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1. Können und sollen die Revolutionäre Voraussagen treffen?
Das eigentliche Wesen jeglicher menschlicher Tätigkeit setzt Voraussicht, Vorhersage voraus. Marx schreibt z.B.: "Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister von der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut." (Marx; Das Kapital Band 1).
Jede Handlung des Menschen verläuft nach dieser Vorgehensweise. Der Mensch gebraucht ständig seine Gabe der Voraussicht. Nur durch die Umwandlung der auf eine Reihe von Experimenten gegründeten Hypothesen in Vorhersagen und durch die Konfrontation dieser Vorhersagen mit neuen Experimenten kann der Forscher diese Hypothesen für richtig (oder falsch) erklären und sein Verständnis fortentwickeln.
Indem es sich auf eine wissenschaftliche Untersuchungsweise der gesellschaftlichenen Wirklichkeit stützt, funktioniert das revolutionäre Denken auf dieselbe Weise, mit dem einzigen Unterschied, dass die Revolutionäre im Gegensatz zu den Forschern die Bedingungen neuer Experimente nicht im Labor schaffen können. Es ist die gesellschaftliche Praxis, die die von den Revolutionären vorgestellten Perspektiven bestätigt oder widerlegt und die Richtigkeit ihrer Theorie nachweist oder sie umstößt. Alle Aspekte der historischen Bewegung der Arbeiterklasse stützen sich auf Voraussagen; sie erlauben es, die Kampfformen jeder Epoche des Kapitalismus anzupassen. Vor allem das Projekt des Kommunismus beruht auf Voraussagen, insbesondere auf die Perspektive des Zusammenbruchs des Kapitalismus. Wie der Entwurf eines Architekten wird der Kommunismus zunächst - in groben Zügen natürlich - in den Köpfen der Menschen entworfen, bevor er in die Tat umgesetzt werden kann.
Im Gegensatz also zu Paul Mattick beispielsweise, der annahm, dass die Studie wirtschaftlicher Phänomene keine Voraussicht schafft, die für die Aktivität der Revolutionäre von Nutzen ist, ist die Ausarbeitung einer Perspektive - mit anderen Worten: die Voraussage - ein integraler und sehr wichtiger Bestandteil in den Aktivitäten der Revolutionäre.
Nachdem dies festgestellt ist, muss folgende Frage aufgeworfen werden: Auf welchem Gebiet können Revolutionäre das Mittel der Voraussage anwenden?
Auf langfristiger Ebene? Sicherlich; das Projekt des Kommunismus beruht auf nichts anderem.
Auf kurzfristiger Ebene? Natürlich; sie ist Teil der menschlichen Tätigkeit und somit der Revolutionäre.
Auf mittelfristiger Ebene? Da sie sich nicht auf Allgemeinheiten wie die langfristige Voraussage beschränken kann und über weniger Anhaltspunkte als die kurzfristige Vorhersage verfügt, ist sie zweifellos die schwierigste Art der Vorhersage, die das Proletariat treffen kann. Sie darf aber nicht vernachlässigt werden, weil sie direkt die Art und Weise des Kampfes in jedem Zeitraum des Kapitalismus bedingt.
Somit kann die Frage präziser gestellt werden: Kann und muss man im Rahmen der mittelfristigen Voraussage die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat antizipieren? Dies setzt voraus, dass man die Möglichkeit solch einer Entwicklung anerkennt und die ihr vorausgehende Frage beantwortet hat:
2. Gibt es verschiedene Perioden im Verlauf des Klassenkampfes?
Es mag seltsam erscheinen, solch eine grundlegende Frage zu stellen. In der Vergangenheit schien sie so selbstverständlich, dass die Revolutionäre kaum auf dem Gedanken kamen, sie überhaupt zu stellen. Sie fragten nicht, ob es so etwas wie einen Kurs im Klassenkampf gibt oder ob es möglich und notwendig ist, ihn zu untersuchen, sondern einfach: Wie verläuft der Kurs? Und die Debatten unter den Revolutionären beschäftigten sich genau mit dieser Frage. 1852 beschrieb Marx den besonders unsteten Kurs des Klassenkampfes der Arbeiter:
"Proletarische Revolutionen (...) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihren eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen (...), scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke." (Marx, 18. Brumaire).
Vor mehr als einem Jahrhundert schien die Frage geklärt zu sein. Aber heute müssen wir feststellen, dass die fürchterliche Konterrevolution, aus der wir gerade herauskommen, solch eine Verwirrung im revolutionären Milieu gestiftet hat (siehe z.E. den Brief von Fomento Obrero Revolucionario an Révolution Internationale), dass wir heute dieselbe Frage erneut stellen müssen.
Verwirrungen in diesem Bereich beruhen auf der Unkenntnis der Geschichte der Arbeiterbewegung (aber "Unkenntnis ist keine Entschuldigung", wie Marx sagte). Ein Studium der Geschichte der Arbeiterbewegung erlaubt uns, das zu bestätigen, was Marx über das Wechselspiel zwischen den Vorstößen der Arbeiterkämpfe (die oft sehr stürmisch und kraftvoll waren wie die Bewegungen zwischen 1848-49,1864-71,1917-23) und ihren Rückzügen (wie 1850,1872 und 1923) sagte, die das Verschwinden oder die Degenerierung der politischen Organisationen bewirkten, die die Klasse in den aufsteigenden Phasen ihres Kampfes abgesondert hatte (Bund der Kommunisten: 1847 gebildet,1852 ausgelöst; Internationale Arbeiterassoziation: gegründet 1864,aufgelöst 1876; Kommunistische Internationale: gegründet 1919, degeneriert Mitte der 20er Jahre; die Sozialistische Internationale folgte einem ähnlichen Weg, aber nicht auf so eindeutige Weise).
Dass wir heute noch Revolutionäre antreffen, die unfähig sind, das Wechselspiel zwischen Vorstoß und Rückzug des Klassenkampfes zu verstehen, liegt sehr wahrscheinlich an der außergewöhnlich langen, über ein Jahrhundert dauernden Konterrevolution, die der revolutionären Welle von 1917-23 folgte. Während dieser Konterrevolution befand sich die Arbeiterklasse überall in einer Position der extremen Schwäche. Eine vorbehaltlose Untersuchung der Geschichte der Arbeiterbewegung und der marxistischen Analysen hätte (auch wenn es natürlich viel bequemer ist, nicht zu studieren und Fragen zu stellen) es diesen Revolutionären ermöglicht, das Gewicht der Konterrevolution abzuschütteln. Es hätte ihnen auch erlaubt zu erfahren, dass Ausbrüche des Klassenkampfes stattfinden, wenn sich der Kapitalismus in der Krise befindet (Wirtschaftskrisen wie 1848 oder Kriege wie 1871,1905,1917), und zwar aufgrund:
- der Schwächung der herrschenden Klasse,
- der Notwendigkeit für die Arbeiter, der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen entgegenzutreten,
- der Entblößung der Widersprüche des Systems, was zur Hebung des Klassenbewusstseins führen kann.
3. Können wir Voraussagen über den historischen Kurs des Klassenkampfes machen?
Die Geschichte zeigt, dass Revolutionäre schwerwiegende Fehler in diesem Bereich begehen können. Zum Beispiel:
- die Willich/Schapper-Tendenz im Bund der Kommunisten, die das Zurückweichen des Klassenkampfes nach 1949 nicht begriff und die Organisation zu abenteuerlichen Aktionen drängte;
- die bakunistische Strömung in der Internationalen Arbeiterassoziation, die nach der Niederschlagung der Pariser Kommune von 1871 noch immer mit einer unmittelbaren Revolution rechnete und sich von der langfristigen Arbeit abwandte;
- die KAPD, die sich nicht des Rückzuges der Revolution Anfang der 20er Jahre bewusst war und sich später im Voluntarismus und sogar im Putschismus verlor;
- Trotzki, der 1936 erklärte, dass die "Revolution in Frankreich begonnen habe" und der 1938, auf dem Tiefpunkt der Welle, die Totgeburt der "IV. internationale" gründete.
Die Geschichte hat jedoch auch gezeigt, dass die Revolutionäre die Mittel besaßen, den Kurs korrekt zu analysieren und richtige Voraussagen über die Zukunft des Klassenkampfes zu treffen:
- Marx und Engels verstanden die Änderung der Perspektiven nach 1849 und 1871;
- die italienische Linke begriff den Rückzug der Weltrevolution nach 1921 und zog daraus die richtigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Aufgaben der Partei und der Bedeutung der Ereignisse in Spanien 1936.
Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass - als ein allgemeines Gesetz - diese richtigen Voraussagen nicht eine Angelegenheit des Zufalls waren, sondern auf ernsthaften Untersuchungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruhten - auf eine allgemeine Analyse des Kapitalismus, besonders der wirtschaftlichen Lage, aber auch des sozialen Kampfes in Hinblick sowohl auf die Kampfbereitschaft als auch auf das Bewusstsein. Auf diese Weise:
- begriffen Marx und Engels den Rückzug der Revolution Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts und, dass der Krise von 1847-48 eine Periode der wirtschaftlichen Erholung folgte;
- sahen Lenin und die Bolschewiki einen revolutionäre Aufschwung im Verlaufe des 1. Weltkrieges voraus, ausgehend von der Tatsache, dass der imperialistische Krieg eine Manifestation der Todeskrise des Kapitalismus war und das System in einen Zustand großer Schwäche stürzen würde.
Aber obgleich sie eine notwendige Voraussetzung für eine proletarische Erhebung darstellt, ist die Krise des Kapitalismus nicht ausreichend - im Gegensatz zu dem, was Trotzki nach der Krise von 1929 dachte. Ebenso ist die Kampfbereitschaft der Arbeiter kein ausreichender Beweis einer wirklichen und beständigen Auflehnung, wenn sie nicht von einer Tendenz begleitet wird, die mit den kapitalistischen Mystifikationen bricht. Dies wurde von der Minderheit der italienischen Fraktion verkannt, als sie in der Bewaffnung und Mobilisierung der spanischen Arbeiter im Juli 1936 den Anfang der Revolution sah, obwohl die spanischen Arbeiter tatsächlich durch den Antifaschismus politisch entwaffnet wurden und unfähig waren, den Kapitalismus wirklich anzugreifen.
Man kann somit feststellen, dass es den Revolutionären möglich ist, Voraussagen über die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat zu treffen und dass sie - weit davon entfernt, diese Aufgabe wie ein Glücksspiel anzugehen - Kriterien benutzen können, die auf der Erfahrung beruhen und die - obgleich nicht unfehlbar - verhindern, dass die Revolutionäre im Dunkeln tappen. Einige Revolutionäre erheben jedoch einen anderen Einwand: "Selbst wenn es möglich ist, Voraussagen über den historischen Kurs zu treffen, sind sie für den Klassenkampf völlig irrelevant und in keiner Weise Bedingung für die Aktivitäten der Kommunisten. All das sind intellektuelle Spekulationen ohne Einfluss auf die Praxis." Befassen wir uns nun mit diesem Argument.
4. Ist es notwendig, Voraussagen über den historischen Kurs zu machen?
Bei der Beantwortung dieser Frage könnte man fast sagen, dass die Tatsachen für sich selbst sprechen. Aber die Konterrevolution hat in einigen revolutionären Gruppen solche Verwüstungen angerichtet, dass diese entweder die Tatsachen völlig ignorieren oder unfähig sind, sie richtig zu deuten. Um uns selbst von der Notwendigkeit für die revolutionäre Organisation zu überzeugen, eine richtige Analyse der historischen Perspektive anzufertigen, genügt es, das tragische Schicksal der deutschen Linken in Erinnerung zu rufen. Diese war trotz des Werts ihrer programmatischen Positionen vollständig desorientiert, zerrüttet und endgültig zerstört durch ihre Irrtümer über den Kurs des Klassenkampfes. Wir sollten uns ebenfalls an das traurige Ende der Minderheit der italienischen Fraktion erinnern, die den antifaschistischen Milizen im spanischen Bürgerkrieg beitrat, sowie an das erbärmliche Schicksal der UNION COMMUNISTE, die eine Politik der "kritischen Unterstützung" gegenüber den Linkssozialisten der POUM betrieben, darauf hoffend, dass daraus eine kommunistische Avantgarde hervorgehen würde, die fähig ist, sich an die Spitze der "spanischen Revolution" zu stellen. Wir sehen, dass ein Verkennen des Problems des historischen Kurses eine katastrophale Wirkung auf die Revolutionäre haben kann.
Die Analyse des Kurses des Klassenkampfes bedingt unmittelbar die Organisation und Intervention der Revolutionäre. Wenn man den Strom hinauf schwimmt, schwimmt man in Ufernähe; wenn man den Fluss hinab schwimmt, schwimmt man in der Mitte. Ähnlich unterscheidet sich das Verhältnis der Revolutionäre zu ihrer Klasse gemäß dem Verlauf des Kampfes. Wenn die Klasse zur Revolution strebt, müssen die Revolutionäre sich an die Spitze der Bewegung stellen; falls die Klasse in den Abgrund der Konterrevolution stürzt, müssen sie gegen den- Strom ankämpfen.
Im ersten Fall müssen sie darauf achten, sich nicht von der Klasse zu trennen, jeden ihrer Schritte und alle ihre Kämpfe aufmerksam zu verfolgen, um deren Potential so weit wie möglich zu entfalten. Ohne jegliche Nachlässigkeit gegenüber der theoretischen Arbeit nimmt die Teilnahme an den Kämpfen ihrer Klasse einen privilegierten Platz ein. Auf organisatorischer Ebene verhalten sich die Revolutionäre offen und zuversichtlich den anderen Strömungen gegenüber, die aus der Klasse hervorkommen. Sie können auf eine positive Entwicklung dieser Strömungen sowie auf eine Annäherung der jeweiligen Positionen hoffen, ohne dabei die eigenen Prinzipien loszulassen. Der Aufgabe der Umgruppierung kann auf diese Weise ein Maximum an Aufmerksamkeit und Anstrengung entgegengebracht werden.
Ganz anders in der Periode des historischen Rückflusses. Dann kommt es vor allem darauf an, sicherzustellen, dass die Organisation dieser Rückentwicklung widersteht und ihre Prinzipien gegenüber dem verderblichen Einfluss der kapitalistischen Mystifikationen, die die ganze Klasse zu ertränken trachten, aufrechterhält. Eine weitere Aufgabe besteht darin, das zukünftige Wiederaufleben der Klasse vorzubereiten, indem sie den Hauptteil ihrer schwachen Kräfte der theoretischen Arbeit, die Bilanzierung der Erfahrungen aus den vergangenen Kämpfe, insbesondere die Ursache der Niederlage, zu widmen. Es ist klar, dass dies dazu führt, dass die Revolutionäre von der Klasse abgeschnitten werden. Aber dies müssen sie in Kauf nehmen, sofern sie festgestellt haben, dass die Bourgeoisie triumphiert hat und das Proletariat von seinem Klassenterrain gezerrt worden ist. Andernfalls riskieren sie, in dieselbe Richtung gezogen zu werden. Was die Frage der Umgruppierung der Revolutionäre angeht, so wäre es - ohne diesen Anstrengungen den Rücken zuzukehren - zwecklos, eine allzu optimistische Perspektive in Aussicht zu stellen. Tendenziell wird die Organisation sich in sich selbst zurückziehen und misstrauisch ihre eigenen Positionen überwachen; sie wird dazu neigen, die Meinungsverschiedenheiten aufrechtzuerhalten, die mangels Klassenerfahrungen nicht überwunden werden können.
Somit wird deutlich, dass die Analyse des historischen Kurses beträchtliche Auswirkungen auf die Handlungs- und Organisationsweise der Revolutionäre hat und dass dies nichts mit "akademischen Spekulationen" zu tun hat. So wie eine Armee zu jeder Zeit das genaue Kräfteverhältnis gegenüber dem Feind kennen muss, um zu beurteilen, ob sie angreifen kann oder sich geordnet zurückziehen muss, so benötigt auch die Arbeiterklasse eine richtige Einschätzung des Kräfteverhältnisses zu ihrem Feind, der Bourgeoisie. Und den Revolutionären - den fortgeschrittensten Elementen der Klasse - fällt die Aufgabe zu, der Klasse ein Höchstmaß an Orientierungspunkten für solch eine Einschätzung zu liefern. Darin besteht einer der wesentlichen Gründe für ihr Bestehen.
In der Vergangenheit haben die Revolutionäre stets mehr oder weniger erfolgreich Verantwortung getragen. Aber die Untersuchung des historischen Kurses erhält mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Phase der Dekadenz eine noch größere Bedeutung, da die Einsätze, die im Klassenkampf auf dem Spiel stehen, weitaus höher sind.
