliche opportunistische Zusammenarbeit mit parasitären Gruppen, mit Abenteurern, mit Dieben oder mit Phantomgruppen, die nur im Internet existieren, verwerfen.
Wenn die IKS zur Verteidigung ihrer Prinzipien den Parasiten, die sich wie Spitzel aufgeführt haben, weiterhin den Eintritt in ihre öffentlichen Veranstaltungen verbieten wird, so ist sie doch der Auffassung, nicht der einzige Bezugspunkt der Kommunistischen Linken zu sein. Deshalb bleiben unsere Türen für das IBRP auch immer offen und wir laden es herzlich zur Teilnahme ein.
IKS (10.10.2004)
Fußnoten:
1. Internationales Büro für die Revolutionäre Partei, das aus den beiden linkskommunistischen Organisationen „Battaglia Communista“ (BC) in Italien und „Communist Workers’ Organisation“ (CWO) in Großbritannien besteht.
2. Wie wir im zweiten Teil dieses Artikels sehen werden, drehte sich die Debatte zum Krieg auch nicht um die Analyse des IBRP, sondern um diejenige der IKS.
3. Gemäß den eigenen Worten von Olivier, einem Mitglied der IFIKS, in einer dieser geheimen Versammlungen (von der wir nur per Zufall das Protokoll fanden).
4. Wir geben hier zu, dass der Vergleich der IFIKS mit Hunden doch eher beleidigend ist ... für die Hunde!
5. Siehe unseren Artikel : A propos d’un article publié dans Le Prolétaire 463, Le Parti communiste internationale à la remorque de la ‚fraction’ interne du CCI, in: Révolution Internationale, Nr. 328.
6. Wie wir bereits vor vier Jahren aufgezeigt haben, in: Die marxistische und die opportunistische Sichtweise in der Politik des Parteiaufbaus, Internationale Revue Nr. 26.
7. Die Methoden der IFIKS offenbaren sich noch klarer im Vokabular (siehe auf ihrer Homepage den Artikel: „L’ignominie n’a pas de limite!“, der eine Pogromaufruf gegen unsere angeblichen „Schweinereien“ enthält und unsere Genossen als „Dreckskerle“ bezeichnet!). Wenn die Masken fallen, enthüllt die angebliche „Fraktion“ ihr wahres Gesicht.
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Mehr als 6.000 ausgebrannte Fahrzeuge: Privatautos, Busse, Feuerwehrfahrzeuge; Dutzende von abgefackelten Gebäude: Geschäfte, Lagergebäude, Werkstätten, Fitness-Studios, Schulen, Kindergrippen; mehr als Tausend Festgenommene und bereits mehr als ein Hundert Aburteilungen zu Gefängnisstrafen; etliche Hundert Verletzte - Aufrührer, aber auch Polizisten und einige Dutzend Feuerwehrleute; Schüsse auf die Polizei. Seit dem 27. Oktober sind Hunderte von Bezirken in allen Landesteilen Nacht für Nacht davon betroffen. Bezirke und Gegenden, die zu den ärmsten des Landes zählen, wo Millionen von Arbeitern und ihre Familien, eingepfercht in finsteren Wohntürmen, hausen, die große Mehrheit von ihnen aus Nordafrika und Schwarzafrika.
Mehr als 6.000 ausgebrannte Fahrzeuge: Privatautos, Busse, Feuerwehrfahrzeuge; Dutzende von abgefackelten Gebäude: Geschäfte, Lagergebäude, Werkstätten, Fitness-Studios, Schulen, Kindergrippen; mehr als Tausend Festgenommene und bereits mehr als ein Hundert Aburteilungen zu Gefängnisstrafen; etliche Hundert Verletzte - Aufrührer, aber auch Polizisten und einige Dutzend Feuerwehrleute; Schüsse auf die Polizei. Seit dem 27. Oktober sind Hunderte von Bezirken in allen Landesteilen Nacht für Nacht davon betroffen. Bezirke und Gegenden, die zu den ärmsten des Landes zählen, wo Millionen von Arbeitern und ihre Familien, eingepfercht in finsteren Wohntürmen, hausen, die große Mehrheit von ihnen aus Nordafrika und Schwarzafrika.
Was an diesen Aktionen, abgesehen vom Ausmaß der Schäden und der Gewalt, am meisten auffällt, ist ihre totale Absurdität. Es ist durchaus nachvollziehbar, warum junge Immigranten aus den ärmsten Gegenden die Polizei konfrontieren wollen. Tagtäglich sind sie Opfer grober und aufdringlicher Identitätskontrollen und Leibesvisitationen; es ist völlig logisch für sie, die Bullen als ihre Peiniger zu betrachten. Doch hier sind die Hauptopfer ihrer Gewalt: ihre jüngeren Brüder und Schwestern, die nicht mehr auf die Schule gehen können, Eltern, die ihre Autos verloren haben, für die sie die niedrigsten Versicherungssummen erhalten, da diese alt und billig sind, und die nun weiter entfernt einkaufen müssen, da die näher gelegenen und billigeren Geschäfte ausgebrannt sind. Die Jugendlichen wüteten nicht in den reichen Gegenden, wo ihre Ausbeuter wohnhaft sind, sondern in ihren eigenen schlimmen Vorstädten, die nun noch unbewohnbarer sind, als sie es ohnehin schon waren. Gleichermaßen sind die Verletzungen, die sie den Feuerwehrleuten zufügten, Leuten also, deren Job es ist, andere oft unter Risiko ihres eigenen Lebens zu beschützen, genauso schockierend wie die Verletzungen, die Passagieren eines Busses zugefügt wurden, der in Brand gesetzt wurde, oder der Tod eines 60jährigen Mannes, der von einem jungen Mann erschlagen wurde, anscheinend weil er versucht hatte, ihn von irgendeiner Gewalttat abzuhalten.
In diesem Sinn haben die Verwüstungen, die Nacht für Nacht in den armen Wohngegenden begangen werden, rein gar nichts mit dem Kampf der Arbeiterklasse zu tun. Sicherlich ist die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus gezwungen, Gewalt anzuwenden. Die Überwindung des Kapitalismus ist notwendigerweise ein gewaltsamer Akt, da die herrschende Klasse mit all den Repressionsmitteln, die sie zur Verfügung hat, mit Zähnen und Klauen ihre Macht und ihre Privilegien verteidigen wird. Die Geschichte hat uns besonders seit der Pariser Kommune von 1871 - um nur ein Beispiel zu nennen - gelehrt, in welchem Maß die Bourgeoisie dazu bereit ist, mit ihren Füßen auf den eigenen großen Prinzipien der „Demokratie“, der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ herumzutrampeln, wenn sie sich bedroht fühlt. In einer einzigen, blutigen Woche wurden 30.000 Pariser Arbeiter massakriert, weil sie versucht hatten, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen. Und selbst bei der Verteidigung ihrer unmittelbaren Interessen sieht sich die Arbeiterklasse häufig der Repression durch den bürgerlichen Staat und der Privatarmeen der Bosse ausgesetzt – einer Repression, der sie ihre eigene Klassengewalt entgegensetzen muss.
