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Heute vor fünf Jahren erlebte die Welt eine grausame Zeitenwende, die zugleich Wandel wie Kontinuität bedeutete: die Anschläge auf das World Trade Center in der Weltmetropole New York. Die Anschläge, bei denen Tausende unschuldige Menschen ihr Leben ließen, bedeuteten eine neue Stufe im kriegslüsternen Kapitalismus. Nachdem 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine neue Ära des Friedens von den Staatschefs verkündet wurde, hat man im Westen das alte Feindbild des angeblich "kommunistischen" Ostens aufgeben müssen. Seit dem 11. September 2001 aber haben die Herrschenden wieder ein neues Feindbild geschaffen, welches der kriegerischen Wirklichkeit seit 1989 zu entsprechen scheint: Der Krieg gegen den Terror. "Krieg gegen den Terror" ist ein äußerst dehnbarer Begriff und potenziell auf jeden imperialistischen Gegner anwendbar. Diese Ideologie entspricht dem Umstand, dass heute jeder gegen jeden kämpft - ganz gleich, ob wir hier von großen oder kleinen Imperialisten sprechen.
Ist solch ein terroristischer Gewaltakt wie der 11. September legitim? Ist der Krieg gegen den Terror gerechtfertigt? Gibt es so etwas wie einen gerechten Krieg? Seit Menschengedenken sucht die Menschheit nach Antworten. Besonders für die arbeitende Bevölkerung ist dieses Ringen um ein Verständnis elementar, um bewusst die Zukunft gestalten und verändern zu können. Auch die Kunst kann uns bei dieser Suche nach Antworten helfen. Die Anschläge des 11. September erschütterten auch den jungen New Yorker Autor Jonathan Safran Foer. Sein Roman "Extrem laut und unglaublich nah" ("Extremely Loud & Incredibly Close") verarbeitet das Unbegreifbare künstlerisch - und noch viel mehr.
Der Roman führt uns in die Welt des Oskar Schells, einem 9-jährigen New Yorker Jungen. Der 11. September ist für ihn "der schlimmste Tag" in seinem noch jungen Leben, der Tag nämlich, an dem sein Vater im World Trade Center starb. Zunächst ist er wie erstarrt und auf Grund dieser traumatischen Erfahrung unfähig, mit den Lebenden über seine Gefühle zu kommunizieren. Sein Blick richtet sich auf das Reich der Toten, in dem sich sein Vater nun befindet. Doch mit der Entdeckung eines Schlüssels und des Namens "Black" in einer Vase seines Vaters beginnt für ihn eine achtmonatige Odyssee durch New York, um das Rätsel dieses Schlüssels zu lösen. Der Schlüssel wird zur Metapher für seine kontinuierliche Auseinandersetzung mit seinem Kriegstrauma, für seine Suche nach dem Licht, d.h. nach dem Weg zurück ins Leben. Die Suche durch New York führt ihn zu vielen Menschen, und er erkennt, dass es ungeheuer viele einsame Menschen gibt. In ihm reift ein Gefühl der Verantwortung und Verbundenheit zu ihnen. Die Gespräche mit diesen vertrauten Unbekannten bilden eine Brücke zurück ins Leben, ein Mittel, das schließlich nicht nur Oskar hilft, mit dem furchtbaren Verlust fertig zu werden und enger mit seiner lebenden Mutter zusammenzuwachsen.
Der Roman hat viele parallele Ebenen, die keinesfalls zufällig gewählt sind. Es geht nicht nur um den kriegerischen Angriff am 11. September, sondern auch um die Nacht der Bombardierung Dresdens am Ende der II. Weltkriegs. Oskars Großeltern sind Kriegsopfer aus Dresden, die 1945 als Jugendliche alles verlieren: die Liebe, die Familie, das Zuhause. Schließlich verlieren beide im Grunde auch ihren Lebensmut, denn sie sind Teil dieser verlorenen Kriegsgeneration. Es gelingt ihnen bis zuletzt nicht, ihre traumatischen Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Während die Großmutter immer wieder meint, blind zu sein, wird der Großvater stumm. Sie lassen die Asche der furchtbaren Vergangenheit auf ihren Schultern türmen und finden nicht den Weg zurück in ein Leben, das eine Zukunft bietet. Interessanterweise wählt der jüdische Autor Foer hier die Deutschen Schells als Kriegsopfer (der in Dresden ansässige Vater der Großmutter versteckt zudem einen Juden). Bereits dadurch wird eine extrem wichtige Botschaft vermittelt. Die Erzählung macht deutlich, dass alle Kriege furchtbar und nicht zu rechtfertigen sind, die Bevölkerung stets der Hauptleidtragende ist. Wie der Großvater sagt: "Das Ende des Leids rechtfertigt in keiner Weise das Leid." Indem der Roman sich bedingungslos auf die Seite der Opfer des imperialistischen Krieges stellt, hinterfragt er unübersehbar das Märchen vom