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Die Juli-Tage von 1917 sind einer der wichtigsten Momente nicht nur in der Russischen Revolution, sondern in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Im Verlauf von drei Tagen, vom 3. Juli bis zum 5. Juli, öffnete eine der mächtigsten Konfrontationen, die jemals zwischen Bourgeoisie und Proletariat stattgefunden hatten, den Weg zur Machtergreifung vier Monate später im Oktober 1917, auch wenn sie mit einer Niederlage für die Arbeiterklasse endete. Am 3. Juli erhoben sich die Arbeiter und Soldaten Petrograds massiv und spontan und riefen nach einer Übertragung aller Macht an die Arbeiterräte. Am 4. Juli belagerte eine bewaffnete Demonstration von einer halben Million Teilnehmern die Führung des Sowjets, um ihn dazu zu drängen, die Macht zu übernehmen, löste sich aber nach einem Appell der Bolschewiki am Abend wieder friedlich auf. Am 5.Juli nahmen konterrevolutionäre Truppen die russische Hauptstadt ein und begannen, die Bolschewiki zu verfolgen und die fortschrittlichsten Arbeiter zu unterdrücken. Aber durch die Vermeidung eines verfrühten Machtkampfes hielt das Proletariat seine revolutionären Kräfte intakt. Infolgedessen war die Arbeiterklasse imstande, alle Lehren aus diesen Ereignissen zu ziehen und vor allem den konterrevolutionären Charakter der bürgerlichen Demokratie und des neuen linken Flügels des Kapitals zu begreifen: der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die die Sache der Arbeiter und armen Bauern verrieten und zur Konterrevolution übergegangen waren. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Russischen Revolution war die Gefahr einer entscheidenden Niederlage des Proletariats so akut wie während jener dramatischen 72 Stunden. Zu keinem anderen Zeitpunkt erwies sich das tiefe Vertrauen der führenden Teile des Proletariats in seine Klassenpartei, seine kommunistische Avantgarde, als wichtiger.
80 Jahre später ist, angesichts der bürgerlichen Lügen über den „Tod des Kommunismus" und insbesondere ihrer Verunglimpfung der Russischen Revolution und der Bolschewiki, die Verteidigung der wahren Lehren der Juli-Tage und der gesamten proletarischen Revolution eine der Hauptpflichten der Revolutionäre. Folgt man den Lügen der Bourgeoisie, so war die Russische Revolution ein „Volks"kampf für die bürgerliche parlamentarische Republik gewesen, dem „freiesten Land in der Welt", bevor die Bolschewiki, indem sie das „demagogische" Schlagwort „Alle Macht den Räten" „erfanden", der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung durch einen „Putsch" ihre „barbarische Diktatur" aufzwangen. Doch wird selbst ein noch so kurzer objektiver Blick auf die Ereignisse vom Juli 1917 sonnenklar zeigen, daß die Bolschewiki sich auf der Seite der Arbeiterklasse befanden, daß es die bürgerliche Demokratie war, die sich auf der Seite der Barbarei, des Putschismus und der Diktatur einer dünnen Minderheit über die arbeitenden Menschen befand.
Eine zynische Provokation der Bourgeoisie und eine Falle für die Bolschewiki
Die Juli-Tage von 1917 waren von Anbeginn eine Provokation der Bourgeoisie mit dem Ziel der Enthauptung des Proletariats durch die Niederschlagung der Revolution in Petrograd und die Eliminierung der bolschewistischen Partei, ehe der revolutionäre Prozeß in Rußland in seiner Gesamtheit reif für die Machtergreifung durch die Arbeiter war.
