Bericht über den internationalen Klassenkampf für den 24. Kongress der IKS

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Teil 1: Aufbau auf der Arbeit unseres 23. Kongresses

Auf ihrem 23. Internationalen Kongress stellte die IKS klar, dass wir zwischen dem Konzept des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und dem Begriff des Historischen Kurses unterscheiden müssen. Ersteres gilt für alle Phasen des Klassenkampfes, sowohl im Aufstieg als auch in der Dekadenz, während der zweite nur für die Dekadenz gilt und dann auch nur in der Zeit zwischen dem Vorlauf zum Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Die Idee eines Historischen Kurses macht nur in Phasen Sinn, in denen es möglich wird, die allgemeine Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft entweder auf einen Weltkrieg oder auf entscheidende Klassenkonfrontationen hin vorherzusagen. So konnte die Italienische Linke in den 1930er Jahren erkennen, dass die vorangegangene Niederlage des Weltproletariats in den 1920er Jahren einen Kurs in Richtung des Zweiten Weltkriegs eröffnet hatte, während die IKS nach 1968 richtig argumentierte, dass der Kapitalismus ohne eine frontale Niederlage einer wiederauflebenden Arbeiterklasse nicht in der Lage sein würde, das Proletariat für einen Dritten Weltkrieg zu rekrutieren. Im Gegensatz dazu kann das System in der Phase des Zerfalls, dem Produkt einer historischen Pattsituation zwischen den Klassen, selbst wenn der Weltkrieg durch den Zerfall des Blocksystems für die absehbare Zukunft von der Tagesordnung entfernt wurde, in andere Formen der irreversiblen Barbarei abgleiten, ohne dass es zu einer frontalen Konfrontation mit der Arbeiterklasse kommt. In einer solchen Situation wird es viel schwieriger zu erkennen, wann ein "Point of no return" erreicht und die Möglichkeit einer proletarischen Revolution ein für alle Mal begraben ist.

Aber die "Unvorhersehbarkeit" im Zerfall bedeutet keineswegs, dass es den Revolutionären nicht mehr um die Einschätzung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen gehen würde. Dieser Punkt wird offensichtlich durch den Titel der Resolution des 23. Kongresses zum Klassenkampf bekräftigt: Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Es gibt zwei Schlüsselelemente dieser Resolution, die wir hier hervorheben müssen:

- "Im Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist es immer die herrschende Klasse, die in der Offensive ist, außer in einer revolutionären Situation" (Punkt 9). In bestimmten Momenten können die Verteidigungskämpfe der Arbeiterklasse die Angriffe der Bourgeoisie zurückdrängen, aber in der Dekadenz besteht die Tendenz, dass solche Siege immer begrenzter und kurzlebiger werden: Dies ist ein zentraler Faktor, damit die proletarische Revolution in dieser Epoche sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Möglichkeit wird;

- Das primäre Mittel zur "Messung" des Kräfteverhältnisses ist die Beobachtung der Tendenz der Arbeiterklasse, ihre Klassenautonomie zu entwickeln und ihre eigene Lösung für die historische Krise des Systems zu präsentieren. Kurz gesagt, die Tendenz zur Politisierung – die Entwicklung des Klassenbewusstseins bis zu dem Punkt, an dem die Arbeiterklasse die Notwendigkeit begreift, die politische Maschinerie der herrschenden Klasse zu konfrontieren und zu stürzen und sie durch ihre eigene Klassendiktatur zu ersetzen.

Diese Themen sind der "rote Faden", der sich durch die Resolution zieht, wie im ersten Abschnitt angekündigt:

"Ende der 1960er Jahre, mit der Erschöpfung des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit, war die Arbeiterklasse angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen wieder auf der gesellschaftlichen Bühne aufgetaucht. Die international explodierenden Arbeiterkämpfe beendeten die längste Zeit der Konterrevolution in der Geschichte, öffneten einen neuen historischen Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen und hinderten die herrschende Klasse daran, ihre eigene Antwort auf die akute Krise des Kapitalismus zu geben: einen dritten Weltkrieg. Dieser neue historische Kurs war durch das Aufkommen massiver Kämpfe gekennzeichnet, insbesondere in den zentralen Ländern Westeuropas mit der Bewegung vom Mai 1968 in Frankreich, gefolgt vom „Heißen Herbst“ in Italien 1969 und vielen anderen Kämpfen wie in Argentinien im Frühjahr 1969 und in Polen im Winter 1970-71. In diesen massiven Bewegungen erhoben große Teile der neuen Generation, die keinen Krieg erlebt hatten, erneut die Perspektive des Kommunismus zur realen Möglichkeit.

Im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Bewegung der Arbeiterklasse in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren müssen wir auch die internationale Wiederbelebung der organisierten Kommunistischen Linken in einem sehr kleinen, aber nicht minder bedeutenden Ausmaß hervorheben, der Tradition, die der Flagge der proletarischen Weltrevolution in der langen Nacht der Konterrevolution treu geblieben war. In diesem Prozess stellte die Gründung der IKS einen wichtigen Impuls für die Kommunistische Linke als Ganzes dar.

Angesichts einer Dynamik, die zu einer Politisierung der Arbeiterkämpfe führte, entwickelte die Bourgeoisie (die von der Bewegung vom Mai 1968 überrascht worden war) sofort eine groß angelegte und langfristige Gegenoffensive, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse ihre eigene Antwort auf die historische Krise der kapitalistischen Wirtschaft gibt: die proletarische Revolution."[1]

Die Resolution zeichnet dann in groben Zügen nach, wie die Bourgeoisie, die machiavellistische Klasse schlechthin, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzte, um diese Dynamik zu blockieren:

- In einer ersten Phase, in der sie der Arbeiterklasse eine rein bürgerliche politische Alternative anbot. In den späten 60er und frühen 70er Jahren durch die Entgleisung ihrer Bestrebungen in Richtung der falschen Morgendämmerung linker Regierungen, die in der Lage wären, den Kapitalismus zu humanisieren und sogar eine sozialistische Gesellschaft einzuführen, und ab den späten 70er Jahren durch die Arbeitsteilung zwischen einer harten Rechten an der Macht, die die von der Wirtschaftskrise geforderten brutalen Kürzungen des Lebensstandards der Arbeiterklasse durchführt, und einer "Linken in der Opposition", die besser in der Lage ist, die Bedrohung durch die Wellen des Kampfes, die diese Periode kennzeichneten, aufzufangen;

- den umfangreichen Einsatz der extremen Linken des Kapitals (Maoisten, Trotzkisten usw.), um die wachsende Suche nach politischen Antworten durch eine signifikante Minderheit der neuen Generation wieder einzufangen;

- die Aktionen von radikalen Gewerkschaften und sogar "außergewerkschaftlichen" Organisationsformen, die von der extremen Linken manipuliert werden, um die wachsende Enttäuschung der Arbeiter über die Gewerkschaften und die Gefahr, dass die Arbeiter zu einem politischen Verständnis der Rolle der Gewerkschaften in der dekadenten Epoche gelangen, zum Entgleisen zu bringen;

- der Einsatz von korporatistischer und nationalistischer Ideologie, um wichtige Arbeiterkämpfe zu isolieren und, wo nötig, durch direkte staatliche Repression zu zerschlagen (vgl. den Bergarbeiterstreik in Großbritannien und, in viel größerem Maßstab, den Massenstreik in Polen 1980);

- die bewusste Reorganisation der globalen Produktion und des Handels, die ab den 1980er Jahren einsetzte: die Politik der "Globalisierung" war zwar grundsätzlich von der Notwendigkeit bestimmt, auf die Wirtschaftskrise zu reagieren, enthielt aber auch ein direkt arbeiterfeindliches Element, indem sie versuchte, traditionelle Zentren proletarischer Kampfkraft aufzubrechen und die Klassenidentität zu untergraben;

- Der tatsächlich stattfindende Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft wandte sich gegen die Arbeiterklasse. So wurde die in dieser neuen Phase verstärkte Tendenz des "Jeder für sich selbst" genutzt, um die gesellschaftliche Atomisierung und korporatistische Spaltung zu verstärken. Vor allem der Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" im Ostblock war der Startschuss für eine gigantische Kampagne über den vorgeblichen Tod des Kommunismus, die die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse, eine eigene revolutionäre Perspektive zu entwickeln, vertiefte und erweiterte.

Während diese Schwierigkeiten bereits in den 1980er Jahren wuchsen – und die Wurzel der Pattsituation zwischen den Klassen bildeten –, eröffneten die Ereignisse von 1989 nicht nur endgültig die Phase des Zerfalls, sondern brachten einen tiefgreifenden Rückzug der Klasse auf allen Ebenen mit sich: in ihrer Kampfbereitschaft, in ihrem Bewusstsein, in ihrer eigentlichen Fähigkeit, sich als spezifische Klasse in der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen. Darüber hinaus beschleunigte sie alle negativen Tendenzen des gesellschaftlichen Zerfalls, die schon in der vorangegangenen Periode eine Rolle gespielt hatten: das krebsartige Wachstum von Egoismus, Nihilismus und Irrationalität, die die natürlichen Produkte einer Gesellschaftsordnung sind, die der Menschheit keine Perspektive für ihre Zukunft mehr bieten kann.[2]

Die Resolution des 23. Kongresses bekräftigt auch, dass es trotz aller negativen Faktoren der Zerfallsphase, die das Kräfteverhältnis ungünstig bestimmen, immer noch Anzeichen für eine proletarische Gegentendenz gab. Insbesondere die Studentenbewegung gegen den CPE in Frankreich 2006 und die Indignados-Bewegung in Spanien 2011 sowie das Wiederauftauchen neuer Leute, die nach genuin kommunistischen Positionen suchen, liefern konkrete Beweise dafür, dass das Phänomen der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, das Wühlen des "alten Maulwurfs", auch in der neuen Phase noch wirkt. Das Streben einer neuen Generation von Proletariern, die Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen, das erneute Interesse an früheren Bewegungen, die die Möglichkeit einer revolutionären Alternative aufgeworfen hatten (1917-23, Mai 68 usw.), bestätigen, dass die Perspektive einer zukünftigen Politisierung nicht im Schlamm des Zerfalls ertränkt wurde. Doch bevor wir weiter zu einem besseren Verständnis des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen im letzten Jahrzehnt, und vor allem im Gefolge der Covid-Pandemie, vorstoßen, ist es notwendig, tiefer darauf einzugehen, was genau mit dem Begriff Politisierung gemeint ist.

Teil 2. Die Bedeutung der Politisierung

Die marxistische Avantgarde der Arbeiterbewegung hat in ihrer ganzen Geschichte dafür gekämpft, die Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Aspekten des Klassenkampfes zu klären: ökonomisch und politisch, praktisch und theoretisch, defensiv und offensiv. Der tiefe Zusammenhang zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension wurde von Marx in seiner ersten Polemik mit Proudhon hervorgehoben:

"Man sage nicht, daß die gesellschaftliche Bewegung die politische ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre.

Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein."[3]

Diese Polemik setzte sich in den Tagen der Ersten Internationale im Kampf gegen die Lehren von Bakunin fort. In dieser Periode war die Notwendigkeit, die politische Dimension des Klassenkampfes zu bekräftigen, vor allem mit dem Kampf um Reformen und damit mit der Intervention in die parlamentarische Arena der Bourgeoisie verbunden. Aber der Konflikt mit den Anarchisten sowie die praktischen Erfahrungen der Arbeiterklasse warfen auch Fragen auf, die mit der offensiven Phase des Kampfes zusammenhingen, vor allem mit den Ereignissen der Pariser Kommune, dem ersten Beispiel der politischen Macht der Arbeiterklasse.

In der Zeit der Zweiten Internationale, vor allem in ihrer Degenerationsphase, begann ein neuer Kampf: der Kampf der linken Strömungen gegen die wachsende Tendenz, die ökonomische Dimension, die als Spezialität der Gewerkschaften angesehen wurde, und die politische Dimension, die sich zunehmend auf die Bemühungen der Partei um Sitze in bürgerlichen Parlamenten und Kommunen reduzierte, rigide zu trennen.

Mit dem Anbruch der dekadenten Epoche des Kapitalismus bekräftigten das dramatische Auftreten des Massenstreiks 1905 in Russland und die Entstehung der Sowjets die wesentliche Einheit der ökonomischen und der politischen Dimension und die Notwendigkeit unabhängiger Klassenorgane, die beide Aspekte miteinander verbinden. Wie Luxemburg es in ihrem Pamphlet über den Massenstreik, das im Wesentlichen eine Polemik gegen die überholten Vorstellungen der sozialdemokratischen Rechten und der Mitte war, ausdrückte:

"Es gibt nicht zwei verschiedene Klassenkämpfe der Arbeiterklasse, einen ökonomischen und einen politischen, sondern es gibt nur einen Klassenkampf, der gleichzeitig auf die Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Abschaffung der Ausbeutung mitsamt der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet ist."[4]

Es ist jedoch notwendig, daran zu erinnern, dass diese beiden Dimensionen zwar Teile einer Einheit sind, aber nicht identisch, und ihre Einheit wird von den Arbeitern, die sich in den tatsächlichen Kämpfen engagieren, oft nicht begriffen. Selbst wenn ein Streik um wirtschaftliche Forderungen schnell mit der aktiven Opposition von Organen des bürgerlichen Staates (Regierung, Polizei, Gewerkschaften usw.) konfrontiert wird, ist vielleicht der "objektiv" politische Kontext des Kampfes nur für eine militante Minderheit der beteiligten Arbeiter offensichtlich.

Darüber hinaus wird betont, dass innerhalb der Bewegung hin zu einem Bewusstsein für die politischen Implikationen des Kampfes zwei unterschiedliche Dynamiken im Spiel sind: einerseits das, was man als Politisierung der Kämpfe bezeichnen könnte, und andererseits die Entstehung von politisierten Minderheiten, die mit dem unmittelbaren Aufschwung des offenen Kampfes verbunden sein können oder auch nicht.

Und wieder haben wir es im ersten Fall mit einem Prozess zu tun, der sich durch verschiedene Phasen bewegt. In der Dekadenz kann es zwar keine proletarische Intervention in die bürgerliche politische Sphäre mehr geben, aber es kann immer noch defensive politische Forderungen und Debatten geben, die noch nicht die Frage der politischen Macht oder einer neuen Gesellschaft stellen, z. B. wenn Proletarier darüber diskutieren, wie sie auf Polizeigewalt reagieren sollen, wie bei den Massenstreiks in Polen 1980 oder der Anti-CPE-Bewegung 2006. Erst in einem sehr fortgeschrittenen Stadium des Kampfes können die Arbeiter*innen die Ergreifung der politischen Macht als ein wirkliches Ziel ihrer Bewegung ins Auge fassen. Nichtsdestotrotz ist das, was die Politisierung von Kämpfen im Allgemeinen charakterisiert, der Ausbruch einer massiven Debattenkultur, wo der Arbeitsplatz, die Straßenecke, der öffentliche Platz, Universitäten und Schulen Schauplätze leidenschaftlicher Diskussionen darüber sind, wie der Kampf vorangebracht werden kann, wer die Feinde des Kampfes sind, über seine Organisationsmethoden und allgemeinen Ziele, wie Trotzki und John Reed sie in ihren Büchern über die Russische Revolution von 1917 beschrieben haben und die vielleicht das wichtigste "Warnzeichen" für die Bourgeoisie über die Gefahren waren, die von den Ereignissen von Mai/Juni 1968 in Frankreich ausgingen.

Für den Marxismus ist die kommunistische Minderheit eine Emanation der Arbeiterklasse, aber der Arbeiterklasse, gesehen als historische Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft; sie ist kein mechanisches Produkt ihrer unmittelbaren Kämpfe. Sicherlich kann die Erfahrung eines bitteren Klassenkonflikts einzelne Arbeiter zu revolutionären Schlussfolgerungen treiben, aber Kommunisten können auch "gemacht" werden, indem man über die allgemeinen Bedingungen des Proletariats und des Kapitalismus im Allgemeinen nachdenkt, und sie können auch ihren soziologischen Ursprung in Schichten außerhalb des Proletariats haben. So drückt es Marx in der "Deutschen Ideologie" aus:

"In der Entwicklung der Produktivkräfte kommt ein Stadium, wo Produktionskräfte und Verkehrsmittel ins Leben gerufen werden, die unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil stiften, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte sind (...) und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann".        

Offensichtlich ist die Konvergenz der beiden Dynamiken – der Politisierung der Kämpfe und der Entwicklung der revolutionären Minderheit – wesentlich für das Entstehen einer revolutionären Situation; und wir können sogar sagen, dass eine solche Konvergenz, wie sie der einleitende Abschnitt der Resolution für den Mai 68 in Frankreich feststellt, der Ausdruck einer Verschiebung des Verlaufs der Geschichte hin zu großen Klassenauseinandersetzungen sein kann. In ähnlicher Weise sind die Fortschritte im allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse und das Auftreten politisierter Minderheiten beides an der Wurzel Produkte der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die auch dann weitergehen kann, wenn der offene Kampf aus dem Blickfeld verschwunden ist. Die beiden Dynamiken zu verwechseln, kann aber auch zu falschen Schlussfolgerungen führen, insbesondere zu einer Überschätzung des unmittelbaren Potenzials des Klassenkampfes. Wie der englische Ausdruck besagt: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.

Die Resolution (Punkt 6) warnt uns auch vor den ganz erheblichen Schwierigkeiten, die der Bewusstwerdung der Arbeiterklasse im Wege stehen, dass sie "entweder revolutionär oder nichts" ist. Sie spricht von der Natur der Arbeiterklasse als einer ausgebeuteten Klasse, die allen Zwängen der herrschenden Ideologie unterworfen ist, so dass "das Klassenbewusstsein nicht von Sieg zu Sieg voranschreiten kann, sondern sich nur ungleichmäßig durch eine Reihe von Niederlagen entwickeln kann"; sie stellt auch fest, dass die Klasse in der Dekadenz mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist, zum Beispiel: dem Nichtvorhandensein von Massenorganisationen, in denen die Arbeiter eine politische Kultur aufrechterhalten und entwickeln können; dem Nichtvorhandensein eines Minimalprogramms, was bedeutet, dass der Klassenkampf die schwindelerregenden Höhen des Maximalprogramms erklimmen muss; der Verwendung früherer Instrumente der Arbeiterorganisationen gegen den Klassenkampf, was – insbesondere im Fall des Stalinismus – dazu beigetragen hat, eine Kluft zwischen den echten kommunistischen Organisationen und der Masse der Arbeiterklasse zu schaffen. An anderer Stelle betont die Resolution in Anlehnung an unsere Thesen zum Zerfall die neuen Schwierigkeiten, die durch die besonderen Bedingungen der letzten Phase des kapitalistischen Niedergangs entstehen.

Eine dieser Schwierigkeiten wird in der Resolution ausführlich behandelt: die Gefahr, die von klassenübergreifenden Kämpfen wie den Gelbwesten in Frankreich oder den Volksaufständen ausgeht, die durch die zunehmende Verelendung der Massen in den weniger "entwickelten" Ländern ausgelöst werden. In all diesen Bewegungen, in einer Situation, in der die Arbeiterklasse ein sehr niedriges Niveau der Klassenidentität hat und noch weit davon entfernt ist, ihre Kräfte so zu bündeln, dass sie dem Zorn und der Unzufriedenheit, die sich in der Gesellschaft aufbauen, eine Perspektive geben könnte, nehmen die Proletarisierten nicht als eigenständige soziale und politische Kraft teil, sondern als eine Masse von Individuen. In einigen Fällen sind diese Bewegungen nicht nur klassenübergreifend und vermischen proletarische Forderungen mit den Bestrebungen anderer sozialer Schichten (wie im Fall der Gelbwesten), sondern vertreten offen bürgerliche Ziele, wie die Demokratieproteste in Hongkong oder die Illusion von nachhaltiger Entwicklung oder Rassengleichheit innerhalb des Kapitalismus, wie im Fall der Youth-for-Climate-Märsche und der Black-Lives-Matter-Proteste. Die Resolution ist nicht ganz präzise, was die hier zu treffende Unterscheidung angeht, was ein Spiegelbild breiterer Probleme in den Analysen der IKS zu solchen Ereignissen ist: daher die Notwendigkeit eines speziellen Abschnitts in diesem Bericht, der diese Fragen klärt.

Teil 3: Die zentrale Gefahr des Interklassismus

"Aufgrund der gegenwärtigen großen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse bei der Entwicklung ihrer Kämpfe, aufgrund ihrer Unfähigkeit, im Moment ihre Klassenidentität wiederzuerlangen und eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft zu eröffnen, neigt das soziale Terrain dazu, von klassenübergreifenden Kämpfen besetzt zu sein, denen insbesondere das Kleinbürgertum den Stempel aufdrückt. (...) Diese klassenübergreifenden Bewegungen sind das Ergebnis einer Perspektivlosigkeit, die die Gesellschaft als ganze betrifft, einschließlich eines wichtigen Teils der herrschenden Klasse selbst. (...) Der Kampf um die Klassenautonomie des Proletariats ist in dieser Situation, die durch die Verschärfung des Zerfalls des Kapitalismus diktiert wird, von entscheidender Bedeutung:

- gegen klassenübergreifende Kämpfe;

- gegen Teilbereichskämpfe aller Arten von sozialen Kategorien, die eine falsche Illusion einer „Schutzgemeinschaft“ vermitteln;

- gegen die Mobilisierungen auf dem faulen Terrain von Nationalismus, Pazifismus, „ökologischer“ Reform usw." (Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, 23. Kongress der IKS)

Wiederkehrende Schwierigkeiten bei der Analyse des Charakters der sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind

Klassenübergreifende Kämpfe und partielle Kämpfe sind Hindernisse für die Entwicklung des Arbeiterkampfes. Wir haben in letzter Zeit gesehen, wie schwer es der IKS gefallen ist, diese beiden Fragen zu meistern:

- Wir haben die Gelbwesten zu Beginn als eine Bewegung mit positiven Elementen für den Klassenkampf gesehen (wegen des Themas der Ablehnung der Gewerkschaften);

- in der Jugendbewegung um die Klimafrage, die ein Teilbereichskampf ist, haben wir die Mobilisierung der Jugendlichen als etwas Positives gesehen und dabei Punkt 12 unserer Plattform vergessen;

- bei der Ermordung von George Floyd gab es Tendenzen, sie als eine klassenübergreifende Bewegung zu sehen, als die Empörung, die sie auslöste, zu einer Mobilisierung auf einem direkt bürgerlichen Terrain führte, die eine demokratischere Polizei und Justiz forderte.

Langanhaltende Schwierigkeiten

Die Bilanz der Bewegungen im Nahen Osten: eine zu klärende Frage

Die Einleitung zur Diskussion über den Klassenkampf am 23. Kongress erinnerte daran, dass die Analyse der Bewegungen des Arabischen Frühlings nicht in die kritische Bilanz aufgenommen wurde, die wir seit dem 21. Kongress durchführten, trotz ungeklärter Differenzen, insbesondere „der Fragen opportunistischer Ausrutscher, die wir in der Vergangenheit z.B. gegenüber der klassenübergreifenden Bewegung des Arabischen Frühling und anderer machten“[5].

Zurück zu unserer Analyse der Bewegungen von 2011

Wenn die Organisation in ihrer Intervention auch nicht den Begriff "Interklassismus" benutzte, um diese Bewegungen zu qualifizieren, so beschrieb sie sie doch in einer Weise, die alle Merkmale einer klassenübergreifenden Bewegung entwickelte und zeigte, dass sie über deren Wesen nicht völlig im Dunkeln tappte: "Die Arbeiterklasse hat bis anhin noch nicht als eine selbständige Kraft auftreten können in dem Sinne, dass sie die Richtung der Revolten, welche sich oft als Revolten aller ausgebeuteten Schichten, der ruinierten Bauernschaft und der verarmenden Mittelschichten manifestierten, hätte in die Hände nehmen können."[6]

Die damals entwickelte Position – „Im Allgemeinen steht die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie spielt sicherlich eine wesentliche Rolle und übt Einfluss aus, was sich an den Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen an der spezifischen Entwicklung der Arbeiterkämpfe ablesen lässt, wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten[7] – schaffte es nicht, das Klassenterrain, auf dem sie sich entwickelten, genau zu verorten oder die Dynamik der Arbeiterkomponente herauszuarbeiten, die in diesen Bewegungen zu finden war.

- Unsere Analyse basierte auf einer von Empirie geprägten Herangehensweise: Der Vergleich mit dem Iran 1979, der sicherlich anregend war, wurde herangezogen, ohne ihn in die neue Situation zu stellen, ohne ihn mit Hilfe unseres Rahmens zu rekontextualisieren: "Bei dem Versuch, den Klassencharakter dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei sich ergänzende Fehler vermeiden: auf der einen Seite die Vermengung all dieser Massen mit dem Proletariat (eine Position, die am deutlichsten von der Groupe Communiste Internationaliste - GCI verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Ablehnung alles Positiven in den Revolten, da sie nicht explizite Arbeiterrevolten sind. "[8] Der zweite Teil des Zitats macht Zugeständnisse an eine Herangehensweise, die "positive Punkte" und "negative Punkte" betrachtet, ohne sie auf ihren Klassencharakter zu gründen.

- Eine Überschätzung dieser Bewegungen: "All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, es stehen noch viele Hindernisse im Weg, Illusionen und ideologische Schwächen"[9]; "Alle diese Revolten sind eine großartige Erfahrung auf dem Weg hin zu einem revolutionären Bewusstsein"[10].

Schwächen bei der Anwendung unseres politischen Rahmens

Vergessen des Rahmens der Kritik des schwachen Glieds

Obwohl die Organisation zu Recht darauf hinwies, dass die Indignados-Bewegung und die Aufstände der ausgebeuteten Klassen und insbesondere der Arbeiterklasse im Nahen Osten einen gemeinsamen Ursprung in den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise haben, tat sie dies, indem sie alle Bewegungen, ob sie nun aus den zentralen Ländern oder aus den Ländern der Peripherie kamen, auf die gleiche Ebene stellte oder sie amalgamierte. Das heißt, ohne sie in den Rahmen der Kritik der Theorie des schwachen Gliedes zu stellen (siehe die Resolution zur internationalen Lage vom 20. Kongress)[11].

Die IKS definierte die Indignados-Bewegung als eine Bewegung der Arbeiterklasse, gekennzeichnet durch:[12]

- einen Verlust der Klassenidentität: "Dies erklärt zum Teil, weshalb die Teilnahme der Arbeiterklasse an diesen Bewegungen nicht im Vordergrund stand, sondern dass sich eher Arbeiter als Individuen beteiligten (Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner…), die nach einer Klärung suchen, sich gefühlsmäßig beteiligen, die aber nicht über die Kraft, den Zusammenhalt und die Klarheit verfügen, die man erlangt, wenn man kollektiv als Klasse handelt".

- die Anwesenheit nicht-proletarischer Schichten: "Unter den Empörten gibt es viele Mitglieder nicht-proletarischer Schichten, insbesondere eine immer stärker lohnabhängig werdende Mittelschicht". "Obgleich die Bewegung als sehr vage und ungenau definiert erscheint, stellt dies ihren Klassencharakter nicht infrage, vor allem wenn wir die Entwicklung in ihrer Dynamik betrachten, d.h. im Hinblick auf die Zukunft (...) Die Arbeiterklasse ist in dieser Bewegung nicht als führende Kraft zu erkennen, auch gibt es keine spürbare Mobilisierung von den Arbeitsplätzen ausgehend. Man spürt vielmehr die Präsenz der Arbeiterklasse anhand der Dynamik des Suchens, der Klärung, der Vorbereitung des gesellschaftlichen Nährbodens, der Erkenntnis, dass wichtige Kämpfe auf uns zukommen. Darin steckt seine Bedeutung, auch wenn dies nur ein sehr kleiner, sehr unsicherer Schritt ist."

Unsere Texte aus dieser Zeit machen keinen Unterschied zwischen der Indignados-Bewegung in Spanien und den Revolten in den arabischen Ländern. Es gibt jedoch sehr wichtige Unterschiede: In Spanien dominierte der proletarische Flügel die Indignados-Bewegung zwar nicht, aber er kämpfte für seine eigene Autonomie angesichts der Bemühungen von "Demokratie Jetzt", ihn zu zerstören. In den arabischen Ländern war das Proletariat bestenfalls nicht in der Lage, sich auf seinem eigenen Terrain zu behaupten oder seine eigenen Kampfmethoden zu nutzen, um sein Bewusstsein zu entwickeln, und ließ sich hinter nationalistischen und demokratischen Fraktionen mobilisieren[13].

Fehlen des Rahmens des Zerfalls

Ohne jemals die Existenz des Zerfalls oder das Gewicht der tiefgreifenden Schwierigkeiten in diesen Bewegungen zu leugnen, stand die Analyse dieser Bewegungen in den arabischen Ländern mit ihrer Betonung der "positiven Aspekte" der sozialen Revolten[14] nicht im Kontext des Zerfalls[15]. Dies führte dazu, die entschiedene Anprangerung des demokratischen und nationalistischen Giftes abzuschwächen, das in diesen Ländern so mächtig war, und der Gefahr, die es vor allem in diesen Teilen der Welt darstellte, aber auch und vor allem der Propaganda der westlichen Bourgeoisien gegenüber dem europäischen Proletariat, die die Notwendigkeit der Demokratie in den arabischen Ländern betonte.

Allgemeinere Schwächen der Organisation, die ihre Analysen und Stellungnahmen bestimmen

Die Ungeduld, nach der Wiederbelebung der Kämpfe im Jahr 2003 überall und schnell einen Ausweg aus dem Rückzug nach 1989 zu sehen, war eine schwere Last: "Die jüngste internationale Welle von Revolten gegen die kapitalistische Sparpolitik öffnet die Tür zu einer anderen Lösung: die Solidarität aller Ausgebeuteten über religiöse oder nationale Spaltungen hinweg; Klassenkampf in allen Ländern mit dem ultimativen Ziel einer weltweiten Revolution, die die Negation der nationalen Grenzen und Staaten sein wird. Ein oder zwei Jahre zuvor wäre eine solche Perspektive für die meisten völlig utopisch gewesen. Heute betrachtet eine wachsende Zahl von Menschen die globale Revolution als eine realistische Perspektive gegenüber der kollabierenden Ordnung des globalen Kapitals."[16]

Die Position der IKS war nicht nur von einer allgemeinen Überschätzung der Situation geprägt, sondern innerhalb dieser von einer Überschätzung der Bedeutung der Bewegungen in den arabischen Ländern für die Entwicklung einer proletarischen Perspektive. Ebenso wirkte sich die Tendenz, die Bedeutung der Debatte im politischen proletarischen Milieu zu vernachlässigen, negativ aus: Während der Beitrag des NCI zur Analyse der Piqueteros-Bewegung 2002-4 sehr wichtig gewesen war, war die IKS nicht in der Lage, die von Internationalist Voice daran geübte Kritik zu berücksichtigen (die allerdings nicht auf dem gleichen Niveau der Klarheit war wie die Analyse des NCI).

Haben wir bei der Analyse der arabischen Bewegungen opportunistische Fehler gemacht?

Wir können aus diesen Tatsachen schließen, dass die IKS zwar in der Analyse der Bewegungen in den arabischen Ländern im Jahr 2011 ihren massenhaften Charakter untersuchte, auch ihre Gleichzeitigkeit mit anderen Bewegungen in den westlichen Ländern sowie die Formen, die diese Bewegungen angenommen haben (Versammlungen etc.), auch die Anwesenheit der Arbeiterklasse (im Unterschied zum chaotischen Charakter einiger klassenübergreifender Unruhen oder von Mobilisierungen, die von linken Gruppen kontrolliert waren, wie z.B. den Piqueteros), doch all dies, ohne einen Schritt zurückzutreten und einen klaren Blick auf das zu haben, was sie wirklich darstellten, in einem Kontext, in dem die erfahrensten Teile des Weltproletariats nicht in der Lage waren, eine Perspektive und eine Richtung anzubieten. Dieser Ansatz war im Immediatismus gefangen.

In dem Gesamtzusammenhang, der die Ungeduld und Überstürzung begünstigte, die in der Organisation herrschte, in der Vorstellung, dass das Weltproletariat den Rückzug nach 1989 bereits massiv überwunden habe, war dieser Immediatismus sicherlich das Vorzimmer zum Opportunismus, der Ausgangspunkt für ein Abgleiten in den Opportunismus und das Aufgeben von Klassenpositionen, was durch die verschiedenen Arten, wie sich dieser Immediatismus manifestierte, belegt werden kann:

- die eher widersprüchliche Art unserer Stellungnahmen zu den Aufständen im Nahen Osten;

- das Fehlen von Kohärenz und Artikulation auf der Grundlage der Grundsatzpositionen der Organisation, die unseren politischen Analysen zugrunde liegen, oder sogar das Vergessen oder Aufgeben dieser Positionen (z.B. das Ersetzen des Konzepts der klassenübergreifenden Kämpfe durch "soziale Revolten“, ohne wirklich zu erklären, was wir mit "sozialen Revolten" meinten);

- die eher empirische und oberflächliche Herangehensweise, die dazu neigt, an der Oberfläche der Dinge zu bleiben und den politischen Rahmen der IKS zu ersetzen;

- die große Rolle, die unsere Auffassung der Empörung als einseitig positiver Faktor für die Entwicklung des proletarischen Bewusstseins (oder sogar als Hinweis auf den positiven Charakter einer Bewegung, angewandt auf alle Arten von Bewegungen) spielte;

- die Tendenz, positive Elemente dort zu sehen, wo die Situation von den größten Gefahren für die Klasse beherrscht wurde, was zu einer Schwächung der Anprangerung der bürgerlichen Ideologie durch die Organisation führte.

Während all diese Elemente zusammen die Bedingungen für offen opportunistische Positionen mit sich bringen – wenn die proletarische Klarheit und die Verteidigung der Klassenpositionen durch die IKS diesen schädlichen Tendenzen nicht ein Hindernis in den Weg stellt –, sollte betont werden, dass die IKS keine Positionen eingenommen hat, die ihrer Plattform und ihren Klassenpositionen direkt widersprechen. Wir müssen diese Schwierigkeiten auf der Ebene dessen einordnen, was sie wirklich sind (was nicht bedeutet, ihre Bedeutung und Gefahren zu relativieren). Die Analyse und Intervention der IKS wurde durch den Immediatismus geschwächt (mit allem, was dies auf der Ebene der Zweideutigkeit, der Oberflächlichkeit, des Mangels an Strenge, des Vergessens der Verteidigung unseres Rahmens und unserer politischen Positionen und einer Dynamik, die dem Opportunismus Tür und Tor öffnet, bedeutet), aber wir können nicht schlussfolgern, dass sie direkt opportunistische Positionen einnahm (was hingegen in Bezug auf die Jugendbewegung um die Ökologie der Fall war).

Beziehung zwischen Teilkämpfen und klassenübergreifenden Kämpfen

Der Ausrutscher gegenüber der Jugendbewegung gegen die ökologische Zerstörung zeigte ein Vergessen von Punkt 12 unserer Plattform: "Die ökologische Frage, wie alle sozialen Fragen (ob Erziehung, familiäre und sexuelle Beziehungen oder was auch immer) sind dazu bestimmt, eine enorme Rolle in jeder zukünftigen Bewusstwerdung und jedem kommunistischen Kampf zu spielen. Das Proletariat, und nur es, hat die Fähigkeit, diese Fragen in sein eigenes revolutionäres Bewusstsein zu integrieren. Dadurch wird es dieses Bewusstsein verbreitern und vertiefen. Es wird so in der Lage sein, alle "Teilbereichskämpfe" zu führen und ihnen eine Perspektive zu geben. Die proletarische Revolution wird sich im Kampf um den Kommunismus mit all diesen Problemen ganz konkret auseinandersetzen müssen. Aber sie können nicht der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer revolutionären Klassenperspektive sein. In Abwesenheit des Proletariats sind sie schlimmstenfalls der Ausgangspunkt für neue Runden der Barbarei. Das Flugblatt und der Artikel der IKS in Belgien sind krasse Beispiele für Opportunismus. Diesmal ist es nicht Opportunismus in organisatorischen Fragen, sondern Opportunismus in Bezug auf die Klassenpositionen, wie sie in unserer Plattform dargelegt sind" (Genosse S., Beitrag im internen Bulletin 2019).

Wir müssen zugeben, dass der Bericht über den Klassenkampf an den 23. Kongress auf dieser Ebene Zweideutigkeiten enthielt. Er nahm eine zweideutige Position über die Natur dieser Bewegungen ein und ließ die Tür offen für die Idee, dass sie eine positive Rolle in der Entwicklung des Bewusstseins spielen könnten.[17]

Wir haben uns schwer getan, zu erkennen, was diese beiden Arten von Bewegungen unterscheidet, mit der Tendenz, sie zu amalgamieren, sie auf dieselbe Ebene zu stellen. Was ist es also, was klassenübergreifende Kämpfe und Teilbereichskämpfe unterscheidet? In klassenübergreifenden Bewegungen werden die Forderungen der Arbeiter verwässert und mit kleinbürgerlichen Forderungen vermischt (vgl. die Gelbwesten). Das ist nicht der Fall bei Teilbereichskämpfen, die sich im Wesentlichen auf der Ebene des Überbaus ausdrücken, deren Forderungen sich auf Themen konzentrieren, die die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft aussparen, auch wenn sie auf den Kapitalismus als Verantwortlichen verweisen können, wie bei der Klimafrage oder bei der Unterdrückung der Frauen, die dem kapitalistischen Patriarchat angelastet wird. Sie sind auch Faktoren der Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse, Spaltungen mit Arbeiter*innen, die im Energiesektor beschäftigt sind im ersten Fall, oder durch die Verstärkung von Spaltungen zwischen den Geschlechtern. Arbeiter*innen können in Teilbereichskämpfe hineingezogen werden, aber das macht sie nicht klassenübergreifend. Es geht darum, den Unterschied zwischen Teilbereichskämpfen und klassenübergreifenden Kämpfen zu klären, und was sie gemeinsam haben können.

Über Empörung

In den 2010er Jahren erkannte die IKS die Empörung als einen wichtigen Bestandteil des Klassenkampfes des Proletariats und als einen Faktor seiner Bewusstwerdung. Allerdings hatte die IKS die Tendenz, ihre Bedeutung "an sich" auf eine etwas metaphysische Art und Weise zu definieren. Eine der Wurzeln unserer Schwierigkeiten liegt in der unangemessenen und einseitigen Verwendung des Begriffs der Empörung als etwas notwendigerweise Positives, ein Anzeichen für Reflexion und sogar für die Entwicklung des Klassenbewusstseins, ohne die Klassennatur ihres Ursprungs oder das Klassenterrain, auf dem sie zum Ausdruck kommt, zu berücksichtigen. Mit dem weiteren Eintauchen in den Zerfall wird es viele Bewegungen geben, die von Empörung, Abscheu, Wut unter großen Schichten der Gesellschaft gegen die Erscheinungen dieser Periode angetrieben werden.

Der Bericht über den Klassenkampf für den 23. IKS Kongress widmet sich unter anderem der Ausbreitung der sozialen Empörung gegen die zerstörerische Natur der kapitalistischen Gesellschaft (z.B. in den Reaktionen gegen die Ermordung von Schwarzen, zur Klimafrage oder gegen die Belästigung von Frauen). Die dabei behauptete Idee, dass diese Bewegungen, die auf Wut basieren, durch das Proletariat übernommenen werden könnten, wenn es nur seine Klassenidentität wiedererlangte und auf seinem Terrain kämpfte, führt eine Zweideutigkeit darüber ein, ob das Proletariat die Führung über solche Bewegungen in ihrer gegenwärtigen Form „übernehmen“ kann. Dies steht im Widerspruch zu dem, was in Punkt 12 unserer Plattform gesagt wird: Der Kampf gegen die ökonomischen Grundlagen des Sys­tems beinhaltet den Kampf gegen den Überbau der kapitalistischen Gesellschaft, aber umgekehrt trifft dies nicht zu." Außerdem behindern solche partiellen Kämpfe tendenziell den Kampf der Arbeiterklasse, ihre Autonomie, und deshalb weiß die Bourgeoisie sehr wohl, wie sie sie zur Erhaltung der kapitalistischen Ordnung übernehmen kann. In diesem Sinne ist die Empörung an sich kein Faktor in der Entwicklung des Klassenbewusstseins: Alles hängt von dem Terrain ab, auf dem sie zum Ausdruck kommt. Diese emotionale Reaktion, die von verschiedenen Klassen kommen kann, führt nicht automatisch zu einer Reflexion, die zur Entwicklung des Klassenbewusstseins beitragen kann.

Die Organisation muss klären: Was wären im historischen Maßstab die Bedingungen für eine autonome proletarische Bewegung, die erfüllt sein müssten, um all den verschiedenen Unmutsäußerungen  und Unterdrückungen, die von der kapitalistischen Gesellschaft auferlegt werden und die heute, in Ermangelung einer proletarischen Führung, ihr einziges Ventil auf dem Terrain klassenübergreifender oder bürgerlicher Mobilisierungen finden, einen völlig neuen Fokus und eine neue Richtung zu geben.

Die Auswirkung der kapitalistischen Krise auf die gesamte Gesellschaft wirft eine weitere Frage auf, die es zu klären gilt: Wie ist das Verhältnis des Kampfes des Proletariats zu anderen Klassen, zu nicht ausbeuterischen Zwischenschichten, die im Kapitalismus noch existieren und in der Lage sind, eigene Mobilisierungen gegen die Politik des Staates zu entwickeln (wie z.B. die Bauernbewegungen)?

Teil 4: Was hat sich seit dem 23. Kongress geändert?

Fast ein Jahrzehnt ist seit der Indignados-Bewegung vergangen. So wichtig sie auch war, sie markierte keineswegs eine Umkehr im Rückzug der 1989 begonnen hatte. Wir wissen auch, dass die Bourgeoisie – vor allem in Frankreich, wo die Gefahr einer politischen Ansteckung am deutlichsten war – Gegenmaßnahmen ergriff, um zu verhindern, dass eine ähnliche oder weiter fortgeschrittene Bewegung in der traditionellen "Heimat" der Revolutionen ausbricht.

In vielerlei Hinsicht hat sich der Rückzug der Arbeiterklasse nach dem Abklingen der Bewegungen um 2011 vertieft. Die Illusionen, die im Arabischen Frühling vorherrschten, sind angesichts der Unfähigkeit der Arbeiterklasse, den verschiedenen Revolten eine Führung zu geben, in Barbarei, Krieg, Terrorismus und grausamer Unterdrückung ertränkt worden. In Europa und den USA hat die populistische Flut, zum Teil genährt durch die barbarischen Entwicklungen in Afrika und im Nahen Osten, die die Flüchtlingskrise und den Rückschlag des islamischen Terrorismus auslösten, einen Teil der Arbeiterklasse überrollt. In der "Dritten Welt" provozierte die zunehmende wirtschaftliche Misere tendenziell Revolten, bei denen die Arbeiterklasse wiederum nicht in der Lage war, sich auf ihrem eigenen Terrain zu manifestieren. Noch deutlicher kam die Tendenz der sozialen Unzufriedenheit, einen klassenübergreifenden Charakter anzunehmen, in einem zentralen Land wie Frankreich mit den Gelbwesten-Demonstrationen zum Ausdruck, die ein ganzes Jahr lang anhielten. Ab 2016, mit dem Machtantritt von Trump und dem Votum für den Brexit in Großbritannien, erreichte der Aufstieg des Populismus spektakuläre Ausmaße und zog einen Teil der Arbeiterklasse in seine Kampagnen gegen die "Eliten" hinein. Und im Jahr 2020 beschleunigte sich dieser ganze Zerfallsprozess mit der Pandemie noch dramatischer. Das durch die Pandemie erzeugte Klima der Angst und die daraus resultierende Abschottung haben die Atomisierung der Arbeiterklasse weiter verstärkt und tiefgreifende Schwierigkeiten für eine Klassenantwort auf die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Covid-19 Krise geschaffen.

Und doch sahen wir, nicht lange bevor die Pandemie zuschlug, eine neue Entwicklung der Klassenbewegungen: die Streiks der Lehrer und der General Motors Autobeschäftigten in den USA; die weit verbreiteten Streiks im Iran 2018, die die Frage der Selbstorganisation aufwarfen, auch wenn sie, entgegen den Übertreibungen von Teilen des proletarischen Milieus, noch weit von der Bildung von Räten entfernt waren. Insbesondere diese Streiks im Iran warfen die Frage der Klassensolidarität angesichts der staatlichen Repression auf.

Vor allem haben wir die Kämpfe in Frankreich Ende 2019 gesehen, wo wichtige Teile der Arbeiterklasse um Klassenforderungen herum auf der Straße waren und die Gelbwesten-Bewegung beiseite schoben, die auf eine symbolische Präsenz im Hintergrund der Aufmärsche reduziert wurde.

Es gab Parallelen in anderen Ländern, zum Beispiel in Finnland. Aber dann traf die Pandemie das Herz Europas und lähmte weitgehend die Möglichkeit der Kämpfe in Frankreich, eine internationale Dimension anzunehmen. Dass dies eine reale Möglichkeit gewesen wäre, zeigte in verschiedensten Ländern der Ausbruch von Streiks von Arbeiter*innen zur Verteidigung ihrer Arbeitsbedingungen angesichts der völlig unzureichenden Gesundheitsmaßnahmen von Staat und Arbeitgebern.[18] Diese Bewegungen konnten sich angesichts der restriktiven Bedingungen der ersten Aussperrung nicht weiterentwickeln, obwohl die zentrale Rolle der Arbeiterklasse bei der Aufrechterhaltung des sozialen Lebens von den Sektoren hervorgehoben wurde, die keine andere Wahl hatten, als während der Aussperrung weiterzuarbeiten: Gesundheit, Transport, Lebensmittelversorgung usw. Die herrschende Klasse bemühte sich sehr, diese Arbeiter*innen als Helden*innen im Dienste der Nation darzustellen, aber die Heuchelei der Regierungen – und damit die Klassengrundlage für die "Opfer", die die Lohnabhängigen zu erbringen hatten – war für viele offensichtlich. In Großbritannien zum Beispiel gab es wütende Proteste der Angestellten im Gesundheitswesen, als klar wurde, dass ihr "Heldentum" keine Lohnerhöhung wert war.[19]

Zusätzlich zu der Pandemie sah sich die Arbeiterklasse schnell mit weiteren Hindernissen für die Entwicklung des Klassenbewusstseins konfrontiert, vor allem in den USA, wo die Black-Lives-Matter-Proteste die Aufmerksamkeit auf das "einzige Thema" der Rasse lenkten, gefolgt von dem riesigen Wahlkampf, der demokratischen Illusionen neuen Auftrieb gab. Beide Kampagnen hatten eine große internationale Wirkung. Insbesondere in den USA bleibt die Gefahr, dass die Arbeiterklasse über die Identitätspolitik von rechts und links in gewaltsame Auseinandersetzungen hinter konkurrierenden bürgerlichen Fraktionen hineingezogen wird, sehr real: Der dramatische Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol zeigt, dass der Trumpismus, auch wenn Trump aus der Regierung entfernt wurde, als mächtige Kraft auf der Straße bestehen bleibt. Schließlich sehen sich die Arbeiter jetzt mit einer weiteren Welle der Pandemie und einer neuen Serie von Abriegelungen konfrontiert, die nicht nur die staatlich erzwungene Atomisierung der Klasse erneuern, sondern auch zu Explosionen der Frustration gegen die Lock-downs geführt haben, die einige Teile der Klasse in reaktionäre Proteste hineingezogen haben, die von Verschwörungstheorien und der Ideologie des "souveränen Individuums" angeheizt wurden.

Für den Moment hat die Kombination all dieser Probleme, aber vor allem die durch die Pandemie auferlegten Bedingungen, als gewichtige Bremse für die fragile Wiederbelebung des Klassenkampfes zwischen 2018 und 2020 gewirkt. Es ist schwer vorherzusagen, wie lange diese Situation andauern wird, und deshalb können wir keine konkreten Perspektiven für die Entwicklung des Kampfes in der kommenden Periode geben. Was wir jedoch sagen können, ist, dass die Arbeiterklasse mit brutalen Angriffen auf ihre Lebensbedingungen konfrontiert sein wird. Dies hat bereits in einer Reihe von Sektoren begonnen, in denen die Arbeitgeber ihre Belegschaften drastisch reduziert haben. Die Regierungen der zentralen Länder des Kapitalismus zeigen immer noch eine gewisse Vorsicht im Umgang mit der Klasse, indem sie Firmen subventionieren, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Angestellten zu halten, indem sie solche, die nicht von zu Hause aus arbeiten können, "beurlauben", um einen sofortigen Absturz in die Verarmung zu verhindern. Ebenso indem sie Maßnahmen ergreifen, um Zwangsräumungen von Mieter*innen zu vermeiden, die ihre Mieten nicht bezahlen können. Dies kostet die Regierungen enorme Summen und erhöht die ohnehin schon angeschwollene Schuldenlast erheblich. Wir wissen, dass früher oder später die Arbeiter*innen dafür zur Kasse gebeten werden.

Teil 5: Debatten über das Gleichgewicht der Klassenkräfte

Die dramatischen Entwicklungen in der Weltlage seit dem letzten IKS-Kongress haben zwangsläufig zu Debatten sowohl innerhalb der Organisation als auch in unserem Milieu von Kontakten und Sympathisant*innen geführt. Diese Debatten haben sich auf die Bedeutung der Pandemie und die Beschleunigung des Zerfalls konzentriert, aber sie haben auch neue Fragen über das Kräfteverhältnis zwischen den Klasse aufgeworfen. Auf dem 24. Kongress unserer Sektion in Frankreich (Révolution Internationale, RI) im Sommer 2020 wurde Kritik am Bericht über den Klassenkampf geäußert, vor allem an seiner Einschätzung der Bewegung gegen die Rentenreformen in Frankreich Anfang 2019. Insbesondere Genossin M. argumentierte – unserer Meinung nach zurecht –, dass darin behauptet wurde, dass die Bewegung einen gewissen Grad an Politisierung erreicht habe, ohne ausreichende Beweise für einen solchen Fortschritt zu liefern; gleichzeitig mangelte es dem Bericht an Klarheit hinsichtlich der Unterscheidung zwischen der Politisierung von Kämpfen und der Politisierung von Minderheiten – eine Unterscheidung, die der vorliegende Bericht zu klären versucht hat. In ihrem Text warnt M. vor einer Überschätzung des gegenwärtigen Niveaus des Klassenkampfes (einem Fehler, den wir in der Vergangenheit oft begangen haben – vgl. den Bericht an den 21. Kongress):

"Die Tendenz, die Kämpfe zu politisieren, zeigte sich keineswegs in der Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich. Es gab keinen Raum für eine proletarische Debatte, keine Generalversammlung. Die Politisierung der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain wird untrennbar mit ihrem Auftauchen aus dem tiefgreifenden Rückzug verbunden sein, den sie seit 1989 erlebt hat. Das Proletariat in Frankreich, wie in allen Ländern, hat noch nicht den Weg zurück zu seiner revolutionären Perspektive gefunden, ein Weg, der durch den Zusammenbruch des Ostblocks blockiert wurde. Mit der Verschärfung der Krise und den Angriffen auf ihre Lebensbedingungen ist es offensichtlich, dass die Arbeiterklasse sich heute mehr und mehr bewusst wird, dass der Kapitalismus ihr keine Zukunft zu bieten hat. Sie sucht nach einer Perspektive, aber sie weiß noch nicht, dass diese Perspektive in ihren Händen und in ihren Kämpfen verborgen und verschüttet ist. Dieses Bewusstsein über die monströse Realität der heutigen Welt bedeutet keine Politisierung auf ihrem eigenen Klassenterrain, d.h. außerhalb des Rahmens der bürgerlichen Demokratie. Trotz seines enormen kämpferischen Potentials (das durch den Einbruch der Pandemie nicht erschöpft wurde) stellt das Proletariat in Frankreich noch nicht die Frage der proletarischen Revolution. Auch wenn das Wort "Revolution" auf einigen Transparenten wieder aufgetaucht ist, welchen Inhalt hat es? Ich glaube nicht, dass es eine Frage der "proletarischen" Revolution ist. Die Arbeiterklasse in Frankreich hat ihre Klassenidentität noch nicht wiedergefunden (die in der Bewegung gegen die Rentenreform noch sehr embryonal war). Es gibt in ihr immer noch eine Ablehnung oder zumindest ein sehr tiefes Misstrauen gegenüber dem Wort 'Kommunismus'."

Darüber hinaus argumentiert M., dass diese Überschätzung der Tendenz zur Politisierung die Tür für eine rätistische Vision öffnen kann: “Die Politisierung der Kämpfe kann nur verifiziert werden, wenn die revolutionäre Avantgarde beginnt, einen gewissen Einfluss in den Arbeiterkämpfen zu haben (vor allem in den Vollversammlungen). Dies ist heute nicht der Fall. Der Bericht von RI öffnet daher die Tür für eine rätistische Vision, indem er behauptet, dass es bereits 'die Anzeichen einer Politisierung des Kampfes' gebe".

Die Gefahr einer rätistischen Sichtweise wird auch in den Divergenzen angesprochen, die Genosse S. auf und nach dem 23. Kongress äußerte, jedoch nicht mit demselben Ausgangspunkt. Diese Divergenzen haben sich seither vertieft und zu einer öffentlichen Debatte geführt, die ihrerseits eine gewisse Wirkung auf einige unserer Kontakte hatte. Insofern sie sich auf das Problem des Gleichgewichts der Klassenkräfte beziehen, berühren diese Divergenzen drei Schlüsselfragen:

- das Potenzial und die Grenzen der wirtschaftlichen Kämpfe,

- die Frage der unterirdischen Reifung,

- die Frage der "politischen Niederlagen". Hier hat die Veröffentlichung der ersten Runde der Debatte über die Divergenzen einige unserer Kontakte dazu veranlasst, Fragen darüber zu stellen, was in den 1980er Jahren passiert sei.

Wirtschaftliche Kämpfe und unterirdische Reifung

In seiner Antwort auf unsere Replik in einem internen Bulletin bekräftigt S., wo er mit dem IKS über die Notwendigkeit des ökonomischen Kampfes übereinstimmt: weil die Arbeiter ihre physische Existenz gegen die kapitalistische Ausbeutung verteidigen müssen; weil die Arbeiter dafür kämpfen müssen, über den Arbeitstag hinaus ein "Leben" zu haben, damit sie Zugang zur Kultur, zu politischen Debatten usw. haben; und weil, wie Marx es ausdrückte, eine Klasse, die auf dieser Ebene nicht für ihre Interessen kämpfen kann, sich gewiss nicht als eine zur Erneuerung der Gesellschaft fähige Kraft präsentieren kann. Aber gleichzeitig, so argumentiert er, sind unter den Bedingungen des Zerfalls, nicht zuletzt durch die Untergrabung einer Perspektive für die soziale Revolution durch die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Ostblocks, die historischen Verbindungen zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Kampfes so weit zerbrochen, dass diese Einheit nicht durch eine Entwicklung der ökonomischen Kämpfe allein wiederhergestellt werden kann. Und hier zitiert er Rosa Luxemburg in Sozialreform oder Revolution, um die IKS vor einem Rückfall in eine rätistische Sichtweise zu warnen, in der die "Arbeiter selbst", ohne die unverzichtbare Rolle der revolutionären Organisation, ihre revolutionäre Perspektive wiedererlangen können: "Der Sozialismus wohnt also dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht als Tendenz inne, er wohnt inne nur hier den immer mehr sich zuspitzenden objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft, dort der subjektiven Erkenntnis von der Unerlässlichkeit der Aufhebung durch eine soziale Umwälzung."

Daraus schließt S., dass die Hauptgefahr, der sich die IKS gegenübersieht, eine rätistische Abweichung ist, bei der die Organisation es der Wiederbelebung der ökonomischen Kämpfe überlässt, sich "spontan" zu politisieren, und damit ignoriert, was ihre Hauptaufgabe sein sollte: die Durchführung der notwendigen theoretischen Vertiefung, die es der Klasse ermöglichen würde, wieder Vertrauen in den Marxismus und die Möglichkeit einer kommunistischen Gesellschaft zu gewinnen.

Wir haben gesehen, dass die Gefahr des Rätismus nicht von der Hand zu weisen ist, wenn es darum geht, den Prozess der Politisierung zu verstehen: Wir haben schmerzhaft gelernt, dass die Gefahr, übermäßig begeistert auf die Möglichkeiten und die vermeintliche Tiefe der unmittelbaren Kämpfe zu reagieren, allgegenwärtig ist. Wir stimmen auch mit Luxemburg – und mit Lenin – darin überein, dass das sozialistische Bewusstsein nicht das mechanische Produkt des täglichen Kampfes ist, sondern ein Produkt der historischen Bewegung der Klasse, was selbstverständlich die theoretische Ausarbeitung und Intervention der revolutionären Organisation einschließt. Was aber in der Argumentation von S. fehlt, ist jegliche Erklärung des tatsächlichen Prozesses, durch den die revolutionäre Theorie die Massen wieder "ergreifen" kann. Unserer Ansicht nach hängt dies mit einer Meinungsverschiedenheit über die Frage der unterirdischen Reifung zusammen.

In seinem Text heißt es: "Die Antwort fragt, ob ich die Situation heute für schlimmer halte als in den 1930er Jahren (als Gruppen wie Bilan trotz der Niederlage der Klasse zu einer politischen und theoretischen 'unterirdischen Reifung' des Bewusstseins beitrugen), während ich die Existenz einer solchen Reifung in der Gegenwart verneine. Ja, auf der Ebene der unterirdischen Reifung ist die Situation in der Tat schlechter als in den 1930er Jahren, da die Tendenz unter den Revolutionären heute eher in Richtung politischer und theoretischer Regression geht".

Um darauf zu antworten, ist es notwendig, auf unsere ursprüngliche Debatte über die Frage der unterirdischen Reifung zurückzugehen – auf den Kampf gegen die rätistische Auffassung, dass sich das Klassenbewusstsein nur in Phasen des offenen Kampfes entwickelt.

So war MCs[20] Argument in Über die unterirdische Reifung vom Oktober 1983, dass die Ablehnung der unterirdischen Reifung die Rolle der revolutionären Organisation bei der Herausbildung des Klassenbewusstseins zutiefst unterschätzt: "Der Klassenkampf des Proletariats geht durch Höhen und Tiefen, aber das ist nicht der Fall mit dem Klassenbewusstsein: die Idee der Regression des Bewusstseins mit dem Rückzug des Klassenkampfes wird durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung widerlegt, eine Geschichte, in der die Ausarbeitung und Vertiefung der Theorie in einer Periode des Rückzugs weitergeht. Es ist wahr, dass sich das Feld, der Umfang ihrer Aktion verengt, aber nicht ihre Ausarbeitung in der Tiefe".

Genosse S. leugnet natürlich nicht die Rolle der revolutionären Organisation bei der Entwicklung der Theorie. Wenn er also von "unterirdischer Regression" spricht, meint er, dass die kommunistische politische Avantgarde (und damit die IKS) es versäume, die theoretische Arbeit zu leisten, die notwendig wäre, um das Vertrauen der Arbeiterklasse in ihre revolutionäre Perspektive wiederherzustellen – dass sie sich theoretisch und politisch rückwärts bewege.

Aber wir sollten uns daran erinnern, dass der Text von MC die unterirdische Reifung nicht auf die Arbeit der revolutionären Organisation beschränkt:

"Die Arbeit der Reflexion geht in den Köpfen der Arbeiter weiter und wird sich im Aufschwung neuer Kämpfe manifestieren. Es existiert ein kollektives Gedächtnis der Klasse, und dieses Gedächtnis trägt auch zur Entwicklung der Bewusstwerdung und ihrer Ausdehnung in der Klasse bei". Oder noch einmal: "Dieser Prozess der Bewusstseinsentwicklung ist nicht allein den Kommunisten vorbehalten, aus dem einfachen Grund, dass die kommunistische Organisation nicht der einzige Sitz des Bewusstseins ist. Dieser Prozess ist auch das Produkt anderer Elemente der Klasse, die fest auf einem Klassenterrain bleiben oder in diese Richtung tendieren".

Das ist wichtig, weil S. gerade die unterirdische Reifung auf die revolutionäre Organisation allein zu beschränken scheint. Wenn wir ihn richtig verstehen, sei dies, da die IKS zur theoretischen und politischen Regression tendiere, ein Beweis für die "unterirdische Regression", von der er spricht. Natürlich stimmen wir nicht mit dieser Einschätzung der gegenwärtigen Situation des IKS überein, aber das ist eine andere Diskussion. Der Punkt, auf den man sich hier konzentrieren sollte, ist, dass die kommunistische Organisation und das proletarische-politische Milieu nur die Spitze des Eisbergs in einem tieferen Prozess sind, der in der Klasse vor sich geht:

In einer Polemik mit der CWO in International Review 43 über das Problem der unterirdischen Reifung des Bewusstseins haben wir diesen Prozess wie folgt definiert:

"- auf der am wenigsten bewußten Ebene und in den meisten Teilen der Klasse äußert sich dies durch einen wachsenden Widerspruch zwischen dem historischen Wesen, den wirklichen Bedürfnissen der Klasse und der oberflächlichen Unterstützung der Arbeiter für die bürgerlichen Ideen. Dieser Gegensatz mag lange Zeit größtenteils unausgesprochen, verdeckt oder unterdrückt bleiben, oder er mag in seiner negativen Form durch den Verlust von Illusionen und eine Loslösung von den Hauptthemen der bürgerlichen Ideologie auftauchen;

- in einem begrenzteren Teil der Klasse ninmt das in den Reihen vieler Arbeiter, die fest auf einem proletarischen Terrain verwurzelt bleiben, die Form von Diskussionen über die früheren Kämpfe an, mehr oder weniger formalen Diskussionen über die zukünftigen Auseinandersetzungen, das Auftauchen von kämpferischen Kernen in den Fabriken und unter den Arbeitslosen. Die eindruckvollste Verdeutlichung dieses Aspektes des Phänomens der unterirdischen Reifung wurde jüngst mit den Massenstreiks in Polen im Sommer 1980 geliefert, in denen die von den Arbeitern angewandten Kampfmethoden bewiesen, daß sie die Lehren aus den Kämpfen von 1956,1970 und 1976 gezogen hatten.

- In einem Teil der Klasse, der zahlenmäßig noch kleiner, aber dazu bestimmt ist, mit dem Voranschreiten des Kampfes weiter anzuwachsen, nimmt dies die Form einer ausdrücklichen, offenen Verteidigung des kommunistischen Programms an und somit der Umgruppierung einer organisierten marxistischen Avantgarde. Das Auftauchen von kommunistischen Organisationen, das keine Widerlegung des Begriffs der unterirdischen Reifung darstellt, ist sowohl ein Ergebnis wie auch ein aktiver Faktor bei diesem Prozeß." ­[21]

Was in diesem Modell fehlt, ist ein weiteres Milieu: Leute, die zwar oft nicht direkte Produkte von Klassenbewegungen sind, aber nach kommunistischen Positionen suchen, also der Sumpf (oder ein Teil davon – der Teil, der ein Produkt eines politischen Fortschritts ist, auch wenn er verwirrt ist, im Gegensatz zu den degenerierenden Elementen, die einen Rückschritt von einer höheren Ebene der Klarheit ausdrücken), und jene, die sich expliziter auf die revolutionären Organisationen zubewegen.

Das Auftauchen eines solchen Milieus ist nicht das einzige Anzeichen für eine unterirdische Reifung, aber es ist sicherlich das offensichtlichste. Genosse S. hat argumentiert, dass das Erscheinen dieses Milieus allein schon mit dem Verweis auf das revolutionäre Wesen der Arbeiterklasse erklärt werden könne. Da wir aber die Klasse nicht als statische, sondern als dynamische Kraft verstehen, ist es genauer, es als Produkt einer Bewegung zum Bewusstsein innerhalb der Klasse zu sehen. Und es ist sicherlich notwendig, die Bewegung innerhalb der Bewegung zu studieren, um zu verstehen, ob in dieser Schicht ein Reifungsprozess stattfindet – mit anderen Worten: Zeigt das Milieu der suchenden Elemente selbst Zeichen einer Entwicklung? Und wenn wir die beiden "Wellen" der politisierten Minderheiten vergleichen, die seit etwa 2003 aufgetaucht sind, gibt es in der Tat Hinweise darauf, dass eine solche Entwicklung stattgefunden hat.

Der erste Schub fand Mitte der 2000er Jahre statt und fiel mit dem zusammen, was wir eine neue Generation der Arbeiterklasse nannten, die sich in der Anti-CPE-Bewegung und den Indignados äußerte. Ein kleiner Teil dieses Milieus wandte sich der Kommunistischen Linken zu und schloss sich sogar der IKS an, was Hoffnungen weckte, dass wir eine neue Generation von Revolutionären vor uns hätten (vgl. den Orientierungstext zur Debattenkultur[22]). Was wir tatsächlich erlebten, war eine Bewegung (der französische Begriff "mouvance" wäre zutreffender), die sich weitgehend im Sumpf befand und die sich als sehr durchlässig für den Einfluss von Anarchismus, Modernismus und politischem Parasitismus erwies. Eines der kennzeichnenden Merkmale dieser Mouvance war neben dem Misstrauen gegenüber der politischen Organisation eine tiefe Ablehnung des Konzepts der Dekadenz und damit der als sektiererisch und apokalyptisch angesehenen Gruppen der Kommunistischen Linken, allen voran der IKS. Einige der Elemente in dieser Welle waren in den 1990er Jahren in den Ultra-Aktivismus der antikapitalistischen Bewegung involviert gewesen. Und obwohl sie einen ersten Schritt gemacht hatten, die zentrale Rolle der Arbeiterklasse beim Sturz des Kapitalismus zu sehen, behielten sie ihre aktivistischen Neigungen bei, was einige von ihnen (z.B. die Mehrheit des Kollektivs, das libcom organisiert) zu einem wiederbelebten Anarcho-Syndikalismus drängte, zu Ideen des "Organisierens" am Arbeitsplatz, die von der Möglichkeit lebten, kleine Siege zu erringen, und sich von jeder Vorstellung abwandten, dass die objektive und historische Entfaltung der Krise selbst ein Faktor in der Entwicklung des Klassenkampfes ist.

Die zweite Welle von suchenden Elementen, die wir in den letzten Jahren wahrgenommen haben, ist von geringerem Ausmaß als die vorangegangene, aber sicherlich auf einer tiefer greifenden Ebene angesiedelt: Sie neigt dazu, die Dekadenz und sogar den Zerfall des Kapitalismus als selbstverständlich zu betrachten; sie umgeht oft den Anarchismus, der ihrer Meinung nach nicht über die theoretischen Werkzeuge verfügt, um die gegenwärtige Periode zu verstehen, und hat weniger Angst davor, direkt mit den Gruppen der Kommunistischen Linken Kontakt aufzunehmen. Oft sehr jung und ohne direkte Erfahrung mit dem Klassenkampf, geht es diesen Leuten in erster Linie darum, sich zu vertiefen, die chaotische Welt, mit der sie konfrontiert sind, zu verstehen, indem sie sich die marxistische Methode aneignen. Hier liegt unserer Ansicht nach eine klare Konkretisierung des kommunistischen Bewusstseins vor, das sich, mit den Worten Rosa Luxemburgs ausgedrückt, aus "hier den immer mehr sich zuspitzenden objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft, dort der subjektiven Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerlässlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung" ergibt.

In Bezug auf diese entstehende Schicht politisierter Elemente hat die IKS eine doppelte Verantwortung als "fraktionsähnliche" Organisation. Einerseits natürlich die lebenswichtige theoretische Ausarbeitung, die erforderlich ist, um eine klare Analyse einer sich ständig verändernden Weltsituation zu liefern und die kommunistische Perspektive zu bereichern.[23] Aber es beinhaltet auch eine geduldige Arbeit des Aufbaus der Organisation: die Arbeit der "Kaderbildung", wie es die Gauche Communiste de France GCF nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrückte, das heißt, die Entwicklung neuer Militanter, die den Kurs durchhalten; die Verteidigung gegen die Einfälle der bürgerlichen Ideologie und die Verleumdungen des politischen Parasitismus, etc. Diese Arbeit des organisatorischen Aufbaus taucht in der Antwort des Genossen S. überhaupt nicht auf, doch ist sie eines der Hauptelemente im konkreten Kampf gegen den Rätismus.

Außerdem: Wenn dieser Prozess der unterirdischen Reifung des Bewusstseins ein realer ist, wenn er die Spitze des Eisbergs von Entwicklungen ist, die in weitaus breiteren Schichten der Klasse stattfinden, dann hat die IKS recht, wenn sie die Möglichkeit einer zukünftigen Wiederverbindung zwischen den Abwehrkämpfen und der wachsenden Erkenntnis, dass der Kapitalismus der Menschheit keine Zukunft zu bieten hat, ins Auge fasst. Mit anderen Worten, dieser Prozess kündigt das intakte Potenzial für die Politisierung der Kämpfe und ihre Konvergenz mit dem Entstehen neuer revolutionärer Minderheiten und dem wachsenden Einfluss der kommunistischen Organisation an.

Über "politische Niederlagen"

Die Veröffentlichung einer ersten Runde der Debatte über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat verschiedene Divergenzen in unserem Milieu enger Sympathisanten zum Vorschein gebracht. Im IKS-Forum, insbesondere im Thread Interne Debatte in der IKS über die internationale Lage | International Communist Current (internationalism.org), im Austausch von Beiträgen mit MH, Debatte über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen | International Communist Current (internationalism.org), in unseren Kontakttreffen und auf seinem eigenen Blog[24] hat sich namentlich Genosse MH zunehmend kritisch zu unserer Auffassung geäußert, dass es im Wesentlichen der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 war, der den langen Rückzug der Arbeiterklasse auslöste, aus dem wir noch nicht herausgekommen sind. Für MH war es im Wesentlichen eine politisch-ökonomische Offensive der herrschenden Klasse nach 1980, angeführt vor allem von der britischen Bourgeoisie, die der dritten Welle von Klassenkämpfen ein Ende bereitete (oder besser: sie bei der Geburt abwürgte). Aus dieser Sicht war es die Niederlage des Bergarbeiterstreiks 1985 in Großbritannien, die die Niederlage der Kämpfe in den 1980er Jahren markierte. Diese Schlussfolgerung führt MH derzeit dazu, unsere Sicht der Kämpfe nach 1968 neu zu bewerten und sogar den Begriff des Zerfalls in Frage zu stellen, obwohl seine Differenzen manchmal zu implizieren scheinen, dass "der Zerfall gesiegt hat" und dass wir uns der Realität einer schweren historischen Niederlage der Arbeiterklasse stellen müssen. Genosse Baboon stimmt weitgehend mit MH über die zentrale Bedeutung der Niederlage des Bergarbeiterstreiks überein, ist ihm aber nicht bis zu dem Punkt gefolgt, den Zerfall in Frage zu stellen oder zu dem Schluss zu kommen, dass der Rückzug der Arbeiterklasse vielleicht einen qualitativen Schritt in eine Art historische Niederlage gemacht habe.[25]

Genosse S. scheint dies nun aber immer deutlicher zu vertreten. Wie er es kürzlich in einem Brief an unser internationales Zentralorgan formulierte:

"Gibt es eine grundsätzliche Divergenz über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen oder gibt es sie nicht?

Die Position der Organisation ist, dass die Arbeiterklasse unbesiegt ist. In unseren Reihen gibt es auch die entgegengesetzte Position, dass die Arbeiterklasse in den letzten fünf Jahren eine politische Niederlage erlitten hat, deren Hauptsymptom die Explosion des Identitarismus aller Art ist, die in erster Linie aus dem Versagen der Klasse resultiert, ihre eigene Klassenidentität wiederzufinden. Die Position der Organisation ist, dass die Situation der Klasse besser ist als in den 1990er Jahren unter dem Schock des 'Todes des Kommunismus', während die andere Position davon ausgeht, dass die Situation der Klasse heute schlimmer ist als in den 1990er Jahren, dass das Weltproletariat heute kurz davor steht, eine politische Niederlage von einem Ausmaß zu erleiden, von dem es vielleicht eine Generation braucht, um sich zu erholen".

Wie wir zu Beginn dieses Berichts dargelegt haben, bedeutet die Anerkennung der IKS, dass das Konzept des Historischen Kurses in der Phase der Zerfalls nicht mehr gilt, dass es viel schwieriger wird, die Gesamtdynamik der Ereignisse zu beurteilen und insbesondere zu dem Schluss zu kommen, dass die Tür zu einer revolutionären Zukunft endgültig geschlossen ist, da der Zerfall das Proletariat in einem allmählichen Prozess überwältigen kann, ohne dass die Bourgeoisie es direkt, in einem Kampf von Angesicht zu Angesicht, besiegen muss, wie es in der Periode der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Es ist daher schwierig zu verstehen, was S. mit einer "politischen Niederlage von einem Ausmaß, von dem es vielleicht eine Generation braucht, um sich zu erholen", meint. Wenn das Proletariat es noch nicht in einem offenen politischen Kampf mit dem Klassenfeind aufgenommen hat, wie es das 1917-23 getan hat, nach welchen Kriterien beurteilen wir dann, dass der Rückzug des Klassenkampfes in den letzten drei Jahrzehnten einen solchen Punkt erreicht hat? Und außerdem, da auf eine solche Niederlage vermutlich eine große Beschleunigung der Barbarei folgen würde und – nach der Ansicht von S. – ein Weltkrieg oder zumindest ein "begrenzter" nuklearer Holocaust – welche Möglichkeiten zur "Erholung" würden der nächsten Generation bleiben?

Ein letzter Punkt: Genosse S. behauptet, dass wir die Situation der Klasse als "besser" als nach dem Zusammenbruch der Blöcke sehen würden. Dies ist nicht richtig. Wir haben zwar gesagt, dass die Bedingungen für künftige Klassenkonfrontationen somit zwangsläufig reifen, und wie der Bericht über den Klassenkampf für den Kongress unserer Sektion in Frankreich gezeigt hat, findet dies in einem Kontext statt, der sich sehr von der Situation zu Beginn der Phase des Zerfalls unterscheidet:

- Während 1989 als Niederlage des Kommunismus und Sieg des Kapitalismus dargestellt werden konnte, kann die Pandemie nicht als Rechtfertigung der Überlegenheit des gegenwärtigen Systems präsentiert werden. Im Gegenteil, trotz aller Mystifikationen, die die Ursprünge und die Natur der Pandemie umgeben, liefert sie einen weiteren Beweis dafür, dass das kapitalistische System zu einer Gefahr für die Menschheit geworden ist, auch wenn dies im Moment nur eine kleine Minderheit klar erkannt hat.

- Während die Ereignisse von 1989 einen schweren Schlag für die Kampfbereitschaft und das Klassenbewusstsein darstellten und die Entwicklung des Zerfalls tendenziell den Verlust der Klassenidentität verschärft hat, ist die Pandemie im Kontext einer gewissen Wiederbelebung des Klassenkampfes ausgebrochen. Während die Bereitschaft der Bourgeoisie, Gesundheit und Leben im Interesse des Profits zu opfern, sowie ihr chaotischer Umgang mit der Pandemie tendenziell ein Bewusstsein dafür hervorruft, dass wir nicht "alle im gleichen Boot sitzen“ – dass die Arbeiterklasse und die Armen die Hauptopfer der Pandemie und der kriminellen Fahrlässigkeit der herrschenden Klasse sind.

Aber all diese "Pluspunkte" kommen nach 30 Jahren Zerfall, in einer Periode, in der die Zeit nicht mehr zugunsten des Proletariats läuft, das weiterhin unter den sich anhäufenden Wunden leidet, die ihm eine Gesellschaft zufügt, die stehenden Fußes verrottet. In mancher Hinsicht würden wir zustimmen, dass die Situation "schlimmer" ist als in den 1980er Jahren. Aber wir werden in unserer Aufgabe als revolutionäre Minderheit versagen, wenn wir irgendeinen der Wegweiser ignorieren, die auf eine Wiederbelebung des Klassenkampfes hindeuten – auf eine proletarische Bewegung, die die Möglichkeit enthält, die Gesellschaft vor einem endgültigen Sturz in den Abgrund zu bewahren.

Frühjahr 2021

 
[2] In seinem ersten Artikel, in dem er seine Meinungsverschiedenheiten mit den Resolutionen des 23. Kongresses zur internationalen Lage darlegt, argumentiert Genosse S., dass die Resolution zum Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zeige, dass die IKS ihre Auffassung aufgibt, dass die Unfähigkeit des Proletariats, seine revolutionäre Perspektive in der Periode 1968-89 zu entwickeln, eine Hauptursache für die Phase des Zerfalls war. In unserer Antwort haben wir bereits darauf hingewiesen, was wir auch in diesem Bericht wiederholen: dass die Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen die Frage der Politisierung – mit anderen Worten, die Entwicklung einer proletarischen Alternative für die Zukunft der Gesellschaft – in den Mittelpunkt ihres Verständnisses der gegenwärtigen Pattsituation zwischen den beiden bestimmenden Klassen stellt. Es stimmt, dass die Resolution deutlicher auf die Tatsache hätte hinweisen können, dass die Pattsituation nicht nur das Ergebnis der Unfähigkeit der Bourgeoisie ist, die Gesellschaft für den Weltkrieg zu mobilisieren, sondern auch der Unfähigkeit der Arbeiterklasse – insbesondere ihrer zentralen Bataillone im Gefolge des polnischen Massenstreiks –, die politischen Ziele ihres Kampfes zu verstehen und aufzugreifen. Wir denken, dass dieser Punkt – der einfach das grundlegende Element in unserer Analyse des Zerfalls ist – in unserer veröffentlichten Antwort auf Baruch geklärt wurde. Vgl. Interne Debatte in der IKS über die internationale Lage

[3] Das Elend der Philosophie, 1847

[4] Der Massenstreik, die Partei und die Gewerkschaften, 1906

[5] Aus einem Beitrag des Genossen J. in einem internen Bulletin 2011.

[6] Soziale Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, nukleare Katastrophe in Japan, Krieg in Libyen: Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit vor dem kapitalistischen Horror retten, Internationale Revue 47. Die Resolution des 21. Kongresses hat noch eine zweideutige Zeile zu den Bewegungen im Nahen Osten, die "vom Interklassismus geprägt" seien. 

[8] ebd.

[9] ebd.

[11] Wir bemühten die "Metapher der fünf Ströme (...):

                  1. Soziale Bewegungen junger Menschen in prekären Arbeitssituationen, Arbeitslosigkeit oder im Studium, welche mit dem Kampf gegen das CPE-Gesetz in Frankreich 2006 begannen, mit der Revolte in Griechenland 2008 weitergingen, und 2011 in der Bewegung der Empörten und Occupy gipfelten.

                  2. Bewegungen die massiv waren, doch von der Bourgeoisie gut kontrolliert und im Vorfeld vorbereitet wurden, wie in Frankreich 2007, Frankreich und Großbritannien 2010, Griechenland 2010-2012, usw.

                  3. Bewegungen, die unter dem Gewicht der klassenübergreifenden Ideologie litten, wie in Tunesien und Ägypten 2011.

                  4. Ansätze massiver Streiks in Ägypten 2007, Vigo (Spanien) 2006, China 2009.

                  5. Bewegungen in Fabriken oder in einzelnen Industriesektoren, die vielversprechende Zeichen enthielten, wie bei Lindsey 2009, bei Tekel 2010 oder diejenige der Elektrizitätsangestellten in Großbritannien 2011.

                  Diese fünf Ströme gehören trotz ihrer Unterschiede der Arbeiterklasse. Jeder drückt auf seine Art eine Bemühung der Arbeiterklasse aus, zu sich selber zurückzufinden trotz all der Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihr von der Bourgeoisie in den Weg gelegt werden. Jeder enthält eine Dynamik der Suche, der Klärung und der Vorbereitung des Klassenterrains. In unterschiedlicher Weise sind sie durch die Vollversammlungen Teil der Suche nach „der Welt, die uns zum Sozialismus führen wird“ (wie es Rosa Luxemburg bezüglich der Arbeiterräte ausdrückte)." (Resolution zur internationalen Lage, 20. IKS-Kongress, Internationale Revue 51)

[13] Wie der Titel des Artikels aus IR 48 andeutet, wurden die Bewegungen in Griechenland und Israel im Jahr 2011 (aber auch die Proteste in der Türkei und in Brasilien im Jahr 2013) auf sehr ähnliche Weise analysiert wie die Indignados in Spanien. Eine kritische Durchsicht aller unserer Artikel aus dieser Zeit ist daher erforderlich.

[14] Zu hinterfragen ist auch die Existenz von Unklarheiten und Verwirrungen über die positive Wirkung von Hungerunruhen für die Entwicklung von Klassenbewusstsein (vgl. International Review 134 [engl./frz./span. Ausgabe]).

[15] Das Kapitel "Kämpfe gegen die Kriegswirtschaft im Nahen Osten" aus dem Bericht zum 23. Kongress wurde nicht eingehend diskutiert. Der Bericht spricht von der Existenz proletarischer Bewegungen in mehreren Ländern, und es ist notwendig, diese Bewegungen auf einer solideren und tieferen Grundlage neu zu bewerten und zu versuchen, die Analyse dieser Bewegungen in den Rahmen der Kritik des schwachen Glieds sowie den Kontext des Zerfalls zu stellen (was der Bericht nicht explizit zu tun scheint, indem er den auf die Bewegungen von 2011 angewandten Ansatz übernimmt), um die Natur dieser Bewegungen und ihre Stärken und Schwächen zu betrachten.

[16] Aus dem englischsprachigen Artikel auf ICConline 2011 "Israel protestiert: ‘Mubarak, Assad, Netanyahu’!", zitiert im zuvor erwähnten Artikel in IR 48

[17] "Angesichts des allgemeinen Verlustes der Klassenidentität kann man kaum verhindern, dass solche Proteste in die Fallen der Bourgeoisie tappen – in Mystifikationen über Identitätspolitik und Reformismus, und somit direkt von linken und demokratischen bürgerlichen Fraktionen manipuliert werden."

[20] Marc Chirik, Gründungsmitglied der IKS und ehemaliges Mitglied von BILAN und der Gauche Communiste de France. Vgl. International Review Nr. 65 und 66 (engl./frz./span. Ausgabe):  Marc, Part 1: From the Revolution of October 1917 to World War II | International Communist Current (internationalism.org)Marc, Part 2: From World War II to the present day | International Communist Current (internationalism.org)

[23] Wie in der Diskussion im internationalen Zentralorgan der IKS im Februar hervorgehoben wurde, kann der IKS nicht vorgeworfen werden, die Bemühungen um eine Vertiefung unseres Verständnisses des kommunistischen Programms zu vernachlässigen. Die Existenz einer dreißigjährigen Serie über den Kommunismus liefert einen Beweis dafür, dass wir hier nicht bei Null anfangen...

[25] Wir werden hier nicht weiter auf diese Diskussionen eingehen, außer zu sagen, dass sie auf einer Unterschätzung sowohl der bedeutenden Kämpfe zu beruhen scheinen, die nach 1985 stattfanden, wo die Infragestellung der Gewerkschaften in Ländern wie Frankreich und Italien die herrschende Klasse zwang, ihren Gewerkschaftsapparat zu radikalisieren, als auch vor allem auf einer Unterschätzung der Auswirkungen des Zusammenbruchs des Ostblocks auf die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein.

 

Rubric: 

Internationale Revue 57