5. Die historische Alternative im Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz
In Übereinstimmung mit der Kommunistischen Internationale hat die IKS immer darauf bestanden, dass die Dekadenz des Kapitalismus die "Epoche der imperialistischen Kriege und der proletarischen Revolutionen" ist. Der Krieg ist keine Besonderheit des dekadenten Kapitalismus und auch keine Besonderheit des Kapitalismus im allgemeinen. Aber die Form und die Funktion des Krieges ändert sich, je nachdem ob das System fortschrittlich ist oder zu einer Fessel der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte geworden ist.
"In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus drückten Kriege (ob nationale, koloniale oder imperialistische Eroberungen) die aufstrebende Bewegung, die Reifung, Stärkung und Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems aus. Die kapitalistische Produktion fand im Krieg die Fortsetzung ihrer Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln. Jeder Krieg rechtfertigte sich und zahlte sich aus, indem er ein neues Feld für noch größere Expansionen öffnete, die kapitalistische Weiterentwicklung sicherte.
In der Epoche des dekadenten Kapitalismus drückt der Krieg genauso wie der Frieden diese Dekadenz aus und beschleunigt sie außerordentlich.
Es wäre falsch, den Krieg als etwas Negatives schlechthin zu betrachten, als Zerstörer und Fessel der gesellschaftlichen Entwicklung, dem Frieden entgegengesetzt, der als der normale, positive Weg einer ununterbrochenen Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft erscheint. Dies hieße, ein moralistisches Konzept in einen objektiven, ökonomisch bestimmten Verlauf einzuführen.
Der Krieg war ein unabdingbares Mittel, mit welchem der Kapitalismus sich unerschlossene Gebiete für die Entwicklung eröffnete, zu einer Zeit, als solche Gebiete noch existierten und nur mit Gewalt erschlossen werden konnten. Auf derselben Weise findet die kapitalistische Welt, nachdem historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft sind, im modernen imperialistischen Krieg den Ausdruck ihres Zusammenbruchs, der die Produktivkräfte nur noch tiefer in den Abgrund reißt und nur noch schneller Ruine auf Ruine häuft.
Im Kapitalismus gibt es keinen grundlegenden Widerspruch zwischen Krieg und Frieden, aber es gibt einen Unterschied zwischen der Phase des Aufstiegs und des Verfalls der kapitalistischen Gesellschaft und somit einen Unterschied im Wesen des Krieges (und im Verhältnis zwischen Krieg und Frieden) in den jeweiligen Phasen. Während der ersten Phase besitzt der Krieg die Funktion, eine Expansion des Marktes und damit der Produktionsmittel der Konsumgüter zu gewährleisten; dagegen ist während der zweiten Phase die Produktion hauptsächlich auf die Produktion von Zerstörungsmittel, d.h. auf den Krieg, ausgerichtet. Die Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft findet ihren treffendsten Ausdruck in der Tatsache, dass in der dekadenten Periode die wirtschaftlichen Aktivitäten hauptsächlich auf Krieg eingestellt sind, wohingegen in der aufsteigenden Phase die Kriege dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozess dienten.
Das bedeutet nicht, dass der Krieg zum Ziel der kapitalistischen Produktion geworden ist, da dies die Erzeugung von Mehrwert bleibt. Aber es bedeutet, dass der Krieg zur permanenten Lebensform des dekadenten Kapitalismus wird." (Bericht über die internationale Situation auf der Konferenz der Linkskommunisten Frankreichs im Juli 1945).
Wir können drei Schlussfolgerungen aus dieser Analyse über das Verhältnis zwischen dem dekadenten Kapitalismus und dem imperialistischen Krieg ziehen:
1. Seiner eigenen Dynamik überlassen, kann der Kapitalismus dem Krieg nicht entkommen; all das Geschwätz vom Frieden, all die "Völkerbünde" und "Vereinten Nationen", der gute Wille der "großen Persönlichkeiten" des Kapitals können nichts daran rütteln. Die "Friedensperioden" (d.h. Zeiten, in denen der Krieg nicht generalisiert ist) sind nur Augenblicke, in denen das Kapital seine Kräfte wiederherstellt für noch zerstörerische und barbarischere Konfrontationen.
2. Der imperialistische Krieg ist der bedeutendste Ausdruck des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise; er streicht die Notwendigkeit heraus, diese Produktionsform zu überwinden, bevor sie die Menschheit in den Abgrund der Zerstörung reißt. Das ist die wahre Bedeutung der von der Kommunistischen Internationalen zitierten Formel.
3. Im Gegensatz zu den Kriegen der aufsteigenden Phase, die nur beschränkte Gebiete des Erdballs in Mitleidenschaft zogen und nicht das gesamte gesellschaftliche Leben eines jeden Landes bestimmten, ist der imperialistische Krieg auf Weltebene ausgeweitet und ordnet die Gesamtheit der Gesellschaft seinen Bedürfnissen unter, vor allem die Klasse, die die Masse des gesellschaftlichen Reichtums produziert - das Proletariat.
Da es an ihr liegt, all den Kriegen ein Ende zu setzen, und sie die einzig mögliche Zukunft - den Sozialismus - in den Händen hält; da sie die Klasse ist, die an der vordersten Front der Opfer steht, die vom imperialistischen Krieg aufgenötigt werden; da sie, von jeglichem Eigentum ausgeschlossen, die einzige Klasse ist, die wirklich kein "Vaterland" hat ,die wahrhaft internationalistisch ist, hält die Arbeiterklasse das Schicksal der gesamten Menschheit in den Händen.
Um es direkter auszudrücken: die Fähigkeit des Proletariats, auf die historische Krise des Kapitalismus auf seinem eigenen Klassenterrain zu reagieren, wird darüber entscheiden, ob dieses System in der Lage sein wird, seine eigene Lösung der Krise durchzusetzen - den imperialistischen Krieg.
Seitdem der Kapitalismus in seine dekadente Phase eingetreten ist, sind die Konsequenzen für die Frage des historischen Kurses kaum mit denen des letzten Jahrhunderts zu vergleichen. Im 20. Jahrhundert bedeutet der Sieg des Kapitalismus eine namenlose Barbarei des imperialistischen Krieges und die drohende Auslöschung der menschlichen Rasse. Der Sieg des Proletariats dagegen macht ein Wiederaufleben der Gesellschaft möglich, das "Ende der Vorgeschichte der Menschheit und der Anfang ihrer wirklichen Geschichte". Das sind die Einsätze, die die Revolutionäre vor Augen haben müssen, wenn sie heute die Frage des historischen Kurses untersuchen. Aber dies trifft nicht auf alle Revolutionäre zu, insbesondere nicht auf jene, die sich weigern, von historischen Alternativen zu sprechen (oder, falls sie davon reden, nicht wissen, worüber sie sprechen) und jene, für die der imperialistische Krieg und die Auflehnung des Proletariats gleichzeitig oder gar aufeinanderfolgend auftreten.
6. Der Gegensatz und die gegenseitige Ausschließung der historischen Alternativen
Am Vorabend des II. Weltkrieges wurde innerhalb der italienischen Linken die These entwickelt, wonach der imperialistische Krieg nicht mehr das Produkt der Spaltung des Kapitalismus in sich unversöhnlich gegenüberstehenden Staaten und Mächten ist, die alle um die Weltherrschaft ringen. Es wurde behauptet, dass dieses System auf diese äußerste Maßnahme zurückgreift, um das Proletariat zu massakrieren und um den Aufschwung der Revolution zu bremsen. Die Linkskommunisten Frankreichs argumentierten gegen diese Behauptung auf folgende Weise:
"Die Ära der Kriege und der Revolutionen bedeutet nicht, dass die Entwicklung des Krieges nicht mit der Entwicklung der Revolution in Einklang steht. Obwohl sie ihren Ursprung in derselben historischen Situation, der permanenten Krise des kapitalistischen Systems, haben, unterscheiden sie sich dennoch in der Hauptsache und stehen in keinem direktem wechselseitigem Verhältnis. Während die Auslösung eines Krieges direkt revolutionäre Erschütterungen heraufbeschwören kann, ist die Revolution nie ein auslösender Faktor des imperialistischen Krieges.
Der imperialistische Krieg entwickelt sich nicht als Antwort auf die Erhebung der Revolution. Ganz im Gegenteil, erst das einer Revolution folgende Zurückweichen, die zeitweilige Verdrängung einer revolutionären Bedrohung ermöglicht es dem Kapitalismus, auf den Ausbruch eines Krieges hinzuarbeiten, der durch die Widersprüche und inneren Spannungen des kapitalistischen Systems hervorgerufen wird. " (ebenda).
