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Die entscheidende Rolle der linken Fraktionen in der marxistischen Tradition
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit haben wir das Entstehen von revolutionären Gruppen und Elementen in Osteuropa, besonders in Russland, begrüßt. Sie stehen unübersehbar in einem internationalen Zusammenhang. Auf jedem Kontinent haben proletarische politische Gruppen, welche die Tradition des Linkskommunismus vertreten, mit dieser Art von Elementen zu tun bekommen. Wir sollten dies daher als eine charakteristische, mittelfristige Tendenz der gegenwärtigen Periode betrachten. Gerade nach dem Zusammenbruch der UdSSR und ihres imperialistischen Blocks hat die Bourgeoisie triumphierend den Bankrott des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes verkündet. Durch diese Ereignisse verwirrt, konnte die Arbeiterklasse nicht anders, als unter den Hammerschlägen der ideologischen Kampagnen der Bourgeoisie den Rückzug antreten. Doch außerhalb konterrevolutionärer Perioden kann es eine historische Klasse nicht dabei belassen, auf Angriffe welche ihre eigene Existenz und Perspektive so tief in Frage stellen, lediglich zu reagieren. Wenn es ihr nicht gelingt, ihren wirtschaftlichen Kampf durch Ausdehnung voranzutreiben, dann muss sie zumindest ihre politische Avantgarde stärken um sich zu verteidigen. Die isolierten Elemente, Diskussionsgruppen, Kerne und Grüppchen sollten den Grund ihrer Existenz nicht bei sich selbst oder im Zufall suchen. Sie sind ein Produkt der internationalen Arbeiterklasse. Auf ihren Schultern liegt eine schwere Verantwortung. Zunächst müssen sie den historischen Prozess anerkennen, dessen Produkt sie sind, und bis ans Äußerste für ihr Bewusstsein und ihre politische Klarheit kämpfen, ohne von der Schwere der Aufgabe erdrückt zu werden.
In den Ländern der Peripherie der kapitalistischen Großmächte werden diese kleinen Minderheiten mit einer Unzahl von Schwierigkeiten konfrontiert: geographische Zersplitterung, Sprachprobleme, wirtschaftliche Rückständigkeit. Zu diesen materiellen Schwierigkeiten gesellen sich darüber hinaus noch die politischen, die aus der Schwäche der Arbeiterbewegung und der Abwesenheit einer robusten Tradition des revolutionären Marxismus herrühren. In Russland, dem „Land der großen Lüge“, wie Anton Ciliga es in seinem Buch Au pays du grand mensonge (1938 veröffentlicht) nannte, wo die stalinistische Konterrevolution am schlimmsten gewütet hatte, war die Zerstörung und Entstellung des kommunistischen Programms grenzenlos. Das Potenzial, das in diesen neuen revolutionären Energien steckt, kann an der Art und Weise ermessen werden, wie sie bestrebt sind, diese Schwierigkeiten zu überwinden:
- durch die Beipflichtung zum proletarischen Internationalismus, wie sie aus ihrer Denunziation des Krieges und aller imperialistischen Lager in den Kriegen in Tschetschenien und Ex-Jugoslawien ersichtlich wird;
- durch ihre Suche nach internationalen Kontakten;
- durch ihre Wiederentdeckung der politischen Strömungen, die während der 1920er Jahre als Erste im Namen des Kommunismus den Kampf gegen die Degeneration der kommunistischen Bewegung und den Aufstieg Stalins und des Opportunismus aufnahmen.
Dies war stets der Boden für die Entwicklung des revolutionären Marxismus: international, internationalistisch und einen historischen Standpunkt vertretend.
Die Abgrenzung vom Linksextremismus
Diese Herangehensweise offenbart die wahrhaft proletarische Natur dieser Gruppen, die sehr schnell mit der Notwendigkeit konfrontiert wurden, sich selbst abseits zu stellen vom heutigen Trotzkismus – der immer gute Gründe hat, die Arbeiter zur Teilnahme am imperialistischen Krieg einzuladen – und vom Maoismus, jenem waschechten Abkömmling des stalinistischen „Nationalkommunismus“. Dies ist eine Klassengrenze, die die internationalistischen Linkskommunisten vom „Linksextremismus“ trennt [1].
Offensichtlich sind all diese aus derselben Situation hervorgegangenen proletarischen Elemente sehr heterogen. Sich der Identifizierung des Stalinismus mit dem Kommunismus zu verweigern, die empörendsten Erklärungen der feindlichen Propaganda zu denunzieren ist nicht die schwierigste aller Übungen, denn ihre bürgerliche Natur wird schnell offenbar. „Es war Lenin, der das Fundament für das Regime legte, das später ‚stalinistisch‘ genannt wurde.“ Für die wenig scharfsinnigen Journalisten ist dies dadurch bewiesen, „dass Lenin der Gründer der Kommunistischen Internationale war, deren Ziel die ‚kommunistische Weltrevolution‘ war. Aufgrund seiner eigenen Überzeugung unternahm Lenin die Oktoberrevolution nur, weil er von der Unvermeidbarkeit einer europäischen Revolution überzeugt war, die in Deutschland beginnen sollte.“ (aus: L’Histoire, Nr. 250, S. 19) Man muss sich der Lügen bewusst sein, die verbreitet werden von der nationalen Beengtheit unserer ausgekochten Universitäten. Doch die Offensive der Bourgeoisie beschränkt sich nicht auf diese Karikatur. Wir müssen uns auch weiterhin mit der grundsätzlichen Bedeutung der Russischen Revolution und des Werkes Lenins identifizieren und sie verteidigen. Denn hier stoßen wir nicht nur auf eine subtile Degradierung der marxistischen Theorie durch den Linksextremismus, sondern auch auf eine Reihe von gefährlichen Konfusionen oder programmatischen Streitpunkten, die das Objekt einer harten Diskussion innerhalb der politischen Bewegung des Proletariats bleiben.
Es gilt also einen ganzen Klärungsprozess durchzuführen, den all diese Elemente nicht notwendigerweise in ihren Schlussfolgerungen berücksichtigt haben. Um den Stalinismus zu begreifen, ist es notwendig, der trotzkistischen Theorie eines „degenerierten Arbeiterstaates“, der anarchistischen Auffassung, dass er nichts anderes sei als das unvermeidliche Produkt eines „autoritären Sozialismus“, und dem vollkommen mechanistischen Marxismus der Rätisten, die den Bolschewismus als ein auf die Bedürfnisse des Kapitalismus in Russland zugeschnittenes Instrument betrachten, entgegentreten. Hinter diesen Fragen verbirgt sich das Problem des historischen Niedergangs des kommunistischen Programms und seiner Kohärenz. Die Ablehnung aktivistischer Ungeduld und die Konfrontation mit diesem Problem ist eine Bedingung für den Eintritt in die Reihen jener anonymen Militanten, die heute den Kampf für denselben Kommunismus fortsetzen, der von Marx‘ und Engels im Kommunistischen Manifest vor 150 Jahren dem Proletariat vorgestellt wurde.
Doch wo ist der Faden, der den proletarischen Kampf von Gestern, Heute und Morgen miteinander verknüpft? Um ihn aufzunehmen, müssen wir stets von der letzten revolutionären Erfahrung des Proletariats ausgehen. Heute heißt dies, mit der Revolution vom Oktober 1917 zu beginnen. Es geht dabei nicht um eine religiöse Huldigung der Vergangenheit, sondern um eine kritische Bewertung der Revolution, ihrer großartigen Schritte nach vorn, aber auch ihrer Irrtümer und Niederlagen. Die Russische Revolution selbst wäre unmöglich gewesen ohne die Lehren aus der Pariser Kommune. Ohne die kritische Bilanz der Kommune, die in den Adressen an den Generalrat der Internationalen Arbeiter Assoziation IAA gezogen worden war, und Lenins vorzüglicher Synthese in Staat und Revolution wäre dem russischen Proletariat kein Erfolg beschieden gewesen. Hier liegt die tiefe Einheit zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem kommunistischen Programm und der Tat. Und es waren die linkskommunistischen Fraktionen, welche die schwere Arbeit einer Bilanz der Russischen Revolution auf sich nahmen. Eine Bilanz, die bis in ihr kleinstes Teil lebenswichtig für die nächste Revolution ist, so wie dies auch in der Vergangenheit der Fall war.
