Gespeichert von Weltrevolution am
Es gibt gegenwärtig in der Schweiz keine spektakulären Ausbrüche der Arbeiterkampfbereitschaft. Der Stress am Arbeitsplatz wird zwar immer unerträglicher. Die Unzufriedenheit nimmt zu. Aber bis jetzt ist dieser Groll immer noch auf viele kleine Rinnsale und Bächlein verteilt, noch nicht zu einem Fluss oder gar Strom zusammengewachsen, der die eigene Kraft, die gemeinsame Stärke uns selber vorführen würde.
Die technischen Angestellten am Schauspielhaus Zürich und die ehemaligen Crossair-Piloten bei der Fluggesellschaft Swiss streikten im Herbst. Auch gab es in Lausanne, Aarau und Zürich Demonstrationen der kantonalen Angestellten, eine landesweite Gewerkschaftsdemonstration in Bern für mehr Lohn und weitere so genannte Montagsdemonstrationen bei der Post und der Bahn gegen geplanten Stellenabbau und die Verlängerung der Arbeitszeit. Im Dezember 2006 entdeckte die NZZ am Sonntag gar eine „neue Lust am Streik": „Bauarbeiter, Piloten und Lehrer tun es, Pöstler und Bähnler drohen damit. Die Schweiz, einstiger Hort des Arbeitsfriedens, entdeckt die Lust am Streik. Die Zahl der Streikenden ist so hoch wie seit dem Generalstreik 1918 nicht mehr. (…) ‚Seit Mitte der neunziger Jahre nimmt die Zahl der Streikenden in der Schweiz deutlich zu’, sagt Bernard Degen, Gewerkschaftsexperte und Historiker an der Universität Basel. Die Zahl der Streikenden hat in den letzten Jahren ein Niveau erreicht, wie es letztmals in den Zeiten des Landesstreiks erreicht worden war. 2004 legten in der Schweiz 24'000 Personen die Arbeit nieder, genau gleich viele wie anno 1918." (NZZ am Sonntag, 10.12.06)
Anzeichen für eine Zunahme der Kämpfe
Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Zeitung bei diesem Zahlenbeispiel auf den Historiker abstützt, denn am Generalstreik vom November 1918 beteiligten sich je nach Quelle 250'000 bis 400'000 Arbeiter bei einem Total von damals etwa 800'000 Industriearbeitern (1). Wir wollen hier auch nicht weiter bei der Frage verweilen, ob dieser krass falsche Vergleich der blossen Unwissenheit der Journalistin (und der Nachlässigkeit der verantwortlichen Redaktion) entspringt oder ob ein bewusstes Interesse dahinter steckt, den bisherigen Höhepunkt der Arbeiterkämpfe in der Schweiz in seiner Bedeutung möglichst herabzumindern (2).
Tatsache ist, dass es verschiedene Anzeichen dafür gibt, dass die Kampfbereitschaft in den letzten Jahren wirklich zugenommen hat, wenn auch quantitativ erst in bescheidenem Ausmass. Die Streikstatistiken für die Schweiz sind das Eine. Hinzu kommt aber auch eine weltweite Tendenz der Zunahme der Kämpfe seit 2003, über die wir in diesen Spalten immer wieder berichtet haben. Da die Arbeiterklasse von ihrem Wesen her eine internationale Klasse ist, wächst ihr Selbstvertrauen auch bei Kämpfen, die anderswo stattfinden. Und bedeutsam ist auch das Auftauchen von immer mehr Leuten, die sich grundlegende Fragen über die Zukunft, ihre eigene Rolle und diejenige der Arbeiterklasse stellen.
In diesem Kontext möchten wir eine kleine Zwischenbilanz über den Stand des Klassenkampfes in der Schweiz ziehen. Dabei ist insbesondere auch der Kampf der Swissmetal-Arbeiter in Reconvilier (La Boillat) einzubeziehen, der gerade vor einem Jahr mit einem zweiten Streik in eine neue Phase trat.
