Rebellion/FAUCH:

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Auf zur Verteidigung des Sozialstaates?

Angesichts der heftigen internationalen Angriffe auf die Renten hat sich die Arbeiterklasse in den letzten Monaten in verschiedenen Ländern mobilisiert. In diesem Zusammenhang sind auch verschiedenste linke Gruppierungen mit ihrer Presse an Demonstrationen aufgetreten, angeführt von ATTAC, über Trotzkisten, bis hin ins anarchistische Lager. Der gemeinsame Tenor, der in ihren Blättern zu erkennen ist: die ”Verteidigung des Sozialstaates gegen einen wildgewordenen Kapitalismus”! Wir wollen in diesem Artikel etwas genauer auf die Forderungen einer anarchosyndikalistischen Gruppe in der Schweiz eingehen. Ein Beispiel, welches die historische Unfähigkeit des Anarchosyndikalismus bestätigt, den Kampf der Arbeiterklasse und dessen wirkliche Ziele zu verstehen.

Auf zur Verteidigung des Sozialstaats?

Die Zeitschrift der Libertären Koordination FAUCH-OSL vom September 2003 Rebellion Nr. 25 titelt gross auf Seite eins. ”Auf zum schleichenden Generalstreik!”. Wie es sich für den Anarchosyndikalismus traditionell gehört, wettern sie gehörig gegen die Gewerkschaftsbürokratie: ”Trotz Säbelgerassel und Grossdemonstration am 20. September unter dem Motto ”Hände weg von der AHV” (Abkürzung für die Rente in der Schweiz) hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund SBG nicht die kleinste Absicht, einen wirklichen Kampf um die Renten zu führen. Sozialdemokratische Partei (SPS) und SBG wollen einzig ihre Fähigkeit beweisen, die Unzufriedenheit in die ”richtigen” Bahnen zu lenken, um die ”Modernisierung” nicht zu gefährden, die sie mit den Bürgerlichen befürworten und verwalten. Die Staatslinke möchte wie in Deutschland zeigen, dass sie regierungsfähig ist, die von der WTO aufgetragenen Restrukturierungen umsetzt und ein treuer Partner der Wirtschaft ist, führe es auch zu einem Gewichtsverlust vor den eigenen Mitgliedern und WählerInnen. Sie erweisen sich einmal mehr als Steigbügelhalter des Kapitals.

Wenn es noch eine Linke in diesem Lande gäbe, wäre nun der Moment da, die 2. Säule (Pensionskassen) anzugreifen. Die angebliche ”Sicherheit” der kapitalgestützten Altersvorsorge ist entlarvt. Die einzige wirklich sichere Lösung ist eine gute AHV für alle!”.

Richtig, die angebliche Sicherheit, die uns das kapitalistische System vorgaukelt, entblösst sich zunehmend als ein Bluff! Einerseits durch die sich beschleunigende weltweite Kriegsspirale, welche das Kapital nicht stoppen kann. Andererseits verdeutlichen gerade die heutigen Angriffe auf die Arbeiterklasse, bei denen es nicht nur um isolierte Lohnkürzungen oder Kurzarbeit geht, sondern um die Infragestellung der Lebensperspektive, den absoluten Bankrott des Systems. Soweit ist die Feststellung von Rebellion richtig. Doch für was soll die Arbeiterklasse heute kämpfen? Etwa für folgenden Vorschlag der Anarchosyndikalisten?: ”In Anbetracht dieser Situation muss eine kämpferische Strategie entwickelt werden, um die gegenwärtige zweite Säule in eine andere, existenzsichernde AHV umzuwandeln: Eine neue und starke AHV, die ein würdevolles Leben garantiert, gemäss den Kriterien der Solidarität, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit.” (Rebellion Nr. 22)

Um es vorwegzunehmen: Rebellion ruft bei genauem Hinsehen die Arbeiter dazu auf, die sogenannten Errungenschaften des kapitalistischen Sozialstaates zu verteidigen oder gar zu verbessern, auch wenn sie es nicht mit diesen Worten benennen. Dies ist, in kämpferischer Aufmachung, nichts anderes als die von ihnen selbst beschimpfte klassische Vorgehensweise der kapitalistischen Linken und des Reformismus, welche der Arbeiterklasse vorgeben, dieses System sei auf irgend eine Art und Weise reformierbar oder es gäbe für die Arbeiterklasse zumindest noch gewisse Verbesserungen herauszuholen. Über den im Grunde genommen reformistischen Charakter ihrer Methode kann auch der Radikalismus von Rebellion, der nach Generalstreik ruft und die ”Staatslinke” als Steigbügelhalter des Kapitals bezeichnet, nicht hinwegtäuschen!