Daher begrüßen wir aufs Wärmste die Bemühungen, die auf die Wiederaneignung dieser Bilanz ausgerichtet sind, und unterstützen sie mit all unserer Kraft. Was uns angeht, so haben wir nicht nur versucht, diesen Genossen all die Dokumente zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen, sondern auch ihre wichtigsten Positionen bekannt zu machen, sofern es die Übersetzungsprobleme zuließen, und in militantem Geist an den Kontroversen über die wichtigsten politischen Fragen teilzunehmen, mit jener Offenheit und Solidarität, welche die Diskussion unter Kommunisten auszeichnen.
In der Internationalen Revue Nr. 92 und 101 (engl., franz., span.) sowie in unserer territorialen Presse haben wir bereits die Entwicklung des proletarisch-politischen Milieus in Russland berücksichtigt. In diesem Artikel beabsichtigen wir, unsere Korrespondenz mit dem Südlichen Büro (SB) der Marxistischen Arbeitspartei (MLP) zu veröffentlichen. Die MLP sieht sich selbst in der Kontinuität der Arbeiterbewegung, und in diesem Sinn bezieht sich der Begriff „Arbeit“ direkt auf die Russische Sozialdemokratische Arbeitspartei (RSDLP) während des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die Genossen führen diese Korrespondenz mit uns im Namen des Südlichen Büros, da sie die MLP insgesamt aufgrund der Tatsache, dass die Diskussion innerhalb der MLP noch im Gange ist, nicht in sämtliche Details ihrer Positionen einweihen können. Doch wir wollen die Genossen zunächst vorstellen, sie selbst und ihre politischen Kämpfe seit ihrem ersten Kongress im März 1990, der den Anstoß zur Bildung der „MLP – der Partei der Diktatur des Proletariats“ gab[2].
„Allseits gute Stimmung herrschte bei der Gründung einer neuen kommunistischen Partei, die sich deutlich von Gorbatschows KPdSU unterschied, welche zu der Zeit in der UdSSR noch existierte. Doch das ideologische Make-up der Teilnehmer auf diesem ersten Kongress war so mannigfaltig wie instabil, und eine erste Spaltung fand statt, mit einer kleinen Gruppe von zwölf Leuten (die meinten, dass Russland ein ‚Feudalstaat‘ mit einer großräumig entwickelten Industrie sei und dass die UdSSR daher eine bürgerliche Revolution zu durchlaufen habe, ehe sie zur sozialistischen Revolution gelangt); unmittelbar nach der Spaltung trafen sie sich in einem Nebenraum und stellten ein Komitee für die Bildung einer ‚demokratischen (marxistischen) Arbeitspartei‘ auf. Doch zu mehr reichte es nicht, und so lösten sie sich wieder auf.“ (Brief vom 10.Juli 1999)
„Es gab keinen Trotzkisten auf diesem ersten Kongress, aber es verblieben dafür ein paar Stalinisten und Anhänger der Idee des ‚Industriefeudalismus‘, die, anders als die Spalter, nicht meinten, dass eine bürgerliche Revolution nötig sei. Nichtsdestotrotz vereinten sich alle Teilnehmer um die Parole: ‚Die Arbeiterklasse muss sich selbst organisieren‘ und ‚Die Macht der Sowjets ist die Arbeitermacht‘. Auch der zweite Kongress fand im September 1990 in Moskau statt. Er nahm mehrere Texte über die Partei einschließlich des Programms an. Die Idee der staatskapitalistischen Natur der UdSSR wurde übernommen. Fast überflüssig zu sagen, dass die verbliebenen Vertreter des ‚industriellen Feudalismus in der UdSSR‘ die Partei während dieses Kongresses verließen und ihre eigene ‚Partei der Diktatur des Proletariats (Bolschewiki)‘ gründeten. Die Stalinisten, von denen es nur wenige gab, verließen ebenfalls die Partei.“ (ebenda)
„Die erste Konferenz der MLP im Februar 1991 entfernte den Begriff ‚Die Partei der proletarischen Diktatur' aus dem Namen der Gruppe. 1994/95 bildete sich innerhalb der Partei eine kleine Fraktion, die meinte, dass die Produktionsweise in der UdSSR neo-asiatisch sei. Früh im Januar 1996 spaltete sich diese Fraktion ab und trat den (argentinischen) morenistischen Trotzkisten der Internationalen Arbeiterpartei bei, die ziemlich aktiv in Russland und in der Ukraine sind.“ (ebenda)
„Das auf dem Zweiten Kongress angenommene Programm enthielt im Besonderen die folgenden Grundprinzipien:
- Die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats für den Übergang zum Kommunismus (Sozialismus) und die Notwendigkeit dieses Übergangs selbst;
- genauer, die Diktatur der städtischen Arbeiterklasse ist notwendig, nicht die der Partei der proletarischen Diktatur oder jene ‚aller Arbeiter‘, noch weniger ‚aller Menschen‘;
- der Ruin der russischen Partei des Proletariats in den 1920er Jahren und die Notwendigkeit ihrer Wiedererschaffung heute;
- die Erkenntnis, dass die ‚Diktatur der Klasse‘ und die ‚Diktatur der Partei‘ als Vorhut der Klasse nicht ein und dieselbe Sache sind.“ (ebenda)
Und die Genossen sagten schlussendlich, „obwohl das Programm von 1990 keine Kritik der Theorie vom ‚Sozialismus in einem Land‘ oder der Notwendigkeit einer Weltrevolution enthielt, waren diese Ideen ein Allgemeinplatz und galten als selbstverständlich.“ (ebenda)
Wir sehen, wie bitter der Kampf in Russland war, wie lebenswichtig es ist, mit den ehemaligen Stalinisten zu brechen, die sich selbst immer noch für Revolutionäre halten. Wir sehen auch den Druck, der von einem ganzen Arsenal trotzkistischer Sekten ausgeübt wird, wobei jede versucht, ihr eigenes, selbst patentiertes revolutionäres Rezept zu verkaufen. 1980 beeilten sich die westlichen Gewerkschaften (CFDT in Frankreich, AFL-CIO in den USA), logistische Unterstützung für Solidarnosc gegen den Kampf der polnischen Arbeiter zu leisten. Heute sind es die Trotzkisten, die mit ihren guten Ratschlägen und ihrem Beistand gen Osten eilen, um die Wiedergeburt eines politischen Milieus des Proletariats zu verhindern. Im Moment betrifft diese Wiedergeburt lediglich eine kleine Minderheit, die sich vielfachen Ausdrücken der herrschenden Ideologie ausgesetzt sieht, welche, im wahrsten Sinn des Wortes, allgegenwärtig ist.
Die Frage des historischen Erbes
In ihren Briefen vom 15. März und 20. März 2000 bezogen die Genossen Stellung zu unserer Polemik mit dem IBRP über den Klassenkampf in den Ländern der kapitalistischen Peripherie, veröffentlicht in der Internationalen Revue Nr. 100 (engl., franz., span.); doch vor allem entwickelten sie eine Reihe von offiziellen Positionen des Südlichen Büros der MLP.
Der Autor der beiden Briefe schrieb ausdrücklich: „Die anderen Mitglieder des SB der MLP stimmen den Hauptpositionen dieses Kommentars zu. Ihr könnt daher die obigen Positionen als die unseren ansehen.“ (20. März)
Wir müssen zunächst erwähnen, dass die Genossen durch die Polemik zwischen der IKS und dem IBRP etwas verwirrt waren, einfach, weil sie noch nicht die Möglichkeit hatten, die grundsätzlichen Positionen beider Organisationen gründlich zu prüfen. Daher hatten sie einige Schwierigkeiten, die wirklichen Unstimmigkeiten zu identifizieren, und sahen in ihnen einen bloßen Zank, in dem mehr Wert auf den einen Aspekt der Realität als auf dem anderen gelegt würde, „auch wenn beide oft zwei Seiten derselben dialektischen Einheit sind“, wie sie sagen. Im Endeffekt „habt ihr beide Recht“, ganz wie man die Sache betrachtet. Wir denken, dass Erfahrung und Diskussion ihnen erlauben werden, einen klareren Blick dafür zu bekommen, was das proletarische Lager an Gemeinsamkeiten hat und wo die Unstimmigkeiten liegen. Die Genossen schreiben: „Wir denken, dass die Schwäche der Linkskommunisten in Westeuropa diese ist: Statt erfolgreich als Gleiche unter Gleichen miteinander zu kooperieren, ignoriert ihr euch entweder oder ‚entblößt‘ die anderen, indem ihr ‚die Bettdecke auf eure Seite des Bettes zieht‘, wie man in Russland sagt (...) Für uns, dem SB der MLP, sollten alle Linkskommunisten, die ‚Staatskapis‘ (d.h. jene, die die staatskapitalistische Natur der UdSSR anerkennen), wie wissenschaftliche Mitarbeiter im gleichen Forschungsinstitut zusammenarbeiten!“ (15. März)
Wir fürchten uns nicht vor Ironie, die alle großen Revolutionäre gepflegt hatten. Dennoch ist es unser Anliegen bei der Vorstellung der wahren Positionen unserer Widersacher, aufzuzeigen, wohin sie führen, und unerschütterlich zu verteidigen, was wir als unantastbare Prinzipien des Marxismus betrachten. Unser Angriff richtet sich nicht gegen eine besondere Person oder Gruppe, sondern gegen opportunistische Herangehensweisen bzw. theoretische Irrtümer, für die wir morgen teuer bezahlen werden. Deshalb widerspricht revolutionäre Unnachgiebigkeit niemals dem Bedürfnis nach Solidarität unter Kommunisten.