Beginnende Desillusionierung über die Gewerkschaften
Vom 25. Januar bis Ende Februar 2006 streikten die Arbeiter von Swissmetal in Reconvilier zum zweiten Mal. Der erste Streik im November 2004 war seinerzeit beendet worden, weil die Konzernleitung zugesagt hatte, den Standort Reconvilier und die Arbeitsplätze zu erhalten. Nachdem die Konzernleitung im Januar 2006 entgegen diesen Zusagen 27 Entlassungen ausgesprochen hatte, beschlossen die Arbeiter der Boillat in Solidarität mit den Entlassenen den Streik. Bei der Versammlung, die den Streik beschloss, war die Gewerkschaft nicht dabei. Danach schaltete sich aber die UNIA ein und bezahlte auch Streikgelder. Nach einem Monat stellte diese Gewerkschaft die kämpfenden Arbeiter vor die Alternative, den Vorschlag eines von der Regierung eingesetzten Vermittlers anzunehmen oder keine Streikgelder mehr zu erhalten. Der Vorschlag des Vermittlers beinhaltete im Wesentlichen, dass die Kündigungen vorübergehend aufgehoben, das Vermittlungsgespräch fortgesetzt und der Streik beendet werden sollen. Der Streik wurde nach dieser Erpressung durch die Gewerkschaft abgebrochen. Die Frustration, ja gar Wut auf die Gewerkschaft war unüberhörbar: „Es war ein Fehler, dass wir die Verhandlungen aus unseren Händen gegeben haben." „UNIA ist eine Bande von organisierten Dummköpfen, ich erkläre meinen Austritt." „UNIA hat die Angestellten hängen lassen und verraten." Dies war im Frühjahr/Sommer 2006 der Tenor unter den Arbeitern im weiteren Umkreis um Reconvilier (3). Wir hoben dabei vor allem zwei Dinge hervor:
- Die Notwendigkeit, einen solchen Kampf rasch über die einzelne Fabrik hinaus auszudehnen, d.h. Delegationen zu bilden, die in die umliegenden Betriebe mit den Arbeitern diskutieren gehen und versuchen, sie auch für den Kampf zu gewinnen. Nur so kann ein Kräfteverhältnis geschaffen werden, das den Gegner (die Konzernleitung, die so genannten Vermittler und letztlich den Staat) zum Rückzug zwingt.
- „Eine der wichtigsten Lehren ist, dass sich die Gewerkschaften als Gegner der Arbeiter entlarvt haben. Hüten wir uns auch vor all denen, die zwar den bestehenden Gewerkschaften oder ihrer Bürokratie kritisch gegenüberstehen, aber doch ihr Wesen verteidigen und uns die Idee verkaufen wollen, dass wir an diesen Organisationen festhalten müssten!" (3) Wir dürfen die Kontrolle über den Kampf nicht aus unseren Händen geben. Die Gewerkschaften sind Teil des staatlichen Apparats.
Auch ein Jahr nach diesem Streik bei Swissmetal schwelt der Kampf weiter. Nach wie vor entlässt die Konzernführung weitere Angestellte und demontiert die Anlagen in Reconvilier, um sie an den zweiten Standort in der Schweiz, nach Dornach, zu verschieben, wo es den Gewerkschaften gelang, eine Solidarisierung und einen Eintritt in den gleichen Kampf zu verhindern.
Was die Mobilisierungen der Gewerkschaften in den letzten Monaten betrifft, fällt auf, dass die Medienaufmerksamkeit umgekehrt proportional zum Echo ist, das die Demonstrationsaufrufe in der Arbeiterklasse finden. Während die von den Medien breit getretenen Montagsdemonstrationen bei Post und Bahn jeweils gesamtschweizerisch nicht mehr als einige Hundert (überwiegend gewerkschaftlich organisierte) Arbeiter mobilisierten, beteiligten sich an den Demonstrationen der kantonalen Angestellten in Lausanne, Aarau und Zürich jeweils 3000-5000 Leute, obwohl dafür kaum mobilisiert und anschliessend auch nicht überregional berichtet wurde. Dies ist ein Indiz dafür, dass es der Bourgeoisie nicht behagt, wenn sich die Arbeiterklasse für Forderungen, die unmittelbar ihre Interessen betrifft, massenhaft auf die Strasse begibt, selbst wenn die Mobilisierungen gewerkschaftlich organisiert sind.
Wenn die Arbeiter auf ihrem Terrain zusammen kommen, entsteht für die Bourgeoisie die Gefahr, dass sich jene ihrer Macht bewusst werden. Wie formulierte es eine Arbeiterin der Boillat in Reconvilier gegenüber der Wochenzeitung? – „Mit der Solidarität, die wir aufbauen konnten, haben wir etwas Wertvolles geleistet. Es bleibt das Erlebnis der vollständigen Machtlosigkeit der Direktion, solange wir uns einig waren." (4) Diese Einigkeit der Arbeiter hat ihre Grundlage in der Gemeinsamkeit der Interessen, die grundsätzlich nicht auf einen Betrieb oder eine Region, ja nicht einmal auf ein Land beschränkt ist. Es scheint, dass sich die Bourgeoisie mit all ihren Apparaten, namentlich den Gewerkschaften und den Medien, dieser Gefahr bewusst ist und deshalb massenhafte Mobilisierungen möglichst vermeidet oder wenigstens nicht an die grosse Glocke hängt.
