Die Türkei, Syrien und der Krieg

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Erst kürzlich wurde die türkische Tagesordnung um die Möglichkeit eines Krieges mit Syrien erweitert; eine Situation, die mehr oder weniger weiter vorherrscht. Nach dem Tod von fünf Zivilisten in der Stadt Akçakale nahe Urfa hat die Regierung im Handstreich Syrien in das neue Gesetzesvorhaben mit einbezogen, das sie vorbereitet, um sich das Recht einzuräumen, militärisch in den Irak zu intervenieren. Dieses Vorhaben wurde dahingehend modifiziert, dass es der Regierung nun ermöglicht, ganz allgemein im Ausland militärisch einzugreifen. Es wurde ebenfalls erklärt, dass die Türkei begonnen habe, syrisches Territorium unter Beschuss zu nehmen. Als der türkische Ministerpräsident Erdoĝan und Mitglieder seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) sich anschickten, offen die Möglichkeit der Kriegsoption anzusprechen, traten die Todesengel unter der bürgerlichen türkischen Presse schnell auf den Plan, um jeden, der sich dem Krieg widersetzte, der Feigheit zu bezichtigen.

 Trotz alledem bleibt unklar, was wirklich geschehen war. Es hat sich herausgestellt, dass das türkische Grenzgebiet bereits vor dem Angriff gegen Akçakale das Ziel von Bombenangriffen gewesen war, wobei diese keine Opfer gefordert hatten. Darüber hinaus ist es nicht wirklich sicher, wer für diese Bomben oder für die Bombardierung Akçakales verantwortlich ist. Die Reaktion der syrischen Regierung war: abstreiten, erklären, dass sie eine Untersuchung einleiten werde, bekunden, wie sehr sie den Tod der Opfer bedaure, und Beileidsbekundungen gegenüber den Angehörigen der Verstorbenen, also die Leugnung jeglicher Verantwortung für die Bombardierung. Der Teil Syriens, der nun von der Türkei bombardiert wird, ist andererseits ein Gebiet, in dem die Kampfhandlungen zwischen der Freien Syrischen Armee (FSA) und dem Assad-Regime ziemlich intensiv sind und das sich größtenteils unter der Kontrolle der FSA befindet. Es hat den Anschein, dass die Türkei unter dem Deckmantel der Vergeltung auf ähnliche Art auch auf die früheren Bombardierungen geantwortet hatte. Schnell folgten Behauptungen, wonach die Granaten von dem von der FSA kontrollierten Gebiet aus abgefeuert wurden, dass die Granaten von der NATO produziert worden waren und nicht von den Streitkräften des Assad-Regimes benutzt werden und dass in Wirklichkeit die FSA die Granaten abgefeuert habe.

Es ist offensichtlich, dass diese Behauptungen Sinn machen. Es wäre für das syrische Regime nicht sehr plausibel, das türkische Grenzgebiet zu bombardieren, eine Handlung, die natürlich die Feindschaft der Türkei gegen das Assad-Regime vergrößern würde, das gleichzeitig einen ausgewachsenen Bürgerkrieg gegen die FSA ausfechten muss und sunnitische Dissidenten auf extrem brutale Weise unterdrückt. Abgesehen davon, hat Syrien nichts aus solchen Bombardierungen und der Tötung einer Handvoll Zivilisten in Akçakale zu gewinnen. Andererseits lässt sich unschwer erkennen, dass diese Bombardierungen sich durchaus zum Vorteil der Erdoĝan -Regierung und der FSA entwickeln, indem sie der Türkei die legale Basis verleihen, der FSA die so dringend benötigte strategische Luftunterstützung gegen Assad zu geben, und indem sie Erdoĝan  in die Lage versetzten, das Kriegsermächtigungsgesetz durchs Parlament zu bringen und die bellizistischen Nationalisten zu stärken. Es spricht viel dafür, dass die FSA diesen Angriff in Abstimmung mit und unter der Regie der Türkei unternahm.

Dennoch bleibt trotz der Stimmungsmache der Regierung für den Krieg eine türkische Invasion in Syrien eher unwahrscheinlich. Der erste Grund hierfür ist, dass der türkische Staat bereits in einem Krieg im türkischen Kurdistan verwickelt ist und, weit davon entfernt, ihn zu gewinnen, nur schlecht vorankommt. Zurzeit gibt es Territorien innerhalb der Grenzen des türkischen Staates, die von der nationalistischen kurdischen PKK (Kurdische Arbeiterpartei) kontrolliert werden, die die türkische Armee über den Landweg nicht betreten kann und die sich, wenn auch langsam, vergrößern. Es wäre für einen Staat, der solch einen Krieg innerhalb seiner eigenen Grenzen führt, nicht sehr plausibel zu versuchen, in ein anderes Land einzudringen.