Auf der Grundlage dieses ersten Eindrucks schlossen die Genossen, dass die gesamte Kommunistische Linke als historische Strömung schwach sei. Und es ist vor allem dieser Gedanke, den wir kritisieren wollen. Die Divergenzen zwischen IBRP und IKS über die Fragen des Imperialismus und der Dekadenz des Kapitalismus vor Augen, behaupten die Genossen, dass dies ein Irrtum in der Methode sei, dass es nicht eine Angelegenheit von „entweder - oder“, sondern von „sowohl - als auch“ sei. In der Tat machten sich Linkskommunisten oft diese Herangehensweise zu Eigen. Es ist offensichtlich, dass wir nicht alle Positionen der Linkskommunisten, seitdem sie aus der Kommunistischen Internationale hervorzutreten begonnen hatten, übernommen haben. Im Gegenteil, wir sind fälschlicherweise beschuldigt worden, gegen die Partei zu sein, sind als ungeduldige Aktivisten bezeichnet worden, als leichtfertige Radikale, unfähig zu Konzessionen und zum Anarchismus neigend, was letztendlich zu einem sterilen Purismus führe, der unfähig sei, die Probleme anders zu sehen als in Schwarz-Weiß-Begriffen: entweder das Eine oder das Andere. Alle führenden Mitglieder der Kommunistischen Linken waren Marxisten aus tiefstem Herzen und der Idee der Partei äußerst zugetan. Ihr Ziel war es, eben jene Partei gegen den Opportunismus zu verteidigen. Dies war die Arbeit, die anstand.
„Genosse“, schrieb Gorter in seiner Antwort an den Genossen Lenin, „mit der Errichtung der Dritten Internationale ist auch bei uns der Opportunismus nicht gestorben. Wir sehen ihn schon in allen kommunistischen Parteien, in allen Ländern. Es würde ein Wunder sein und allen Gesetzen der Entwicklung widersprechen, wenn dasjenige, wodurch die zweite Internationale starb, nicht in der dritten fortlebte!“ Bordiga nahm denselben Gedanken auf: „Es wäre absurd, steril und extrem gefährlich, zu behaupten, dass die Partei und die Internationale auf mysteriöse Weise vor einem Rückfall in den Opportunismus oder vor jeder Tendenz gefeit ist, dahin wieder zurückzukehren!“ (Thesenentwurf der Linken, Kongress von Lyon, 1926) Dies war ein Zeichen dafür, dass es notwendig war, als eine Fraktion zu arbeiten, nicht als simple Opposition, die Trotzkis Strömung in eine Sackgasse und anschließend in den völligen Bankrott führte. Die Linke ihrerseits bewährte sich als Erbe der marxistischen Strömung in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie kehrte zu der Aufgabe zurück, die Lenin 1903 gegen den Opportunismus in der Zweiten Internationale begonnen hatte und die es den Bolschewiki erlaubte, 1914 beide imperialistische Lager zu bekämpfen, den Prinzipien des Kommunismus treu zu bleiben und der Partei somit zu ermöglichen, ihre Rolle im Oktoberaufstand voll wahrzunehmen. Es war eine Arbeit für die Partei, nicht gegen sie. Die Kommunistische Linke kämpfte bis zum bitteren Ende, trotz der Ausschlüsse und all der Hindernisse, die sich ihnen durch die formale Führungsdisziplin in den Weg stellten. Es war der Geist Lenins, von dem sich die Linke inspirieren ließ. 1911 systematisierte Lenin den Begriff der Fraktion, wobei er die Erfahrung nutzte, die die Bolschewiki seit der Bildung ihrer Fraktion auf der Genfer Konferenz 1904 erlangt hatten: „Eine Fraktion ist eine Organisation innerhalb der Partei, die nicht durch den Ort der Arbeit, nicht durch die Sprache oder durch andere objektive Bedingungen, sondern durch eine besondere Plattform der Auffassungen in Parteifragen zusammengehalten wird.“ (Über die neue Fraktion der Versöhnler oder der Tugendhaften, Werke Bd. 17, S. 253, Dietz Verlag Berlin) Revolutionäre Unnachgiebigkeit steht in keiner Weise im Gegensatz zum Realismus, sie allein kann wirklich die konkrete Situation erfassen. Was hätte realistischer sein können als die Ablehnung der Position Trotzkis, der 1936 die Eröffnung einer neuen revolutionären Periode erblickte, durch die Italienische Linke?
Die Fraktion steht im Mittelpunkt der Frage eines historischen Erbes. Es ist die Fraktion, welche die Verbindung zwischen der alten und der neuen Partei sicherstellt, vorausgesetzt, sie ist in der Lage, die Lehren aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse zu ziehen und sie in eine neue Bereicherung des Programms umzusetzen. Zum Beispiel haben etliche Revolutionäre seit dem Ersten Weltkrieg bemerkt, dass sich die Rolle des bürgerlichen Parlaments völlig gewandelt hatte. Doch es waren die Linkskommunisten, die die prinzipiellen Konsequenzen daraus zogen: die Ablehnung des revolutionären Parlamentarismus und jeder Beteiligung an den Wahlen der bürgerlichen Demokratie. Es waren die italienischen Linkskommunisten, die die Rolle der Fraktion in aller Gründlichkeit ausarbeiteten.
„Die Umwandlung der Fraktion in eine Partei wird von zwei Elementen bedingt, die eng miteinander verknüpft sind:
1. Die Erarbeitung neuer politischer Positionen durch die Fraktion, um in der Lage zu sein, dem Kampf des Proletariats für die Revolution in seiner neuen, fortgeschritteneren Phase einen soliden Rahmen zu verschaffen (...)
2. Die Überwindung der Klassenverhältnisse des gegenwärtigen Systems (...) durch den Ausbruch revolutionärer Bewegungen, die es der Fraktion ermöglichen werden, mit Blick auf den Aufstand die Führung des Kampfes in die Hand zu nehmen.“ (Bilan Nr. 1)
Die Genossen der MLP erinnern uns daran, dass gemäß dem dialektischen Materialismus die Bewegung in der Realität ein komplexes Phänomen sei, bei dem sich eine Vielzahl von Faktoren in Bewegung setzt. Doch sie vergessen dabei, dass das System von Widersprüchen, das die Realität produziert, in bestimmten Momenten eine klar umrissene Alternative eröffnet. Dann gibt es nur das eine oder das andere, entweder Sozialismus oder Barbarei, entweder proletarische Politik oder bürgerliche Politik. Das zentristische Abdriften der Führung der Internationale, angefangen mit der Parole „Zu den Massen“, liegt allein in der Suche nach Abkürzungen begründet, die ihre Klassenpolitik tiefgreifend veränderte: sowohl Räte als auch Gewerkschaften, sowohl außerparlamentarischer Kampf als auch revolutionärer Parlamentarismus, sowohl Internationalismus als auch Nationalismus... Und es war eine Katastrophe. Jede politische Erneuerung war ein Schritt tiefer in die Niederlage. Weit entfernt davon, die Parteien und kommunistischen Kerne zu stärken, bewirkten die Allianzen mit der Sozialdemokratie nichts anderes, als die Kräfte zu erdrosseln, die sich nur auf der Basis eines klaren kommunistischen Programms entwickeln konnten. Lenins Buch Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus symbolisiert diese opportunistische Wende. Er beabsichtigte zu kritisieren, was er als unvermeidliche und vergangene Fehler einer authentischen revolutionären Strömung ansah: „Natürlich ist der Fehler des linken Doktrinarismus im Kommunismus gegenwärtig tausendmal weniger gefährlich und weniger folgenschwer als der Fehler des rechten Doktrinarismus...“ Aber er endete damit, die Positionen der Linken mit jenen des Anarchismus zu vermischen, während er gleichzeitig das Prestige der Rechten aus dem Grund hebt, weil sie noch immer große Bereiche des Proletariats dominieren. Das ist Zentrismus. Und die Rechten machten ausgiebig von der Autorität, die ihnen so verliehen wurde, Gebrauch, um die Linken zu isolieren.