In jüngerer Zeit sind auch andere Theorien aufgetaucht, denen zufolge mit der Entwicklung der Krise des Kapitalismus beide Pole des Widerspruchs gleichzeitig verstärkt werden: Krieg und Revolution schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern schreiten gleichzeitig und parallel voran, ohne dass man weiß, welches von beiden zuerst den Höhepunkt erreicht. Der Hauptfehler solch einer Auffassung besteht darin, dass sie den Faktor des Klassenkampfes im Leben der Gesellschaft vollständig außer Acht lässt. Dagegen basierte die von der italienischen Linken entwickelte Auffassung auf einer Überbewertung des Einflusses des Klassenkampfes. Ausgehend von dem Satz aus dem KOMMUNISTISCHEN MANIFEST, dass "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften.... die Geschichte von Klassenkämpfen (ist)", wandten sie ihn allzu mechanisch bei der Untersuchung des imperialistischen Krieges an und betrachteten den imperialistischen Krieg als eine Antwort auf den Klassenkampf. Sie begriffen nicht, dass der imperialistische Krieg ganz im Gegenteil nur dank der Abwesenheit des Klassenkampfes stattfinden kann. Wenn diese Auffassung auch falsch war, so ging sie jedoch von richtigen Voraussetzungen aus. Der Fehler lag in der Weise, in der diese Voraussetzungen angewendet wurden. Im Gegensatz dazu schiebt die These von der "Parallelität und Simultanität des Kurses zum Krieg und zur Revolution" diese fundamentale marxistische Voraussetzung vollständig beiseite, denn sie geht davon aus, dass die beiden antagonistischen Klassen der Gesellschaft ihre jeweilige Antwort auf die Krise des Systems - der imperialistische Krieg für die einen, die Revolution für die anderen - vollkommen unabhängig voneinander, vom jeweiligen Kräfteverhältnis, von den Konfrontationen und Zusammenstößen zwischen beiden vorbereiten können. Wenn es nicht einmal zum Zwecke einer Bestimmung der allumfassenden historischen Alternative für das gesellschaftliche Leben angewendet werden kann, dann hat das Schema des KOMMUNISTISCHEN MANIFESTES keine Existenzberechtigung mehr; dann können wir den gesamten Marxismus ins Museum zu den anderen ausgemusterten Erfindungen der Menschheit stecken.
In Wirklichkeit hat die Geschichte eine solche Auffassung der "Parallelität" als falsch überführt. Im Gegensatz zum Proletariat, das keine entgegengesetzten Interessen in sich birgt, ist die Bourgeoisie eine Klasse, die durch die Gegensätze zwischen den ökonomischen Interessen ihrer verschiedenen Bereiche zutiefst gespalten ist. In einer Wirtschaft, in der die Ware unangefochten herrscht, ist der Wettbewerb zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse im allgemeinen unüberwindbar. Darin liegt der tiefere Grund für die politischen Krisen, von denen diese Klasse heimgesucht wird, als auch für die hitzigen Spannungen zwischen Ländern und Blöcken, die sich ständig verschärfen. Das höchste Maß an Einheit, das das Kapital erzielen kann, ist die Nation; es ist aber eines der Hauptmerkmale des kapitalistischen Staates, dass er den verschiedenen Sektoren des nationalen Kapitals diese Disziplin erst aufzwingen muss. Abgesehen davon kann man von einer gewissen "Solidarität" zwischen Staaten eines gleichen imperialistischen Blocks sprechen. Dies spiegelt die Tatsache wieder, dass ein nationales Kapital allein gegen alle überhaupt nichts ausrichten kann und gezwungen ist, einen Teil seiner Unabhängigkeit aufzugeben, um seine Gesamtinteressen zu wahren. Aber dies schließt nicht Rivalitäten zwischen Ländern desselben Blocks sowie die Tatsache aus, dass der Kapitalismus sich auf Weltebene nicht vereinigen kann (im Gegensatz zu Kautskys Theorie vom "Superimperialismus"). Die Blöcke bleiben weiterhin bestehen und die Gegensätze zwischen ihnen können sich nur verstärken.
Der einzige Augenblick, in dem die Bourgeoisie Einheit auf Weltebene erlangen und ihre imperialistischen Rivalitäten zum Schweigen bringen kann, tritt ein, wenn ihr Überleben von ihrem Todfeind, dem Proletariat, bedroht ist. Die Geschichte zeigt, dass sie in einem solchen Moment fähig ist, eine Solidarität zu offenbaren, an der es ihr sonst mangelt. Dies wurde veranschaulicht:
- 1871 in der Zusammenarbeit zwischen Preußen und der Versailler Regierung gegen die Pariser Kommune (Freilassung französischer Soldaten, die in der "Blutigen Woche" benötigt wurden);
- 1918, als die Entente ihre Solidarität gegenüber der deutschen Bourgeoisie ausdrückte, die von der proletarischen Revolution bedroht wurde (Freilassung der deutschen Soldaten, die anschließend für das Massaker an den Spartakisten benötigt wurden).
Somit entwickelt sich der historische Kurs zum Krieg oder zur Revolution nicht auf parallele und unabhängige Weise, sondern auf antagonistische und sich wechselseitig beeinflussende Art . Mehr noch: der imperialistische Krieg und die Revolution schließen sich als Antworten zweier sich historisch gegenüberstehender Klassen nicht nur in der Zukunft der Gesellschaft aus, sondern auch in der täglichen Vorbereitung dieser beiden Alternativen.
Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges setzt für den Kapitalismus die Entwicklung einer Kriegswirtschaft voraus; es ist das Proletariat, das die schwerste Last tragen muss. Schon der Kampf der Arbeiter gegen die Austerität hält diese Vorbereitungen auf und bringt klar zum Ausdruck, dass die Klasse nicht bereit ist, die immer schlimmeren Opfer auf sich zu nehmen, die ihr die Bourgeoisie im imperialistischen Krieg abverlangt. So bedeutet der Klassenkampf - selbst wenn er für noch so beschränkte Ziele eintritt -, dass das Proletariat die Bande der Solidarität mit "seinem" nationalen Kapital durchreißt; eine Solidarität, die die Bourgeoisie während des Krieges so dringend fordert. Er drückt sich ebenso in einer Tendenz aus, die mit den bürgerlichen Idealen wie "Demokratie", Illegalität", "Vaterland", dem falschen "Sozialismus" bricht, für deren Verteidigung die Arbeiter dazu aufgerufen werden, sich und die Klassenbrüder zu massakrieren. Letztendlich ermöglicht der Klassenkampf dem Proletariat, seine Einheit zu schmieden; ein unersetzlicher Faktor, wenn die Klasse sich anschickt, auf internationaler Ebene den Showdown zwischen den imperialistischen Gangstern zu verhindern.
Als der Kapitalismus Mitte der 60er Jahre in die Phase der akuten Wirtschaftskrise eintrat, eröffnete sich erneut die von der Kommunistischen Internationalen umrissene Perspektive: "imperialistischer Krieg oder proletarische Revolution" als die jeweiligen Antworten der beiden Hauptgesellschaftsklassen auf die Krise. Aber das bedeutet nicht, dass sich die beiden Tendenzen gleichzeitig entwickeln können. Sie erscheinen in der Form einer Alternative, d.h. sie schließen sich gegenseitig aus:
- entweder setzt das Kapital seine Antwort durch, was bedeutet, dass es vorher den Widerstand der Arbeiter zerschlagen hat;
- oder das Proletariat kann seine Lösung durchsetzen, was selbstredend bedeutet , dass es ihm vorher gelungen ist, den mörderischen Klauen des Imperialismus Einhalt zu gebieten.
Das Wesen des gegenwärtigen Kurses - ob zum imperialistischen Krieg oder zum Klassenkrieg - drückt somit die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat aus. Wie es vor uns die meisten Revolutionäre - und vor allem Marx - bereits gemacht haben, müssen auch wir dieses Kräfteverhältnis untersuchen. Aber wir müssen über Kriterien verfügen, um solch eine Einschätzung vorzunehmen, und diese Kriterien sind nicht zwangsläufig mit denen der Vergangenheit identisch. Eine Definition solcher Kriterien setzt voraus, dass wir die Kriterien der Vergangenheit kennen, dass wir zwischen jenen, die heute noch gültig sind, und jenen, die angesichts der Entwicklung der historischen Lage ungültig geworden sind, zu unterscheiden wissen und dass wir schließlich eventuelle neue Kriterien in Betracht ziehen, die durch diese Entwicklung hervorgebracht werden. Wir können die Szenarien der Vergangenheit nicht mechanisch anwenden - obwohl wir von einer Untersuchung der Vergangenheit ausgehen müssen. Dies trifft insbesondere auf die Untersuchung der Bedingungen zu, die den Ausbruch der imperialistischen Kriege von 1914 und 1939 zuließen.