Die revolutionäre Erhebung vom Februar 1917, die zur Ersetzung des Zaren durch eine „bürgerlich-demokratische" Provisorische Regierung und zur Etablierung der Arbeiterräte (Sowjets) als rivalisierendes, proletarisches Machtzentrum führte, war zuallererst das Produkt des Kampfes der Arbeiter gegen den 1914 begonnenen imperialistischen Weltkrieg. Doch die Provisorische Regierung schwor sich genauso wie die Mehrheitsparteien in den Sowjets, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, gegen den Willen des Proletariats auf die Fortsetzung des Krieges und auf das imperialistische Raubprogramm des russischen Kapitalismus ein. Auf diese Weise wurde nicht nur in Rußland, sondern auch in allen anderen Ländern, aus denen sich die Entente - die Koalition gegen Deutschland - zusammensetzte, dem Krieg, dem größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, eine neue pseudorevolutionäre Legitimität verliehen. Zwischen Februar und Juli 1917 wurden etliche Millionen Soldaten, unter ihnen die Blüte der internationalen Arbeiterklasse, getötet oder verwundet, um eine Frage zu klären: Welcher der kapitalistischen und imperialistischen Hauptgangster soll die Welt beherrschen? Nachdem viele russische Arbeiter anfangs auf die Lügen der neuen Führer, aus dem Munde angeblicher „Demokraten" und „Sozialisten", hereinfielen, wonach es notwendig sei, den Krieg fortzusetzen, „um einen gerechten Frieden ohne Annexionen ein für allemal zu erreichen", nahm das Proletariat ab Juni 1917 den revolutionären Kampf gegen das imperialistische Gemetzel mit verdoppelten Kräften wieder auf. Während der gigantischen Demonstration am 18. Juni in Petrograd errangen die internationalistischen Parolen der Bolschewiki zum ersten Mal die Oberhand. Zu Beginn des Juli endete die größte und blutigste Militäroffensive Rußlands seit dem „Triumph der Demokratie" in einem Fiasko; die deutsche Armee durchbrach die Front an mehreren Stellen. Dies war der kritischste Moment für den russischen Militarismus seit Beginn des „Großen Krieges". Aber auch wenn die Neuigkeiten vom Scheitern der Offensive die Hauptstadt bereits erreicht und die revolutionäre Flamme angefacht hatten, so war der Rest des gigantischen Landes noch nicht von ihnen erfaßt. Aus dieser verzweifelten Situation heraus wurde die Idee geboren, eine vorzeitige Revolte in Petrograd zu provozieren, um die dortigen Arbeiter und Bolschewiki zu vernichten und dann den Zusammenbruch der militärischen Offensive einer „Dolchstoßlegende" zuzuschreiben, wonach die Hauptstadt der Front in den Rücken gefallen sein soll.
Die objektive Situation war für solch einen Plan nicht ungünstig. Obgleich die Hauptbereiche der Arbeiter in Petrograd bereits zu den Bolschewiki übergegangen waren, befanden sich die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre in den Sowjets der Provinzen immer noch in der Mehrheit. Es herrschten in der Arbeiterklasse insgesamt, selbst in Petrograd, immer noch große Illusionen über die Fähigkeit der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, auf irgendeine Weise der Sache der Revolution zu dienen. Trotz der Radikalisierung der Soldaten, zumeist Bauern in Uniform, verhielt sich eine beträchtliche Anzahl von wichtigen Regimentern immer noch loyal zur Provisorischen Regierung. Die Kräfte der Konterrevolution waren, nach einer Phase der Desorientierung nach der „Februarrevolution", nun voll wiederhergestellt.. Und die Bourgeoisie hatte noch einen Trumpf in ihrem Ärmel: gefälschte Dokumente und Zeugenaussagen, die vorgaben, beweisen zu können, daß Lenin und die Bolschewiki bezahlte Agenten des deutschen Kaisers seien.
Dieser Plan stellte vor allem für die bolschewistische Partei eine Falle, ein Dilemma dar. Wenn sich die Partei an die Spitze eines zu frühen Aufstandes in der Hauptstadt stellte, würde sie sich selbst in den Augen des russischen Proletariats unglaubwürdig machen, indem sie als Repräsentantin einer unverantwortlichen, abenteuerlichen Politik und den rückständigen Bereichen sogar als Helfer des deutschen Imperialismus erschiene. Wenn sie jedoch die Massenbewegung verleugnete, würde sie sich auf gefährliche Weise von der Klasse isolieren, indem sie die Arbeiter ihrem Schicksal überließe. Die Bourgeoisie hoffte darauf, daß, wie auch die Partei entschied, es ihr zum Verhängnis werden würde.
Die konterrevolutionären Schwarzhundertschaften: antisemitischer, von den „westlichen Demokratien" gedeckter Mob
Waren die antibolschewistischen Kräfte jene mutigen Demokraten und Verteidiger der „Völkerfreiheit", als die sie von der bürgerlichen Propaganda dargestellt wurden? Angeführt wurden sie von den Kadetten, der Partei der Großindustrie und der großen Gutsherren; vom Offizierskomitee, das 100’000 Kommandierende repräsentierte und einen Militärputsch vorbereitete; vom Sowjet der konterrevolutionären Truppen Kossacks; von der Geheimpolizei und vom Mob der antisemitischen „Schwarzhundertschaften". 'Diese Kreise zetteln Pogrome an, schießen auf Demonstranten usw.' wie Lenin schrieb.