Doch was jetzt in Frankreich passiert, hat nichts mit der proletarischen Gewalt gegen die ausbeutende Klasse zu tun: Die Hauptopfer der jüngsten Gewalt sind die Arbeiter selbst. Abgesehen von jenen, die direkt unter dem angerichteten Schaden leiden, ist die gesamte Arbeiterklasse des Landes davon betroffen: Das mediale Sperrfeuer rund um die jüngsten Ereignisse verdeckt sämtliche Angriffe, welche die Bourgeoisie gerade jetzt unternimmt, und überschattet gleichzeitig die Kämpfe, die Arbeiter gegen diese Angriffe zu führen versuchen.
Was die Kapitalisten und die Staatsführer, die ruhig in ihren piekfeinen Wohngegenden sitzen, angeht, so nutznießen sie von der gegenwärtigen Gewalt, indem sie den Repressionsapparat stärken. So bestand die wichtigste Maßnahme, die von der französischen Regierung ergriffen wurde, um der Lage Herr zu werden, darin, am 8. November einen Ausnahmezustand auszurufen, eine Maßnahme, die zuletzt vor 43 Jahren praktiziert wurde und die auf einem Gesetz basiert, das vor über 50 Jahren, während des Algerienkrieges, verabschiedet worden war. Das Hauptelement in diesem Dekret ist ein Ausgangsverbot, ein Verbot, ab einer bestimmten Stunde die Straße zu betreten, wie während der Tage der deutschen Besatzung zwischen 1940 und 1944 oder wie beim Belagerungszustand in Polen 1981. Doch das Dekret erlaubt noch weitere Eingriffe in die klassische „Demokratie“, wie Hausdurchsuchungen zu Tag und zu Nacht, die Kontrolle der Medien oder der Einsatz von Militärgerichten. Jene Politiker, die die Verhängung des Ausnahmezustands beschlossen hatten oder ihn unterstützen (wie die Sozialistische Partei), versichern uns, dass dies nur Ausnahmemaßnahmen seien und dass sie nicht missbraucht werden. Jedoch soll hiermit ein Präzedenzfall geschaffen werden, an dem sich die Bevölkerung – und besonders die Arbeiter – gewöhnen soll. So wird es morgen, angesichts der Arbeiterkämpfe, die die Angriffe des Kapitals zwangsläufig hervorrufen, leichter sein, Zuflucht in ähnlichen Maßnahmen zu suchen und die Waffen der bürgerlichen Repression als eine Selbstverständlichkeit erscheinen zu lassen.
Die gegenwärtige Situation verheißt weder den Jugendlichen, die Autos anzünden, noch der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit Gutes. Allein die Bourgeoisie kann bis zu einem gewissen Umfang davon künftig profitieren.
Dies heißt nicht, dass die herrschende Klasse die jüngste Gewaltwelle bewusst provoziert hat.
Es ist richtig, dass sich einige ihrer politischen Sektoren, wie die rechtsextreme Nationale Front, berechtigt Hoffnung machen, bei den nächsten Wahlen die Früchte aus diesen Ereignissen zu ernten. Es trifft sicherlich auch zu, dass Sarkozy, der davon träumt, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Stimmen aus dem rechtsextremen Lager zu gewinnen, Öl ins Feuer goss, als er sagte, dass man Feuerwehrschläuche benutzen sollte, um die rebellischen Wohngegenden „auszumisten“, und als er die Unruhestifter als „Pöbel“ bezeichnete, als die Gewalt begann. Doch es ist ebenfalls klar, dass die Hauptsektoren der herrschenden Klasse, beginnend mit der Regierung bis hin zur Linken, die im Allgemeinen die am meisten betroffenen Stadtverwaltungen stellt, dadurch in eine höchst prekäre Lage geraten sind. Dies zum Teil wegen der wirtschaftlichen Kosten der Gewalt. So hat der Boss der französischen Unternehmer, Laurence Parisot, am 7. November in Radio Europe erklärt, dass „die Lage schwerwiegend, ja sehr schwerwiegend ist“ und dass dies „ernste Konsequenzen für die Wirtschaft haben wird.“
Aber vor allem auf politischer Ebene äußert sich die Sorge der Bourgeoisie. Es gestaltet sich nämlich als schwierig, die „Ordnung wiederherzustellen“, ohne die Glaubwürdigkeit der Institutionen ihrer Herrschaft zu untergraben. Auch wenn die Arbeiterklasse keinerlei Nutzen aus der gegenwärtigen Situation ziehen kann, auch ihr Klassenfeind, die Bourgeoisie, hat es zunehmend schwieriger, die „republikanische Ordnung“ aufrechtzuerhalten, die er benötigt, um seinen Platz an der Spitze der Gesellschaft zu rechtfertigen.
Und diese Beunruhigung findet nicht nur in der französischen Bourgeoisie ihren Ausdruck. In anderen Ländern, in Europa wie auch am anderen Ende der Welt, wie in China zum Beispiel, wird die Situation in Frankreich auf den ersten Seiten der Zeitungen behandelt. Selbst in den USA, einem Land, in dem die Presse im Allgemeinen wenig darüber berichtet, was in Frankreich vor sich geht, verdrängten Bilder von Autos und Gebäude in Flammen die Schlagzeilen.
Für die US-Bourgeoisie lässt sich durch die Hervorkehrung der Krise, die die armen Gegenden in den französischen Städten trifft, eine Scharte auswetzen: Französische Medien und Politiker hatten sich lautstark über das Versagen des amerikanischen Staates ausgelassen, mit Hurrikan Katrina fertig zu werden. Heute gibt es eine gewisse Schadenfreude in der amerikanischen Presse und unter einigen ihrer Führer, die sich über die „Arroganz Frankreichs“ lustig machten. Dieser Austausch von Freundlichkeiten entspricht dem Kurs zweier Länder, die sich auf diplomatischer Ebene in einem ständigen Gegensatz, besonders in der Frage des Irak, befinden. Dennoch zeichnet sich der Tonfall in der europäischen Presse durch eine wirkliche Besorgnis aus, auch wenn sie ein paar Spitzen gegen das „französische Modell“ richtet, das Chirac so oft gegenüber dem „angelsächsischen Modell“ gerühmt hat. So schrieb am 5. November die spanische Tageszeitung La Vanguardia, dass „niemand seine Hände reibt; die Herbststürme in Frankreich könnten das Vorspiel zu einem europäischen Winter sein.“ Dasselbe lässt sich auch über die politischen Führer sagen: „Die Bilder, die aus Paris kommen, sind eine Warnung an alle Demokratien, dass die Integrationsbemühungen nie als abgeschlossen betrachtet werden können. Im Gegenteil, wir müssen ihnen neuen Vorrang einräumen (...) Die Situation hier ist nicht vergleichbar, doch ist es klar, dass eine der Aufgaben der nächsten Regierung sein muss, die Integration zu beschleunigen.“ (Thomas Steg, ein deutscher Regierungssprecher, 5. November) „Wir dürfen nicht denken, dass wir hier so anders sind hier als Paris, es ist nur eine Frage der Zeit.“ (Romano Prodi, Führer der Mitte-Links-Opposition in Italien und ehemaliger Präsident der Europäischen Kommission) „Jeder ist besorgt darüber, was passiert.“ (Tony Blair)
Diese Besorgnis enthüllt, dass die herrschende Klasse sich ihres eigenen Bankrotts bewusst wird. Selbst in Ländern, wo es eine anders geartete Herangehensweise an die Probleme der Integration gegeben hat, sieht sich die Bourgeoisie immer noch Problemen gegenüber, die unüberwindbar sind, da sie aus einer unüberwindbaren Wirtschaftskrise herrühren, die in den letzten 30 und mehr Jahren herrschte und herrscht.