7. Die Bedingungen der imperialistischen Kriege von 1914 und 1939
"Die letzte und entscheidende Bedingung für den Ausbruch des imperialistischen Krieges ist die Einstellung des Klassenkampfes oder - genauer - die Zerstörung der Klassenmacht des Proletariats, die Entgleisung seiner Kämpfe (was die Bourgeoisie durch die Infiltrierung ihrer Agenten in die Klasse erreicht, die die Arbeiterkämpfe ihres revolutionären Inhalts berauben und sie zu Reformismus und Nationalismus führen). Dies darf nicht vom engen und beschränkten Standpunkt einer einzigen Nation aus gesehen werden, sondern geht nur auf internationaler Ebene.
Daher steht das teilweise Erstarken, das Wiederauftauchen von Kämpfen und Streikbewegungen in Russland (1913) in keiner Weise im Widerspruch zu unserer Behauptung. Bei näherer Betrachtung sehen wir, dass die Macht des internationalen Proletariats am Vorabend des Augusts 1914, seine Wahlsiege, die großen sozialdemokratischen Parteien und gewerkschaftlichen Massenorganisationen - der Ruhm und Stolz der II. Internationalen - nur eine Fassade waren, die unter ihrer Tünche einen ruinösen ideologischen Zustand verbarg. Die Arbeiterbewegung, die durch einen autoritären Opportunismus untergraben und verrottet war, sollte unter der ersten Sturmböe des Krieges wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
Die Realität kann nicht als chronologisches Photografieren der Ereignisse verstanden werden, sondern muss in der ihr zugrunde liegenden, inneren Bewegung erfasst werden, in den tiefgreifenden Veränderungen, die eintreten, bevor sie an der Oberfläche auftauchen und als Daten registriert werden. Man würde einen schwerwiegenden Fehler begehen, wenn man der chronologischen Ordnung der Geschichte treu bliebe und den Krieg von 1914-18 als die Ursache des Zusammenbruchs der II. Internationalen sähe. Wo doch in Wirklichkeit der Ausbruch des Krieges ein direktes Resultat des vorhergehenden opportunistischen Verfalls der Arbeiterbewegung war. Die Fanfaren des Internationalismus tönten draußen um so lauter, je mehr im Innern die nationalistische Tendenz triumphierte. Der I. Weltkrieg hat nur die 'Verbürgerlichung' der Parteien der II. Internationalen in die Öffentlichkeit gerückt, die Ersetzung des ursprünglich revolutionären Programms durch die Ideologie des Klassenfeindes und ihre Verknüpfung mit den Interessen der nationalen Bourgeoisie.
Der innere Prozess der Zerstörung des Klassenbewusstseins fand seine Vervollständigung im Ausbruch des I. Weltkrieges, den er selbst zuließ.
Der Ausbruch des II. Weltkrieges unterlag denselben Bedingungen. Wir können zwischen drei notwendigen und aufeinanderfolgenden Etappen zwischen den beiden imperialistischen Kriegen unterscheiden.
Die erste wurde mit der Erschöpfung der großen revolutionären Welle nach 1917 abgeschlossen und von einer Reihe von Niederlagen besiegelt, von der Niederlage der Linken, ihrem Ausschluss aus der Kommunistischen Internationalen über den Triumpf des Zentrismus bis hin zur Anbindung der UdSSR an den Kapitalismus mittels der Theorie und Praxis des 'Sozialismus in einem Land'.
Die zweite Stufe war die Generaloffensive des internationalen Kapitalismus, die das Ziel verfolgte, durch die physische Niederschlagung des Proletariats und die Installierung des Hitlerschen Regimes als Europas Gendarm den sozialen Aufruhr in Deutschland zu ersticken, in jenem Zentrum also, wo die Entscheidung zwischen den historischen Alternativen des Kapitalismus und des Sozialismus ausgetragen wurde. Im Einklang mit dieser Etappe kam der endgültige Tod der Komintern und der Zusammenbruch der linken Opposition um Trotzki. Unfähig, die revolutionäre Energie zu sammeln, engagierte sich diese in der Koalition und Verschmelzung mit den opportunistischen Gruppen und Strömungen der Linkssozialisten für eine Orientierung auf die Praxis des Bluffs und Abenteuertums, indem sie die Gründung der 'IV. Internationalen' verkündete.
Die dritte Etappe war die vollständige Irreführung der Arbeiterbewegung in den 'demokratischen' Ländern. Hinter der Maske der Verteidigung der 'Freiheiten' und der 'Errungenschaften' der Arbeiter, die alle vom Faschismus bedroht seien, verbarg sich tatsächlich das Ziel, das Proletariat für die Verteidigung der Demokratie zu gewinnen, d.h. für die Verteidigung ihrer nationalen Bourgeoisie und ihres nationalen Kapitals. Der Antifaschismus war die Plattform, die moderne Ideologie des Kapitalismus, den jene Parteien, die das Proletariat verraten hatten, verwendeten, um ihre faule Ware der Landesverteidigung zu verpacken.
Während dieser dritten Etappe vollzog sich der endgültige Übergang der sog. kommunistischen Parteien in den Dienst ihrer jeweiligen Kapitale, die Zerstörung des Klassenbewusstseins durch die Vergiftung der Massen, ihre Einwilligung zum zukünftigen interimperialistischen Krieg mittels der Ideologie des Antifaschismus, ihre Mobilisierung für die 'Volksfront', die Verwässerung der Streiks von 1936,der 'antifaschistische' Krieg in Spanien. Zur gleichen Zeit wurde der Sieg des Staatskapitalismus in Russland mit seinen grausamen Auswüchsen gegen die leiseste Andeutung einer revolutionären Aktion, mit seinem Beitritt zum Völkerbund, seiner Integration in einen imperialistischen Block und der Errichtung einer Kriegswirtschaft als Vorbereitung auf den imperialistischen Krieg endgültig offenbar. Diese Periode war auch Zeuge der Liquidierung von zahlreichen revolutionären Gruppen und der Linkskommunisten, die aus der Krise der Komintern hervorgegangen waren und durch ihren Beitritt zur antifaschistischen Ideologie und Verteidigung des 'Arbeiterstaates' in Russland von den Mahlsteinen des Kapitalismus ergriffen wurden und für immer als Ausdruck des Lebens des Proletariats verlorengingen. Niemals zuvor hatte es in der Geschichte solch eine Kluft zwischen der Klasse und den Gruppen gegeben, die ihre Interessen und ihre Mission ausdrücken. Die Avantgarde befand sich in einem Zustand absoluter Isolation und war zahlenmäßig auf unbedeutende, kleine Inseln reduziert.
Die riesige revolutionäre Welle, die am Ende des I. imperialistischen Weltkrieges ausbrach, versetzte den internationalen Kapitalismus in solch einen Schrecken, dass er zuerst das Fundament des Proletariats zerrüttete, bevor er einen neuen imperialistischen Weltkrieg vom Zaun brach." (ebenda)
Diesen einleuchtenden Zeilen können wir folgende Elemente hinzufügen:
- Die opportunistische Entwicklung und der Verrat der Parteien der II .Internationalen wurde durch die Charakteristiken des Kapitalismus ermöglicht, der sich auf seinem Zenit befand. Der ökonomische Fortschritt, das offensichtliche Ausbleiben von größeren Erschütterungen, die Reformen, die der Kapitalismus der Arbeiterklasse zuzugestehen in der Lage war - all dies nährte die Idee von einer allmählichen, friedlichen und legalen Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in den Sozialismus;
- Eines der grundlegenden Elemente der Verwirrung des Proletariats zwischen den zwei Weltkriegen war die Existenz und die Politik der UdSSR, die entweder die Arbeiter von jeglicher sozialistischen Perspektive zurückschrecken ließ oder sie in die Klauen der Sozialdemokratie trieb. Oder sie verleitete jene, die in der UdSSR immer noch das "sozialistische Vaterland" sahen, dazu, ihre Kämpfe der Verteidigung der imperialistischen Interessen der UdSSR unterzuordnen.