Die Juli-Provokation war jedoch ein Schlag gegen die heranreifende Weltrevolution, der nicht nur von der russischen, sondern auch von der Weltbourgeoisie in Gestalt der Regierungen der russischen Kriegsverbündeten ausgeführt worden war. Wir erkennen in diesem heimtückischen Versuch, eine unreife Revolution früh im Blut zu ertränken, die Handschrift der alten demokratischen Bourgeoisie: die französische Bourgeoisie mit ihrer langen und blutigen Tradition solcher Provokationen (1791, 1848, 1870) und die britische Bourgeoisie mit ihrer unvergleichlichen politischen Erfahrung und Intelligenz. In der Tat waren die westlichen Verbündeten Rußlands angesichts der wachsenden Schwierigkeiten der russischen Bourgeoisie, die Revolution wirksam zu bekämpfen und die Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten, bereits zur Hauptkraft nicht nur bei der Finanzierung der russischen Front, sondern auch bei der Beratung und Unterstützung der Konterrevolution geworden. Das provisorische Komitee der Staatsduma (des Parlamentes) „bot legale Deckung für konterrevolutionäre Arbeit, die von Banken und Gesandtschaften der Entente weitestgehend finanziert wurde", wie Trotzki erinnerte. „Petrograd wimmelte von geheimen und halbgeheimen Offiziersorganisationen, die hohe Gönnerschaft und freigiebige Unterstützung genossen. In einer Geheiminformation, die der Menschewik Liber fast einen Monat vor den Julitagen erteilte, war erwähnt, daß Verschwörer-Offiziere einen besonderen Eingang zu Buchanan hatten. Konnten denn die Ententediplomaten etwa nicht besorgt sein um die schnellste Schaffung einer starken Macht?". Es waren nicht die Bolschewiki, sondern die Bourgeoisie, die sich mit fremden Regierungen gegen das russische Proletariat verbündete.
Die politischen Provokationen einer blutrünstigen Bourgeoisie
Zu Beginn des Juli reichten drei von der Bourgeoisie arrangierte Zwischenfälle aus, um eine Revolte in der Hauptstadt auszulösen.
1. Die Partei der Kadetten zog ihre vier Minister aus der Provisorischen Regierung zurück. Da die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre bis dahin ihre Weigerung gegenüber „Alle Macht den Räten" mit der Notwendigkeit gerechtfertigt hatten, außerhalb der Arbeiterräte mit den Kadetten als Repräsentanten der „demokratischen Bourgeoisie" zusammenzuarbeiten, zog diese Brüskierung der Koalition nach sich, daß unter Arbeitern und Soldaten erneut die Forderung nach sofortiger Sowjetmacht laut wurde. „Anzunehmen, die Kadetten hätten jene Wirkung, die ihr Akt offener Sabotage gegen die Sowjets hervorrufen würde, nicht vorauszusehen vermocht, hieße Miljukow entschieden unterschätzen. Der Führer des Liberalismus war sichtlich bestrebt, die Versöhnler in eine zugespitzte Situation hineinzutreiben, aus der nur das Bajonett einen Ausweg schaffen könnte: in jenen Tagen glaubte er fest, ein kühner Aderlaß würde die Lage retten".
2. Die Demütigung der Provisorischen Regierung durch die Entente, die darauf abzielte, sie dazu zu zwingen, die Revolution mit Waffen zu konfrontieren oder von ihnen fallen gelassen zu werden.
„Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den Händen der Gesandtschaften und Regierungen der Entente. Zu der in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde 'vergessen', den russischen Gesandten einzuladen. (...) Die Verhöhnung des Gesandten der Provisorischen Regierung und der demonstrative Austritt der Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten das gleiche Ziel: die Versöhnler niederzuducken."
Immer noch im Beitrittsprozeß zur Bourgeoisie begriffen, unerfahren in ihrer Rolle, voller Zweifel und kleinbürgerlicher Unschlüssigkeiten und immer noch mit einer kleinen proletarisch-internationalistischen Opposition in ihren Reihen, wurden die Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre nicht in das konterrevolutionäre Komplott eingeweiht, sondern in die Rolle manövriert, die ihnen die bürgerlichen Führer zugedacht hatten.