Der zweite und wichtigere Grund ist, dass die Arbeiterklasse nicht kämpfen will, ja sogar eine gewisse Haltung gegen die Idee eines Krieges zeigt. Wir können etliche Beispiele aus jüngerer Zeit zitieren. Das erste sind die Antikriegsdemonstrationen und Zusammenstöße in der Stadt Hatay (wo sich die Lager für die syrischen Flüchtlinge befinden), an denen sich mehr als 10.000 Menschen beteiligten. Eine ultra-nationalistische Konstruktion namens „Arbeiterpartei“ hatte für den 16. September zu einer Demonstration unter dem Motto: „Syrer und Türken sind Brüder“ aufgerufen. Obwohl der Gouverneur von Hatay die Demonstration offiziell verboten hatte, versammelten sich Tausende von Menschen, die keinerlei Beziehungen zu irgendwelchen politischen Organisationen pflegten, im angemeldeten Demonstrationsareal. Diese Massen stritten mit den Repräsentanten der „Arbeiterpartei“ und drängten sie letztendlich aus der Demonstration, nachdem die angeblich regimekritischen Mitglieder der „Arbeiterpartei“ eine Presseankündigung verbreiteten, in der sie die Massen aufforderten, nach dem Ende der Demonstration auseinanderzugehen. Die Einwohner von Hatay wurden von der Polizei attackiert, nachdem die Mitglieder der „Arbeiterpartei“ die Demonstration verlassen hatten; einige von den Demonstranten wurden in Gewahrsam genommen. Doch die Massen setzten sich gegen die Polizei zur Wehr. Bis in die Nacht hinein dauerten die Zusammenstöße in den Innenstadtbezirken, bis die Polizei letztlich die Festgenommenen wieder frei ließ.

Davon abgesehen, ist noch die Demonstration in Akçakale gleich nach der Bombardierung eine Erwähnung wert, auf der einige Hundert Menschen, darunter Angehörige der Verstorbenen, gegen die Regierung gerichtete Slogans skandierten und zum Rücktritt des Gouverneurs von Akçakale und Urfa aufriefen. Der Bürgermeister von Akçakale, ein Mitglied der herrschenden AKP, der zum Zeitpunkt der aufsehenerregenden Demonstration im Fernsehen zu sehen war, erklärte, dass er nicht verstehe, warum diese Demonstration stattgefunden hat. In der Zwischenzeit griff die Polizei die Demonstranten an. Diese Demonstration führte ebenfalls zu Zusammenstößen mit der Polizei.

Erst kürzlich, am 8. Oktober, als das Kriegsermächtigungsgesetz verabschiedet wurde, gab es Antikriegsdemonstrationen in zahllosen Städten der Türkei. All diese Demonstrationen, die größte in Istanbul, wo sich nach einigen Angaben bis zu hunderttausend Menschen versammelt hatten, wurden von der Polizei gewaltsam attackiert.

Der Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK, der nun schon seit mehr als dreißig Jahren andauert, hat eine wachsende Feindseligkeit unter einer bedeutenden Anzahl von Menschen in der Westtürkei gegen den Krieg ausgelöst und die Erkenntnis bewirkt, dass jene, die in diesem Krieg sterben, nicht die Kinder der Herrschenden sind, sondern ihre eigenen Kinder. In diesem Sinn kann man durchaus sagen, dass der türkischen Arbeiterklasse allgemein nicht nach Krieg zumute ist. Die Reaktion des Staates manifestiert sich in der Form der Brutalität gegen alle Arten von Antikriegsdemonstrationen, von den winzigsten bis zu den massiveren. Dies bringt die Massen dazu, mehr oder weniger sofort mit den bewaffneten Kräften des Staates zusammenzustoßen, und zeigt den Massen, dass es notwendig ist zu kämpfen, um sich dem Krieg erfolgreich zu widersetzen – die Tatsache, dass die Demonstranten in Hatay und Akçakale, von denen eine überwältigende Mehrheit vor dem Krieg unpolitisch war, sich wirksam gegen die Attacken zur Wehr setzten und spontan mit der Polizei aneinandergerieten, ist ein Beweis für dieses Phänomen. Davon abgesehen, schufen besonders die Organisationen der bürgerlichen Linken mit ihren Pro-Assad-, populistischen oder pazifistischen Slogans sehr große Illusionen und Konfusionen unter den Antikriegs-Massen. Auf diese Weise helfen sie, Gegenreaktionen zum imperialistischen Krieg auf der Grundlage des Klassenkrieges zu verhindern.

Entgegen aller Arten von Pro-Assad-, populistischen und pazifistischen Illusionen muss die Antikriegsbewegung, um erfolgreich zu sein, und die Arbeiterklasse, um zu vermeiden, dass das Leben und Blut ihrer Kinder den Interessen des imperialistischen türkischen Staates geopfert werden, sich den Schlachtruf zu eigen machen, den Lenin 1914 gegen den I. Weltkrieg vorgebracht hatte:

„Revolutionärer Klassenkrieg gegen den imperialistischen Krieg!“

Gerdün

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