Lohnarbeit und Weltmarkt, zwei grundsätzliche Kennzeichen des Kapitalismus
Die Genossen schreiben: „Wir meinen, dass das 21. Jahrhundert Zeuge neuer Schlachten für nationale Unabhängigkeit sein wird. Trotz der Macht (und der Dekadenz, gemäß Euch) des Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern kann der Kapitalismus in den rückständigen Ländern seine Entwicklung,, sein Wachstum sozusagen im eigenen Schrittmaß fortsetzen. Und dies ist keine Frage von Prinzipien, es ist die objektive Realität!“ (15. März)
Dies ist in der Tat ein wichtiger Punkt der Nichtübereinstimmung innerhalb des politischen Milieus des Proletariats. Wie die Genossen wissen, denken wir, dass Lenin falsch lag, als er Rosa Luxemburg entgegnete: „Nationale Kriege der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich.“ (Lenin, Ges. Werke, Bd. 22, S. 315) Doch es ist wichtig zu betonen, dass dies die Genossen nicht dazu veranlasst hat, dem proletarischen Internationalismus abzuschwören, auch wenn er unserer Auffassung nach dadurch geschwächt wird. Ihnen geht es darum zu definieren, unter welchen Bedingungen die Einheit des internationalen Proletariats stattfindet, nicht darum, sich hinter Lenin zu verstecken, um die eine oder andere imperialistische Macht zu unterstützen, wie es die Linksextremisten tun.
„Ihr habt zweifellos bemerkt, wie wenig leninistisch wir sind. Nichtsdestotrotz denken wir, dass Lenins Position in dieser Frage die beste ist. Jede Nation (merke: Nation, nicht Nationalität oder nationale bzw. ethnische Gruppe, etc.) hat das vollständige Recht der Selbstbestimmung innerhalb des Rahmens ihres ethno-historischen Territoriums, bis hin zur Abtrennung und Schaffung eines neuen Staates (...) Was die Marxisten interessiert, ist die Frage der freien Verfügbarkeit der Selbstbestimmung des Proletariats innerhalb dieser oder jener Nation, mit anderen Worten: die Möglichkeit, über sich selbst zu bestimmen, ob die Klasse für sich bereits existiert oder nur die Möglichkeit für vor-proletarische Elemente, sich selbst innerhalb des Rahmens eines neuen bürgerlichen Nationalstaates als Klasse zu bilden. Dies ist der Fall in Tschetschenien. Tschetschenien/Ingutschetien wurde unter Sowjetmacht industrialisiert, aber mehr als 90% aller Arbeiter waren russischer Herkunft; die Tschetschenen waren Kleinbauern, Intellektuelle, Staatsfunktionäre, etc. Lasst die neue tschetschenische Bourgeoisie erst einmal das nationale tschetschenische Proletariat schaffen, lasst sie erst einmal mit der Ausbeutung ihres nationalen Proletariats, ihrer Bauernschaft, ihrer einheimischen Bevölkerung (die russischen Arbeiter werden bestimmt nicht zurückkommen, um sich von den Nationalisten enthaupten zu lassen) beginnen, und dann werden wir sehen, was aus der ‚stabilen Einheit der tschetschenischen Nation‘ werden wird! Erst dann wird die Einheit des russischen und tschetschenischen Proletariats eine objektive Möglichkeit sein, und nicht vorher." (15. März)
Doch diese Position führt zu einer Reihe von Widersprüchen, die auch nicht dadurch aufgelöst werden können, indem die Genossen einfach erklären, dass „... die Anerkennung der Objektivität des nationalen Kampfes nicht bedeutet, ihn zu rechtfertigen (übrigens: was bedeutet der Begriff ‚rechtfertigen‘?) oder gar zu einem Bündnis mit Fraktionen der nationalen Bourgeoisie aufzurufen!“ (20. März)
Das ganze Problem besteht darin zu erkennen, worin diese objektive Realität besteht, von der die Genossen sprechen. Tatsächlich entspricht sie einer vergangenen Epoche, der Epoche der Bildung von bürgerlichen Nationen gegen den Feudalismus. Haben die Genossen wirklich die nationalistische Motivation der tschetschenischen Bourgeoisie analysiert? Wenn ja, dann hätten sie sich vergegenwärtigt, dass diese nationalen Forderungen nicht mehr denselben Inhalt haben wie auf früheren Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung. Rosa Luxemburg fasst dies so zusammen: „Die französische Bourgeoisie hatte (...) das Recht, während der Großen Revolution im Namen des französischen ‚Volkes‘ als dritter Stand aufzutreten, und sogar die deutsche Bourgeoisie konnte sich bis zu einem gewissen Grade im Jahre 1848 als Repräsentant des deutschen ‚Volkes‘ verstehen (...) In beiden Fällen bedeutete dies nichts anderes, als dass die revolutionäre Sache der bürgerlichen Klasse im damaligen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung mit derjenigen des gesamten Volkes zusammenfiel, da dieses mit der Bourgeoisie noch eine politisch einheitliche Masse gegen den herrschenden Feudalismus bildete.“ (Nationalitätenfrage und Autonomie (1908), publiziert in Internationalismus und Klassenkampf, Sammlung Luchterhand, S. 259 f.) Die Genossen sehen nicht, dass der Grad gesellschaftlicher Entwicklung nicht von der lokalen, tschetschenischen Situation bestimmt wird, sondern vom gesellschaftlichen Umfeld, von der allgemeinen Situation. Als blutiger Spielball des Imperialismus und in völliger Abhängigkeit vom Weltmarkt hat Tschetschenien schon längst alle Hauptkennzeichen einer feudalen Gesellschaft abgelegt.
Den Genossen zufolge existiert in einer gewissen Zahl von Ländern eine fortschrittliche Bourgeoisie, „da der nationale Kapitalismus weiterhin spontan aus den traditionellen Sektoren entsteht, in Einklang mit den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Völker in der Epoche des zweiten gesellschaftlichen Überbaus, jener des Privateigentums. Es gibt drei dieser Überbauten: den Überbau des primitiven Kommunismus (Nr. 1), dann den Überbau des Privateigentums einschließlich der Sklaverei in der Antike, des Feudalismus und Kapitalismus (Nr. 2) und schließlich den Überbau eines authentischen Kommunismus (Nr. 3). Dies ist, Marx zufolge, die Trinität (s. die Entwürfe seiner Antwort an Vera Sassulitsch, 1881). Doch es gibt ein paar Länder – und es werden derer immer weniger -, wo ein sich selbst entwickelnder nationaler Kapitalismus dominiert. Wo dies der Fall ist, kann die fortschrittliche Bourgeoisie mit der Unterstützung des Volkes (einschließlich der Arbeiter, besonders wenn sie sich in einem vor-proletarischen Zustand befinden!) an die Macht gelangen. Aber all dies ist sehr temporär, da sie immer abhängiger von der imperialistischen Weltbourgeoisie werden, wie der Fall Afghanistan uns zeigt (...) Der Kapitalismus kann mit einer Welle im ‚Meer‘ des zweiten Überbaus (s.o.) verglichen werden, ja, nicht mit einer Welle, sondern mit einem ganzen Prozess von Wellen! Der zweite Überbau (Marx nannte ihn ‚ökonomisch‘) erzeugt diese Wellen von innen! Doch die Grenzen, die Gestade dieses ‚Meeres‘ des ‚ökonomischen Überbaus‘ sind gleichzeitig die Grenzen des Kapitalismus, sie sind die Küste, an denen die Wogen des Kapitalismus ‚brechen‘.