3. Die Drohung, kampfstarke revolutionäre Regimenter sofort von der Hauptstadt an die Front zu schicken. Tatsächlich wurde die Explosion des Klassenkampfes infolge dieser Provokationen nicht von den Arbeitern, sondern von den Soldaten initiiert, und politisch nicht von den Bolschewiki, sondern von den Anarchisten angestiftet.
„Die Soldaten waren überhaupt ungeduldiger als die Arbeiter: sowohl, weil ihnen unmittelbare Entsendung an die Front drohte, als auch, weil sie Erwägungen politischer Strategie viel schwerer zugänglich waren. Außerdem hatte jeder in der Hand seine Flinte, und nach dem Februar neigte der Soldat dazu, deren selbständige Macht zu überschätzen."
Die Soldaten versuchten sofort, die Arbeiter für ihre Aktion zu gewinnen. In den Putilow-Werken, der größten Arbeiterkonzentration Rußlands, gelang ihnen der entscheidender Durchbruch. „Etwa zehntausend Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor. Unter Beifallsrufen berichteten die Maschinengewehrschützen, sie hätten den Befehl erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, 'nicht an die deutsche Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, sondern gegen die eigenen Ministerkapitalisten'. Die Stimmung stieg. 'Gehen wir, gehen wir!' schrien die Arbeiter."
Innerhalb von Stunden erhob sich das Proletariat der ganzen Stadt, bewaffnete sich selbst und sammelte sich um den Schlachtruf „Alle Macht den Räten", den Schlachtruf der Massen.
Die Bolschewiki vermeiden die Falle
Am Nachmittag des 3. Juli kamen Delegierte der Maschinengewehrregimenter an, um die Unterstützung der Stadtkonferenz der Bolschewiki zu erhalten, und mußten schockiert zur Kenntnis nehmen, daß die Partei sich gegen die Aktion aussprach. Die von der Partei geäußerten Argumente - daß die Bourgeoisie Petrograd provozieren wolle, um sie so für das Fiasko an der Front verantwortlich zu machen, daß der Zeitpunkt für einen bewaffneten Aufstand nicht reif sei und daß der beste Zeitpunkt für eine direkte Hauptaktion der sei, wenn der Zusammenbruch an der Front allen bekannt sei - zeigen, daß die Bolschewiki sofort die Bedeutung und Gefahr der Ereignisse begriffen haben. Tatsächlich hatten die Bolschewiki bereits seit der Demonstration vom 18. Juni öffentlich vor einer verfrühten Aktion gewarnt.
Bürgerliche Historiker haben die bemerkenswerte politische Intelligenz der Partei zu diesem Zeitpunkt anerkannt. In der Tat war die bolschewistische Partei von der Überzeugung durchdrungen, daß es unumgänglich ist, die Natur, Strategie und die Taktiken des Klassenfeindes zu studieren, um in der Lage zu sein, jederzeit richtig zu antworten und zu intervenieren. Sie war durchtränkt vom marxistischen Verständnis, daß die revolutionäre Machtergreifung eine Form der Kunst oder der Wissenschaft ist, wo eine Erhebung zum ungeeigneten Zeitpunkt oder das Versagen, die Macht im richtigen Moment zu ergreifen, gleichermaßen fatal sind.
Aber so korrekt die Analyse der Partei auch war, es dabei zu belassen hätte bedeutet, in die Falle der Bourgeoisie zu tappen. Der erste entscheidende Wendepunkt in den Juli-Tagen kam in derselben Nacht, als das Zentralkomitee und das Petrograder Parteikomitee entschieden, die Bewegung zu legitimieren und sich selbst an ihre Spitze zu stellen, um wenigstens ihren „friedlichen und organisierten Charakter" zu wahren. Im Gegensatz zu den spontanen und chaotischen Ereignissen in den Tagen zuvor, verrieten die gigantischen Demonstrationen am 4. Juli die „ordnende Hand der Partei". Die Bolschewiki wußten, daß das Ziel, das die Massen sich selbst gestellt hatten, nämlich die Führung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre dazu zu zwingen, im Namen der Arbeiterräte die Macht zu übernehmen, unmöglich war. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die heute von der Bourgeoisie als die wirklichen Verteidiger der Sowjetdemokratie dargestellt werden, waren bereits dabei, sich in die Konterrevolution einzugliedern und warteten auf eine Gelegenheit, sich die Arbeiterräte vorzuknöpfen. Das Dilemma der Situation, das noch immer nicht ausreichende Bewußtsein der Massen des Proletariats, wurde in der berühmten Geschichte jenes aufgebrachten Arbeiters deutlich, der mit seiner Faust einem der „revolutionären" Minister einen Schlag ans Kinn versetzte und dabei brüllte: „Übernimm die Macht, Hurensohn, wenn wir sie dir geben." In Wahrheit spielten die Minister auf Zeit, bis loyal zur Regierung stehende Regimenter eintrafen.