gerechten, menschenfreundlichen Krieg, welche immerzu von den kapitalistischen Mächten bemüht wird. Insbesondere die Rechtfertigung des Zweiten Weltkriegs von Seiten der antifaschistischen Alliierten wird in Frage gestellt. In einem Fernsehinterview beschrieb Foer seine Empörung über die Rechtfertigung des Massakers an Tausenden unschuldigen Zivilisten im World Trade Centre durch den islamischen Terrorismus mit dem Hinweis auf die Verbrechen des amerikanischen Staates. Als er vertieft über dieses Problem nachdachte, ging ihm dann plötzlich auf, dass auf genau die gleiche unmenschliche Logik von Seiten des US-Staates zurückgegriffen wird, um das Abschlachten der Zivilbevölkerung etwa in Dresden oder Hiroshima zu rechtfertigen. Indem Foer, der kein Politiker ist, für die Sache der Menschlichkeit Partei ergreift, gerät der Künstler in Widerspruch zur Logik des Kapitalismus und seiner Ideologie des Antifaschismus. Die renommierte New Yorker Review of Books warf in ihrer Besprechung dem Autor vor, die Opfer der Faschisten und die Opfer der Demokratie im 2. Weltkrieg auf eine Stufe zu stellen. Als ob die bedingungslose Solidarität mit den Opfern, und nicht die von allen kapitalistischen Mächten verübten Massaker das eigentliche Verbrechen wäre! In dem Roman geht es nicht um Schuld oder Nicht-Schuld. Er ist vielmehr ein Plädoyer für die Menschlichkeit, die von jedem imperialistischen Krieg mit Füßen getreten wird. Oskar, noch immer auf der Suche nach einer Erklärung für das Unfassbare, spielt den betroffenen MitschülerInnen und dem überforderten Lehrer in der Schule das Interview eines Überlebenden des US-Atombombenabwurfs über Hiroshima vor. Dieser berichtete, wie seine Tochter mit den Worten in seinen Armen starb: "Ich will nicht sterben." Der Vater der Sterbenden weiter: "So ist der Tod. Es macht keinen Unterschied, welche Uniformen die Soldaten anhaben. Es macht keinen Unterschied, wie gut die Waffen sind. Ich dachte, wenn alle sehen könnten, was ich gesehen habe, dann würden wir nie wieder Krieg haben."
Obgleich der Roman zu Recht viele historische Parallelen zieht, gibt es dennoch einen entscheidenden Unterschied zwischen den betroffenen Generationen. Während die Generation der Großeltern spürt, dass sie eine verlorene Generation ist, gehört der kleine Oskar einer neuen, ungeschlagenen Generation an. Die Großeltern, die in einer Zeit groß geworden sind, in der eine proletarische Revolution brutal niedergeschlagen wurde - wie in Deutschland - und damit der Weg zum Weltkrieg und zum Faschismus geebnet wurde, konnten sich nicht von den Traumata der Vergangenheit lösen. Dagegen ist die junge Generation von heute - erstens - ungeschlagen und - zweitens - willens, von der älteren Generation zu lernen. Bezeichnenderweise gelingt es Oskar nicht zuletzt mit Hilfe seiner Großeltern und eines alten Nachbarn, seine Trauer zu überwinden. Es gelingt ihm, seine Rolle als Sohn einzunehmen und das Positive, was sein Vater ihm vorgelebt hat, fortzuführen. Oskar ist in der Lage, auf die älteren Generationen zuzugehen und mit ihren über das Innerste seiner Gefühlswelt und über seine Ängste zu sprechen. Hier finden wir auf literarischer Ebene eine Fähigkeit verarbeitet, die wir auf gesellschaftlicher Ebene gerade erst in diesem Jahr auf wunderbare Weise in den Protesten der SchülerInnen und StudentInnen in Frankreich verwirklicht gesehen haben: die Einsicht und die Fähigkeit, von den Erfahrungen der Älteren zu lernen (anders als noch die 68er Generation).
So löst Oskar schließlich das Rätsel des Schlüssels. Zwar hatte der Schlüssel nichts mit seinem Vater direkt zu tun, aber auf der Suche nach dem Schloss, das zu diesem Schlüssel passt, offenbarte sich ihm, dass man nur gemeinsam, generationsübergreifend die Kraft und die Freude des oft schweren Lebens entwickeln kann. Wir finden: Nur mit dem Willen zum Leben, mit der Solidarität und Menschlichkeit kann die arbeitende Bevölkerung eine kommunistische Perspektive für die Menschheit ohne solch schreckliche Kriegsakte wie den 11. September 2001 oder die Bombardierung Dresdens entwickeln! Foers "Extremely Loud & Incredibly Close" ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit und gegen den imperialistischen Krieg. Die von Foer hochgehaltene Menschlichkeit kann in Wirklichkeit nur gegen die Logik des Kapitalismus und damit nur durch das revolutionäre Proletariat verteidigt werden. 11.9.2006 Lizzy