Das wesentliche Kennzeichen dieses ‚Meeres‘ des ökonomischen gesellschaftlichen Überbaus (der zweite in der Trinität) ist das Wertgesetz. Doch der ‚Wellenprozess‘ beginnt, wird angeregt und erhält seinen Anstoß von... dem kleinen Eigentümer-Produzenten! Er war, ist und wird der aktive Mittler des Wertgesetzes über dem gesamten Umfang des ökonomischen Überbaus der Gesellschaft (des ‚zweiten‘, jenes des Privatkapitals) sein. Aus diesem Grund kann der Kapitalismus den kleinen Produzenten nicht zerstören! Und deshalb kann der Staatsmonopolismus weder vollständig noch lang andauernd sein. Die Welle wird abebben! Wenn die Linkskommunisten die Dinge von diesem Standpunkt aus analysiert hätten, so hätten sie viele Probleme vermieden, einschließlich ihrer eigenen Beziehungen! Und der Platz und die Rolle der sozialen Weltrevolution des Proletariats wären verständlicher gewesen.“ (20. März)
Wie sollen wir uns diese Perspektive einer Rückentwicklung des Staatskapitalismus, die die Genossen vertreten, erklären? Jeder Tag stärkt die Tendenz zum Wirtschaftsmanagement durch einen einzigen, kollektiven Kapitalisten, wie Engels in seinem Anti-Dühring voraussah. Überall ist es der Staat, der die Fusionen der großen multinationalen Unternehmen regelt und ihnen seine Orientierung aufzwingt. Jeder Staat, der auf eine solche Kontrolle verzichtet, würde sich sofort in einer Position der Schwäche im Handelskrieg wiederfinden. Die Position der Genossen kann zweifellos nur vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der UdSSR verstanden werden. In diesem Fall verallgemeinern die Genossen eine spezifische Situation. Die UdSSR war durch ihre ökonomische Schwäche gezeichnet, und was da zusammenbrach, war nicht der Staatskapitalismus, sondern seine krasseste Karikatur, in der die überwiegende Mehrheit der Industrie verstaatlicht war. Direktes Staatseigentum der Unternehmen ist stets ein Zeichen der Schwäche. In den entwickeltsten Ländern ist der Staatskapitalismus genauso real, aber weitaus flexibler, da der Staat nur teilweise Eigentum in einigen Gesellschaften besitzt, ansonsten sich damit zufrieden gibt, die ökonomischen Regeln festzulegen, die jedes Unternehmen befolgen muss.
Wir können durchaus nachvollziehen, warum die Genossen den Staatskapitalismus als ein vorübergehendes Phänomen darstellen, da für sie der kleine, unabhängige Produzent am besten Privateigentum und Wertgesetz symbolisiert. Es trifft zu, dass der Kapitalismus einst als eine Gesellschaft ihren Anfang nahm, die vom Privateigentum und dem Warenaustausch charakterisiert war. In der Tat ist der Kapitalismus ihre logische Folge und ihr höchster Ausdruck, solange Waren in Kapital verwandelt werden. Es ist ebenfalls wahr, dass der Kapitalismus nie imstande sein wird, den kleinen Produzenten vollständig aus der Welt zu schaffen. Doch es trifft gleichfalls zu, dass sich der kleine Produzent unter einem ständigen Wettbewerbsdruck befindet. Heute, wo die Überproduktion allgegenwärtig und permanent geworden ist, wird ein Teil der Bourgeoisie ins Kleinbürgertum gespült, und gleichzeitig werden zahllose Kleinproduzenten in den Ruin und in die Arbeitslosigkeit gestoßen, es sei denn, sie überleben mit kleinen Geschäften, die sich oft hart am Rande der Legalität befinden. Der Kleinproduzent ist nicht für den Kapitalismus charakteristisch, sondern vielmehr Überlebender aus vorkapitalistischen Gesellschaften bzw. aus der ersten Entwicklungsstufe des Kapitalismus. In der bürgerlichen Mythologie wird der Kapitalist stets als kleiner Produzent präsentiert, der dank seiner eigenen Bemühungen irgendwann zum großen Produzenten wird. Aus dem kleinen Handwerker des Mittelalters sei der Großindustrielle geworden. Die historische Realität sieht völlig anders aus. Nicht die städtischen Handwerker, sondern vielmehr die Kaufleute traten aus dem zerfallenden Feudalismus als künftige kapitalistische Klasse hervor. Mehr noch, oft befanden sich unter den ersten Proletariern, die der formellen Herrschaft des Kapitals unterworfen wurden, eben jene Handwerker. Die Genossen vergessen, dass der Kapitalist nicht in erster Linie ein Produzent ist, sondern ein Kaufmann, ein Händler. Er ist ein Kaufmann, der hauptsächlich mit der Arbeitskraft handelt.
Es hat den Anschein, als ob die Genossen dabei von einer Passage in Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus inspiriert worden sind. Lenin erklärt nämlich, dass die Macht der Bourgeoisie „nicht nur in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie besteht, sondern auch in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie“. Erinnern wir uns an die Begleitumstände dieser Äußerung. Wir befinden uns hier im Jahr 1920, und seit 1918 hatte sich innerhalb der bolschewistischen Partei zwischen Lenin und den Linkskommunisten, die das Blatt Kommunist veröffentlichten, eine Kontroverse entwickelt. Die führende Figur der Linken, Bucharin, gesellte sich früh zur Mehrheit der Partei, nachdem er sich in der Frage des Brest-Litowsker Vertrages noch in der Minderheit befunden hatte. Doch die Gruppe selbst setzte die Kontroverse über die Frage des Staatskapitalismus fort, den Lenin als eine Etappe auf dem Weg zum Sozialismus und somit als einen Schritt vorwärts verstand. Es trifft zu, dass das siegreiche Proletariat zwar nicht mit der Wut der alten herrschenden Klasse, so doch mit der tödlichen Last riesiger bäuerlicher Massen konfrontiert war, die ihre eigenen Gründe hatten, sich jedem weiteren Fortschreiten des revolutionären Prozesses zu widersetzen. Aber diese gesellschaftlichen Schichten lasteten auf dem Proletariat vor allem in Gestalt des Staates, der in seinem natürlichen Drang zur Verteidigung des gesellschaftlichen Status quo dahin tendierte, zu einer autonomen Macht mit eigenen Gesetzen zu werden. Alle Revolutionäre wussten, dass eine Isolation fatal für die Russische Revolution wäre. Die Frage war, ob die bürgerliche Macht durch einen militärischen Sieg der weißen Armeen oder unter dem enormen Druck des Kleinbürgertums wiederhergestellt werden würde. Von diesem Standpunkt ausgehend, war die Partei nicht in der Lage, den Prozess zu erfassen, der durch die Erschaffung einer Staatsbürokratie zur Wiedergeburt der russischen Bourgeoisie führen sollte. Die Kritik der Linken enthielt etliche Schwächen (wie sollte es auch anders sein in der Hitze des Gefechts?), und Lenin hielt oftmals zu Recht den Finger drauf. Doch die Linkskommunisten demonstrierten ihre ganze Stärke, als sie die Gefahr des Staatskapitalismus enthüllten. Dieselbe Herangehensweise finden wir später bei der deutschen Linken wieder, die die Erste war, die das stalinistische Russland als staatskapitalistisch analysierte. In der oben zitierten Passage offenbart Lenin große Verwirrung über die Natur des Kapitalismus, die sich bereits in seinem Pamphlet Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus 1916 gezeigt hatte. In diesem wie auch in anderen Punkten ist es heute möglich, eine Synthese all der Beiträge der Linkskommunisten trotz ihrer Verschiedenartigkeit und mancher gegensätzlicher Positionen zu schaffen, weil sie der marxistischen Methode und den kommunistischen Prinzipien grundsätzlich treu geblieben waren. „Der Staatskapitalismus ist kein organischer Schritt zum Sozialismus. Tatsächlich stellt er die letzte Verteidigungsform des Kapitalismus gegen den Zusammenbruch des Systems und das Auftreten des Kommunismus dar. Die kommunistische Revolution ist die dialektische Negation des Staatskapitalismus.“ (Internationale Revue Nr. 99, engl., franz., span.)