Mittlerweile hatten die Arbeiter selbst die Schwierigkeiten realisiert, alle Macht den Sowjets zu übergeben, solange die Verräter und Kompromißler einen bestimmenden Einfluß in ihnen hatten. Weil die Klasse noch nicht die Methode gefunden hatte, um die Sowjets von innen umzuwandeln, versuchte sie vergeblich, ihnen ihren bewaffneten Willen von außen aufzuzwingen. Der zweite entscheidende Wendepunkt kam, am Ende eines Tages voller Massendemonstrationen, mit der Ansprache der bolschewistischen Sprecher an Zehntausende von Arbeitern der Putilow- und anderer Werke, die von Sinowjew mit einem Scherz zur Auflockerung der Spannung begann und die mit dem Appell, friedlich nach Hause zurückzukehren, endete - ein Appell, dem die Arbeiter folgten. Die Zeit der Revolution war noch nicht gekommen, aber sie würde kommen. Nie wurde die Wahrheit von Lenins altem Spruch dramatischer bewiesen: Geduld und Humor sind zwei unersetzliche Eigenschaften der Revolutionäre.
Die Fähigkeit der Bolschewiki, das Proletariat um die Falle der Bourgeoisie zu führen, wurde nicht nur durch ihre politische Intelligenz ermöglicht. Entscheidend war das tiefe Vertrauen der Partei in das Proletariat und in den Marxismus, was ihr erlaubte, sich vollkommen auf den Boden der Kraft und der Methode zu stellen, welche die Zukunft der Menschheit darstellen, und auf diese Weise die Ungeduld des Kleinbürgertums zu vermeiden. Ebenfalls entscheidend war das tiefe Vertrauen, das das russische Proletariat seiner Klassenpartei entgegenbrachte, was der Partei erlaubte, mit der Klasse zu bleiben und sie sogar zu führen, auch wenn beide Seiten wußten, daß sie weder ihre unmittelbaren Ziele noch ihre Illusionen teilte. Die Bourgeoisie scheiterte in ihrem Vorhaben, einen Keil zwischen Partei und Klasse zu treiben, einen Keil, der die sichere Niederlage der Russischen Revolution bedeutet hätte.
„Es war unbedingte Pflicht der proletarischen Partei, bei den Massen zu bleiben und sich zu bemühen, den berechtigten Aktionen dieser Massen einen möglichst friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen, nicht abseits zu stehen, nicht wie Pilatus die Hände in Unschuld zu waschen aus dem pedantischen Grunde, daß die Masse nicht bis zum letzten Mann organisiert sei und daß in ihrer Bewegung Exzesse vorkämen!"
Die Pogrome und Verleumdungen der Konterrevolution
Früh am Morgen des 5. Juli erreichten Regierungstruppen die Hauptstadt. Das Werk der Treibjagd auf die Bolschewiki, des Entzuges ihrer geringen Publikationsquellen, der Entwaffnung und Terrorisierung der Arbeiter, der Anzettelung von Judenpogromen begann. Die Retter der Zivilisation vor der „bolschewistischen Barbarei" nahmen dabei hauptsächlich zu zwei Provokationen Zuflucht, um Truppen gegen die Arbeiter zu mobilisieren.