8. Die Kriterien für eine Einschätzung des historischen Kurses
Aus der Analyse der Bedingungen, die den Ausbruch der beiden Weltkriege ermöglichten, kann man die folgenden allgemeinen Lehren ziehen:
* das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat kann nur auf Weltebene beurteilt werden und darf nicht auf Ausnahmefällen beruhen, die in zweitrangigen Gebieten auftreten; es ist wichtig, dass wir aus der Untersuchung der Situation in einigen großen Ländern auf die tatsächliche Natur des Kräfteverhältnisses schließen können;
* um den imperialistischen Krieg auslösen zu können, muss der Kapitalismus dem Proletariat zuvor eine schwere Niederlage zufügen, vor allem eine ideologische Niederlage, aber auch eine physische, sofern das Proletariat zuvor eine große Kampfbereitschaft gezeigt hatte (wie in Italien, Deutschland und Spanien zwischen den Kriegen);
* diese Niederlage darf die Klasse nicht nur zur Passivität verurteilen, sondern muss die Arbeiter auch dazu bringen, begeistert den bürgerlichen Idealen ("Demokratie", "Antifaschismus", "Sozialismus in einem Land") zuzustimmen. Die Unterstützung dieser Ideale setzt voraus:
a) dass sie einen Anschein von Wirklichkeit besitzen (die Möglichkeit einer unbeschränkten, problemlosen Entwicklung des Kapitalismus und der "Demokratie", der proletarische Ursprung des Regimes in der UdSSR);
b) dass sie auf die eine oder andere Weise mit der Verteidigung proletarischer Interessen verbunden ist;
c) dass diese Assoziation von Organisationen verteidigt wird, die das Vertrauen der Arbeiter genießen, was darauf zurückzuführen ist, dass sie in der Vergangenheit tatsächlich deren Interessen verteidigt haben. Mit anderen Worten: diese bürgerlichen Ideale müssen von ehemals proletarischen Organisationen, die die Klasse verraten haben, propagiert werden.
Dies sind in groben Zügen die Bedingungen, die in der Vergangenheit den Ausbruch von imperialistischen Kriegen begünstigten. Das soll nicht heißen, dass ein zukünftiger imperialistischer Krieg a priori gleiche Bedingungen zur Voraussetzung haben muss. Aber da die Bourgeoisie sich den Gefahren bewusst geworden ist, die mit einem vorzeitigen Ausbruch von Feindseligkeiten verbunden sind (trotz all der Vorbereitungen löste der II. Weltkrieg in Italien 1945 und in Deutschland 1944/45 Reaktionen der Arbeiter aus),wäre es ein Fehler anzunehmen, dass sich die Bourgeoisie selbst in eine Konfrontation stürzt; es sei denn, sie hat denselben Grad an Kontrolle erlangt wie 1939 oder zumindest wie 1914. Mit anderen Worten: bevor ein neuer imperialistischer Krieg möglich ist müssen die eben aufgezählten Bedingungen zumindest vorhanden sein, andernfalls müssen andere Bedingungen die fehlenden ersetzen.
9. Der Vergleich der gegenwärtigen Lage mit der von 1914 und 1939
In der Vergangenheit befand sich das Terrain, auf dem der historische Kurs entschieden wurde, in Europa, besonders in seinen drei mächtigsten Ländern: Deutschland, England und Frankreich sowie an untergeordneter Stelle Länder wie Spanien oder Italien. Heute ist die Lage teilweise ähnlich, insofern als Europa noch immer das Zentrum der Zusammenstöße ist. Jede Einschätzung des Kurses muss daher eine Untersuchung des Klassenkampfes auf diesen Kontinent miteinschließen, aber sie wäre unvollständig, wenn sie nicht die Lage in der UdSSR, den USA und China in Betracht zieht.
Wenn wir all diese Länder betrachten, können wir feststellen, dass das Proletariat seit Jahrzehnten nirgendwo eine physische Niederlage erlitten hat. Die letzte Niederlage dieser Art fand in einem solch unbedeutenden Land wie Chile statt.
Ebenso hat es in keinem dieser Länder eine ideologische Niederlage gegeben, die vergleichbar wäre mit dem, was 1914 geschah, als die Arbeiter sich begeistert hinter das nationale Kapital stellten:
- die alten Mystifikationen wie der "Antifaschismus" oder der "Sozialismus in einem Land" sind ausgewrungen, hauptsächlich aufgrund der Abwesenheit eines "faschistischen Schreckgespenstes" und der Bloßstellung der Wirklichkeit des "Sozialismus" in Russland etc.;
- der Glaube an einem permanenten, friedlichen Fortschritt des Kapitalismus wurde durch ein halbes Jahrhundert gesellschaftlicher Erschütterungen und der Barbarei ernsthaft erschüttert; die Illusionen, die sich während der Wiederaufbauperiode entwickelt hatten, sind heute durch die Krise untergraben;
- der Chauvinismus, selbst wenn er noch seinen Einfluss über eine gewisse Anzahl von Arbeitern aufrechterhalten hat, besitzt nicht mehr denselben Einfluß wie in der Vergangenheit:
a) seine Grundlagen waren von der Entwicklung des Kapitalismus selbst durchgeschüttelt worden, der täglich ein klein wenig mehr die nationalen Unterschiede und Eigenheiten abschafft;
b) mit Ausnahme der beiden Großmächte, der UdSSR und USA, hadert er mit der Notwendigkeit einer Mobilisierung der Bevölkerung nicht hinter einem Land, sondern hinter einem Block;
c) in dem Maße wie im Namen des "nationalen Interesses" immer mehr Opfer für die Überwindung der Krise von den Arbeitern abverlangt werden, werden die Arbeiter mehr und mehr in der Lage sein, dieses "nationale Interesse" als den direkten Feind ihrer Klasseninteressen zu erkennen. Gegenwärtig findet der Chauvinismus hinter der Maske der nationalen Unabhängigkeit nur noch in den rückständigen Ländern Widerhall:
- die Verteidigung der "Demokratie" und der "Zivilisation", die heute die Gestalt der "Menschenrechts"-Kampagne Carters annimmt und die sich vorgenommen hat, eine ideologische Einheit im gesamten westlichen Block zu erlangen, erzielt heute nur einen geringen Erfolg; sie mag die gewohnheitsmäßigen Petitionsunterzeichner des intellektuellen Milieus in Mitleidenschaft ziehen, aber sie hat nur einen kleinen Einfluss auf die neue Generation von Proletariern, die die Verbindung zwischen ihren eigenen Interessen und den "Menschenrechten" nicht erkennen, die selbst von ihren Promotern zynisch verhöhnt werden;
- die ehemaligen Arbeiterparteien - Sozialdemokraten und "Kommunisten" - haben schon viel zu lange ihre Klasse verraten, als dass sie fähig wären, denselben Einfluss auszuüben wie in der Vergangenheit. 60 Jahre lang waren die Sozialdemokraten loyale Manager des Kapitalismus gewesen. Ihre antiproletarische Rolle ist klar und von vielen Arbeitern erkannt. Schließlich haben diese Parteien heute in den meisten westeuropäischen Ländern die Aufgabe übernommen, Regierungen zu stellen, die ein Synonym für Austerität und antiproletarische Maßnahmen sind. Was die stalinistischen Parteien angeht, kann kaum behauptet werden, dass da, wo sie regieren, die Arbeiter ihnen Vertrauen schenken: sie sind bei den dortigen Arbeitern verhasst. In den Ländern, deren Mitgliedschaft im westlichen Block die stalinistischen Parteien in der Opposition hält, was ihnen die Erlangung eines gewissen Einflusses in der Klasse ermöglicht, kann dieser Einfluss nicht direkt für die Mobilisierung der Klasse hinter dem US-Block verwendet werden, wird er doch von den KPs als der "Hauptfeind" der Völker dargestellt. Um tatsächlich wirkungsvoll zu sein, muss der Verrat einer Arbeiterpartei noch einigermaßen frisch sein. Wie ein Zündholz kann sie nur einmal für eine massive Mobilisierung für den imperialistischen Krieg verwendet werden. Dies war der Fall bei den sozialdemokratischen Parteien, deren offener Verrat 1914 stattfand, und in geringerem Maß bei den "kommunistischen" Parteien, die die Arbeiterklasse während der 20er Jahre verraten haben, bevor sie in den 30er Jahren die Rolle des Einpeitschers für den Krieg spielten (die Lücke zwischen den beiden Daten wurde teilweise dadurch ausgefüllt, dass die KPs gerade als Reaktion auf den Verrat der Sozialdemokratie gebildet wurden).Gegenwärtig genießt die Bourgeoisie nicht mehr solch entscheidenden Vorteile. Die extreme Linke, vor allem die Trotzkisten, hat sicherlich genug schmutzige Arbeit getan, um ihren Anspruch auf die Nachfolgeschaft der Sozialdemokraten und Stalinisten anzumelden, aber sie leidet an zwei fundamentalen Handicaps: Einerseits ist ihr Einfluss weitaus geringer als der ihrer Vorgänger und andererseits wird sie, bevor dieser Einfluss wirklich anwachsen kann, sich längst als spezielles Werkzeug der linken Parteien entblößt haben.