Heute erklären die „guten Jungs“ der französischen Bourgeoisie und selbst die Regierung, die es bis jetzt vorgezogen hatte, zur Peitsche statt zum Zuckerbrot zu greifen, dass „etwas getan werden muss“ für die verarmten Wohnquartieren. Sie sprechen von der Sanierung der heruntergekommenen Vorstädte, die von jenen bewohnt werden, die nun revoltieren. Sie rufen nach mehr Sozialarbeiter, mehr Kultur-, Sport- und Freizeitzentren, wo Jugendliche anderen Beschäftigungen nachgehen können, als Autos in Brand zu setzen. Alle Politiker geben zu, dass eine der Ursachen für die gegenwärtige Malaise unter den Jungen der hohe Grad der Arbeitslosigkeit ist, unter der sie leiden: Sie beträgt in diesen Gebieten mehr als 50 Prozent. Die Rechte sagt, dass es den Unternehmen leichter gemacht werden müsse, sich in diesen Gebieten niederzulassen, insbesondere durch eine Senkung der Steuern. Die Linke fordert mehr Lehrer und bessere Schulen. Doch keine von beiden kann das Problem lösen.
Die Arbeitslosigkeit wird nicht weniger werden, nur weil sich ein Unternehmen in dem einen statt in dem anderen Quartier niederlässt. Der Bedarf an Lehrerpersonal und Sozialarbeitern, um sich den Hunderttausenden von verzweifelten Jugendlichen zu widmen, ist derart groß, dass der Staatsetat dafür nicht ausreicht. Dasselbe gilt für alle anderen Länder, wo der Staat dazu gezwungen ist, die „Sozial“ausgaben zu kürzen, um die Fähigkeit der nationalen Wirtschaft zu fördern, auf einem übersättigten Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Und selbst wenn es einen Haufen mehr Sozialarbeiter oder Lehrer gäbe, so würde dies nicht die fundamentalen Widersprüche lösen, die die kapitalistische Gesellschaft niederdrückt und die die wahre Quelle der Entfremdung sind, die die Jugendlichen betrifft.
Wenn die Jungen aus den Vorstädten mit völlig absurden Methoden rebellieren, so liegt dies daran, dass sie sich in einer tiefen Verzweiflung befinden. Im April 1981 schrieben die Jugendlichen, die in Brixton, einem Gebiet von London mit einem großen Anteil von Immigranten, auf ähnliche Weise aufbegehrt hatten, den Ruf „No Future“ an die Wände. Es ist dieses No-Future-Gefühl, dass heute Hunderttausende von Jugendliche in Frankreich wie in anderen Ländern ergreift. Sie fühlen es jeden Tag in ihren Bäuchen, wegen der Arbeitslosigkeit, wegen der Diskriminierung und Geringschätzung, mit der sie behandelt werden. Aber sie sind nicht allein. In vielen Teilen der Welt ist die Lage noch schlimmer, und die Antwort der Jugendlichen nimmt noch absurdere Formen an: In Palästina ist es der Traum vieler Kinder, „Märtyrer“ zu sein, und eines der beliebtesten Spiele 10jähriger Kinder ist, sich einen Spielzeug-Bombengürtel anzulegen.
Doch diese etwas extremen Beispiele sind nur die Spitze eines Eisbergs. Nicht nur die ärmsten Jugendlichen sind von Verzweiflung erfasst. Ihre Hoffnungslosigkeit und ihre absurden Aktionen enthüllen einen vollkommenen Mangel an Perspektive nicht nur für sich selbst, sondern auch für die gesamte Gesellschaft in allen Ländern. Eine Gesellschaft, die immer tiefer in einer Wirtschaftskrise steckt, die nicht gelöst werden kann, weil die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise in sich selbst unlösbar geworden sind. Eine Gesellschaft, die immer mehr verwüstet wird von Kriegen, Hungersnöte, unkontrollierbaren Epidemien, von einer dramatischen Zerstörung der natürlichen Umwelt, von Naturkatastrophen, die sich in unermessliche menschliche Tragödien verwandeln, wie der Tsunami im vergangenen Winter oder die Überflutung New Orleans‘ Ende des vergangenen Sommers.
In den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchschritt der Kapitalismus eine Krise, die mit der heutigen vergleichbar ist. Die einzige Antwort des Kapitalismus war der Weltkrieg. Es war eine barbarische Antwort, doch sie erlaubte es der Bourgeoisie, die Gesellschaft rund um dieses Ziel zu mobilisieren. Heute besteht die einzige Antwort der herrschenden Klasse auf die Sackgasse ihrer Ökonomie erneut im Krieg: Daher sind wir Zeuge eines Kriegs nach dem anderen, Kriege, die zunehmend die entwickeltsten Länder erfassen, denen lange Zeit die direkten Folgen eines Kriegs erspart geblieben waren (wie die USA oder gar bestimmte europäische Länder wie Jugoslawien in den 90er Jahren). Jedoch kann die Bourgeoisie nicht den Weg zu einem neuen Weltkrieg beschreiten. An erster Stelle, weil, als sich die ersten Auswirkungen der Krise Ende der 60er Jahre bemerkbar machten, die Arbeiterklasse besonders in den Industrieländern mit einem solchen Nachdruck reagierte (Generalstreik in Frankreich im Mai 68, der „heiße Herbst“ in Italien 1969, Polen 1970-71, etc.), dass klar war, dass sie zu dieser Zeit nicht bereit war, als Kanonenfutter den imperialistischen Ambitionen ihrer Bourgeoisie zu dienen. An zweiter Stelle, weil mit dem Verschwinden der beiden großen imperialistischen Blöcke nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 die diplomatischen und militärischen Voraussetzungen für einen neuen Weltkrieg nicht mehr existieren, auch wenn dies keinesfalls verhindert, dass die lokalen Kriege unvermindert fortgesetzt und vervielfacht werden.