Nach unserer Auffassung ist es ein Fehler, den kleinen, unabhängigen Produzenten als den Agenten des Mehrwerts darzustellen. Ganz allgemein gesprochen, wird der Kapitalismus nicht vom Kapitalisten geschaffen, sondern umgekehrt: Der Kapitalismus erzeugt die Kapitalisten. Indem wir diese Herangehensweise auf Russland anwenden, verstehen wir, warum „der Staat nicht so funktionierte wie wir angenommen hatten“, um Lenins Worte zu benutzen. Die Macht, die dem russischen Staat ihre Richtung aufzwang, war weitaus größer als die „NEP-Leute“, als Privatkapitalismus oder kleines Eigentum. Es war die ungeheure, unpersönliche Macht des Weltkapitals, die kompromisslos den Lauf der russischen Wirtschaft und des Sowjetstaates bestimmte. Wenn die Genossen Schwierigkeiten dabei haben, die grundsätzliche Natur des Kapitalismus oder des Staatskapitalismus als Ausdruck eines dekadenten Systems zu begreifen, liegt dies zweifellos auch daran, dass sie die Dinge aus einer sehr langfristigen Perspektive betrachten, so wie Marx in seinem Brief an Vera Sassulitsch, in dem er die Menschheitsgeschichte in drei Perioden unterteilte: die archaische Gesellschaftsstruktur (primitiver Kommunismus), die zweite Gesellschaftsstruktur der Klassenherrschaft und den modernen Kommunismus, der die kollektive Produktion und Aneignung auf einer höheren Ebene wiederherstellt. Für Marx waren die Beispiele primitiver Gesellschaften ein weiterer Beweis dafür, dass die Familie, das Privateigentum und der Staat der menschlichen Natur nicht immanent sind. Diese Texte sind auch eine Denunziation der fatalistischen Interpretation der ökonomischen Entwicklung und der bürgerlichen Vision eines linearen, widerspruchsfreien Prozesses. Doch wenn wir auf diesem Terrain bleiben, wird es unmöglich, präzise zu untersuchen, was am Kapitalismus so besonders ist, und vor allem zu erkennen, dass der Kapitalismus selbst eine Geschichte hat, dass er sich von einem fortschrittlichen System in eine ernsthafte Barriere in der Entwicklung der Produktivkräfte verwandelt hat. Die Fundamente solch einer Analyse wurden bereits im Kommunistischen Manifest so wie anderen Texten von Marx gelegt. Nach der Pariser Kommune und dem Ende der großen nationalen Kämpfe im 19. Jahrhundert zeigte Marx sich fähig zu erkennen, dass die Bourgeoisie in den kapitalistischen Hauptländern keine revolutionäre Rolle auf der historischen Bühne mehr spielte, auch wenn dem Kapitalismus noch ein unermessliches Expansionsfeld offen stand. Eine neue Periode, die der kolonialen Eroberungen und des Imperialismus, brach an. Diese Herangehensweise ermöglichte es dem Marxismus, die historische Entwicklung vorwegzunehmen und den Eintritt des Kapitalismus in seine Periode der Dekadenz vorherzusehen. Dies wird sehr deutlich in dieser Passage aus dem zweiten Entwurf: „Das kapitalistische System hat im Westen seinen Höhepunkt überschritten und den Punkt erreicht, wo es nichts anders mehr als ein rückläufiges soziales System wird“.
Marx‘ Überlegungen über die bäuerlichen Gemeinden Russlands sollten von gewissen Linken verunstaltet werden. Der Amerikaner Shanin zum Beispiel betrachtet sie als Beweis dafür, dass der Sozialismus durch bäuerliche Revolutionen in der Peripherie des Kapitalismus erreicht werden kann. Ohne seine Begeisterung für Ho Tschi Minh und Mao zu teilen, haben Raja Dunajewskaja und die Gruppe News and Letters dennoch dieselbe Herangehensweise praktiziert. Sie behaupten, dass der Marx der 1880er Jahre nach einem neuen revolutionären Subjekt außerhalb der Arbeiterklasse Ausschau gehalten habe. Ein Teil der Linksextremen stellt daher die Arbeiterklasse nur als ein revolutionäres Subjekt unter vielen anderen dar, als da sind: primitive Stämme, Frauen, Schwule, Schwarze, Jugendliche, die Völker der „Dritten Welt“.
Oktober 1917: Ein Produkt der Weltlage
Solche Absurditäten haben nichts gemein mit den Ideen der russischen Genossen. Doch wie wir sehen werden, führt sie ihre Behauptung, nationale Kriege seien noch möglich, zu einer originellen Analyse der Oktoberrevolution von 1917.
„Wir unsererseits (das SB der MLP) denken, dass die Geschichte diesen Eckstein Lenins, seine Auffassung über das ‚schwächste Glied‘, bereits widerlegt hat! Doch Achtung: sie hat auf einer sehr originellen Weise gezeigt, dass es möglich war, ‚die Kette des Imperialismus‘ zu sprengen, ja, sogar den ‚Sozialismus zu errichten‘ in jenen rückständigen Ländern (oder, wie Ihr sie nennt, den ‚zurückgebliebenen‘ Ländern, obwohl ich hier einen Unterschied machen würde: Der Aufbau des Sozialismus begann nicht nur in kapitalistisch zurückgebliebenen Ländern wie Russland z.B., sondern auch in der Mongolei, in Vietnam, etc., in Ländern also, die wirklich rückständig sind). Und wir sehen: Ja, es ist möglich, den Sozialismus in einzelnen Ländern aufzubauen und zu etablieren (mit anderen Worten: ‚den Aufbau zu beenden‘)... Aber! Dies bedeutet keineswegs, dass dies in irgendeiner Weise zum Kommunismus führt! Niemals und in keiner Weise! Warum waren, theoretisch betrachtet, die Bolschewiki in der Lage, diesen Weg einzuschlagen, warum waren sie in der Lage, sich selbst und viele andere, einschließlich der Linkskommunisten, zu täuschen? Die Ursache von all dem liegt in.... nur einem Wort (und in dieser Frage geht es nicht um meinen Subjektivismus: hinter diesem Wort verbirgt sich eine völlig unrichtige, fundamental anti-marxistische Auffassung!) – dieses Wort (diese ‚Losung‘ des Tages) ist die ‚sozialistische Revolution‘! Wo doch Marx und vor allem Engels solch ein Zerrbild des Konzeptes der ‚sozialen Revolution des Proletariats‘, der kommunistischen Weltrevolution akzeptiert hatten! Wie die ‚sozialistische Revolution‘ endet sie früher oder später im ‚Aufbau des Sozialismus‘, wobei sich dann herausstellt, dass dieser ‚Sozialismus‘, ob ‚staatlich‘, ‚marktwirtschaftlich‘ oder ‚national‘, in Wahrheit nicht mit dem Kapitalismus gebrochen hat!“ (15. März)
„Wo dieser von Außen kommende kapitalistische Sektor existiert, spielt die progressive Bourgeoisie eine Rolle und hat einen Einfluss, der umgekehrt proportional zum Reifegrad des Sektors ist: Die Bourgeoisie des importierten kapitalistischen Sektors lastet schwer auf der progressiven nationalen Bourgeoisie und korrumpiert sie, ganz zu schweigen von der (transnationalen) imperialistischen Weltbourgeoisie. Diese beiden Sektoren waren in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts präsent, und der russische Marxismus war Ausdruck der Beziehungen innerhalb des von Außen kommenden kapitalistischen Sektors. Doch dann entschieden sich die Bolschewiki, für alle Ausgebeuteten zu sprechen: für jene im Sektor des importierten, entwickelten Kapitalismus, für jene im Bereich des nationalen Kapitalismus (und selbst für jene im landwirtschaftlichen Sektor mit seinen überlebenden ländlichen Gemeinden). Und so wurden sie zu ‚Sozial-Jakobinern‘ und verkündeten die ‚sozialistische Revolution‘.“ (20. März)