Wie wir sehen, existiert heute keine der Bedingungen, die es in der Vergangenheit ermöglichten, das Proletariat in die imperialistischen Konflikte zu zwingen, und man kann sich nur schwer vorstellen, welche neuen Verschleierungen die alten, abgenutzten jetzt ersetzen könnten. Auf dieser Grundlage ruhte schon die Stellungnahme der Genossen von INTERNACIONALISMO, als sie Anfang 1968 sagten, dass das kommende Jahr im Hinblick auf den Klassenkampf gegen die erneut ausgebrochene Krise vielversprechend sei. Diese Analyse ermöglichte es REVOLUTION INTERNATIONALE 1968, vor dem heißen Herbst 1969, vor den Aufständen der polnischen Arbeiter und der ganzen Welle von Kämpfen, die bis 1974 anhielt, zu schreiben: "Der Kapitalismus verfügt über immer weniger Mystifikationen, die die Massen mobilisieren und sie in ein Massaker stürzen können (...) Unter diesen Bedingungen erscheint die Krise von ihren ersten Manifestationen an als das, was sie tatsächlich ist: Ihre ersten Symptome sind im Begriff, immer heftigere Reaktionen der Massen in allen Ländern hervorzurufen (...) Die wirkliche Bedeutung der Ereignisse vom Mai 1968 liegt darin, dass dies eine der ersten und wichtigsten Reaktionen der Arbeitermassen gegen eine weltweit sich ständig verschlechternde Wirtschaftslage war." (RI, alte Reihe, Nr. 2).
Diese Analyse, die in den klassischen Positionen des Marxismus (die unvermeidliche Krise und die Provokation von Klassenkonfrontationen durch die Krise) und in einer mehr als 50jährigen Erfahrung wurzelt, erlaubte unserer Strömung, das historische Wiedererstarken der Klasse ab 1968 sowie ihr neuerliches Wiederauftauchen nach ihrem Rückzug zwischen 1974 und 1978 vorherzusehen - während viele andere Gruppen nur von der Konterrevolution sprachen und nicht bemerkten, dass sich etwas getan hatte.
Aber es gibt noch Revolutionäre, die zehn Jahre nach '68 noch immer nicht dessen Bedeutung begriffen haben und einen Kurs zum III. imperialistischen Weltkrieg prognostizieren. Schauen wir uns einmal ihre Argumente an:
10. Argumente zugunsten der Idee eines Kurses zum III. Weltkrieg
a) Die gegenwärtige Existenz von lokalen interimperialistischen Konflikten
Einige Revolutionäre haben durchaus verstanden, dass die sog. nationalen Befreiungskämpfe ein Deckmantel für interimperialistische Konflikte sind (ein Mäntelchen, das so durchlässig ist, dass sogar eine so kurzsichtige Strömung wie die Bordigisten manchmal gezwungen ist, dies anzuerkennen). Die Tatsache, dass diese Konflikte schon seit Jahrzehnten andauern, hat sie - richtigerweise - nicht zu der Schlussfolgerung geführt, dass sie Anzeichen eines "revolutionären Aufschwungs" sind - wie die Trotzkisten meinen. Wir stimmen mit ihnen in diesem Punkt überein. Doch sie gehen weiter und kommen zu dem Schluss, dass die bloße Existenz solcher Konflikte und deren aktuelle Verschärfung bedeutet, dass die Klasse weltweit geschlagen ist und einen neuen imperialistischen Krieg nicht verhindern kann. Die Frage, die sie sich nicht stellen, enthüllt den Irrtum ihrer Auffassung: Warum ist die Vervielfachung und Verschärfung der lokalen Konflikte bisher noch nicht in einen allgemeinen Konflikt ausgeartet? Einige wie die CWO (Communist Workers Organisation) antworten darauf, weil die Krise noch nicht tief genug sei oder weil die militärischen und strategischen Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen seien. Die Geschichte selbst widerlegt solche Interpretationen:
- 1914, als der Konflikt mit Serbien in den Weltkrieg ausartete, waren die Krise und der Stand der Aufrüstung weniger vorangeschritten als heute;
- 1939, nach dem New Deal und der Wirtschaftspolitik der Nazis, die die Lage von 1929 wieder hergestellt hatten, war die Krise nicht brutaler als heute; auch waren zu dieser Zeit die Blöcke noch nicht vollständig gebildet, da sich die UdSSR praktisch noch an der Seite Deutschlands befand und die USA noch "neutral" waren.
Tatsächlich sind heute die Bedingungen für einen neuen imperialistischen Krieg mehr als reif. Das einzige "militärische" Element, das noch fehlt, ist der Beitritt des Proletariats .... und das ist keinesfalls das geringste.
b) Die neue Waffentechnik
Aus der Sicht mancher, die in die Fußstapfen jener treten, die einst sagten, dass der Krieg wegen des Giftgases oder der Luftwaffe unmöglich sei, verhindert die Existenz von Atomwaffen jede Zuflucht in einem neuen allgemeinen Krieg, weil dies die Gesellschaft mit der totalen Zerstörung bedrohen würde. Wir haben die pazifistischen Illusionen, die in dieser Auffassung enthalten sind, schon angeprangert. Andere meinen hingegen, dass die Entwicklung der Technologie es dem Proletariat unmöglich mache, in einen modernen Krieg einzugreifen, da vor allem hochkomplexe Waffensysteme verwendet werden, die eher von Spezialisten als von den Massen der einfachen Rekruten bedient würden. Somit hätte die Bourgeoisie, ohne jegliche Furcht vor einer Rebellion wie 1917-18, die Hände frei, um einen Atomkrieg zu führen. Diese Analyse lässt außer Acht, dass:
- die Atomwaffen längst nicht die einzigen Waffen sind, die der Bourgeoisie zur Verfügung stehen. Die Ausgaben für die konventionelle Bewaffnung sind viel höher als für Atomwaffen;
- falls die Bourgeoisie zum Krieg schreitet, ihr Ziel nicht von vornherein darin liegt, soviel wie möglich zu zerstören. Es geht ihr darum, Märkte, Territorien und Reichtümer des Feindes an sich zu reißen. Daher hat sie kein Interesse an einem sofortigen Gebrauch ihrer Atomwaffen, auch wenn sie diese im äußersten Notfall benutzen würde. Sie sieht sich also dem Problem gegenüber, Soldaten für die Besetzung des eroberten Territoriums zu mobilisieren. Wie in der Vergangenheit kommt die Bourgeoisie nicht umhin, zig Millionen von Proletariern zu mobilisieren, wenn sie einen imperialistischen Krieg entfesseln will.
c) Der Krieg durch Zufall
In dem Verlauf der Ausweitung eines imperialistischen Konfliktes ist ein unfreiwilliges Element enthalten, das sich der Kontrolle einer jeden Regierung entzieht. Dies verleitet manche zu der Behauptung, dass der Kapitalismus, auf welchem Stand sich der Klassenkampf auch immer befindet, die Menschheit "durch Zufall" in einen allgemeinen Krieg stürzen könnte, nachdem er die Kontrolle über die Lage verloren habe. Es gibt selbstverständlich keine absolute Garantie dafür, dass der Kapitalismus uns so etwas nie bescheren würde, aber die Geschichte zeigt, dass dieses System sich umso weniger zu solcher Art von "natürlichem Streben" verleiten lässt, je mehr es sich vom Proletariat bedroht fühlt.
d) Die Mangelhaftigkeit der proletarischen Antwort
Einige Gruppen wie BATTAGLIA COMUNISTA meinen, dass die Antwort des Proletariats auf die Krise unzureichend sei, um ein Hindernis gegen den Kurs zum imperialistischen Krieg zu bilden. Sie meinen, dass der Kampf "revolutionärer Natur" sein müsse, wenn er diesem Kurs wirklich etwas entgegensetzen wolle. Dabei stützen sie sich auf die Tatsache, dass nur die Revolution dem imperialistischen Krieg 1917-18 ein Ende gesetzt hatte. Ihr Irrtum besteht in ihrem Versuch, ein damals richtiges Schema auf eine andere Situation zu übertragen. Ein proletarischer Aufschwung während eines oder gegen einen Krieg nimmt sofort die Form einer Revolution an:
- weil die Gesellschaft in die extremste Form der Krise gestürzt ist, wobei sie von den Arbeitern die fürchterlichsten Opfer abverlangt;
- weil die Proletarier in Uniform schon bewaffnet sind;
- weil die Notstandsmaßnahmen (Todesstrafe etc.), die in Kraft sind, jede Konfrontation zwischen den Klassen frontal und gewalttätig werden lässt;
- weil der Kampf gegen den Krieg sofort die Form einer politischen Konfrontation mit dem kriegführenden Staat annimmt, ohne die Stufe der weniger frontalen, ökonomischen Kämpfe zu durchlaufen.