Der Kapitalismus hat keine Perspektive anzubieten, außer immer barbarischere Kriege, noch größere Katastrophen, immer mehr Armut für die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Die einzige Möglichkeit für die Gesellschaft, der Barbarei der gegenwärtigen Welt zu entkommen, ist der Sturz des kapitalistischen Systems. Und die einzige Kraft, die imstande ist, den Kapitalismus zu stürzen, ist die Weltarbeiterklasse. Weil die Arbeiterklasse bis heute nicht die Stärke hatte, diese Perspektive durch die Entwicklung und Ausweitung ihrer Kämpfe zu bekräftigen, sind viele ihrer Kinder der Verzweiflung anheimgefallen, drücken ihr Aufbegehren auf absurde Weise aus oder suchen Zuflucht in den Wundern der Religion, die ihnen das Paradies nach dem Tod verspricht. Die einzig wahre Lösung der „Krise der enterbten Wohngegenden“ ist die Weiterentwicklung des proletarischen Kampfes bis zur Revolution. Allein dieser Kampf kann der ganzen Revolte der jungen Generation eine Bedeutung und eine Perspektive verleihen.
Internationale Kommunistische
Strömung, 8. November 2005
www.internationalism.org [18]
[email protected] [19]
[email protected] [20]
Nachdem mitten in der Sommerzeit, und stets an einem Montag, einige Tausend Menschen mehrere Male vor allem in Magdeburg gegen die nach dem VW-Manager Hartz benannten „Arbeitsmarktreformen“ der Bundesregierung demonstriert hatten, berief der aus den Ferien zurückkehrende Kanzler Schröder sofort eine Sitzung seiner Ministerriege ein. Dass es sich dabei demonstrativ um ein „Krisensitzung“ des Kabinetts handelte, wurde durch die Tatsache unterstrichen, dass dafür Wirtschaftsminister Clement und Finanzminister Eichel aus ihren Ferien nach Berlin zitiert wurden. Das Ergebnis dieses Treffens war eine „Abschwächung“ des bereits beschlossenen Maßnahmenkatalogs gegen die Erwerbslosen. Und zwar eine, welche den öffentlichen Haushalt nach Schätzungen um fast zwei Milliarden Euro zusätzlich belasten wird.
Auch wenn die offizielle Verlautbarung der Bundesregierung das Wort „Korrektur“ peinlichst vermied, sprachen die Medien von einem „Rückzieher“ Schröders, von einer „Demütigung“ des Wirtschaftsministers und von einer „schweren Belastung“ des Finanzministers. Mehr noch: Obwohl der Kanzler verkündete, dass nach dieser „Klarstellung“ die Arbeitsmarktreformen nunmehr „ohne Abstriche“ umgesetzt werden sollten, lösten die Beschlüsse von Berlin scheinbar erdrutschartig Forderungen nach weiteren „Nachbesserungen“ aus. Von allen Seiten, von den Gewerkschaften wie den ostdeutschen Ministerpräsidenten, aus den Reihen der Regierungskoalition und der christlich-demokratischen Opposition, von links und von rechts wurden jetzt „Korrekturen“ der „gröbsten Ungerechtigkeiten“ und „handwerklichen Fehler“ der Hartz-Angriffe verlangt.
Diese fast schon demonstrative „Nachgiebigkeit“ verschaffte den ostdeutschen „Montagsdemos“ gegen „Hartz IV“ erst recht eine unerhörte öffentliche Aufmerksamkeit. Ab Mitte August überboten sich die Fernsehanstalten in der Ausstrahlung von Reportagen und Sondersendungen über die Proteste der Arbeitslosen v.a. in Ostdeutschland. Solcher Art ermutigt, erreichten die Demonstrationen eigentlich erst jetzt eine ansehnliche Größe und – zumindest im Osten – eine größere Verbreitung. Am 16. August demonstrierten mehr als zehntausend Menschen nicht nur in Magdeburg, sondern erstmals auch in Leipzig und in der Hauptstadt Berlin. Und selbst in westdeutschen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Köln, wo nur einige hundert Demonstranten zur „Montagsdemo“ erschienen, war der Medienrummel groß. Dort gab es teilweise mehr Attac-Aktivisten als Erwerbslose und beinahe mehr Reporter und Kameraleute als Demonstranten.
Demokratische Protestkultur statt Arbeiterkampf?
Wie ist nun diese spektakulär inszenierte „Nachgiebigkeit“ der Bundesregierung zu verstehen? Reichte es tatsächlich, dass 6.000 Menschen in Magdeburg, dass einige Hundert in Sachsen Anfang August auf der Strasse gingen, um das Kapital zum Teilrückzug zu zwingen? Wie kann man dann aber erklären dass - erst wenige Wochen zuvor - die Streiks und Proteste von bis zu 160.000 Beschäftigten bei Daimler-Chrysler gegen die Forderungen der Arbeitgeber überhaupt nichts ausrichten konnten? Zu Erinnerung: Dort wurde die Forderung der Unternehmensleitung nach „Einsparungen“ von einer halben Milliarde Euro demonstrativ ohne Abstriche durchgesetzt. Als „Gegenleistung“ erhielten die Mercedesarbeiter lediglich ein Arbeitsplatzgarantie bis 2012, welche das Papier nicht Wert ist, auf dem es geschrieben steht (dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung von 24 Juli: „Wer weiß schon, wie sich die Konjunktur in den kommenden sieben Jahren entwickeln wird. Wasserdicht ist solch eine Garantie wohl nicht, denn außergewöhnliche Ereignisse erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“).
Wenn aber den Arbeitsniederlegungen und Umzügen der Arbeiter beim größten europäische Industrieunternehmen, im Herzen der vielleicht wichtigste Zusammenballung des Industrieproletariats in Deutschland – dem Norden Baden-Württembergs mit rund einer Million Metallarbeitern – kein Erfolg beschieden war, wie lässt es sich erklären, dass die „Montagsdemos“ den kapitalistischen Staat scheinbar dazu bringen konnten, Abstriche von weit über einer Milliarde Euro gegenüber dem ursprünglichen Angriffsplan vorzunehmen?
Darauf haben die bürgerlichen Medien eine einfache und scheinbar einleuchtende Antwort. Während beispielsweise bei Daimler-Chrysler ausschließlich die „klassischen“ Mittel des Arbeiterkampfes wie Streiks, Demonstrationen und aktive Solidarität zum Einsatz kamen, soll die „Wirksamkeit“ der „Montagsdemos“ darauf zurückzuführen sein, dass sie Bestandteil einer angeblich neuen „demokratischen Protestkultur“ sind. Es versteht sich von selbst, dass die bezahlten Medien die „alten“ Mittel des Arbeiterkampfes als überholt gelten lassen wollen. Die Montagsdemos hingegen sollen die Herrschenden das Fürchten gelehrt haben, indem sie sich nicht scheuen, sich als Teil einer „Bürgerbewegung“ zu sehen, die sich der Protestmittel bedient, welche die Demokratie zur Verfügung stellt. Insbesondere sollen diese Proteste den Boden dafür bereitet haben, dass die Regierungsparteien bei den kommenden Landtags- und Kommunalwahlen einen saftigen Denkzettel verpasst bekommen.