1. Die Lügenkampagane, wonach die Bolschewiki deutsche Agenten gewesen seien. „Die Soldaten saßen düster in den Kasernen, warteten. Erst in der zweiten Hälfte des 4. Juli entdeckten die Vorgesetzten ein stark wirkendes Mittel: man zeigte den Preobraschenskern Dokumente, die klar wie zwei mal zwei nachwiesen, daß Lenin - ein deutscher Spion sei. Das wirkte. Die Kunde lieft durch die Regimenter (...) In der Stimmung der neutralen Bataillone vollzog sich ein Umschwung." Insbesondere ein politischer Parasit namens Alexinski, ein abtrünniger Bolschewik, der einst mitgeholfen hatte, eine „ultralinke" Opposition gegen Lenin zu bilden, aber, nachdem er mit seinen Ambitionen gescheitert war, zu einem erklärten Feind der Arbeiterparteien geworden war, war ein Instrument in dieser Kampagne. Infolgedessen waren Lenin und andere bolschewistische Führer gezwungen, sich zu verstecken, während Trotzki und andere inhaftiert wurden. „Die Internationalisten hinter Schloß und Riegel halten - das ist es, was die Herren Kerenski und Co. brauchen", wie Lenin erklärte.
Die Bourgeoisie hat sich nicht verändert. 80 Jahre danach führt sie eine ähnliche Kampagne mit derselben „Logik" gegen die Linkskommunisten. Damals: da die Bolschewiki sich weigerten, die Entente zu unterstützen, mußten sie für die deutsche Seite sein! Heute: da sich die Linkskommunisten weigerten, das „antifaschistische" imperialistische Lager im II. Weltkrieg zu unterstützen, müssen sie und ihre heutigen Nachfolger für die Nazis sein! „Demokratische" staatliche Kampagnen bereiten die künftigen Pogrome vor.
Revolutionäre von heute, die oft die Bedeutung solcher Kampagnen gegen sie unterschätzen, haben noch viel aus dem Beispiel der Bolschewiki nach den Juli-Tagen zu lernen, die Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatten, um ihren Ruf innerhalb der Arbeiterklasse zu verteidigen. Später nannte Trotzki den Juli 1917 „den Monat der größten Verleumdungen in der Geschichte der Menschheit", aber selbst dies verblaßt gegenüber der gegenwärtigen Verleumdung, wonach Kommunismus gleich Stalinismus sei.
Die staatliche Ermutigung nicht-proletarischer und anti-proletarischer Elemente, die sich gern als Revolutionäre darstellen, ist ein anderer Weg, den Ruf der Revolutionäre anzugreifen, so alt wie die Methode der öffentlichen Verunglimpfung und normalerweise in Kombination mit ihr benutzt.
„Provokation hat zweifellos eine gewisse Rolle gespielt bei den Ereignissen an der Front, wie auch in den Straßen Petrograds. Nach der Februarumwälzung hatte die Regierung in die aktive Armee eine große Anzahl ehemaliger Gendarmen und Schutzleute geworfen. Keiner von ihnen wollte natürlich Krieg führen. Sie fürchteten die russischen Soldaten mehr als die Deutschen. Um ihre Vergangenheit vergessen zu machen, imitierten sie die radikalsten Stimmungen der Armee, hetzten Soldaten gegen Offiziere auf, schrien am lautesten gegen Disziplin und Offensive und gaben sich nicht selten direkt für Bolschewiki aus. Indem sie die natürlichen Verbindungen von Komplizen zueinander unterhielten, bildeten sie einen eigenartigen Orden der Feigheit und Niedertracht. Durch sie drangen in die Truppen und verbreiteten sich schnell die phantastischsten Gerüchte, in denen Ultrarevolutionarismus sich mit Schwarzhunderttum vermengte. In kritischen Stunden gaben diese Subjekte als erste Paniksignale. Auf die zersetzende Arbeit der Polizisten und Gendarmen verwies die Presse mehr als einmal. Nicht weniger häufig sind solcher Art Hinweise in den Geheimdokumenten der Armee selbst. Doch das höhere Kommando verharrte in Schweigen und zog es vor, die Schwarzhundert-Provokateure mit den Bolschewiki zu identifizieren."
2. Erst feuerten Heckenschützen auf die in der Hauptstadt ankommenden Truppen, dann wurde verbreitet, die Bolschewiki steckten hinter diesen Schießereien.
„Der berechnete Wahnwitz dieser Schießerei erregte die Arbeiter tief. Es war klar, daß erfahrene Provokateure die Soldaten mit Blei empfingen, zwecks antibolschewistischer Impfung. Die Arbeiter boten alles auf, dies den ankommenden Soldaten zu erklären, doch man ließ sie an diese nicht heran: zum erstenmal seit den Februartagen stellte sich zwischen Arbeiter und Soldat der Junker oder Offizier."