Ganz anders jedoch schaut es aus, wenn der Krieg noch nicht erklärt worden ist. Unter diesen Umständen reicht schon eine begrenzte Tendenz zum Kampf auf dem Klassenterrain aus, um die Kriegsmaschinerie zu blockieren, da:
- es sich zeigt, dass die Arbeiter sich nicht von den kapitalistischen Mystifikationen haben einfangen lassen;
- die Forderung nach noch größeren Opfern als jene, die bereits eine erste Reaktion der Arbeiter bewirkt haben, das Risiko in sich birgt, eine noch stärkere Reaktion zu provozieren.
So drohte Anfang des 20.Jahrhunderts oft ein imperialistischer Krieg, gab es viele Gelegenheiten, einen Weltkrieg auszulösen (der russisch-japanische Krieg, die französisch-deutschen Konflikte um Marokko, die Balkan-Konflikte, die Invasion Tripolis' durch Italien). Die Tatsache, dass diese Konflikte sich jedoch nicht ausweiteten, lag in nicht geringem Maße darin begründet, dass bis 1912 die Arbeiterklasse (mittels Massendemonstrationen) und die Internationale (Sonderanträge auf den Kongressen von 1907 und 1910, Sonderkongress über die Frage des Krieges 1912) sich selbst stets dann mobilisierten, sobald ein lokaler Konflikt aufflackerte. Erst als die Arbeiterklasse - betäubt von den Reden der Opportunisten - aufhörte, sich gegen die Kriegsdrohung (zwischen 1912 und 1914) zu mobilisieren, war der Kapitalismus imstande, einen imperialistischen Krieg vom Zaun zu brechen, indem er einen Zwischenfall benutzte (das Attentat in Sarajewo), der weitaus weniger ernst erschien als die vorhergehenden.
Heute braucht die Revolution nicht mehr an die Tür zu klopfen, um uns mitzuteilen, dass der Weg zum imperialistischen Krieg versperrt ist.
e) Der Krieg als eine notwendige Bedingung für die Revolution
Die Feststellung, dass bis heute die großen revolutionären Aufschwünge des Proletariats (Kommune 1871, Revolutionen von 1905 und 1917) aus Kriegen heraus entstanden, verleitete einige Strömungen wie die Linkskommunisten Frankreichs zu der Annahme, dass auch eine neue Revolution nur aus einem Krieg hervorgehen könne. Obwohl falsch, war solch ein Argument 1950 noch nachvollziehbar; heute daran festzuhalten verrät eine fetischistische Anhänglichkeit an die Schemata der Vergangenheit. Die Rolle der Revolutionäre besteht nicht darin, Katechismen zu rezitieren, die man aus den Geschichtsbüchern lernt, ganz nach der Auffassung, dass die Geschichte sich unverändert wiederholt. Im allgemeinen wiederholt sich die Geschichte nicht, und obwohl es notwendig ist, sie gut zu kennen, um die Gegenwart zu begreifen, ist eine Untersuchung dieser Gegenwart mit all ihren Besonderheiten noch wichtiger. Das Szenario einer Revolution, die nur aus dem imperialistischen Krieg hervorgeht, ist heute aus zweierlei Gründen falsch:
- Sie ignoriert die Möglichkeit eines revolutionären Aufflammens, das sich in einer Wirtschaftskrise entzündet (das war das Szenario, das Marx vor Augen hatte - wenn das die Fetischisten beruhigt).
- Sie rechnet mit einer Perspektive, die keineswegs unvermeidbar ist (wie der Ausgang des imperialistischen Krieges 1939-45 zeigte), und sie setzt einen Schritt voraus - den III. Weltkrieg -, der angesichts der heute bestehenden Zerstörungsmittel ein so großes Risiko enthält, dass der Menschheit ein für allemal die Möglichkeit geraubt wird, den Sozialismus zu errichten oder auch nur ihre Existenz zu sichern. Schließlich kann solch eine Analyse katastrophale Auswirkungen auf den Kampf haben.
11. Die Auswirkungen einer fehlerhaften Analyse des Kurses
Wie wir gesehen haben, hat eine fehlerhafte Analyse des historischen Kurses stets schwerwiegende Konsequenzen. Aber die Tragweite dieser Konsequenzen hängt davon ab, ob sich der Kurs zu einem Klassenkrieg oder zum imperialistischen Krieg neigt.
Sich zu irren, wenn die Welle des Klassenkampfes zurückflutet, kann für die Revolutionäre selbst katastrophal sein (s. KAPD), aber es hat nur eine geringe Wirkung auf die Klasse, da die Revolutionäre in solch einer Periode eh wenig Widerhall finden. Dagegen kann ein solcher Fehler tragische Konsequenzen für die gesamte Klasse haben, wenn Letztere in Bewegung geraten ist. In solch einem Moment ein fatalistisches Verhalten an den Tag zu legen, statt die gesamte Klasse zum Kampf zu drängen, ihre Initiativen zu ermutigen, das Potential ihrer Kämpfe zu entwickeln, würde mithelfen, die Klasse zu demoralisieren, und wäre ein Hindernis der Bewegung.
Deshalb haben die Revolutionäre, falls es an entscheidenden Kriterien mangelt, die beweisen können, dass wir uns in einer Periode der Niederlage befinden, immer die positive Seite der historischen Alternative zu unterstreichen, haben sie ihre Aktivitäten an einen aufstrebenden Klassenkampf, nicht an eine Niederlage auszurichten. Der Fehler eines Arztes, der einen Kranken aufgibt, der noch eine geringe Überlebenschance besitzt, ist weitaus schlimmer als der Fehler eines Arztes, der mit allen Mitteln versucht, einen Kranken zu retten, der überhaupt keine Chance mehr hat.
Deshalb ist es nicht so sehr die Aufgabe der Revolutionäre, die mit einem Kurs zum Klassenkrieg rechnen, unwiderlegbare Beweise ihrer Analyse vorzulegen, sondern vielmehr die Aufgabe jener, die einen Kurs zum Krieg ankündigen.
Es ist vollkommen unverantwortlich, trotz unserer eigenen Unsicherheit der Arbeiterklasse zu sagen, dass die Perspektive für sie ein neuer imperialistischer Krieg ist, obwohl sie diesen Kurs möglicherweise noch abwenden könnte. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass ihre Kämpfe den Ausbruch eines neuen Holocausts verhindern können, besteht die Rolle der Revolutionäre darin, all ihre Kräfte auf diese Möglichkeit zu richten und die Kämpfe so gut wie möglich zu ermutigen, wobei sie das, was für die Klasse und für die Menschheit auf dem Spiel steht, klar hervorheben müssen.
Unsere Perspektive sieht nicht die Unvermeidbarkeit der Revolution voraus. Wir sind keine Scharlatane, und wir wissen im Gegensatz zu einigen fatalistischen Revolutionären nur allzu gut, dass die Revolution nicht "so sicher ist, als ob sie schon stattgefunden hätte". Aber wie auch immer die Kämpfe heute ausgehen werden, die die Bourgeoisie zu knebeln versucht, um der Arbeiterklasse eine Reihe von Teilniederlagen zuzufügen, die die endgültige Niederlage einleiten - der Kapitalismus ist hier und jetzt unfähig, seine eigene Antwort auf die Krise seiner Produktionsverhältnisse durchzusetzen, ohne direkt mit dem Proletariat zusammenzustoßen.
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