So finden die Medien rasch ihre Erklärungen für die „Nervosität“ der rot-grünen Bundesregierung. Mal soll es um die Angst der SPD vor dem Machtverlust bei den kommenden Landtagswahlen in Brandenburg gehen; mal um das eigene Abschneiden bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Da Oskar Lafontaine angesichts der „Hartz-Reformen“ mit der baldigen Gründung einer neuen Partei links von der SPD gedroht haben soll, wird sogar das Szenario eines bevorstehenden Sturzes der jetzigen Regierung an die Wand gemalt. Sollte es Lafontaine gelingen – so das Argument - mindestens drei Bundestagsabgeordnete der SPD für eine eventuelle Parteineugründung abzuwerben, würde die derzeitige Regierungskoalition ihre „Kanzlermehrheit“ verlieren und damit regierungsunfähig werden. Die Drohungen Lafontaines aber – so heißt es allenthalben – seien ein Ergebnis der Montagsdemos. In der Titelgeschichte des Spiegels von 16. August „Angst vor der Armut“ heißt es beispielsweise dazu: „Im Kanzleramt und in der Berliner SPD-Zentrale hat man den Aufstand der Arbeitslosen nicht für möglich gehalten ... Doch spätestens seit der Kampfansage des früheren SPD-Chefs Oskar Lafontaine ist die SPD-Führung alarmiert. Nun fürchten sie, Lafontaine könne auf dem Nährboden des Volkszorns über Hartz IV sein Comeback starten. (...) Kaum hatte Lafontaine vergangene Woche im Spiegel über seinen möglichen Wechsel zur linken „Wahlalternative“ gesprochen, brach Panik aus in der SPD-Führung.“
Darüber hinaus soll die Bewegung gegen „Hartz“ beide großen „Volksparteien“ – also nicht nur die SPD sondern auch die Union - erschrocken haben durch die Perspektive der Abwanderung von Protestwählern zum linken und zum rechten Rand. Jüngsten Umfragen zufolge könnte bei den Landtagswahlen in Brandenburg die PDS stärkste Partei werden, könnte der Wähleranteil der rechtsradikalen DVU zweistellig werden.
So soll die gegenwärtige Lage in Deutschland den erneuten Beweis dafür liefern, dass in der Demokratie radikale Reformen sich „nicht durchsetzen lassen“, da die Betroffenen – also auch die Arbeiter – sich der demokratischen Spielregeln ebenfalls bedienen können, um sich erfolgreich zu wehren. Die Botschaft ist klar: Angesichts nie da gewesener Angriffe gegen ihre Lebenslage sollen die Lohnabhängigen dem „traditionellen“ Arbeiterkampf den Rücken kehren und sich stattdessen an den Wahlen – und sei es als Protestwähler - beteiligen. In diesem Sinne werben nicht nur die Wahlplakate der rechtsextremen NPD in Sachsen mit dem Slogan „Quittung für Hartz IV“. Auch die bürgerlichen Linksradikalen wollen die Beschäftigten und Erwerbslosen für die Wahlurne mobilisieren. Mit der Parole „Hartz IV – Verarmung per Gesetz“ will uns die PDS weismachen, dass man die kapitalistische Verarmung „per Gesetz“ wieder rückgängig machen könne. Und bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen will uns eine Wahlliste „Gemeinsam gegen Sozialabbau“ glauben lassen, dass man mit dem Wahlzettel „Widerstand gegen Sozialabbau“ leisten kann.
Stimmt das? Und stimmt es, dass die Bundesregierung derzeit wegen einer „demokratischen Protestkultur“ mit dem Rücken zur Wand steht, vielleicht schon ins Wanken gerät?
Wie die Herrschenden die Verzweifelung vieler Arbeitslosen ausschlachten
Keine Frage: Es ist die nackte Existenzangst, welche die Arbeitslosen und andere Lohnabhängige derzeit auf die Straße treibt. Hie und da kommt auch schon Wut und Widerstandswillen der Erwerbslosen zum Ausdruck. Sofern dies zutrifft, handelt es sich um die ersten öffentlich wahrnehmbaren Kampfaktionen der Arbeitslosen in Deutschland seit Mitte der 80er Jahre. Solche Konkretisierungen des Kampfeswillens reihen sich somit ein in die international bereits wahrnehmbare, ganz allmählich wieder anziehende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse.
Das unter dem Namen Hartz firmierende Gesetzeswerk ist nicht nur ein seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesener Angriff gegen die Erwerbslosen. Es handelt sich darüber hinaus um eine „Arbeitsmarktreform“, d.h. um ein Instrument der Erpressung und Disziplinierung der noch Beschäftigten, und um einen mächtigen Hebel zur Senkung ihre Löhne. Als solche bildet es ein zentraler Bestandteil eines Generalangriffs, der aufs Engste verknüpft ist mit der Demontage sämtlicher Sozialleistungen (beispielsweise im Gesundheitswesen), mit der Verlängerung der Arbeitszeit, mit der Intensivierung der Ausbeutung usw. Diese Angriffe wiederum sind nicht Auswüchse „egoistisch“ gewordener oder durch „Neoliberalismus“ oder andere Ideologien „verblendeter“ Kapitalisten oder Politiker, sondern Ausdruck der immer auswegloser werdenden Krise des Kapitalismus.
Es ist auch kein Zufall, dass sich derzeit vor allem im Osten vornehmlich die Erwerbslosen, die Rentner und die besonders prekär Beschäftigten den Protesten anschließen. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR herrschen teilweise Arbeitslosenraten, welche fast so hoch sind wie zur Zeit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre. Darüber hinaus gibt es hier überdurchschnittlich viele Langzeitarbeitslose: die Kategorie der Arbeiterklasse, welche mit „Hartz“ besonders brutal in die absolute Verarmung gestoßen wird.
Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass wir zur Zeit von der Entstehung und Entwicklung einer kämpferischen – geschweige denn einer eigenständigen - Bewegung der Erwerbslosen noch meilenweit entfernt sind. Die Situation auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik – im Kernbereich des „wiedervereinigten“ deutschen Kapitalismus – spricht Bände. Dort beteiligen sich nur eine Handvoll Leute an den sog. Montagsdemos. Und auch im Osten – wir haben es bereits angedeutet – erhielten die Proteste erst dann größeren Zulauf, nachdem sie so stark ins Rampenlicht der bürgerlichen Medien gerieten, v.a. aber nachdem die Regierung Schröder jenen gegenüber Teilgeständnisse zu machen schien.
Natürlich fürchten die Herrschenden, dass die Lohnabhängigen sich in anbetracht ihrer beschleunigten Verelendung vermehrt zur Wehr setzen werden. Noch mehr befürchten sie, dass Teile der Arbeiterklasse beginnen könnten, den Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen. Bei Daimler-Chrysler hat es vor einigen Wochen nicht nur eine erste Kostprobe dieser langsam zunehmenden Kampfkraft gegeben. Darüber hinaus hat dieser Kampf ansatzweise die angeblich der Vergangenheit angehörende Frage der Arbeitersolidarität wieder aufgeworfen. Mehr noch: Dieser Kampf hat das Potential eines allmählich wieder erwachenden Klassenbewusstseins durchschimmern lassen. Die Ansätze eines tieferen politischen Nachdenkens wurden im Anschluss an diesen Kampf auch sichtbar, als die IKS ein Flugblatt verteilte, um die Lehren aus der Bewegung bei Daimler-Chrysler zu ziehen. Noch nie hat ein Flugblatt der IKS, seit es unsere Organisation in Deutschland gibt, d.h. seit rund einem Vierteljahrhundert, eine solch offene, z.T. enthusiastische Aufnahme von Seiten der Arbeiter erfahren wie dieses, und zwar nicht nur bei Daimler-Chrysler oder anderen Großbetrieben, sondern auch vor den Arbeitsämtern.