Selbstverständlich muss sich die Arbeiterklasse gerade heute gegen die ganze Lawine von Angriffen zur Wehr setzen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen diesem unabdingbaren Abwehrkampf, den das Proletariat in Ländern wie Frankreich, Österreich oder Deutschland in den letzten Monaten aufgenommen hat, und einem Kampf ”für die altbewährte AHV-Rente und gegen das Pensionskassen-System”.

Wofür soll die Arbeiterklasse kämpfen?

Das Gift, welches in Aufrufen zu einem Kampf um starke Rentensysteme lauert, wie von Rebellion gefordert wird, ist die Beschränkung des Arbeiterkampfes auf isolierte ökonomische Forderungen, die dann vom kapitalistischen Staat garantiert werden sollen. Von einem Staat, der Instrument des Kapitals ist und keinesfalls die Interessen der Arbeiter vertritt. Der Klassenkampf der Arbeiterklasse steht seit dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus (an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert) vor der Alternative, sich entweder auf den ökonomischen Kampf zu beschränken und damit unweigerlich in eine Sackgasse zu geraten. Dies, weil das Kapital gar nicht mehr in der Lage ist, durch den historischen Bankrott seines Systems, der Arbeiterklasse wie im aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bleibende Zugeständnisse zu machen. Die andere Alternative für den Kampf des Proletariates ist diejenige, welche von Revolutionären wie Rosa Luxemburg schon damals gegen die Auffassungen der degenerierenden Sozialdemokratie verteidigt wurde: Der Kampf der Arbeiter muss immer danach streben, über den rein ökonomischen Kampf hinauszugehen und sich vor allen über die politische Natur des eigenen Kampfes bewusst zu werden und dies auch zu bejahen. Dies heisst, die Borniertheit des Ökonomismus, des Kampfes um Reformen, des Lokalismus oder Illusionen einer ”Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe” über den Haufen zu werfen.

An sich gilt es, gegen die Positionen von REBELLION dieselben Argumente ins Feld zu führen wie gegen die alte, längst überholte sozialdemokratische Trennung zwischen Minimalprogramm und Maximalprogramm, also der Trennung zwischen einem (im aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts noch möglichen) Kampf um Reformen und dem eigentlichen historischen Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse, der proletarischen Weltrevolution. An dieser Frage des Zusammenhanges zwischen den alltäglichen Klassenkämpfen des Proletariates und seinem historischen Ziel, der Revolution, scheitert nicht nur die anarchosyndikalistische Strömung kläglich, was die Bedeutung dieser Frage aufzeigt. Der Rätekommunismus beispielsweise, welcher auch versucht sich auf die Arbeiterklasse zu beziehen, hat in seiner Geschichte zum Teil Positionen hervorgebracht, die man mit ”Revolution oder gar nichts” zusammenfassen kann. Ein anderes Beispiel dieser Unterschätzung des revolutionären Potentials der täglichen Abwehrkämpfe der Arbeiterklasse liefert die sogenannte ”Essener Tendenz” der KAPD Anfang der 20er Jahre, welche den ökonomischen Kämpfen ihre Unterstützung entzog und statt dessen die sofortige Revolution verlangte. Solche Strömungen verwerfen wie schon Proudhon im 19. Jahrhundert jegliche Kämpfe der Arbeiter wegen ihrer Beschränktheit (die sie natürlich immer aufweisen können, solange das Proletariat nicht zur Revolution schreiten kann). Eine solche Haltung stiftet in den Reihen der Arbeiterklasse nur Verwirrung. Beides, Anarchosyndikalismus und Rätismus, sind in dieser Hinsicht schlussendlich zwei Seiten derselben Medaille: das Unverständnis über das wirkliche Ziel und den Charakter des Klassenkampfes!