Dazu gezwungen, nach den Juli-Tagen in der Halb-Illegalität zu arbeiten, mußten die Bolschewiki auch gegen demokratische Illusionen jener in ihren Reihen kämpfen, die wünschten, daß ihre Führer sich dem Prozeß vor einem konterrevolutionären Gericht stellen, um auf die Beschuldigung zu antworten, sie seien deutsche Agenten. Als er diese andere Falle, die gegen die Partei aufgestellt war, erkannte, schrieb Lenin:
„ Tätig ist eine Militärdiktatur. Da ist es lächerlich, von einem 'Gericht' auch nur zu sprechen. Es handelt sich gar nicht um ein 'Gericht', sondern um eine Episode des Bürerkriegs."
Daß die Partei die Periode der Repression überlebte, die den Juli-Tagen folgte, lag nicht zuletzt an ihrer Tradition einer ständigen Wachsamkeit bei der Verteidigung der Organisation gegen alle Versuche des Staates, sie zu zerstören. Es sollte zum Beispiel erwähnt werden, daß der Polizeispitzel Malinowski, dem es vor dem Krieg gelang, Mitglied des Zentralkomitees der Partei zu werden, direkt verantwortlich für die Sicherheit der Organisation, verantwortlicher Mann für das Untertauchen Lenins, Sinowjews etc. geworden wäre, wäre er nicht schon vorher durch die Wachsamkeit der Organisation enttarnt worden (trotz der Blindheit Lenins selbst!). Ohne solche Wachsamkeit wäre das Resultat höchstwahrscheinlich die Liquidierung der erfahrensten Parteiführer gewesen. Im Januar/Februar 1919, als Luxemburg, Liebknecht, Jogiches und andere erfahrene Führer der jungen KPD ermordet wurden, schien es, daß die Behörden einen Fingerzeig von einem „hochrangigen" Polizeispitzel innerhalb der Partei erhalten hatten.
Bilanz der Juli-Tage
Die Juli-Tage enthüllten einmal mehr die gigantische revolutionäre Energie des Proletariats, seinen Kampf gegen den Schwindel der bürgerlichen Demokratie und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse allein ein Faktor gegen den imperialistischen Krieg im Angesicht der kapitalistischen Dekadenz ist. Nicht „Demokratie oder Diktatur", sondern die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur der Bourgeoisie, Sozialismus oder Barbarei, das ist die Frage, der die Menschheit gegenübersteht, und die die Juli-Tage aufstellte, ohne selbst schon imstande zu sein, darauf zu antworten. Aber was die Juli-Tage vor allem veranschaulichten, das ist die nicht ersetzbare Rolle der proletarischen Klassenpartei. Kein Wunder, daß die Bourgeoisie heute den 80. Jahrestag der Russischen Revolution mit neuen Manövern und Verleumdungen gegen das zeitgenössische revolutionäre Milieu „feiert".
Der Juli 1917 zeigte auch, daß die Überwindung der Illusionen über die abtrünnigen Arbeiterparteien, der Linken des Kapitals, lebenswichtig ist, wenn das Proletariat die Macht übernehmen soll. Dies war die hauptsächliche Illusion der Klasse während der Juli-Tage. Aber diese Erfahrung selbst war entscheidend. Die Juli-Tage klärten endgültig nicht nur für die Arbeiterklasse und die Bolschewiki, sondern selbst für die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, daß die Organisationen der letztgenannten unwiderruflich zur Konterrevolution übergetreten waren. Wie Lenin Anfang September schrieb:
„In Petrograd war man damals nicht einmal physisch in der Lage, die Macht zu ergreifen, und hätte man sie physisch ergriffen, so hätte man sie politisch nicht halten können, da Zereteli und Co. damals noch nicht bis zur Unterstützung des Henkertums hinabgesunken waren. Darum wäre damals, am 3. bis 5. Juli 1917 in Petrograd, die Losung der Machtergreifung falsch gewesen. Damals fehlte sogar bei den Bolschewiki noch die bewußte Entschlossenheit - das konnte auch nicht anders sein -, Zereteli und Co. als Konterrevolutionäre zu behandeln. Damals konnten weder die Soldaten noch die Arbeiter die Erfahrung besitzen, die ihnen der Monat Juli gebracht hat." 15
Bereits Mitte Juli hatte Lenin diese Lehre klar gezogen:
„Nach dem 4. Juli hat sich die konterrevolutionäre Bourgeoisie, Hand in Hand mit den Monarchisten und Schwarzhunderten, die kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki einverleibt, nachdem sie diese zum Teil eingeschüchtert hatte, und sie hat die wirkliche Staatsmacht in die Hände der Cavaignac gelegt, in die Hände einer Militärclique, die die Gehorsamsverweigerer an der Front erschießt und die Bolschewiki in Petrograd niederschlägt."16
Die Schlüssellehre des Juli war jedoch die politische Führung der Partei. Die Bourgeoisie hat häufig die Taktik verwendet, vorzeitige Konfrontationen zu provozieren. Ob 1848 und 1870 in Frankreich oder 1919 und 1921 in Deutschland, in jedem Fall war das Ergebnis die blutige Repression gegen das Proletariats gewesen. Wenn die Russische Revolution das einzige größere Beispiel ist, wo die Arbeiterklasse in der Lage war, solch eine Falle und eine blutige Niederlage zu vermeiden, dann vor allen Dingen deshalb, weil die bolschewistische Klassenpartei imstande war, ihre entscheidende Rolle als Avantgarde zu erfüllen. Indem sie die Klasse von solch einer Niederlage fernhielten, bewahrten die Bolschewiki die tiefen revolutionären Lehren aus Engels' berühmter Einführung zu Marxens „Der Klassenkampf in Frankreich" von 1895 vor ihrer Pervertierung durch den Opportunismus, besonders seine Warnung:
„Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris." 17
Trotzki faßt die Bilanz der Handlungsweise der Partei wie folgt zusammen:
„ Hätte die bolschewistische Partei sich auf der Einschätzung der Julibewegung als einer 'verfrühten' versteift, den Massen den Rücken gekehrt, der h albe Aufstand wäre unvermeidlich unter die zersplitterte und uneinige Leitung von Anarchisten, Abenteurern, zufälligen Exponenten der Massenempörung geraten und in fruchtlosen Konvulsionen verblutet. Aber auch umgekehrt: Hätte die Partei, sich an die Spitze der Maschinengewehrschützen und der Putilower stellend, auf ihre Gesamteinschätzung der Lage verzichtet und den Weg entscheidender Kämpfe beschritten, der Aufstand hätte zweifellos kühnen Schwung genommen, und die Arbeiter und Soldaten würden unter der Leitung der Bolschewiki die Macht erobert haben, aber nur, um den Zusammenbruch der Revolution vorzubereiten. Die Frage der Macht im nationalen Maßstab wäre, im Gegensatz zum Februar, durch einen Sieg in Petrograd nicht entschieden worden. Die Provinz hätte mit der Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Front die Umwälzung nicht begriffen und nicht akzeptiert. Eisenbahn und Telegraph hätten den Versöhnlern gegen die Bolschewiki gedient. Kerenski und das Hauptquartier eine Regierung der Front und Provinz gebildet. Petrograd wäre blockiert worden. In seinen Mauern hätte Zersetzung Platz gegriffen. Der Regierung wäre es unmöglich gewesen, größere Soldatenmassen gegen Petrograd zu werfen. Der Aufständ hätte unter solchen Bedingungen mit einer Tragödie der Petrograder Kommune geendet.
An der Juli-Kreuzung der historischen Wege hat nur die Einmischung der Partei der Bolschewiki beide Varianten der schicksalvollen Gefahr verhindert: sowohl die im Geiste der Junitage von 1848 wie die im Geiste der Pariser Kommune von 1871. Dank der Tatsache, daß die Partei sich kühn an die Spitze der Bewegung stellte, erhielt sie die Möglichkeit, die Massen in dem Moment anzuhalten, wo die Demonstration sich in ein bewaffnetes Kräftemessen zu verwandeln begann. Der Schlag, der im Juli den Massen und der Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheidender Schlag (...). Die Arbeiterklasse ging aus der Prüfung weder enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfkader unversehrt erhalten, und diese Kader hatten vieles gelernt." 18
Die Geschichte gab Lenin recht, als er schrieb:
„Eine neue Phase beginnt. Der Sieg der Konterrevolution löst bei den Massen Enttäuschung über die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki aus und macht den Weg frei für den Übergang der Massen zur Politik der Unterstützung des revolutionären Proletariats." 19
Kr.