Doch die herrschende Klasse schaut dieser Entwicklung nicht tatenlos zu. Zugleich ist sie sehr wohl in der Lage, den Gang der Dinge realistisch einzuschätzen. Einerseits weiß sie, dass längerfristig größere Kämpfe der Erwerbslosen unvermeidbar sind. Auch weiß sie, dass gerade die Massenarbeitslosigkeit vielleicht mehr als irgendeine andere Frage auf Dauer dazu geeignet ist, die Notwendigkeit der Klassensolidarität und der Infragestellung des Kapitalismus zu verdeutlichen. Denn heute trifft die Massenarbeitslosigkeit im Gegensatz zu den 30er Jahren nicht eine bereits geschlagene und demoralisierte Arbeiterklasse.
Andererseits weiß die herrschende Klasse aber auch, dass die Zeit für größere, eigenständige Kämpfe der Arbeitslosen noch nicht reif ist. Das hängt damit zusammen, dass die Arbeiterklasse zwar nicht wie 1929 geschlagen ist, dafür aber stark beeinflusst wird von der herrschenden gesellschaftlichen Atmosphäre der Entsolidarisierung, des „Jeder-für-sich“, welche der heute perspektivlose, zerfallende Kapitalismus verbreitet.
Der beschwerliche Weg zur Wiederentstehung eines eigenständigen Kampfes der Erwerbslosen
Aufgrund dieses geschichtlichen Rahmens wäre eine viel höhere Ebene der Empörung und des Bewusstseins des Proletariats insgesamt erforderlich als in der Vergangenheit, um einen solchen eigenständigen Beitrag der Erwerbslosen zum Arbeiterkampf zu ermöglichen. In der Zwischenzeit ist gerade unter den Arbeitslosen das Gefühl der Isolierung, der Perspektivlosigkeit und der Verzweifelung besonders stark. Das kommt nicht nur daher, dass dieser Teil der Klasse besonders verarmt ist, sondern ist auch eine Folge davon, dass es beim Ausbleiben größerer Klassenkämpfe vom kollektiven Leben des Proletariats in der Produktion ausgeschlossen bleibt. Dabei wiegt die jetzige Perspektivlosigkeit im Osten womöglich noch schwerer, weil dieser Teil noch mehr von der Ideologie der Gleichsetzung von Kommunismus mit Stalinismus beeinflusst wird, welche nach 1989 eine führende Rolle bei der Untergrabung der Klassenidentität des Proletariats gespielt hat.
So verwundert es nicht, dass in diesem Teil der Klasse beispielsweise das Verhalten des Protestwählens derzeit besonders ausgeprägt ist. Und auch die klassischen Protestparteien, ob von links oder rechts, ob PDS oder DVU, üben hier vermehrt ihren Einfluss aus.
Aus diesem Kontext heraus kann man schon verstehen, dass die herrschende Klasse, trotz langsam zunehmender Kampfkraft und Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse, gegenwärtig keine Angst haben muss, die Arbeitslosen auf der Strasse demonstrieren zu lassen. Wir glauben vielmehr, dass die Bourgeoisie zur Zeit diese „Bewegung“ schürt. Der Versuch des Wirtschaftsministers Wolfgang Clement, unter dem Vorwand der Verlegung des Auszahlungstermins der Erwerbslosen-Stütze von Monatsende auf Monatsanfang im Jahr 2005 das Geld statt 12- nur 11-mal auszuzahlen, hätte wahrscheinlich nicht mal vom Gesichtspunkt der bürgerlichen Legalität Bestand gehabt. Es war eine gezielte Provokation. Es war eine dieser vordergründigen Maßnahmen, welche von vornherein eingeplant werden, um sie anschließend wieder zurück zu nehmen. Und zwar diesmal mit den Ziel, die Proteste zu ermuntern, sowie um andere, viel dauerhafter wirkende Teile des Angriffs mehr oder weniger unbemerkt durchboxen zu können. Man wollte die Arbeitslosen darüber im Unklaren lassen, dass die Maßnahmen der Regierung – nicht weniger als die „Sparziele“ bei Daimler-Chrysler – ohne Abstriche durchgesetzt werden. Die Arbeiter bei Mercedes waren sich darüber im Klaren, dass sie eine Niederlage erlitten. Das schafft aber günstige Bedingungen, um illusionslos die Lehren daraus zu ziehen. So war es bezeichnend, dass die Arbeiter, welche während ihres Kampfes niemals die Rolle der Gewerkschaften in Frage gestellt hatten, am Ende stinksauer auf die Gewerkschaften waren. Im Falle der „Montagsdemos“ war die Bourgeoisie jetzt um so entschlossener, die Niederlage der Arbeiter als einen Sieg erscheinen zu lassen – und damit das Bewusstsein der Klasse zu vernebeln.
Auch die penibel in die Breite getretene „öffentliche Debatte“ darüber, ob die Arbeitslosenproteste an die „heilige Tradition“ der „Montagsdemos“ anknüpfen dürfen, welche angeblich 1989 die DDR zum Einsturz brachten, diente der öffentlichen Bekanntmachung der jetzigen Proteste. Darüber hinaus dient diese Leier der bürgerlich-demokratischen Pervertierung des Anliegens der Arbeitslosen, indem man die Sache so dreht: „Natürlich“ sei der „Montag“ von 2004 kein Kampf gegen eine Diktatur wie damals unter Honecker (als ob der Kampf gegen das Kapital nicht immer ein Kampf gegen ein diktatorische Macht wäre, Demokratie hin oder her!). Vielmehr gehöre der Protest des „kleinen Mannes“ zur Demokratie und soll den Weg zu Reformen und zur Wahlurne bitte schön ebnen.
Die Notwendigkeit einer eigenständigen Klassenperspektive
Mit den derzeitigen Protesten will die herrschende Klasse nicht nur vorzeitig Dampf ablassen: bevor eine allgemeine Kampfstimmung unter den Arbeitslosen aufkommt, bevor ein verbreitetes Bedürfnis des Anschlusses an den Kampf der gesamten Arbeiterklasse empfunden wird. Vor allem soll der zarte Keim des eigenständigen politischen Nachdenkens innerhalb der Arbeiterklasse erstickt werden. Dazu soll das Proletariat an der Wiederaneignung der eigenen Kampftraditionen gehindert werden, indem stattdessen eine scheinbar aussichtsreichere, klassenübergreifende Protestform angeboten wird, welche die Arbeiterklasse in der bürgerlichen Gesellschaft auflöst, an Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems bindet, und als Stimmvieh dem demokratischen Klassenstaat unterordnet. Damit soll die unklar aufdämmernde Vorahnung zurückgedrängt werden, dass jede kapitalistische Regierung, egal welcher Couleur, die Angriffe gegen die Arbeiterklasse fortsetzen wird, und dass alle Parteien des demokratischen Wahlzirkus, von der DVU bis zur PDS, sich zumindest darin einig sind, dass die Folgen der Krise des Kapitalismus auf die Ausgebeuteten abgewälzt werden müssen.