„Ihr befasst Euch mit dem Problem des Objektiven und Subjektiven in der proletarischen Weltrevolution, und das ist richtig. Aber warum habt Ihr nicht den leisesten Zweifel daran, dass ‚objektiv die Revolution seit dem imperialistischen Weltkrieg von 1914 möglich gewesen ist‘, etc.? Dachten nicht auch Marx und Engels zu ihrer Zeit, dass ‚die Revolution objektiv möglich war‘? Erinnert Euch an die Kategorien der Dialektik: Möglichkeit und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Eventualität! Wie wir wissen, ist es notwendig, zwischen der abstrakten (formellen) und der praktischen (konkreten) Möglichkeit zu unterscheiden. Eine abstrakte Möglichkeit ist durch die Abwesenheit der Haupthindernisse für die im Werden begriffenen Ziele gekennzeichnet, wobei hingegen alle notwendigen Bedingungen für ihre Verwirklichung vorhanden sind. Eine praktische Möglichkeit besitzt alle Bedingungen, die für ihre Verwirklichung notwendig sind: Latent vorhanden, wird sie unter bestimmten Umständen zur neuen Wirklichkeit. Der Wandel dieser Bedingungen in ihrer Gesamtheit bestimmt den Übergang von der abstrakten zur praktischen Möglichkeit, und Letztere verwandelt sich in die Wirklichkeit. Das numerische Maß der Möglichkeit wird ausgedrückt durch den Begriff der Wahrscheinlichkeit. Die Notwendigkeit ist, wie wir wissen, die Art und Weise der Umwandlung der Möglichkeit in Wirklichkeit, wobei es nur eine einzige Möglichkeit für ein bestimmtes Ziel gibt, die Wirklichkeit werden kann. Und die Eventualität ist im Gegensatz dazu die Art und Weise der Umwandlung der Möglichkeit in Realität, bei der es mehrere, verschiedene Möglichkeiten für ein bestimmtes Ziel (unter bestimmten Umständen natürlich) gibt, die Wirklichkeit werden können, aber nur eine, die tatsächlich verwirklicht wird.“ (15. März)
Wir begreifen nicht, wie man sagen kann, dass die Errichtung des Sozialismus in einem Land sowohl möglich als auch, da er in keiner Weise mit dem Kapitalismus bricht, unmöglich ist. Wir ziehen es vor, der Behauptung beizupflichten, dass der Sozialismus in einem Land eine Mystifikation war, die in keiner Beziehung zur Realität stand, eine Waffe der Konterrevolution. Was die Genossen anscheinend sagen, ist, dass die Bolschewiki an einem bestimmten Punkt aufhörten, die Interessen des Proletariats zu vertreten. Dies war in der Tat die stalinistische Konterrevolution. Die ganze Schwierigkeit bei diesem Problem, mit dem viele Revolutionäre seit den 30er Jahren zu kämpfen hatten, besteht darin, dass die Konterrevolution erst ganz am Ende eines Prozesses der Degeneration und des opportunistischen Abgleitens kam. Am Ende dieses langen und manchmal unmerklichen Prozesses fand dann gewissermaßen ein Umschlagen von Quantität in Qualität statt. Was zunächst nicht mehr als ein Problem innerhalb der Arbeiterbewegung dargestellt hatte, wuchs sich zur bürgerlichen Konterrevolution aus. Doch der Bruch in der Natur des Sowjetregimes war dafür um so deutlicher: Er fand statt in Gestalt der Eliminierung der alten bolschewistischen Garde durch Stalin, der Ersetzung der Perspektive der Weltrevolution durch die Verteidigung des nationalen Kapitals Russlands. Die Schwächung der Macht der Arbeiterräte und die Untergrabung der Führung der bolschewistischen Partei durch den Opportunismus folgten zwei parallelen Wegen zur Etablierung der Macht der russischen Staatsbourgeoisie. Die Erinnerung an die wahre Bewegung der Klassenkonfrontationen in den 1920er Jahren rüstet uns nicht nur gegen die bürgerliche Propaganda, sondern auch gegen jede Schwächung der revolutionären Theorie, wie jene, die, objektiv oder subjektiv, eine Kontinuität zwischen Lenin und Stalin sieht.
Die Genossen werden letztendlich eine solche Schwächung erleiden, wenn sie die stalinistische Konterrevolution aus dem Blick verlieren und die Idee einführen, dass „die Bolschewiki entschieden, für alle Ausgebeuteten zu sprechen“. Wann und warum wurde eine solche Entscheidung getroffen? Bedeuten die Worte „alle Ausgebeuteten“ alle Arbeitenden, mit anderen Worten: neben dem Proletariat verschiedene andere Klassen, einschließlich der nicht-ausbeutenden Klassen wie die Bauernschaft und den Rest des Kleinbürgertums, die im Kapitalismus ausgebeutet werden? Wenn dies der Fall ist, dann akzeptieren sie das Gerede von Stalin und besonders von Mao über den „Block der vier Klassen“ als Realität. Jedenfalls können wir ihrer Behauptung nicht folgen, dass Marx und Engels das Konzept einer sozialistischen Revolution akzeptiert (?) hatten, die „in Wirklichkeit nicht mit dem Kapitalismus bricht“. Es trifft zu, dass einige Formulierungen von Marx und Engels zu Verwechslungen zwischen der Verstaatlichung des Kapitalismus und dem Sozialismus führen können. Damals sind sie ohne weiteres verstanden worden, in einer Epoche, als das Proletariat unter bestimmten Umständen die progressive Bourgeoisie noch gegen die Überbleibsel des Feudalismus unterstützte. Bewusstsein und Programm sind das Resultat einer ständigen Auseinandersetzung mit der Ideologie der herrschenden Klasse. Wenn Revolutionäre die Buchstaben des Programms schärfen, präziser machen wollen, müssen sie getreu dem Geist der früheren Generationen von Marxisten vorgehen. Die endgültige Korrektur der überlebenden „staatskapitalistischen“ Irrtümer in der marxistischen Doktrin wurde durch die Erfahrung der Russischen Revolution von 1917 ermöglicht. Doch die Voraussetzungen dafür waren schon bei Marx vorhanden, in seiner Definition des Kapitals als ein gesellschaftliches Verhältnis und des Kapitalismus als ein auf Lohnarbeit, Auspressung und Realisierung von Mehrwert gegründetes System. So gesehen, verändert der Übergang von individuellem Kapitaleigentum zu kollektivem Staatseigentum keineswegs den Charakter der Gesellschaft. Mehr noch, der Keim ihrer Kritik am angeblich progressiven Charakter des kollektiven Staatseigentums ist bereits im Kampf von Marx und Engels gegen den Lassalleschen Staatssozialismus enthalten, der die Arbeiter dazu bringen wollte, den Staat gegen die Kapitalisten und gegen die Liebknecht/Bebel-Strömung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zu nutzen, die es ihrerseits zugelassen hatte, dass die Formulierungen der Lassalleaner in das Gothaer Programm rutschten.