Die Arbeiter müssen sich gegen die Angriffe zur Wehr setzen. Dies ist das Lebenselixier des Klassenkampfes, auch wenn Mobilisierungen und Streiks, solange der Kapitalismus nicht durch die Revolution überwunden wird, immer dazu verdammt bleiben, vor allem auf der ökonomischen Ebene in einer Niederlage zu enden. Doch die Abwehrkämpfe der Arbeiter bringen die Arbeiterklasse voran, da sie damit politische Erfahrungen sammelt und ihr Selbstvertrauen als Klasse stärken können. In jedem Streik schlummert das Gespenst der Revolution, wie Lenin es treffend formulierte. Das entscheidende im Klassenkampf ist jedoch, dass die Arbeiterklasse sich ihrer politischen und historischen Rolle bewusst wird und Illusionen über Verbesserungen des Kapitalismus überwindet. Ein Weg, der von der Arbeiterklasse selbstverständlich nicht von heute auf morgen zurückgelegt werden kann. Was das Proletariat aufgeben muss, ist nicht der wirtschaftliche Charakter seines Kampfes, was ihm ohnehin nicht möglich ist, solange es als Klasse kämpft; sondern den Glauben, die Verteidigung selbst seiner unmittelbaren Interessen gewährleisten zu können, ohne den streng ökonomischen Rahmen zu verlassen und ohne sich des umfassenden politischen und revolutionären Charakters seines Kampfes bewusst zu werden. Im dekadenten Kapitalismus drückt schlussendlich nur das ”Maximalprogramm”, also das Ziel der proletarischen Revolution, den wirklichen Charakter des Kampfes der Arbeiterklasse aus. Nur das Streben hin zu dieser Perspektive bringt die Klasse vorwärts, keinesfalls aber darf der Klassenkampf auf wirtschaftliche Forderungen beschränkt und durch Illusionen in Reformen geschwächt werden.

Dies ist keinesfalls ein abstraktes Schema, welches die Arbeiterklasse in ihrem, gerade von den Anarchosyndikalisten immer wieder so aktivistisch gesuchten Klassenkampf von einer Klarheit abhalten würde. Im Gegenteil ist vor allem die politische Erkenntnis, dass nur die proletarische Revolution eine Antwort auf die unlösbaren und barbarischen Widersprüche des Kapitalismus geben kann, auch politischer Leitfaden für die heutigen Kämpfe der Arbeiter. Und genau diesen Leitfaden gilt es als Revolutionäre aufzuzeigen anstatt die Arbeiter dazu aufzurufen, den Kopf vor der Geschichte in den Sand zu stecken und etwa für ein ”starkes Schweizer Rentensystem” zu kämpfen. Das Proletariat kann nicht, wie es der Reformismus in verschiedenster Aufmachung darstellt, nur blind ökonomisch reagieren, sondern ist eine politische Klasse, die der Menschheit eine Perspektive anbieten kann.

Da sich Sozialdemokratie und Gewerkschaften schon seit der Zeit des Ersten Weltkrieges und der darauffolgenden weltrevolutionären Welle von 1917-23 nicht nur als Steigbügelhalter des Kapitals entlarvt haben, sondern als fester Bestandteil der herrschenden Klasse im Kapitalismus, fällt es leicht, mit radikalen Worten gegen die ”Staatslinke” und Gewerkschaftsbürokraten zu wettern. Dies ist aber, wie Rebellion beweist, noch nicht im geringsten eine Garantie, den wirklichen Charakter des Reformismus verstanden zu haben.

Wir gehen davon aus, dass die herrschende Klasse sich angesichts der sich zuspitzenden sozialen Verhältnisse völlig im Klaren ist, welche Gefahr für ihr System von Seiten der Arbeiterklasse droht. Die Bourgeoisie hat eine grosse historischen Erfahrung, wie die Kraft der Arbeiterklasse gebrochen werden kann. Die Gewerkschaften übernehmen klassischerweise die Rolle, die Arbeiter auf der eher direkten beruflichen, branchenmäßigen und ökonomischen Ebene in Sackgassen zu führen. Die Linke übernimmt den anderen Part in dieser Arbeitsteilung: die politische Verwirrung der Arbeiter mittels reformistischer, bis 1989 auch meist vom Stalinismus geprägter, bürgerlicher Ideologien. Dass die Sozialdemokratie diese Rolle spielt, scheint Rebellion begriffen zu haben (was auch nicht besonders schwer fällt!). Tatsache ist nur, dass sie mit Aufrufen zur Vereidigung des Sozialstaates selbst in dieselbe Kerbe hauen und lediglich einen Reformismus radikaler Couleur vertreten, der sich hinter einer Arbeitersprache versteckt und Gefahr läuft, mit der ”Regierungslinken” und den Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse Hand in Hand zu gehen!

QS,14.11.03