Auch wenn die Wahlerfolge der Protestparteien von links und rechts eine Folge des Zerfalls der kapitalistische Gesellschaft sind und langfristig die politische Stabilität selbst eines mächtigen Staates wie Deutschland beeinträchtigen können – das Kapital ist ausgezeichnet in der Lage, die Verfaulung des eigenen Systems gegen die arbeitende Bevölkerung zu wenden. Durch die Profilierung dieser Parteien „gegen Hartz“ kann es die Arbeiterproteste auf den bürgerlich-demokratischen Boden der Wahlen lenken, um anschließend für die „Verteidigung der Demokratie gegen die Extremisten“ zu werben.
In Tat und Wahrheit zeigt die Geschichte, dass die bürgerliche Demokratie den wirkungsvollsten Rahmen bietet, um die Durchsetzung der Angriffe des Kapitals beim geringst möglichen Widerstand des Proletariats zu ermöglichen.
Natürlich macht das Kapital stets allgemeine Propaganda in diesem Sinne. Aber heute, angesichts der Schärfe der Wirtschaftskrise und des allmählichen Wiedererwachens des Proletariats reicht das nicht mehr. Das Gedankengut der bürgerlichen Demokratie muss heute unmittelbar verknüpft werden mit Bildern von Arbeitern, die für die eigenen Anliegen demonstrieren; nur so kann die Bourgeoisie ihr Ziel erreichen, die Klassenidentität des kämpfenden Proletariats im Keim zu ersticken.
Nicht durch demokratische Proteste, nicht durch die Unterstützung einiger bürgerlicher Parteien gegen andere, nicht im Kampf Ost gegen West, Beschäftigte gegen Erwerbslose, Deutsche gegen Ausländer, sondern nur durch das „traditionelle“ Mittel des Arbeiterkampfes können wir eine Antwort auf die kapitalistische Krise finden. Durch Streiks, durch Massendemonstrationen, durch direkte und eigenständige Aktionen der Arbeitslosen gegen Kürzungen, Repression und behördliche Einschüchterung, durch die Vereinigung der Arbeiterkämpfe, durch bewusste Klassensolidarität, vor allem durch die Entwicklung einer revolutionäre Perspektive zur Überwindung des Systems können wir unsere eigenständige Klassenantwort auf die Krise des Systems finden.
20.08.2004.
Aus „Internationell Revolution“ nr. 105 (Zeitung der IKS in Schweden)
Seit Frühjahr 2003 haben wir ein Wiederauftauchen von Klassenkämpfen in einer Reihe von kapitalistischen Kernländern gesehen. 2003 fanden große Streiks und Demonstrationen in Frankreich statt, wo 100000 Arbeiter gegen deutliche Verschlechterungen im Rentensystem protestierten, ebenso kam in Österreich ähnliche Bewegung auf.
2004 sahen wir in Deutschland umfassende Streiks innerhalb der Autoindustrie(GM/Opel, Mercedes/Chrysler), aber auch in anderen Branchen. Alle diese Streiks schoben die Frage von Solidarität in den Vordergrund, als Waffe zur Verteidigung gegen Entlassungen und Lohnsenkungen.
Jetzt im Sommer 2005, mittendrin in schlimmsten Antiterrorkampagnen, haben wir wilde Streiks auf dem Flughafen in London-Heathrow in Großbritannien gesehen, Streiks gegen die Entlassung Hunderter Arbeiter eines Flughafen-Catering-Unternehmens. Die Arbeiter des Catering-Unternehmens und die Arbeiter von British Airways traten gemeinsam in den wilden Streik, um die entlassenen Arbeiter zu verteidigen.
In Schweden sehen wir einen zunehmenden Zorn gegen Entlassungen, Lohnsenkungen und unmenschliche Arbeitsbedingungen. Wir haben Aktionen von Arbeitern in Krankenhäusern in Umeo und in Malmö gesehen, wir haben kürzlich einen wilden Streik der Bauarbeiter auf der Preems Raffinerie in Stenungsund gesehen, wo Hunderte als Subunternehmer angestellte Arbeiter in einen Streik gegen furchtbare Arbeitsverhältnisse traten.
Jetzt sehen wir, wie der Zorn immer stärker bei den Arbeitern bei Connex-SL wird. Wir haben gesehen, wie man sich dort gegen die Entlassung eines Gewerkschafters gewehrt hat. Der Gewerkschafter wurde von Connex provokativ mit der Begründung gekündigt, dass „er das Unternehmen geschädigt hätte und er ihm gegenüber unloyal gewesen wäre“, weil er den Medien kritische Kommentare über Arbeitssicherheit im Unternehmen weitergegeben hätte. Die Arbeitsumstände haben sich bei Connex-SL verschlechtert, genauso wie bei anderen Unternehmen und in anderen Branchen auch, es besteht kein Zweifel, dass schon vor Jahren ein U-Bahnfahrer entlassen wurde und an einem Arbeitsplatzunfall für schuldig befunden wurde, wobei ein Arbeiter starb. Die wirkliche Ursache für diesen Unfall war aber die mangelhafte Sicherheit am Arbeitsplatz, wofür das Unternehmen verantwortlich ist.
Aber dieser Fall war es weder für SEKO (Gewerkschaftsverband) noch für eine andere Gewerkschaft wert, in den Streiks oder andere Aktionen dagegen zu machen. Dies zeigt die Heuchelei der Gewerkschaften, wenn sie heute groß die Trommel rühren für „Solidarität“ für ihren Gewerkschaftsrepräsentanten Per Johansson. Aber das unterstreicht nur die Notwendigkeit, gegen die täglichen Attacken und gegen Willkür am Arbeitsplatz seitens der Arbeitgeber und der Gewerkschaften zu kämpfen.
Aber, wenn man glauben darf, was die Gewerkschaft und die Medien der Bourgeoisie sagen, könnte die Situation gelöst werden, indem man den Vorsitzenden von SEKO wiedereinstellt. Dann müsste man die Frage stellen, sind es nicht gerade die Gewerkschaften, darunter auch SEKO, die bei allem mitmacht und alle Verschlechterungen, die das Kapital der Arbeiterklasse aufzwingt, mitunterschreibt? Sind es nicht die Vertreter SEKO´s, die sagen, sie wären stolz auf SL (öffentliches Verkehrsunternehmen), aber kritisieren die Art, wie Connex (Privatfirma) den Auftrag für SL ausführt. Ist es nicht so, dass das „öffentliche Unternehmen SL“ den Rahmen bestimmt, wie die „private“ Connex den Betrieb betreibt? Ist es nicht so, dass auch die Sozialisten im Management von SL die Handlungsweise von Connex voll unterstützen? Dieselben Sozialisten, die in Stockholms Landsting grünes Licht für „Regelungen“ gegeben haben, den Gesamtverkehr von SL in 5 miteinander konkurrierende Unternehmen zu zerlegen (von denen auch Connex eines ist)? Die selben Sozialisten, die im Führungsstab von SEKO (LO) behaupten, sie würden die Interessen von Arbeiter verteidigen?? Die selben Sozialisten, die seit Jahrzehnten mit in der Regierung sind und ständig die Arbeiterklasse angreifen. Ist es nicht so, dass die Gewerkschaften auf der gleichen Seite wie die Arbeitgeber und der Staat stehen???