Trotzdem will sie das Terrain auch nicht einfach der spontanen Gärung der Unzufriedenheit unter den Arbeitern überlassen. Deshalb mobilisieren die Gewerkschaften bei Bahn und Post, bei Piloten und beim Theater, überall in kleinen Dosen, um kontrolliert Dampf abzulassen.
Vor Weihnachten 2006 gab es zwischen den Gewerkschaften und den Bahn- und Postunternehmen je eine Einigung. Bei der SBB wurde ein neuer Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen, wobei bis Ende 2007 weitere 100 Stellen abgebaut werden. Auch bei der Post bleibt es dabei, dass im Zuge des „Ymago" genannten Projekts 400 bis 500 Stellen abgebaut werden. Die Post wolle aber „wirtschaftlich begründete Kündigungen vermeiden". „Man sei „zufrieden", heisst es auf beiden Seiten." (NZZ, 16.12.06) Die Gewerkschaften handeln also zusammen mit den Unternehmen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen aus - Arbeitsplätze werden abgebaut, obwohl die Arbeitslast zunimmt – und erklären ihre Zufriedenheit. Die bürgerlichen Medien begleiten die Farce, indem sie scheinbar radikale Forderungen und Drohungen der Gewerkschaften ins Rampenlicht rücken, dann aber über die Resultate höchstens noch klein gedruckt berichten.
Die Einheit von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften zeigt sich auch in den Personalentscheiden, die ihre Apparate treffen. Die Spitze der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft muss neu besetzt werden, da der jetzige Amtsinhaber Jean-Luc Nordmann altershalber zurücktritt. Die Stelle wird nun auf 1. Februar 2007 vom bisherigen Chefökonomen und geschäftsführenden Sekretär des Gewerkschaftsbundes Serge Gaillard übernommen, der seine Karriere als Trotzkist begann.
Weitere Stellungen der Bourgeoisie
Die Desillusionierung über den Charakter der Gewerkschaften wird noch manche Hürde nehmen müssen. Die linksextremen Kräfte der Bourgeoisie – in der Schweiz z.B. die Bewegung für den Sozialismus (BFS) oder der Aufbau – kritisieren zwar die Gewerkschaftsführung, verteidigen aber um so mehr die Gewerkschaften an sich. Sie halten an der kapitalistischen Logik fest, verpacken sie aber in eine „radikalere" Rhetorik. Der Aufbau z.B. kritisiert im Zusammenhang mit der Post die Gewerkschaft, dass sie vor dem gemeinsamen Kampf Angst habe (was grundsätzlich stimmt), fordert aber von ihr mehr Entschlossenheit. Er setzt also auf eine Reform der Gewerkschaft. Im gleichen Atemzug beklagt er sich darüber, dass „der funktionierende Staatsbetrieb (die Post) verscherbelt werden" soll und meint, es sei ja „nicht ganz so schlimm", denn der Betrieb schreibe immer noch Gewinn (5). Die Botschaft ist klar: Wenn es wirklich schlimm für die Gewinne wäre, müsste man sich wohl die Angriffe (oder einen Teil derselben) gefallen lassen. Dies ist die gleiche Logik, die der Aufbau auch zum Kampf der VW-Arbeiter in Belgien propagiert: „Diese Fabrik war produktiv und wettbewerbsfähig", kritisierte der Generalsekretär der Gewerkschaft CSC, Guy Tordeur, die „blinde Umstrukturierung« des Konzerns" (aus einem aktuellen Artikel auf der Webseite des Aufbaus unter dem Titel „Arbeitskämpfe").
Diese Logik findet ihre Fortsetzung in der konkreten Agitation, wenn der Aufbau die Postangestellten für den sterilen Protest gegen das World Economic Forum (WEF), das alljährlich im Januar in Davos stattfindet, mobilisieren will: „Beispielsweise für die Angestellten der Post würde sich das WEF als Protestadressat eignen." (aus dem Aufruf des Aufbaus zur Anti-WEF-Demo in Basel)
Die Arbeiterklasse kann ihre Einheit und damit ihre Stärke nur auf ihrem eigenen Terrain erkämpfen, nämlich auf demjenigen der Verteidigung ihrer eigenen handfesten Interessen, nicht in symbolischen Protestaktionen gegen ein WEF oder einen G8-Gipfel. Wenn wir auf unserem Terrain kämpfen und dort unsere Stärke entwickeln, werden sich über die Verteidigung der gegenwärtigen Arbeits- und Lebensbedingungen hinaus schnell auch wirklich radikale Fragen stellen – nämlich diejenige der Überwindung dieses Systems, das uns keine Zukunft mehr zu bieten hat.
Cassin, 14.01.07
-
Fussnoten: