Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage

Printer-friendly version

1. Vorwort

Der Text der IKS über die Perspektiven, die sich in den 2020er-Jahren eröffnen[1], begründet, dass die vielfältigen Widersprüche und Krisen des kapitalistischen Weltsystems – ökonomisch, medizinisch, militärisch, ökologisch, sozial – immer mehr zusammenkommen und sich gegenseitig beeinflussen, um eine Art „Strudeleffekt“ zu erzeugen, der die Zerstörung der Menschheit zu einem immer wahrscheinlicheren Ergebnis macht. Diese Schlussfolgerung ist inzwischen so offensichtlich geworden, dass wichtige Teile der herrschenden Klasse ein ähnliches Bild zeichnen. Die Alarmglocken läuteten bereits im UN-Bericht über die Entwicklung der Menschheit 2022[2], aber der im Januar 2023 veröffentlichte „Global Risk Report“ des Weltwirtschaftsforums WEF ist sogar noch deutlicher und spricht von einer „Polykrise“, dem die menschliche Zivilisation gegenübersteht: „Zu Beginn des Jahres 2023 ist die Welt mit einer Reihe von Risiken konfrontiert, die sich sowohl als völlig neu als auch unheimlich vertraut anfühlen. Wir haben eine Rückkehr ‚älterer‘ Risiken erlebt – Inflation, Lebenshaltungskostenkrisen, Handelskriege, Kapitalabflüsse aus den Schwellenländern, weit verbreitete soziale Unruhen, geopolitische Konfrontationen und das Schreckgespenst eines Atomkriegs –, die nur wenige der Wirtschaftsführer und politischen Entscheidungsträger dieser Generation erlebt haben. Hinzu kommen vergleichsweise neue Entwicklungen in der globalen Risikolandschaft, darunter eine nicht mehr tragbare Verschuldung, eine neue Ära niedrigen Wachstums, geringe globale Investitionen und De-Globalisierung, ein Niedergang der menschlichen Entwicklung nach jahrzehntelangen Fortschritten, die rasche und uneingeschränkte Entwicklung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) sowie der wachsende Druck durch die Auswirkungen des Klimawandels und die Ambitionen in einem immer kleiner werdenden Zeitfenster für den Übergang zu einer 1,5°Celsius-Welt. Zusammengenommen werden diese Faktoren ein einzigartiges, unsicheres und turbulentes Jahrzehnt prägen“.

Das ist die Bourgeoisie, die ehrlich mit sich selbst über die aktuelle globale Situation spricht, auch wenn sie sich über die Möglichkeit, Lösungen innerhalb des bestehenden Systems zu finden, nur Illusionen machen kann. Und sie wird diese Illusionen weiterhin an die Weltbevölkerung verkaufen, unterstützt von jeder Menge politischer Parteien und Protestkampagnen, die radikal klingende Programme anbieten, die niemals die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse in Frage stellen, die zu der drohenden Katastrophe geführt haben.

Für uns als Kommunisten kann es natürlich keine Lösung geben, die nicht die kapitalistischen Verhältnisse abschafft und die Grundlage für eine weltweite kommunistische Gesellschaft schafft. Und das, was das WEF als weiteres „Risiko“ in der kommenden Periode bezeichnet – „weit verbreitete soziale Unruhen“ – beinhaltet, wenn wir den Begriff von all den verschiedenen bürgerlichen oder klassenübergreifenden Bewegungen, die er unter dieser Kategorie einordnet, lösen, den Gegenpol der Alternative, mit der die Menschheit konfrontiert ist: der internationale Klassenkampf, der allein zum Sturz des Kapitals und zur Schaffung des Kommunismus führen kann.

2. Der historische Rahmen

Die Bourgeoisie ist nicht in der Lage, die „Polykrise“ im Rahmen der unlösbaren wirtschaftlichen Widersprüche zu sehen, die sich aus den bestehenden antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben, sondern sieht ihre Ursache in der Abstraktion der „menschlichen Tätigkeit“; sie kann sie auch nicht in einen kohärenten historischen Rahmen einordnen. Für die Kommunisten hingegen ist die katastrophale Entwicklung des Weltkapitalismus das Ergebnis eines mehr als ein Jahrhundert andauernden Niedergangs dieser Produktionsweise.

Der Krieg von 1914–18 und die revolutionäre Welle, die er auslöste, veranlassten den Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale zu der Aussage, dass der Kapitalismus seine Epoche der „inneren Auflösung“, der „Kriege und Revolutionen“ erreicht habe und vor der Wahl zwischen Sozialismus und einem Abstieg in Barbarei und Chaos stehe. Die Niederlage der ersten revolutionären Versuche des Proletariats bedeutete, dass die Ereignisse der 1920er, 30er und 40er-Jahre (die größte wirtschaftliche Depression in der Geschichte des Kapitalismus, ein noch verheerenderer Weltkrieg, systematischer Völkermord usw.) die Waage in Richtung Barbarei kippen ließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigte der darauffolgende Konflikt zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Block, dass der dekadente Kapitalismus nun die Fähigkeit hatte, die Menschheit zu zerstören. Doch die Dekadenz des Kapitalismus setzte sich in mehreren Phasen fort: der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit, die Rückkehr der offenen Krise Ende der 1960er-Jahre, das Wiederaufleben der internationalen Arbeiterklasse nach 1968. Letzteres beendete die Vorherrschaft der Konterrevolution, verhinderte den Drang zu einem neuen Weltkrieg und eröffnete einen neuen historischen Kurs in Richtung Klassenauseinandersetzungen, der das Potenzial für die Wiederbelebung der kommunistischen Perspektive enthielt. Doch die Unfähigkeit der Arbeiterklasse, als Ganzes diese Perspektive zu entwickeln, führte zu einer Pattsituation zwischen den Klassen, die in den 1980er-Jahren immer deutlicher zutage trat. In dieser Periode trat der Kapitalismus in eine qualitativ neue und terminale Phase innerhalb der Dekadenz des Kapitalismus ein, die Phase des Zerfalls. Der spektakulärste Ausdruck davon war der Kollaps der alten imperialistischen Weltordnung in den Jahren 1989–91. Die Tatsache, dass diese Phase durch eine wachsende Tendenz zum Chaos in den internationalen Beziehungen gekennzeichnet war, stellte ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Weltkrieg dar, was die Zukunft der menschlichen Gesellschaft jedoch keineswegs sicherer machte. In unseren 1990 veröffentlichten „Thesen zum Zerfall“ sagten wir voraus, dass der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft durch eine Kombination aus regionalen Kriegen, ökologischer Zerstörung, Pandemien und sozialem Zusammenbruch auch ohne einen Weltkrieg zwischen den organisierten imperialistischen Blöcken zur Zerstörung der Menschheit führen könnte. Wir sagten auch voraus, dass der Zyklus der Arbeiterkämpfe von 1968–89 zu Ende war und dass die Bedingungen der neuen Phase große Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse mit sich bringen würden.

3. Die Beschleunigung des Zerfalls

Die gegenwärtige Situation des Weltkapitalismus bestätigt diese Prognose auf eindrucksvolle Weise. Die 2020er-Jahre begannen mit der Covid-Pandemie, auf die 2022 der Krieg in der Ukraine folgte. Gleichzeitig wurden wir Zeuge zahlreicher Bestätigungen der weltweiten ökologischen Krise (Hitzewellen, Überschwemmungen, Abschmelzen der Polkappen, massive Verschmutzung der Luft und der Ozeane, usw.). Seit 2019 erleben wir auch einen neuen Absturz in die Wirtschaftskrise, da die „Heilmittel“ für die sogenannte Finanzkrise von 2008 alle ihre Grenzen offenbaren. Doch während es der herrschenden Klasse der großen Länder in den vorangegangenen Jahrzehnten gelungen war, die Wirtschaft bis zu einem gewissen Grad vor den Auswirkungen des Zerfalls zu bewahren, erleben wir jetzt diesen „Strudeleffekt“, bei dem all die verschiedenen Ausdrucksformen einer sich zersetzenden Gesellschaft aufeinander einwirken und den Abstieg in die Barbarei beschleunigen. So hat sich die Wirtschaftskrise durch die Pandemie und die Lockdowns, den Ukraine-Krieg und die steigenden Kosten der Umweltkatastrophen spürbar verschärft. Der Krieg in der Ukraine wird inzwischen schwerwiegende Auswirkungen auf ökologischer Ebene und weltweit haben; der Wettbewerb um die schwindenden natürlichen Ressourcen wird die militärischen Rivalitäten weiter verschärfen und soziale Revolten weiter anfachen. In dieser Verkettung von Auswirkungen spielt der imperialistische Krieg, der das Ergebnis bewusster Entscheidungen der herrschenden Klasse ist, eine zentrale Rolle. Aber selbst die Auswirkungen einer „natürlichen“ Katastrophe wie des schrecklichen Erdbebens in der Türkei und in Syrien werden durch die Tatsache, dass sie sich in einer Region ereignet hat, die bereits durch den Krieg zerstört war, erheblich verschlimmert. Und auch die endemische Korruption von Politikern und Unternehmern ist ein weiteres Merkmal des sozialen Verfalls: In der Türkei führte das rücksichtslose Profitstreben der lokalen Bauindustrie zur Missachtung von Sicherheitsstandards, die die Zahl der Todesopfer des Erdbebens erheblich hätten verringern können. Diese Beschleunigung und Wechselwirkung der Phänomene des Zerfalls markiert eine weitere Umwandlung von Quantität in Qualität innerhalb dieser Endphase der Dekadenz und macht deutlicher denn je, dass die weitere Existenz des Kapitalismus zu einer greifbaren Bedrohung für das menschliche Überleben geworden ist.

4. Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

Auch der Krieg in der Ukraine hat eine lange „Vorgeschichte“. Er ist der Höhepunkt der wichtigsten Entwicklungen der imperialistischen Spannungen der letzten drei Jahrzehnte, insbesondere:

– Der Zusammenbruch des Blocksystems seit 1945 Ende der 1980er-Jahre und die Entfesselung des „Jeder für sich“ in den imperialistischen Beziehungen, was einen erheblichen Niedergang der globalen Führungsrolle der USA zur Folge hatte.

– Das Auftauchen Chinas in diesem neuen globalen Umfeld des „Jeder für sich“ als wichtigster imperialistischer Herausforderer der USA mit seiner langfristigen Strategie, die weltweiten wirtschaftlichen Grundlagen für seine künftige imperialistische Vorherrschaft zu schaffen. Die Reaktion der USA auf ihren eigenen Niedergang und den Aufstieg Chinas bestand nicht darin, sich aus dem Weltgeschehen zurückzuziehen, im Gegenteil. Die USA haben ihre eigene Offensive gestartet, die darauf abzielt, den Vormarsch Chinas einzuschränken, von Obamas „Schwenk nach Osten“ über Trumps Fokus auf Handelskrieg bis hin zu Bidens direkterem militärischen Ansatz (Provokationen rund um Taiwan, Abschuss chinesischer Spionageballons, die Gründung von AUKUS, die neue US-Basis auf den Philippinen usw.). Ziel dieser Offensive ist es, eine Brandmauer um China zu errichten, die dessen Fähigkeit, sich als Weltmacht zu entwickeln, blockiert.

– Gleichzeitig haben die USA die schrittweise Einkreisung Russlands durch die Erweiterung der NATO weiter vorangetrieben, nicht nur mit dem Ziel, Russland selbst einzudämmen und zu schwächen, sondern vor allem, sein Bündnis mit China zu sabotieren. Die Falle, die Russland in der Ukraine gestellt wurde, war der letzte Zug in diesem Schachspiel, der Moskau keine andere Wahl ließ, als militärisch zurückzuschlagen und es in einen Krieg zu treiben, der das Potenzial hat, es auszubluten und seine Ambitionen als regionale und globale Macht zu untergraben.

Im Schatten dieser globalen imperialistischen Rivalitäten kommt es zu einer Ausweitung und Verschärfung anderer Konfliktbereiche, die ebenfalls mit dem Kampf zwischen den Hauptmächten zusammenhängen, jedoch auf noch chaotischere Weise. Zahlreiche Regionalmächte spielen zunehmend ihr eigenes Spiel, sowohl im Hinblick auf den Ukraine-Krieg als auch auf die Konflikte in ihrer eigenen Region. So agiert die Türkei, Mitglied der NATO, als „Vermittler“ für Putins Russland, indem sie Russland militärische Drohnen für den Einsatz in der Ukraine liefert, während sie im libyschen „Bürgerkrieg“ direkt gegen Russland auftritt. Saudi-Arabien hat sich den USA widersetzt, indem es sich weigerte, die Öllieferungen zu erhöhen und damit die Weltölpreise zu senken; Indien hat sich geweigert, die von den USA angeführten Wirtschaftssanktionen gegen Russland einzuhalten. In der Zwischenzeit hat der Krieg in Syrien, über den in den großen Medien seit dem Einmarsch in der Ukraine kaum noch berichtet wird, seine Verwüstungen fortgesetzt, wobei die Türkei, der Iran und Israel mehr oder weniger direkt in das Gemetzel verwickelt sind. Jemen ist ein blutiges Schlachtfeld zwischen Iran und Saudi-Arabien geblieben; der Regierungsantritt einer rechtsextremen Regierung in Israel gießt Öl ins Feuer des Konflikts mit der PLO, der Hamas und dem Iran. Im Anschluss an ein neues Gipfeltreffen zwischen den USA und Afrika hat Washington eine Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen angekündigt, die ausdrücklich darauf abzielen, dem wachsenden Engagement Russlands und Chinas auf dem afrikanischen Kontinent entgegenzuwirken. Afrika leidet unter den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Lebensmittelversorgung und unter einem ganzen Mosaik regionaler Kriege und Spannungen (Äthiopien-Tigray, Sudan, Libyen, Ruanda-Kongo usw.), die allen regionalen und globalen imperialistischen Geiern Tür und Tor öffnen. Im Fernen Osten rasselt Nordkorea, eines der wenigen Länder, die Russland direkt mit Waffen beliefern, mit dem Säbel gegenüber Südkorea (insbesondere durch neue Raketenstarts, die auch eine Provokation gegenüber Japan darstellen). Und hinter Nordkorea steht China, das auf die zunehmende Einkreisung der USA reagiert.

Ein weiteres Kriegsziel der USA in der Ukraine – ein klarer Bruch mit Trumps Bemühungen, das NATO-Bündnis zu untergraben – besteht darin, die unabhängigen Ambitionen ihrer europäischen „Verbündeten“ zu zügeln und sie zu zwingen, die US-Sanktionen gegen Russland zu befolgen und die Ukraine weiter aufzurüsten. Diese Politik, die darauf abzielt, das NATO-Bündnis zusammenzuhalten, hatte einen gewissen Erfolg, wobei Großbritannien der eifrigste Unterstützer der ukrainischen Kriegsanstrengungen war. Die Wiederherstellung eines echten, von den USA kontrollierten Blocks liegt jedoch in weiter Ferne. Frankreich und Deutschland – wobei letzteres angesichts seiner Abhängigkeit von russischen Energielieferungen am meisten zu verlieren hat, wenn es seine traditionelle „Ostpolitik“ aufgibt – sind nach wie vor inkonsequent, was die Lieferung der von Kiew geforderten Waffen angeht, und haben ihre eigenen diplomatischen „Initiativen“ gegenüber Russland und China fortgesetzt. In der Zwischenzeit hat China eine sehr vorsichtige Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine eingenommen, indem es vor kurzem seinen eigenen „Friedensplan“ vorstellte und sich nicht bereit erklärte, Moskau die „tödliche Hilfe“ zu liefern, die es so dringend fordert.

Die Gesamtlage – selbst wenn man die Frage der dafür erforderlichen Mobilisierung des Proletariats in den zentralen Ländern außer Acht lässt – bestätigt also die Auffassung, dass wir uns nicht auf die Bildung stabiler imperialistischer Blöcke zubewegen. Das mindert aber keineswegs die Gefahr einer unkontrollierten militärischen Eskalation, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen. Seit George Bush Senior nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1989 eine „neue Weltordnung“ verkündet hat, sind die USA mit ihren Versuchen, diese „Ordnung“ durchzusetzen, zur bedeutendsten Kraft geworden, die Unordnung und Instabilität in der Welt verstärkt. Diese Dynamik wurde durch das alptraumhafte Chaos, das in Afghanistan und im Irak nach den US-Invasionen in diese Länder weiterhin herrscht, deutlich veranschaulicht, aber der gleiche Prozess ist auch im Ukraine-Konflikt am Werk. Russland an die Wand zu drücken, birgt also die Gefahr einer verzweifelten Reaktion des Moskauer Regimes, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen; andererseits könnte ein Zusammenbruch des Regimes den Zerfall Russlands selbst auslösen, wodurch eine neue Chaoszone mit höchst unvorhersehbaren Folgen entstehen würde. Die Irrationalität des Krieges in der Dekadenz des Kapitalismus lässt sich nicht nur an seinen gigantischen wirtschaftlichen Kosten messen, die alle Möglichkeiten für kurzfristige Gewinne oder Wiederaufbaumaßnahmen bei weitem übersteigen, sondern auch am rasanten Zusammenbruch der militärisch-strategischen Ziele, die in der Periode der kapitalistischen Dekadenz die wirtschaftliche Rationalität des Krieges mehr und mehr verdrängt haben. Nach dem ersten Golfkrieg haben wir in unserem Orientierungstext „Militarismus und Zerfall“ (Internationale Revue Nr. 13, 1991) das folgende Szenario für die imperialistischen Beziehungen in der Phase des Zerfalls vorausgesagt:

„In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die von den Ereignissen am Persischen Golf bestätigt wird, zeigt sich die Welt als ein riesiger Hexenkessel, in dem die Tendenz zum „Jeder für sich“ voll zum Tragen kommt und in dem die zwischenstaatlichen Allianzen weit entfernt von jener Stabilität sind, die die Blöcke auszeichnen, sondern von den Bedürfnissen des Moments diktiert sind. Eine Welt in tödlicher Unordnung, in blutigem Chaos, in dem der amerikanische Gendarm für ein Minimum an Ordnung durch den immer massiveren und brutaleren Einsatz seiner Militärmacht zu sorgen versucht.“[3]

Wie die Invasionen in Afghanistan und im Irak Anfang der 2000er-Jahre gezeigt haben, hat die zunehmende Abhängigkeit der USA von ihrer Militärmacht deutlich gezeigt, dass die „imperialistische Politik der USA weit davon entfernt ist, dieses Minimum an Ordnung zu erreichen, und dass sie zu einem der Hauptfaktoren für die weltweite Instabilität geworden ist.“ (Resolution zur internationalen Lage, 17. IKS-Kongress, Internationale Revue Nr. 40, 2007)[4] , und die Ergebnisse der Offensive der USA gegen Russland haben noch deutlicher gemacht, dass der „Weltpolizist“ zum Hauptfaktor für die Verschärfung des Chaos auf globaler Ebene geworden ist.

5. Die Wirtschaftskrise

Der Krieg in der Ukraine ist ein weiterer Schlag für eine kapitalistische Wirtschaft, die bereits durch ihre inneren Widersprüche und durch die aus ihrem Zerfall resultierenden Erschütterungen geschwächt und untergraben ist. Die kapitalistische Wirtschaft befand sich bereits inmitten eines Abschwungs, der durch die Entwicklung der Inflation, den zunehmenden Druck auf die Währungen der Großmächte und die wachsende finanzielle Instabilität (die sich im Platzen der Immobilienblasen in China sowie in den Kryptowährungen und der Technologie widerspiegelt) gekennzeichnet war. Der Krieg verschärft nun die Wirtschaftskrise auf allen Ebenen. Der Krieg bedeutet die wirtschaftliche Vernichtung der Ukraine, die starke Schwächung der russischen Wirtschaft durch die immensen Kosten des Krieges und die Auswirkungen der von den westlichen Mächten verhängten Sanktionen. Die Schockwellen des Krieges sind in der ganzen Welt zu spüren und führen zu einer Nahrungsmittelkrise und Hungersnöten, da die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellen und Getreide knapp wird.

Die greifbarste Folge des Krieges in der Welt ist die Explosion der Militärausgaben, die auf über 2000 Milliarden Dollar angestiegen sind. Alle Staaten der Welt befinden sich in einer Aufrüstungsspirale. Mehr denn je werden die Volkswirtschaften den Erfordernissen des Krieges unterworfen und der Anteil des nationalen Reichtums, der für die Produktion von Zerstörungsinstrumenten aufgewendet wird, steigt. Das Krebsgeschwür des Militarismus bedeutet die Sterilisierung des Kapitals und stellt eine erdrückende Belastung für den Handel und die Volkswirtschaft dar, was dazu führt, dass von den Ausgebeuteten immer größere Opfer verlangt werden.

Gleichzeitig haben sich die schwersten Finanzkonvulsionen seit der Krise von 2008, die aus einer Reihe von Bankenpleiten in den USA (darunter die sechzehnt-größte Bank der USA) und dann der Credit Suisse (die zweitgrößte Bank des Landes) hervorgegangen ist, auf internationaler Ebene ausgebreitet, während die massiven Interventionen der US-amerikanischen und der schweizerischen Zentralbank die Ansteckungsgefahr für andere Länder in Europa und andere risikoreiche Sektoren nicht bannen oder verhindern konnten, dass sich diese Pleiten zu einer “systemischen“ Kreditkrise ausweiten.

Anders als im Jahr 2008, als der Zusammenbruch großer Banken durch ihr Engagement in Subprime-Hypotheken verursacht wurde, sind die Banken diesmal vor allem durch ihre langfristigen Investitionen in Staatsanleihen geschwächt, die durch den plötzlichen Anstieg der Zinssätze zur Bekämpfung der Inflation an Wert verlieren. Die derzeitige finanzielle Instabilität ist zwar (noch) nicht so dramatisch wie im Jahr 2008, trifft aber den Kern des Finanzsystems, da der Rückgriff auf Staatsanleihen – insbesondere durch das US-Finanzministerium im Zentrum dieses Systems – immer als der sicherste Hafen galt.

Auf jeden Fall sind Finanzkrisen, unabhängig von ihrer inneren Dynamik und ihren unmittelbaren Ursachen, letztlich immer eine Manifestation der Überproduktionskrise, die 1967 wieder auftrat und durch Faktoren im Zusammenhang mit dem Zerfall des Kapitalismus noch verschärft wurde.

Der Krieg offenbart vor allem den Triumph des Kampfes des „Jeder für sich“ und das Scheitern, ja sogar das Ende jeglicher „Global Governance“ auf der Ebene der Koordinierung der Volkswirtschaften, der Lösung der Klimaprobleme, usw. Diese Tendenz des „Jeder für sich“ in den Beziehungen zwischen den Staaten hat sich seit der Krise von 2008 immer weiter verstärkt, und der Krieg in der Ukraine hat viele der wirtschaftlichen Tendenzen, die seit den 1990er-Jahren unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefasst werden, zum Stillstand gebracht.

Nicht nur, dass die Fähigkeit der wichtigsten kapitalistischen Mächte zur Zusammenarbeit, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise einzudämmen, mehr oder weniger verschwunden ist, sondern die USA haben angesichts der Verschlechterung ihrer Wirtschaft und der Verschärfung der globalen Krise und um ihre Position als führende Weltmacht zu bewahren, zunehmend bewusst versucht, ihre Konkurrenten zu schwächen. Dies ist ein offener Bruch mit einem großen Teil der Regeln, die sich die Staaten seit der Krise von 1929 gegeben haben. Er öffnet den Weg in eine Ungewissheit, die mehr und mehr von Chaos und unvorhersehbaren Folgen beherrscht wird.

In der Überzeugung, dass die Wahrung ihrer Führungsposition gegenüber dem Aufstieg Chinas in hohem Maße von ihrer Wirtschaftsmacht abhängt, die durch den Krieg politisch und militärisch gestärkt wurde, gehen die USA auch auf wirtschaftlicher Ebene gegen ihre Rivalen in die Offensive. Diese Offensive geht in mehrere Richtungen. Die USA sind der große Gewinner des gegen Russland geführten „Gaskriegs“ zum Nachteil der europäischen Staaten, die gezwungen sind, die russischen Gasimporte einzustellen. Nachdem die USA dank der unter Obama eingeleiteten langfristigen Energiepolitik die Selbstversorgung mit Öl und Gas erreicht haben, hat der Krieg die Vormachtstellung der USA im strategischen Bereich der Energie bestätigt. Die USA haben ihre Rivalen auf dieser Ebene in die Defensive gedrängt: Europa musste sich mit seiner Abhängigkeit von amerikanischem Flüssigerdgas abfinden. China, das in hohem Maße von importierten Kohlenwasserstoffen abhängig ist, wurde dadurch geschwächt, dass die USA nun in der Lage sind, Chinas Versorgungswege zu kontrollieren. Die USA verfügen nun über eine noch nie dagewesene Fähigkeit, auf dieser Ebene Druck auf den Rest der Welt auszuüben.

Die verschiedenen geldpolitischen, finanziellen und industriellen Initiativen (von Trumps Konjunkturprogrammen bis hin zu Bidens massiven Subventionen für Produkte „Made in the USA“, dem Inflation Reduction Act, usw.) haben die „Widerstandsfähigkeit“ der US-Wirtschaft erhöht, was Kapitalinvestitionen und Industrieverlagerungen auf amerikanisches Territorium anlockt. Die USA begrenzen die Auswirkungen der derzeitigen weltweiten Konjunkturabschwächung auf ihre Wirtschaft und schieben die schlimmsten Auswirkungen von Inflation und Rezession auf den Rest der Welt ab.

Um ihren entscheidenden technologischen Vorsprung zu sichern, streben die USA außerdem die Verlagerung strategischer Technologien (Halbleiter) in die USA bzw. die internationale Kontrolle über diese Technologien an, von denen sie China ausschließen wollen, während sie gleichzeitig mit Sanktionen gegen jeden Konkurrenten um ihr Monopol drohen.

Das Bestreben der USA, ihre wirtschaftliche Macht zu erhalten, hat zur Folge, dass das kapitalistische System insgesamt geschwächt wird. Der Ausschluss Russlands vom internationalen Handel, die Offensive gegen China und die Abkopplung der beiden Volkswirtschaften, kurzum der erklärte Wille der USA, die Weltwirtschaftsbeziehungen zu ihren Gunsten umzugestalten, markiert einen Wendepunkt: Die USA erweisen sich als Faktor der Destabilisierung des Weltkapitalismus und der Ausweitung des Chaos auf wirtschaftlicher Ebene.

Europa wurde durch den Krieg, der es seiner wichtigsten Stärke, nämlich seiner Stabilität, beraubt hat, besonders hart getroffen. Das Kapital Europas leidet unter der beispiellosen Destabilisierung seines „Wirtschaftsmodells“ und läuft Gefahr, infolge des Drucks des „Gaskriegs“ und des amerikanischen Protektionismus in einen Prozess der Deindustrialisierung und der Rückverlagerung von Produktionsstätten in den amerikanischen oder asiatischen Raum zu geraten.

Vor allem in Deutschland konzentrieren sich alle Widersprüche dieser beispiellosen Situation explosionsartig. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt Deutschland in eine Situation wirtschaftlicher und strategischer Fragilität, die seinen Wettbewerbsvorteil und seine gesamte Industrie bedroht. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (und der es auch von der Last der Militärausgaben befreit hat), wirkt sich direkter auf seine vom Export abhängige Wirtschaftskraft aus. Es läuft auch Gefahr, bei der Energieversorgung von den USA abhängig zu werden, während letztere ihre „Verbündeten“ dazu drängen, sich dem wirtschaftlichen/strategischen Krieg gegen China anzuschließen und auf ihre chinesischen Märkte zu verzichten. Da China ein so wichtiger Absatzmarkt für das deutsche Kapital ist, stellt dies Deutschland vor ein großes Dilemma, das von anderen europäischen Mächten in einer Zeit geteilt wird, in der die EU selbst von der Tendenz ihrer Mitgliedstaaten bedroht ist, ihre nationalen Interessen über die der Union zu stellen.

China, das vor zwei Jahren noch als der große Gewinner der Covid-Krise dargestellt wurde, ist eine der charakteristischsten Ausprägungen des Strudeleffekts. Das Land, das bereits unter einer wirtschaftlichen Verlangsamung leidet, steht nun vor großen Turbulenzen.

Seit Ende 2019 lähmen die Pandemie, die wiederholten Schließungen und die Flut von Infektionen, die auf die Abkehr von der „Null-Covid“-Politik folgten, die chinesische Wirtschaft.

China ist in die globale Krisendynamik verwickelt, sein Finanzsystem ist durch das Platzen der Immobilienblase bedroht. Der Niedergang des russischen Partners und die Unterbrechung der „Seidenstraßen“ nach Europa durch bewaffnete Konflikte oder das herrschende Chaos richten erheblichen Schaden an. Der starke Druck der USA verschärft die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes weiter. Und angesichts der wirtschaftlichen, gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Probleme stellt die angeborene Schwäche der stalinistischen Staatsstruktur ein großes Handicap dar. China ist weit davon entfernt, die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft spielen zu können, es stellt eine tickende Zeitbombe dar, deren Destabilisierung unvorhersehbare Folgen für den Weltkapitalismus hat.

Die wichtigsten Zonen der Weltwirtschaft befinden sich bereits in einer Rezession oder stehen kurz davor, in eine solche abzurutschen. Die Schwere der „Krise, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet und die sich zur schwersten Krise der gesamten Dekadenzperiode entwickeln wird, deren historische Bedeutung sogar die größte Krise dieser Epoche, die von 1929, übertreffen wird „, beschränkt sich jedoch nicht auf das Ausmaß dieser Rezession. Die historische Schwere der gegenwärtigen Krise markiert einen fortgeschrittenen Punkt im Prozess der „inneren Zersetzung“ des Weltkapitalismus, der von der Kommunistischen Internationale 1919 angekündigt wurde und der sich aus dem allgemeinen Kontext der Endphase der Dekadenz ergibt, deren Haupttendenzen folgende sind:

– Die Beschleunigung des Zerfalls und die vielschichtigen Auswirkungen seiner Folgen auf eine kapitalistische Wirtschaft, deren Zustand sich bereits verschlechterte;

– die Beschleunigung des Militarismus im Weltmaßstab,

– die akute Entwicklung des „Jeder für sich“ zwischen den Nationen vor dem Hintergrund eines immer schärferen Wettbewerbs zwischen China und den USA um die Weltherrschaft,

– die Abkehr von den Regeln der Zusammenarbeit zwischen den Nationen, um den Widersprüchen und Erschütterungen des Systems zu begegnen,

– das Fehlen einer Lokomotive, die die kapitalistische Wirtschaft wieder anschieben kann,

– die Perspektive der absoluten Verarmung des Proletariats in den zentralen Ländern, die bereits im Gange ist.

Wir beobachten das Zusammentreffen verschiedener Ausdrucksformen der Wirtschaftskrise, und vor allem ihrer Wechselwirkung in der Dynamik ihrer Entwicklung: So erfordert die hohe Inflation eine Anhebung der Zinssätze; dies wiederum provoziert eine Rezession, die ihrerseits eine Quelle der Finanzkrise ist und zu neuen Liquiditätsspritzen und damit zu einer noch höheren Verschuldung führt, die bereits astronomisch ist und einen weiteren Faktor der Inflation darstellt.... All dies zeigt den Bankrott dieses Systems und seine Unfähigkeit, der Menschheit eine Perspektive zu bieten.

Die Weltwirtschaft steuert auf eine Stagflation zu, eine Situation, die durch die Auswirkungen der Überproduktion und die Entfesselung der Inflation infolge des Anstiegs der unproduktiven Ausgaben (in erster Linie Rüstungsausgaben, aber auch die exorbitanten Kosten für die Folgen des Zerfalls) und des Rückgriffs auf das Drucken von Geld gekennzeichnet ist, was die Verschuldung weiter anheizt. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Chaos und der unvorhergesehenen Beschleunigungen offenbart die Bourgeoisie nicht nur ihre Ohnmacht, sondern alles was sie tut verschlimmert die Situation noch.

Für das Proletariat bedeuten der Inflationsschub und die Weigerung der Bourgeoisie die „Lohn-Preis-Spirale“ zu bremsen, einen drastischen Rückgang der Kaufkraft. Hinzu kommen die massiven Entlassungen, die brutalen Kürzungen der Sozialbudgets und die Angriffe auf die Renten, die für uns eine Zukunft in Armut mit sich bringen werden, wie sie in den Ländern der Peripherie bereits Realität ist. Für immer breitere Schichten des Proletariats in den zentralen Ländern wird es zunehmend schwieriger werden, eine Wohnung, eine Heizung, Lebensmittel oder Sozialleistungen zu erhalten.

Die Bourgeoisie ist mit einem massiven Arbeitskräftemangel in einer Reihe von Sektoren konfrontiert. Dieses Phänomen, das in seinem Ausmaß und seinen Auswirkungen auf die Produktion etwas Neues ist, scheint das Ergebnis einer Reihe von Faktoren zu sein, die die inneren Widersprüche des Kapitalismus und die Auswirkungen des Zerfalls zusammenführen. Es ist gleichzeitig das Produkt der Unkontrolliertheit des Kapitalismus, die sowohl Überkapazitäten – Arbeitslosigkeit – als auch Arbeitskräftemangel erzeugt. Weitere Faktoren dieses Phänomens sind die Globalisierung und die zunehmende Zersplitterung des Weltmarktes, die die internationale Verfügbarkeit von Arbeitskräften erschweren; demografische Faktoren wie sinkende Geburtenraten und die Überalterung der Bevölkerung, die die Zahl der für die Ausbeutung verfügbaren Arbeitskräfte einschränken, sowie der relative Mangel an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften, dies trotz der selektiven Einwanderungspolitik zahlreicher Staaten. Hinzu kommt die Abwanderung von Lohnabhängigen aus Branchen, in denen die Arbeitsbedingungen unerträglich geworden sind.

6. Die Zerstörung der Natur

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein deutliches Beispiel dafür, wie ein Krieg die ökologische Krise weiter beschleunigen kann, die sich während der gesamten Periode der Dekadenz aufgebaut hat, aber bereits in den ersten Jahrzehnten der Endphase des Kapitalismus ein neues Niveau erreicht hatte. Die Zerstörung von Gebäuden, Infrastruktur, Technologie und anderen Ressourcen stellt eine enorme Energieverschwendung dar, und ihr Wiederaufbau wird noch mehr Kohlenstoffemissionen verursachen. Der allumfassende Einsatz hochgradig zerstörerischer Waffen führt zur Verschmutzung von Boden, Wasser und Luft, wobei die ständige Gefahr besteht, dass die gesamte Region erneut zu einer Quelle atomarer Strahlung wird, sei es durch die Bombardierung von Kernkraftwerken oder durch den gezielten Einsatz von Atomwaffen. Aber auch auf globaler Ebene hat der Krieg ökologische Auswirkungen, da er das Erreichen der globalen Ziele zur Begrenzung der Emissionen in noch weitere Ferne rücken lässt, da jedes Land mehr auf seine „Energiesicherheit“ bedacht ist, was im Allgemeinen eine weitere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bedeutet.

So wie die ökologische Krise ein Faktor des Strudeleffekts ist, erzeugt sie auch ihre eigenen „Rückkopplungsschleifen“, die den Prozess der globalen Erwärmung bereits beschleunigen. So birgt das Schmelzen der Polkappen nicht nur die Gefahr eines steigenden Meeresspiegels in sich, sondern wird selbst zu einem Faktor des globalen Temperaturanstiegs, da der Verlust des Eises eine geringere Fähigkeit mit sich bringt, die Sonnenenergie zurück in die Atmosphäre zu reflektieren. Ebenso wird durch das Abschmelzen des Dauerfrostbodens in Sibirien ein riesiger Vorrat an dem starken Treibhausgas Methan freigesetzt. Die sich verschlimmernden und kombinierten Auswirkungen der globalen Erwärmung (Überschwemmungen, Waldbrände, Dürre, Bodenerosion usw.) machen bereits jetzt immer mehr Teile des Planeten unbewohnbar und verschärfen das globale Flüchtlingsproblem, das durch die Fortdauer und Ausweitung imperialistischer Konflikte bereits angeheizt wird.

Wie Marx und Rosa Luxemburg erklärten, hat das unerbittliche Streben nach Märkten und Rohstoffen den Kapitalismus dazu getrieben, in den gesamten Planeten einzudringen und ihn zu ‚besetzen‘ und die verbleibenden „wilden“ Gebiete zu zerstören oder dem Gesetz des Profits zu unterwerfen. Dieser Prozess ist untrennbar mit der Entstehung von Zoonose-Krankheiten wie Covid verbunden und legt damit die Grundlage für künftige Pandemien.

Die herrschende Klasse ist sich der Gefahren, die von der ökologischen Krise ausgehen, zunehmend bewusst, vor allem, weil all dies mit enormen wirtschaftlichen Kosten verbunden ist. Aber die jüngsten Umweltkonferenzen haben die grundsätzliche Unfähigkeit der herrschenden Klasse, mit der Situation umzugehen, bestätigt, da der Kapitalismus ohne die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten und die Anforderungen des „Wachstums“ nicht existieren kann. Ein Teil der Bourgeoisie, wie z.B. ein beträchtlicher Flügel der Republikanischen Partei in den USA, deren Ideologie von der für die Zerfallsphase des Kapitalismus typischen tiefgreifenden Irrationalität getragen wird, leugnet weiterhin die Klimawissenschaft, aber wie die Berichte des WEF und der UNO zeigen, sind sich die intelligenteren Fraktionen des Ernstes der Lage durchaus bewusst. Aber die angeblichen Lösungen, die sie anbieten, können nie an der Wurzel des Problems ansetzen und stützen sich auf technische Lösungen, die genauso giftig sind wie die bestehende Technologie (wie im Fall der „sauberen“ Elektrofahrzeuge, deren Lithiumbatterien auf riesigen und hochgradig umweltschädlichen Bergbauprojekten beruhen) oder weitere Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse bedeuten. So ist die Idee einer „Postwachstums“-Wirtschaft, in der ein „wohlwollender“ und „wahrhaft demokratischer“ Staat über alle grundlegenden Verhältnisse des Kapitalismus (Lohnarbeit, verallgemeinerte Warenproduktion) waltet, nicht nur eine logische Absurdität – da gerade diese Verhältnisse die Notwendigkeit einer endlosen Akkumulation begründen –, sondern würde auch heftige Sparmaßnahmen nach sich ziehen, die mit dem Slogan „weniger konsumieren“ gerechtfertigt werden. Und während der radikalere Flügel der „grünen“ Bewegungen (Fridays for Future, Extinction Rebellion usw.) zunehmend das Geschwätz der Umweltkonferenzen der Regierungen kritisiert, können ihre Aufrufe zu direktem Handeln durch besorgte „Bürger“ nur die Notwendigkeit verschleiern, dass die Arbeiterklasse dieses System auf ihrem eigenen Klassenterrain bekämpfen und erkennen muss, dass ein wirklicher „Systemwechsel“ nur durch die proletarische Revolution zustande kommen kann. Da die Umweltkatastrophen immer schneller aufeinander folgen, wird die Bourgeoisie solche Formen des Protests mit Sicherheit als falsche Alternativen zum Klassenkampf nutzen, der allein die Perspektive einer radikal neuen Beziehung zwischen der Menschheit und ihrer natürlichen Umwelt entwickeln kann.

7. Politische Instabilität der herrschenden Klasse

1990 wiesen unsere „Thesen zum Zerfall“ auf die wachsende Tendenz der herrschenden Klasse hin, die Kontrolle über ihr politisches Spiel zu verlieren. Der Aufstieg des Populismus, der durch die völlige Perspektivlosigkeit des Kapitalismus und die Entwicklung des „Jeder für sich“ auf internationaler Ebene genährt wird, ist wahrscheinlich der deutlichste Ausdruck dieses Kontrollverlusts. Diese Tendenz hat sich trotz der Gegenbewegungen anderer, „verantwortungsbewussterer“ Fraktionen der Bourgeoisie fortgesetzt (z.B. die Ablösung von Trump und die rasche Absetzung von Truss in Großbritannien). In den USA bereitet Trump immer noch eine neue Präsidentschaftskandidatur vor, die im Falle eines Erfolgs die gegenwärtige außenpolitische Ausrichtung der US-Regierung ernsthaft untergraben würde; in Großbritannien, dem klassischen Land der stabilen parlamentarischen Regierung, haben wir eine Reihe von vier aufeinanderfolgenden Tory-Premierministern erlebt, die Ausdruck tiefer Spaltungen in der Tory-Partei als Ganzes sind und wiederum hauptsächlich von den populistischen Kräften angetrieben werden, die das Land in das Fiasko des Brexit getrieben haben. Abseits der historischen Zentren des kapitalistischen Systems agieren nationalistische Demagogen wie Erdogan und Modi weiterhin als Außenseiter und verhindern die Bildung einer soliden Allianz hinter den USA in ihrem Konflikt mit Russland. In Israel ist Netanjahu ebenfalls aus seinem scheinbaren politischen Grab auferstanden, unterstützt von ultrareligiösen, offen für weitere Annexionen eintretenden Kräften, und seine Bemühungen, den Obersten Gerichtshof seiner Regierung unterzuordnen, haben eine riesige Protestbewegung ausgelöst, die ganz von Aufrufen zur Verteidigung der „Demokratie“ beherrscht wird.

Der Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol am 6. Januar 2020 hatte deutlich gemacht, dass sich die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse selbst im mächtigsten Land der Welt immer mehr verfestigen und das Potenzial haben, in gewaltsame Auseinandersetzungen und sogar Bürgerkriege auszuarten. Nach der Wahl von Lula in Brasilien versuchten die Kräfte hinter Bolsonaro ihre eigene Version des 6. Januar 2020. In Russland gibt es immer mehr Anzeichen für eine Opposition gegen Putin innerhalb der herrschenden Klasse, vielleicht am deutlichsten bei ultra-nationalistischen Gruppen, die mit dem Verlauf der derzeitigen „militärischen Sonderoperation“ in der Ukraine nicht zufrieden sind. Gerüchte über Militärputsche machen die Runde; und während Putin selbst sich derzeit dem Druck von rechts durch ständige Drohungen, den „Krieg mit dem Westen“ zu eskalieren, anpasst, wäre eine Ablösung Putins durch eine rivalisierende Bande alles andere als ein friedlicher Prozess. Schließlich treten auch in China die Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie immer deutlicher zutage, insbesondere zwischen der Fraktion um Xi Jinping, die für eine verstärkte zentralstaatliche Kontrolle der gesamten Wirtschaft und eine energisch nationalistische Außenpolitik eintritt, und den Rivalen, die sich stärker für die Möglichkeiten der Entwicklung von Privatkapital und ausländischen Investitionen einsetzen. Obwohl noch auf dem Parteitag im Oktober 2022 die Herrschaft der Xi-Fraktion unangreifbar schien, haben ihr katastrophaler Umgang mit der Covid-Krise, die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die durch den Ukraine-Krieg entstandenen schwerwiegenden Dilemmata die wahren Schwächen der chinesischen herrschenden Klasse offenbart, die durch einen starren stalinistischen Apparat belastet wird, dem die Mittel zur Anpassung an die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme fehlen.

Diese Spaltungen setzen jedoch der Fähigkeit der herrschenden Klasse die Auswirkungen des Zerfalls gegen die Arbeiterklasse zu wenden, oder angesichts eines zunehmenden Klassenkampfes ihre Spaltungen vorübergehend beiseite zu schieben, um ihrem historischen Todfeind entgegenzutreten, kein Ende. Und selbst wenn die Bourgeoisie nicht in der Lage ist, ihre internen Spaltungen zu kontrollieren, ist die Arbeiterklasse ständig von der Gefahr bedroht, hinter rivalisierenden Fraktionen ihres Klassenfeindes mobilisiert zu werden.

8. Der Bruch mit 30 Jahren Rückfluss und Desorientierung

Die Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiter in einer Reihe von Ländern ist ein bedeutendes historisches Ereignis, das nicht nur auf lokale Umstände zurückzuführen ist und sich nicht durch rein nationale Bedingungen erklären lässt. Die Kämpfe, die seit dem Sommer 2022 in Großbritannien stattfinden, haben eine Bedeutung, die über den britischen Kontext hinausgeht. Die Reaktion der britischen Arbeiter und Arbeiterinnen wirft ein Licht auf die Kämpfe in anderen Ländern und verleiht ihnen eine neue und besondere Bedeutung. Die Tatsache, dass die gegenwärtigen Kämpfe von einem Teil des Proletariats initiiert wurden, der am meisten unter dem allgemeinen Rückzug des Klassenkampfes seit Ende der 80er-Jahre gelitten hat, ist von großer Bedeutung: So wie die Niederlage in Großbritannien 1985 den allgemeinen Rückzug Ende der 80er-Jahre ankündigte, offenbart die Rückkehr der Streiks und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in Großbritannien die Existenz einer tiefen Dynamik innerhalb des Proletariats der ganzen Welt. Angesichts der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise beginnt die Arbeiterklasse, ihre Antwort auf die unaufhaltsame Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in derselben internationalen Bewegung zu entwickeln. Diese Analyse gilt auch für die drei Monate andauernden Massenmobilisierungen der Arbeiterklasse in Frankreich angesichts des Angriffs der Regierung auf die Renten. Seit Jahrzehnten gehört die Arbeiterklasse in diesem Land zu den kämpferischsten der Welt, aber ihre Mobilisierungen Anfang 2023 sind nicht einfach eine Fortsetzung der großen Kämpfe der vorangegangenen Periode. Das Ausmaß dieser Mobilisierungen erklärt sich auch und grundlegend dadurch, dass sie Teil einer Kampfbereitschaft sind, die das Proletariat heute in vielen Ländern hervorbringt.

Die gegenwärtigen Arbeiterkämpfe in Europa bestätigen, dass die Klasse nicht besiegt ist und ihr Potenzial bewahrt. Die Tatsache, dass die Gewerkschaften diese Bewegungen kontrollieren, ohne dabei in Frage gestellt zu werden, schmälert oder relativiert deren Bedeutung nicht. Im Gegenteil, die Haltung der herrschenden Klasse, die seit langem auf eine Wiederbelebung der Arbeiterkämpfe vorbereitet ist, zeugt von deren Potenzial: Die Gewerkschaften waren von vornherein darauf ausgerichtet, eine „kämpferische“ Haltung einzunehmen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, um ihre Rolle als Hüter der kapitalistischen Ordnung voll zu spielen.

Das Ausmaß und die Gleichzeitigkeit dieser Bewegungen, die von einer neuen Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen getragen werden, zeugen von einem Stimmungswandel in der Klasse und stellen einen Bruch mit der Passivität und Orientierungslosigkeit dar, die seit Ende der 80er-Jahre bis heute vorherrschte.

Angesichts der Bewährungsprobe des Krieges in der Ukraine war eine direkte Reaktion der Arbeiterklasse nicht zu erwarten. Die Geschichte zeigt, dass sich die Arbeiterklasse nicht direkt gegen den Krieg mobilisiert, sondern gegen seine Auswirkungen auf das Leben „an der Front in der Heimat“. Die Abwesenheit an pazifistischen Mobilisierungen – die von der Bourgeoisie organisiert werden – bedeutet nicht, dass das Proletariat am Krieg festhält, aber es zeigt die Wirksamkeit der Kampagne zur „Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Aggressor“. Es handelt sich jedoch nicht nur um eine passive Verweigerung. Die Arbeiterklasse in den zentralen Ländern ist bisher nicht bereit, das höchste Opfer des Todes zu akzeptieren, lehnt aber auch die vom Krieg geforderten Opfer der Lebens- und Arbeitsbedingungen ab. Die gegenwärtigen Kämpfe sind genau die Antwort der Arbeiter und Arbeiterinnen auf dieser Ebene; sie sind die einzig mögliche Antwort und enthalten die Voraussetzungen für die Zukunft, aber gleichzeitig zeigen sie, dass die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, die Verbindung zwischen Krieg und der Verschlechterung ihrer Bedingungen herzustellen.

Das IKS hat immer darauf bestanden, dass trotz der Schläge gegen das Klassenbewusstsein, trotz seines Rückflusses in den letzten Jahrzehnten:

–  das Proletariat der zentralen Länder enorme Reserven an Kampfkraft bewahrt hat, die bisher nicht entscheidend auf die Probe gestellt worden sind;

– die Entwicklung eines offenen Widerstands gegen die Angriffe des Kapitals stellt in der heutigen Situation mehr denn je die wichtigste Voraussetzung für das Proletariat dar, um seine Klassenidentität als Ausgangspunkt für eine allgemeinere Entwicklung des Klassenbewusstseins zurückzugewinnen.

Bis jetzt scheinen die an die Oberfläche gekommenen kämpferischen Äußerungen „nur ein geringes Echo innerhalb des Rests der Klasse zu haben: Das Phänomen, dass die Kämpfe in einem Land auf Bewegungen anderswo ‚antworten‘, scheint nahezu nicht-existent zu sein. Unter diesen Umständen ist es selbst für die Revolutionäre schwierig, ein klares Strickmuster oder definitive Anzeichen von Fortschritt im Klassenkampf zu erkennen. Für die Klasse im Allgemeinen trug die zersplitterte und separate Natur der Kämpfe – zumindest oberflächlich – wenig dazu bei, das Selbstvertrauen des Proletariats, sein Bewusstsein über sich selbst als eine besondere gesellschaftliche Kraft, als eine internationale Klasse mit dem Potenzial, die herrschende Ordnung herauszufordern, zu verstärken oder zu erneuern“.[5]

Heute verändert die Kombination aus Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter und Verschärfung der Weltwirtschaftskrise (im Vergleich zu 1968 oder 2008), die keinen Teil des Proletariats verschont und alle gleichzeitig trifft, objektiv die Grundlagen für den Klassenkampf.

Die Verschärfung der Krise und die Intensivierung der Kriegswirtschaft können sich nur im Weltmaßstab fortsetzen und überall eine steigende Kampfbereitschaft erzeugen. Die Inflation wird bei dieser Entwicklung von Kampfbereitschaft und Bewusstsein eine besondere Rolle spielen. Indem sie alle Länder, die gesamte Arbeiterklasse trifft, treibt die Inflation das Proletariat zum Kampf. Da es sich nicht um einen Angriff handelt, den die Bourgeoisie vorbereiten und schließlich zurückziehen kann, sondern um ein Produkt des Kapitalismus, impliziert es einen tieferen Kampf und ein tieferes Nachdenken.

Das Wiederaufleben der Kämpfe bestätigt die Analyse der IKS, dass die Krise tatsächlich der beste Verbündete des Proletariats bleibt: „Die Entfaltung der Krise ist Voraussetzung dafür, dass die Klasse in der Lage ist, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft entgegenzutreten. Obwohl die Arbeiterklasse sich in den sog. Teilkämpfen gegen die Auswirkungen des Zerfalls nicht als Klasse zusammenschließen kann, bildet der Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise dennoch die Grundlage für die Entfaltung ihrer Stärke und ihrer Einheit als Klasse.“ („Thesen zum Zerfall“, Internationale Revue Nr. 13).[6] Die heutige Entwicklung der Kämpfe ist keine Eintagsfliege, sondern hat eine Zukunft. Sie deutet auf einen Prozess der Wiederbelebung der Klasse nach Jahren des Rückflusses hin und birgt das Potenzial für die Wiedererlangung der Klassenidentität, also dafür, dass die Klasse sich wieder dessen bewusst wird, was sie ist, welches Gewicht sie hat, wenn sie in den Kampf eintritt.

Alles deutet darauf hin, dass diese in Europa entstandene Klassenbewegung lange anhalten kann und in anderen Teilen der Welt auch aufgenommen wird. Eine neue Situation tut sich für den Klassenkampf auf. Angesichts der Gefahr der Zerstörung durch den Zerfall des Kapitalismus zeigen diese Kämpfe, dass die historische Perspektive völlig offen bleibt: „Diese ersten Schritte werden oft zögerlich und voller Schwächen sein, aber sie sind unerlässlich, damit die Arbeiterklasse in der Lage ist, ihre historische Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer kommunistischen Perspektive zu bekräftigen. So werden sich die beiden alternativen Pole – Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution – gegenüberstehen, auch wenn die letztere Alternative noch in weiter Ferne liegt und mit enormen Hindernissen konfrontiert ist.“[7]

Obwohl die Umstände des Zerfalls ein Hindernis für die Entwicklung der Kämpfe und die Wiederherstellung des Selbstbewusstseins des Proletariats darstellen, ist es der Klasse gelungen, zum Kampf zurückzukehren, dies auch wenn der Zerfall erschreckend weiter vorangeschritten ist und obwohl die Zeit nicht mehr auf ihrer Seite ist. Die jüngsten Ereignisse haben unsere Vorhersage in der „Resolution zur internationalen Lage“ vom 24. internationalen Kongress eindrucksvoll bestätigt: „Wie wir bereits in Erinnerung gerufen haben, birgt die Zerfallsphase in der Tat die Gefahr, dass das Proletariat einfach nicht reagiert und über einen langen Zeitraum hinweg zermalmt wird – eher ein „Tod durch tausend Stiche“ als eine frontale Klassenkonfrontation. Demgegenüber behaupten wir, dass es immer noch genügend Beweise gibt, die zeigen, dass trotz des unzweifelhaften „Voranschreitens“ des Zerfalls, trotz der Tatsache, dass die Zeit nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse läuft, das Potential für eine tiefgreifende proletarische Wiederbelebung – die zu einer Wiedervereinigung zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Klassenkampfes führt – nicht verschwunden ist.“[8]

Der Kampf selbst ist der erste Erfolg des Proletariats; dies wird besonders deutlich anhand folgender Punkte:

– Der Weg zur Wiedererlangung der Klassenidentität. Während das fragile Wiederauftauchen des Klassenkampfes (USA 2018, Frankreich 2019) durch die Pandemie und die Aussperrungen weitgehend blockiert wurde, haben diese Ereignisse den Zustand der Arbeiterklasse als Hauptopfer der Gesundheitskrise, aber auch als Quelle aller Arbeit und aller materiellen Produktion lebenswichtiger Güter offenbart. Die Arbeiter und Arbeiterinnen machen jetzt eine kollektive Erfahrung des Kampfes, in dem es eine Suche nach Einheit und einen Beginn der Solidarität zwischen den verschiedenen Sektoren der Klasse, zwischen „Arbeitern“ und „Angestellten“, zwischen den Generationen gibt. Das Gefühl, dass alle in einem Boot sitzen, wird die Arbeiterklasse in die Lage versetzen, sich als eine soziale Kraft zu erkennen, die durch dieselben Ausbeutungsbedingungen vereint ist. Die Wiederherstellung der Klassenidentität des Proletariats beinhaltet eine Dimension, die untrennbar mit diesen ersten Schritten der Anerkennung seiner selbst und seiner Stärke verbunden ist; sie beinhaltet auch die Identifizierung seines Klassengegners, über diesen oder jenen Arbeitgeber oder diese oder jene Regierung hinaus. Diese Wiederaufnahme der Konfrontation zwischen den Klassen schafft die Voraussetzungen für die Perspektive einer bewussteren Politisierung des Kampfes – ein langer und mühsamer Prozess, der gerade erst begonnen hat.

–  Ein Fortschritt in der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die sich über einen längeren Zeitraum und auf verschiedenen Ebenen entwickelt hat. In den breiteren Schichten der Klasse nimmt die unterirdische Reifung zunächst die Form eines Verlusts der Illusion in die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus an, eines Bewusstseins, dass die Situation nur noch schlimmer werden kann, dass die gesamte Dynamik des Kapitalismus die Gesellschaft an die Wand drückt, vor allem aber eine tiefsitzende Abneigung gegen die Ausbeutungsbedingungen, die heute in der Losung „Genug ist genug“ zusammengefasst wird. In einem begrenzteren Teil der Klasse ist eine Rückbesinnung auf vergangene Kämpfe und die Suche nach Lehren über die Mittel zur Stärkung des Kampfes zu beobachten, wie ein wirksames Kräfteverhältnis gegen den bürgerlichen Staat geschaffen werden kann. Und schließlich: „In einem Teil der Klasse, der zahlenmäßig noch kleiner, aber dazu bestimmt ist, mit dem Voranschreiten des Kampfes weiter anzuwachsen, nimmt dies die Form einer ausdrücklichen, offenen Verteidigung des kommunistischen Programms an und somit der Umgruppierung einer organisierten marxistischen Avantgarde.“[9] Konkretisiert wird dies durch das Auftreten von Minderheiten, die sich für die politischen Positionen der Kommunistischen Linken interessieren.

Es war der allmähliche Verlust der Klassenidentität, der es der Bourgeoisie ermöglichte, die beiden größten Momente des proletarischen Kampfes seit den 1980er-Jahren (die Bewegung gegen den Contrat Première Embauche (CPE) in Frankreich 2006 und die Indignados in Spanien 2011) zu sterilisieren bzw. zurückzugewinnen, weil den Hauptkräften diese entscheidende Grundlage für die allgemeinere Entwicklung des Bewusstseins entzogen wurde. Heute ist die Tendenz zur Wiedererlangung der Klassenidentität und die Entwicklung der unterirdischen Reifung Ausdruck der wichtigsten Veränderung auf der subjektiven Ebene, die das Potenzial für die künftige Entwicklung des proletarischen Kampfes zeigt. Die Klassenidentität ist ein untrennbarer Bestandteil des Klassenbewusstseins, denn sie bedeutet das Bewusstsein, eine Klasse zu bilden, die durch gemeinsame Interessen vereint ist, die denen der Bourgeoisie entgegengesetzt sind, sie bedeutet die „Konstituierung des Proletariats als Klasse“ (Kommunistisches Manifest), und sie ist ein untrennbarer Bestandteil des Klassenbewusstseins für die Anerkennung des bewussten revolutionären Wesens des Proletariats. Ohne sie gibt es keine Möglichkeit für die Klasse, an ihre Geschichte anzuknüpfen, um die Lehren aus den vergangenen Kämpfen zu ziehen und so ihre gegenwärtigen und zukünftigen Kämpfe zu führen. Klassenidentität und Klassenbewusstsein können nur durch die Entwicklung des autonomen Kampfes der Klasse auf ihrem eigenen Terrain gestärkt werden.

Die Wiederbelebung der Kampfkraft der Klasse und die unterirdische Reifung des Bewusstseins erfordern für die Bourgeoisie, dass die Gewerkschaften, diese staatlichen Organe, die darauf spezialisiert sind, den Kämpfen der Arbeiterklasse Fesseln anzulegen, und die linken politischen Organisationen, die bürgerlichen falschen Freunde der Arbeiterklasse, sich an die vorderste Front des Klassenkampfes stellen.

Die derzeitige Wirksamkeit der gewerkschaftlichen Kontrolle beruht auf den Schwächen, die sich aus dem Zerfall ergeben, Schwächen, die von der Bourgeoisie politisch ausgenutzt werden, und aus dem Rückzug des Bewusstseins, der seit einigen Jahrzehnten andauert und der sich in der „Rückkehr der Gewerkschaften“ und dem Erstarken der reformistischen Ideologie in den Kämpfen der kommenden Periode, die die Arbeit der Gewerkschaften erheblich erleichtert ausdrückt.

Insbesondere das Gewicht der Atomisierung, die Perspektivlosigkeit, die Schwäche der Klassenidentität, der Verlust der Errungenschaften und der Lehren aus den Konfrontationen mit den Gewerkschaften in der Vergangenheit sind die Ursachen für den äußerst wichtigen Einfluss des in Sektoren und Berufsgruppen aufgeteilten Denkens. Diese Schwäche ermöglicht es den Gewerkschaften, einen starken Einfluss auf die Klasse zu behalten.

Obwohl sie noch nicht von einer Herausforderung die Kontrolle des Kampfes zu verlieren bedroht sind, waren die Gewerkschaften gezwungen, sich an die aktuellen Kämpfe anzupassen, um ihre übliche Arbeit der Spaltung besser ausführen zu können. Dies indem sie eine „kämpferischere“, „an die Arbeiterklasse gerichtete“ Sprache verwenden und sich selbst als Schmiede der Klasseneinheit darstellen, um diese besser sabotieren zu können.

Parallel dazu arbeiten die verschiedenen linken Organisationen (und die Linke des Kapitals im Allgemeinen) innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften und unterstützen diese nach Kräften. Als Verfechter der raffiniertesten arbeiterfeindlichen Mystifikationen in einer radikalen Verkleidung haben sie auch die Funktion, Minderheiten zu einzufangen, die nach Klassenpositionen suchen.

Die ständige Verteidigung der „Demokratie“ und der Interessen des „Volkes“ zielt darauf ab, die Existenz von Klassengegensätzen zu verschleiern, die Lüge vom Staat als Beschützer zu nähren und die proletarische Klassenidentität anzugreifen, indem die Arbeiterklasse auf eine Masse von Bürgern oder „Sektoren“ von Aktivitäten reduziert wird, die durch besondere Interessen getrennt sind.

Angesichts der Bewegungen der nicht ausbeutenden Schichten oder des von der Wirtschaftskrise zermürbten Kleinbürgertums muss sich das Proletariat vor „Volks“-Aufständen oder klassenübergreifenden Kämpfen hüten, die seine eigenen Interessen in einer undifferenzierten Summe des „Volkes“ untergehen lassen. Es muss fest auf dem Terrain der Verteidigung seiner eigenen Forderungen und seiner Klassenautonomie stehen, als Vorbedingung für die Entwicklung seiner Kraft und seines Kampfes.

Die Arbeiterklasse muss auch die von der Bourgeoisie gestellten Fallen rund um die Ein-Themen-Kämpfe (oder auch Teilkämpfe genannt: zur Rettung der Umwelt, gegen Rassenunterdrückung, Feminismus usw.) ablehnen, die sie von ihrem eigenen Klassenterrain ablenken. Eine der wirksamsten Waffen der herrschenden Klasse ist ihre Fähigkeit, die Auswirkungen des Zerfalls gegen die Klasse zu wenden und die zersetzenden Ideologien des Kleinbürgertums zu fördern. Auf dem Boden des Zerfalls, der Irrationalität, des Nihilismus und des „No-Future“ gedeihen alle möglichen ideologischen Strömungen. Ihre zentrale Rolle besteht darin, jeden abstoßenden Aspekt dieses dekadenten kapitalistischen Systems zu einem Motiv für einen spezifischen Kampf zu machen, der von verschiedenen Kategorien der Bevölkerung oder manchmal vom „Volk“ geführt wird, aber immer getrennt von jeder wirklichen Infragestellung des Systems als Ganzes.

All diese Ideologien (ob ökologische, „woke“, anti-rassistische, etc.), die den Klassenkampf leugnen, oder wie diejenigen, die „Intersektionalität“ predigen, den Klassenkampf auf die gleiche Ebene stellen wie den Kampf gegen Rassismus oder männlichen Chauvinismus, stellen eine Gefahr für die Klasse dar, insbesondere für die junge Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen, denen es an Erfahrung mangelt, die aber zutiefst über den Zustand der Gesellschaft empört sind. Auf dieser Ebene werden diese Ideologien durch eine ganze Reihe von Linken und Modernisten („Kommunisierer“) ergänzt, deren Rolle es ist, die Bemühungen des Proletariats zur Entwicklung des Klassenbewusstseins zu unterdrücken und die Menschen vom Klassenkampf abzulenken.

Wenn der Klassenkampf von Natur aus international ist, ist die Arbeiterklasse gleichzeitig eine heterogene Klasse, die ihre Einheit durch ihren Kampf erlangen muss. In diesem Prozess hat das Proletariat der zentralen Länder die Aufgabe, dem Weltproletariat die Tür zur Revolution zu öffnen.

In den Ländern wie China, Indien usw. hat sich die Arbeiterklasse zwar als sehr kämpferisch erwiesen, und trotz ihrer quantitativen Bedeutung sind diese Teile des Proletariats aufgrund ihrer fehlenden historischen Erfahrung besonders anfällig für die ideologischen Fallen und Mystifikationen der herrschenden Klasse. Ihre Kämpfe werden leicht zur Hilflosigkeit verdammt oder in bürgerliche Sackgassen abgeleitet (Forderungen nach mehr Demokratie, Freiheit, Gleichheit usw.) oder in klassenübergreifenden, von anderen sozialen Schichten dominierten Bewegungen völlig verwässert. Wie der arabische Frühling 2010 gezeigt hat, wurde der sehr reale Arbeiterkampf in Ägypten schnell zu einem „Volk“ verwässert, das dann hinter Fraktionen der herrschenden Klasse auf das bürgerliche Terrain von „mehr Demokratie“ gezogen wurde. Oder die gewaltige Protestbewegung im Iran, wo in Ermangelung einer klaren revolutionären Perspektive, die von den erfahreneren Teilen des Weltproletariats in Westeuropa verteidigt wird, die vielen Arbeiterkämpfe im Land nur in der Volksbewegung untergehen und von ihrem Klassenterrain hinter der Parole der Frauenrechte abgelenkt werden können.

In den USA hat das Proletariat der stärksten Weltmacht trotz der Schwächen, die damit zusammenhängen, dass die Arbeiterklasse in diesem Land nicht direkt mit der Konterrevolution konfrontiert war und weniger direkt dem Weltkrieg ausgesetzt war, und trotz des Fehlens einer tiefen revolutionären Tradition, trotz zahlreicher Hindernisse, die durch den Zerfall entstanden sind, die Fähigkeit bewiesen, seine Kämpfe (während der Pandemie, während der „Striketobers“-Streikwelle 2021) auf seinem Klassenterrain zu entwickeln. Dabei kann man die USA als Epizentrum des Zerfalls bezeichnen (das Gewicht der Rassenspaltung und des Populismus, die ganze Atmosphäre des Quasi-Bürgerkriegs zwischen Populisten und Demokraten, die Sackgasse von Bewegungen, die auf einem bürgerlichen Terrain arbeiten, wie Black Lives Matter). Das Proletariat der USA zeigt in einer sehr schwierigen politischen Situation, dass es beginnt, auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu reagieren.

Der Schlüssel zur revolutionären Zukunft des Proletariats liegt weiterhin in den Händen seiner Teile in den zentralen Ländern des Kapitalismus. Nur das Proletariat der alten industriellen Zentren Westeuropas bildet den Ausgangspunkt für die künftige Weltrevolution:

– Weil es die Hauptstätte der bedeutendsten revolutionären Erfahrung der Arbeiterklasse ist, von den ersten Kämpfen von 1848, über die Pariser Kommune von 1871, bis zur Revolution in Deutschland 1918-19.

– Weil das europäische Proletariat durch die Konfrontation mit den raffiniertesten bürgerlichen Mystifizierungen von Demokratie, Wahlen, Gewerkschaften am meisten abgehärtet wurde.

– Weil es auch mit der Konterrevolution in den verschiedenen Formen der Diktatur der herrschenden Klasse konfrontiert wurde: bürgerliche Demokratie, Stalinismus und Faschismus.

– Weil sich die Frage der Internationalisierung des Klassenkampfes durch die geographische Nähe der mächtigsten Nationen in Europa von vornherein stellt.

– Weil die politischen Gruppen der Kommunistischen Linken, obwohl sie noch eine sehr kleine und schwache Minderheit sind, dort präsent sind.

9. Die Verantwortung der Revolutionäre

Angesichts des zunehmenden Aufeinandertreffens der beiden alternativen Pole – Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution – haben die revolutionären Organisationen der Kommunistischen Linken, und insbesondere die IKS, eine unersetzliche Rolle bei der Entwicklung des Klassenbewusstseins zu spielen und müssen ihre Energien zur permanenten theoretischen Vertiefung und Erarbeitung einer klaren Analyse der Weltlage verwenden. Gleichzeitig müssen sie in die Kämpfe unserer Klasse eingreifen, um die Notwendigkeit der Klassenautonomie, der Selbstorganisation und der Vereinigung sowie der Entwicklung der revolutionären Perspektive zu verteidigen. Diese Arbeit kann nur auf der Grundlage eines geduldigen Aufbaus der revolutionären Organisation durchgeführt werden, der die Grundlage für die Weltpartei der Zukunft schafft. All diese Aufgaben erfordern einen energischen Kampf gegen alle Einflüsse der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie auf das Milieu der Kommunistischen Linken und der IKS selbst. Gegenwärtig sind die Gruppen der Kommunistischen Linken mit der Gefahr einer echten Krise konfrontiert. Mit einigen Ausnahmen waren sie nicht in der Lage, zur Verteidigung des Internationalismus angesichts des imperialistischen Krieges in der Ukraine gemeinsam die Stimme zu erheben, und sie sind zunehmend offen für das Eindringen von Opportunismus und Parasitismus. Ein rigoroses Festhalten an der marxistischen Methode und den proletarischen Prinzipien ist die einzige Antwort auf diese Gefahren.

IKS, Anfang Mai 2023

Rubric: 

25. IKS-Kongress