Gleichzeitig, wo wir einen immer größeren Zorn und eine immer größere Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse in einer Reihe von Ländern sehen, was ein Ausdruck dafür ist, dass die Arbeiterklasse sich selbst gegen die Folgen der kapitalistischen Krise verteidigt, die die Bourgeoisie auf unsere Schultern zu wälzen versucht, sagen die Massenmedien und die Gewerkschaften, dass der Konflikt bei Connex-SL eine Frage des „Rechts auf freie Meinungsäußerung“ ist, als ob die Arbeiterklasse irgendein „Recht“ in der kapitalistischen Gesellschaft haben könnte!
Die Gewerkschaft und die Medien, besonders die linken Zeitungen, erwecken den Eindruck, als ob die Gewerkschaft angegriffen oder bedroht wäre. Der Vorsitzende von SEKO äußert sich in Medien und besteht darauf, dass „die Entlassung bei Connex ein Angriff gegen die ganze Gewerkschaftsbewegung wäre“, oder dass der Verteidigungskampf der Arbeiter genauso eine Verteidigung der „Meinungsfreiheit“ und der sogenannten „demokratischen Rechte sein könnte. Sie versuchen den echten und berechtigten Zorn der Arbeiter gegen die schon Jahre dauernden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in eine Verteidigung der Gewerkschaft und des „demokratischen Staates“ umzuwandeln. Dies geschieht um zu verbergen, dass gerade die Gewerkschaften zusammen mit dem „demokratischen Staat“ die Arbeiterklasse angreifen und hindern. Entweder dadurch, dass die Gewerkschaften das Lohndiktat des Kapitals durch Verträge, die sie abschließen, legitimieren, oder dass der „demokratische Staat“ juristische Repressionen gegen die sogenannten „wilden Streiks“ ausübt.
Dass SEKO jetzt und ganz ungewohnt von einem „politischen Streik“ spricht, dann nur deswegen um ihre tatsächliche Sabotage der wirklichen Streikbewegung zu verbergen. Eine Streikbewegung, die alle Arbeiter vereinen kann, beginnend mit allen Arbeitern innerhalb des ganzen Verkehrsverbundes, mit der Perspektive alle Arbeiter zu erfassen, sowohl des privaten wie auch des öffentlichen Sektors, um ihre Klasseninteressen zu verteidigen.
Trotz bombastischer Rhetorik kann SEKO nicht verbergen, dass sie alles so eingefädelt hatte, dass der Streik, der am 6. Oktober stattfand, ein 3-Stunden Streik bleiben sollte, um von der langangestauten Unzufriedenheit bei den Connex-SL-Angestellten abzulenken, und gleichzeitig konnte SEKO sich „arbeiterfreundlich“ präsentieren, ohne irgendeine juristische Verantwortung zu übernehmen. Den Schlag entgegen zu nehmen, überließen sie, wie gewöhnlich, den Arbeitern.
Der Kampf der Arbeiterklasse und ihre Streiks sind immer politisch, weil sie die Kapitalistenklasse und ihren Staat angreifen.
Verschlechterungen am Arbeitsplatz, Angriffe auf die Arbeitsbedingungen und auf Löhne der Arbeiterklasse, Entlassungen oder die Bedrohung von Entlassungen, ist wirklich nicht etwas, was nur die Arbeiter bei Connex-SL trifft, die Bedrohung könnte nicht minder sein, wenn SL den Betrieb in eigener Regie führen würde, ohne Subunternehmen, wie Connex, Citypendeln oder Swebus!
Die Linken und die Gewerkschaft versuchen uns vorzuflunkern, dass die Situation so viel besser sein könnte, sowohl für die Arbeiter in dem Unternehmen, als auch für die Verkehrsteilnehmer, wenn SL immer noch den Betrieb in sogenannter „öffentlicher Regie“ führen könnte. Als ob die Arbeiter, zum großen Teil in Krankenhäusern, die nach wie vor in „öffentlicher Regie“ geführt werden, bessere Arbeitsbedingungen hätten. Unmutsaktionen, wie neulich bei den Krankenhäusern in Malmö und Umeo, widerlegen erneut diesen Mythos.
Ein anderer Mythos, den die Bourgeoisie verbreitet, dass die Arbeiter im „privaten Sektor“, besonders Industriearbeiter, es so gut hätten(!), überbezahlt wären, und ihnen die Arbeitsbedingungen der Arbeiter im öffentlichen Sektor gleichgültig wären. Natürlich ist diese Art von Gerüchteverbreitung dazu da, um die Arbeiterklasse zu spalten!
Es ist aber so, dass man gerade im „privaten Sektor“ die Arbeiter sehr hart angreift. Wir hören täglich Ankündigungen von Entlassungen, die letzten sind, dass 1500 Arbeiter bei Volvo Personenwagen gehen dürfen, dass Arbeiter bei der Elektrolux Fabrik in Mariestad auf die Straße fliegen und die Fabrik geschlossen wird. Jeden Monat werden Tausende von Arbeitern entlassen!
All dies macht es notwendig, dass die Arbeiterklasse über die katastrophalen Perspektiven nachdenkt, die der Kapitalismus der Arbeiterklasse und der ganzen Menschheit „anbietet“. Von 1968 bis Ende der 80er Jahre kämpften Arbeiter weltweit gegen die kapitalistische Krise. Kennzeichen für diesen Kampf waren, dass er oft die Gewerkschaften und ihre Spaltung von Arbeitern in verschiedene Berufskategorien direkt herausforderte, und dass die Arbeiter den Versuch der Gewerkschaften und Linken, die Arbeiter im öffentlichen Sektor gegen die Arbeiter im „privaten Sektor“ zu stellen, attackierten. Was für diesen Kampf kennzeichnend war, war, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf über die lokalen Branchen und Sektoren hinaus auf andere Arbeiterkategorien zu verbreiten versuchte. Dieser Kampf forderte wirklich die Macht der Bourgeoisie und ihres gewerkschaftlichen Anhangs heraus.
Die Arbeiterklasse müsste diese Erfahrung wieder aufnehmen! Die Arbeiter müssten einen vereinigten Kampf gegen die Angriffe des Kapitals und gegen die Verschlechterungen führen.
Die Frage der Solidarität ist lebenswichtig für uns, faktisch eine Frage um Leben oder Tod, aber man kann die nicht den Gewerkschaften überlassen und sie kann auch nicht in der Unterstützung der Gewerkschaften Ausdruck finden, die ja unseren Kampf fesseln!
Flugblatt der Sektion der IKS in Schweden, 16. Okt. 05
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