Wir möchten die Gedanken der Genossen folgendermaßen zusammenfassen. Der Bolschewismus sei zunächst eine marxistische Strömung gewesen, die die Interessen des Proletariats im Rahmen der entwickelten kapitalistischen Verhältnisse ausgedrückt habe. Aber diese seien ursprünglich ausländischer Herkunft gewesen, während innerhalb Russlands ein weniger entwickelter Kapitalismus existiert habe, der einer antifeudalen Revolution bedurfte. Somit seien die Bolschewiki nicht der stalinistischen Konterrevolution, sondern bereits zuvor dem Charme des nationalen Kapitals erlegen gewesen und hätten beschlossen, „Sozial-Jakobiner“ zu werden. Hier wird der Unterschied zwischen ihrer Vision und jener des Rätekommunismus ersichtlich. Für Letztere konnte die Russische Revolution nur im Staatskapitalismus enden, und die Bolschewiki waren eine Widerspiegelung dieses von Anbeginn vorbestimmten Schicksals. Diese Entdeckung kam spät, denn sie datiert in den 1930er Jahren, als es Pannekoek, der damals zum Rätekommunisten wurde, in einem Gewaltakt gelang, die Erbsünde des Bolschewismus in Lenins Buch von 1908 Materialismus und Empiriokritizismus zu enthüllen. „Es ist eine so deutliche und ausschliessliche Widerspiegelung des oben angegebenen Charakters der erstrebten russischen Revolution, seine Grundgedanken stimmen so völlig mit denen des bürgerlichen Materialismus überein, dass, hätte man es damals gekannt (...) (im Westen) und wäre man damals imstande gewesen, es richtig zu interpretieren, man hätte voraussagen können, dass die kommende russische Revolution den Charakter einer bürgerlichen Revolution tragen und in irgendeinen sich auf die Arbeiter stützenden Kapitalismus ausmünden müsse.“ (Pannekoek, Lenin als Philosoph, Ca ira – Verlag 1991, S. 142/143)
Die marxistische Methode basiert auf dem Konzept als Ganzes, woraus sie ihr Verständnis auch für die konkreteren Situationen schöpft. Indem sie vom kleinen, unabhängigen Produzenten bzw. von einer lokalen Situation ausgehen, entfernen sich die Genossen von der marxistischen Methode und enden darin, ein paar Überbleibsel des Feudalismus fälschlicherweise als allgemeine Merkmale darzustellen. Es ist angebracht, sich daran zu erinnern, dass Russland 1917 die fünftgrößte Industrienation der Welt war. Dadurch, dass die Entwicklung des russischen Kapitalismus die Stufe der Handwerksproduktion und der Manufakturen größtenteils übersprungen hatte, nahm der russische Kapitalismus die modernste und konzentrierteste Form an: Die Putilow-Fabrik z.B. mit mehr als 40.000 Arbeitern war die weltweit größte. Es ist diese Entwicklung, die den Schlüssel zum Verständnis der Lage in Russland vermittelt, nicht der Gegensatz zwischen dem von Außen und dem von Innen kommenden Kapitalismus. Die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse hatten einen Punkt erreicht, der nichts gemeinsam hatte mit der Epoche der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts. „Russlands staatlicher Apparat wird seit dem famosen Zusammenbruch im Krimkriege und seit seiner Modernisierung durch die Reformen Alexanders II. in hohem Maße durch geliehenes Kapital aus Europa, in der Hauptsache aus Frankreich, bestritten (...) Das geliehene französische Kapital dient seit Jahrzehnten in der Hauptsache zu zwei Zwecken: Eisenbahnbau mit Staatsgarantien und Militärrüstungen. Zur Bedienung beider ist in Russland seit den siebziger Jahren – unter dem Schutze des Hochschutzzollsystems – eine starke Großindustrie entstanden. Das Leihkapital aus dem alten kapitalistischen Lande Frankreich hat in Russland einen jungen Kapitalismus großgezogen, der aber seinerseits nachhaltig der Unterstützung und Ergänzung durch eine bedeutende Einfuhr an Maschinen und anderen Produktionsmitteln aus technischen führenden Ländern, England und Frankreich, bedarf.“ (Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Ges. Werke, Bd. 5, S. 553) Das Beispiel Polens ist gleichermaßen bedeutend. Die Bildung des Weltmarktes ist ein Hauptmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise, er zerstört die vorkapitalistischen Verhältnisse. Es ist dieser dynamische Prozess, der die Bedingungen für die Einheit des internationalen Proletariats schafft, nicht die autonome Entwicklung eines nationalen Kapitals. Die Revolution von 1905 war die erste praktische Demonstration dieses Prozesses. Im Gegensatz dazu hat die Losung des „Rechts der Völker auf Selbstbestimmung“, die die Bolschewiki tragischerweise unterstützten, die Spaltung des Proletariats nur verstärkt. Wurde dies nicht in der Praxis der 1920er Jahre bestätigt?
Die Dekadenz eines gesellschaftlichen Gebildes
Weder die Bolschewiki noch irgendeine moderne Bourgeoisie können mit den Jakobinern verglichen werden. Das Ende der Weltmarktbildung und die Überproduktionskrise haben die Möglichkeit jeder wirklichen Weiterentwicklung eliminiert. Die tschetschenische Bourgeoisie wird niemals ein nationales Proletariat schaffen. Wo würde sie einen Absatz für ihre Waren finden? Nur die proletarische Revolution kann die Fundamente für eine Industrialisierung der rückständigen Länder legen. Das Kommunistische Manifest beschreibt sehr gut, wie die Bourgeoisie eine Welt nach ihrem eigenen Bild schafft, indem sie billige Waren exportiert und ihre Warenbeziehungen immer weiter ausdehnt. Doch lange, bevor der gesamte Planet industrialisiert ist, erreicht sie ihre Grenzen. Schon Marx und Engels hatten aufgezeigt, wie die unlösbaren Widersprüche, die den Verhältnissen der Lohnarbeit entspringen, den Kapitalismus nur in seine Dekadenz führen können. Charles Fouriers eindringliche Kritik hat bereits die Grundzüge dieses Gedankens angedeutet: „Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, dass jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an.“ (Engels, Anti-Dühring, MEW, Bd. 20, S. 243) Marx erklärt dieses Phänomen. In einem bestimmten Moment in der Entwicklung des Kapitalismus kann die Tendenz der fallenden Profitrate aufgrund des gesättigten Weltmarktes nicht mehr durch ein entsprechendes Wachstum des Mehrwerts kompensiert werden. „Aber in demselben Maße, worin seine (des Kapitalisten Produktion sich ausgedehnt hat, hat sich das Bedürfnis des Absatzes für ihn ausgedehnt. Die mächtigeren und kostspieligeren Produktionsmittel, die er ins Leben gerufen, befähigen ihn zwar, seine Ware wohlfeiler zu verkaufen, sie zwingen ihn aber zugleich, mehr Waren zu verkaufen, einen ungleich größeren Markt für seine Waren zu erobern (S. 418). (...) In dem Maße endlich, wie die Kapitalisten durch die oben geschilderte Bewegung gezwungen werden, schon vorhandne riesenhafte Produktionsmittel auf größerer Stufenleiter auszubeuten und zu diesem Zweck alle Springfedern des Kredits in Bewegung zu setzen, in demselben Maße vermehren sich die industriellen Erdbeben, worin die Handelswelt sich nur dadurch erhält, dass sie einen Teil des Reichtums, der Produkte und selbst der Produktionskräfte den Göttern der Unterwelt opfert - nehmen mit einem Wort die Krisen zu. Sie werden häufiger und heftiger schon deswegen, weil in demselben Maße, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausgedehnten Märkten wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusammenzieht, immer weniger neue Märkte zur Exploitation übrigbleiben, da jede vorhergehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Handel nur oberflächlich ausgebeuteten Markt dem Welthandel unterworfen hat.“ (Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 423) Es blieb den linken Fraktionen, mit Lenin und Luxemburg an der Spitze, vorbehalten, aufzuzeigen, dass der Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges das Zeichen dafür war, dass der Kapitalismus in die Phase seines Zerfalls eingetreten war. Die kommunistische Revolution war nicht mehr nur notwendig, sie war auch möglich geworden.
Zum Schluss dieser ersten Antwort auf die Genossen der MLP rufen wir zur Weiterentwicklung der Debatte und Reflexion auf, wobei es uns Leid tut, dass wir nicht in der Lage gewesen waren, ihre Texte aus dem Russischen zu übersetzen.
Wir hoffen, dass die Diskussion und gegenseitige Kritik fortgesetzt werden. Doch wir möchten auch darauf drängen, dass diese Debatte nicht auf uns selbst begrenzt sein darf: Sie sollte sich öffnen und andere Genossen in Russland sowie Gruppen des politischen Milieus des Proletariats auf der ganzen Welt einschließen.
Pal
[1] Seit Mai ‚68 ist der Begriff „Linksextremismus“ allgemein gebräuchlich geworden, nicht um die Opposition innerhalb der Kommunistischen Internationale zu beschreiben, die Lenin brüderlich kritisierte und die der Ausdruck des Linkskommunismus war, sondern um all jene außerparlamentarischen Strömungen zu benennen, die, wie die Trotzkisten und die Maoisten (hierbei sollten wir zwischen den „Maoisten“ der westlichen Länder, die wir als „Linksextremisten“ bezeichnen, und Mao selbst unterscheiden, der, indem er die Theorie einer Art von „bäuerlichen Nationalkommunismus“ schuf, nichts mit der Arbeiterbewegung zu tun gehabt hatte. Er war eher eine „orientale“ Version des Stalinismus), Verrat am Internationalismus begingen und die Parteien der bürgerlichen Linken (Sozialisten und Stalinisten) sowie die Gewerkschaften kritisch unterstützen. Er ist daher ein Begriff, um eine politische Tendenz zu beschreiben, die eindeutig dem politischen Apparat der Bourgeoisie angehört.
[2] Diese Korrespondenz war ursprünglich auf Französisch verfasst. Die Übersetzungen sind von uns, und wir haben natürlich unser Bestes gegeben, um die Meinungen der Genossen nicht zu verfälschen.