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WIEDERVERÖFFENTLICHUNG
Wie kann man das, was in der Welt vor sich geht, analysieren und begreifen? Ist die Methode, die uns die bürgerliche "Wissenschaft" lehrt, dazu hilfreich? Gehört der Marxismus auf den Misthaufen der Geschichte, wie uns eingeflößt werden soll? In unserer Zeitung wollen wir unsere Leser mit den Grundbegriffen des Marxismus und der Arbeiterbewegung vertraut machen, um aufzuzeigen, daß sie ein unabdingbares Instrument für die Analyse der Welt bleiben. Nachfolgend bringen wir einen Text in unveränderter Form, der 1909 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, und der unserer Meinung nach einen wertvollen Beitrag zum Begreifen der Geschichte liefert.
WAS IST DER HISTORISCHE MATERIALISMUS?
von Hermann Gorter
Für jeden, der das gesellschaftliche Leben um sich herum beobachtet, ist es klar, daß die Mitglieder der Gesellschaft in bestimmten Verhältnissen zueinander leben. Gesellschaftlich sind sie zu einander nicht gleich, sondern sie stehen auf höherer und niederer Stufe und in Gruppen und Klassen einander gegenüber. Der oberflächliche Zuschauer könnte meinen, daß diese Verhältnisse nur Eigentumsverhältnisse seien: die einen besitzen Grund und Boden, die anderen Fabriken oder Produktionsmittel oder zum Verkauf bestimmte Waren, andere besitzen nichts. Der oberflächliche Zuschauer könnte auch meinen, daß der Unterschied hauptsächlich ein politischer sei; einige Gruppen verfügen über die Staatsgewalt, andere haben darauf keinen oder fast keinen Einfluß. Wer aber tiefer blickt, bemerkt, daß hinter den Eigentums- und politischen Verhältnissen Produktionsverhältnisse stecken, das heißt, Verhältnisse, worin die Menschen zueinander stehen beim Produzieren dessen, was die Gesellschaft braucht.
Arbeiter, Unternehmer, Reeder, Rentiers, Großgrundbesitzer, Pächter, Großhändler und Krämer, sie sind es, was sie sind, durch den Platz, den sie im Produktionsprozeß, in der Bearbeitung und der Zirkulation der Produkte einnehmen. Dieser Unterschied ist noch tiefer als der, daß der eine Geld hat oder der andere keins. Die Verarbeitung der Naturschätze ist ja die Grundlage der Gesellschaft. Wir stehen zueinander in Arbeits-, in Produktionsverhältnissen.
Worauf stützen sich nun diese Arbeitsverhältnisse? Schweben die Menschen als Kapitalisten und Arbeiter, Großgrundbesitzer, Pächter und Tagelöhner, und wie all die anderen Arten von Mitgliedern der Gesellschaft sonst noch heißen mögen, nur so in der Luft? Nein, sie stützen sich auf die Technik, auf die Werkzeuge, womit sie in der Erde, in der Natur arbeiten. Die Industriellen und die Proletarier stützen sich auf die Maschine, sind von der Maschine abhängig. Wenn es keine Maschinen gäbe, so gäbe es auch keine Industriellen und keine Proletarier, jedenfalls nicht solche, wie jetzt. Der einfache Webstuhl erzeugte die Arbeit im Hause durch die eigene Familie, der zugesetzte hölzerne Webstuhl erzeugte eine Gesellschaft mit kleinen Meistern und Gesellen, die große durch Dampf oder Elektrizität getriebene eiserne Webmaschine eine Gesellschaft mit Großindustriellen, Aktionären, Direktoren, Bankiers und Lohnarbeitern. Die Produktionsverhältnisse schweben nicht wie Rauch - oder Dunststreifen in der Luft, sie bilden feste Rahmen, worin die Menschen gefaßt sind. Der Produktionsprozeß ist ein materieller Prozeß, die Werkzeuge sind wie die Eck- und Stützpunkte der Rahmen, worin wir stehen.
Die Technik, die Werkzeuge, die Produktivkräfte sind der Unterbau der Gesellschaft, die eigentliche Grundlage, worauf sich der ganze riesenhafte und so verwickelte Organismus der Gesellschaft erhebt. Die nämlichen Menschen jedoch, die ihre gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihrer materiellen Produktionsweise bilden, bilden auch nach diesen Verhältnissen ihre Ideen, ihre Vorstellungen, ihre Anschauungen, ihre Grundsätze. Die Kapitalisten, die Arbeiter und die anderen Klassen, die durch die Technik der Gesellschaft, worin sie leben, gezwungen werden, in bestimmten Verhältnissen- als Meister oder Knecht, Eigentümer und Besitzloser, Grundbesitzer, Pächter, Tagelöhner - zueinander stehen die nämlichen Kapitalisten und Arbeiter usw. denken auch als Kapitalisten, Arbeiter usw. Sie bilden ihre Ideen, ihre Vorstellungen nicht als abstrakte Wesen, sondern als die sehr konkreten, wirklichen lebendigen Menschen, die sie sind, als gesellschaftliche, in einer bestimmten Gesellschaft lebende Menschen. Also nicht nur unsere materiellen Verhältnisse hängen von der Technik ab, stützen sich auf die Arbeiter, auf die Produktivkräfte, sondern da wir innerhalb unserer materiellen Verhältnisse und unter diesen Verhältnissen denken, hängen auch unsere Gedanken unmittelbar von diesen Verhältnissen und also mittelbar von den Produktivkräften ab.
Das moderne gesellschaftliche Sein des modernen Proletariers ist von der Maschine geschaffen worden. Seine gesellschaftlichen Gedanken, die dem Verhältnis entspringen, worin er als Proletarier steht, stützen sich also mittelbar auf das moderne Maschinenwesen, hängen direkt davon ab. Und so ist es mit allen Klassen der Gesellschaft. Denn die Verhältnisse, worin einzelne Menschen zueinander stehen, gelten nicht für sie allein. Gesellschaftlich steht der Mensch nicht in einer besonderen, nur ihm eigenen Beziehung zu anderen; er hat viele seinesgleichen, die in genau demselben Verhältnis zu anderen stehen. Ein Arbeiter- um bei diesem Beispiele zu bleiben - steht nicht allein als Lohnarbeiter anderen Menschen gegenüber, er ist einer von vielen, er ist Mitglieder einer Klasse von Millionen, die sich als Lohnarbeiter in der nämlichen Lage befinden wie er. Und so ist es mit jedem Menschen in der zivilisierten Welt. Jeder gehört zu einer Gruppe, einer Klasse, deren Mitglieder sich zum Produktionsprozeß in der nämlichen Weise verhalten. Es ist also nicht nur wahr, daß ein Arbeiter, ein Kapitalist, ein Bauer usw. gesellschaftlich so denken wird, wie die Arbeitsverhältnisse ihn denken machen, sondern seine Anschauungen, seine Ideen, seine Vorstellungen werden in allgemeinen Zügen übereinstimmen mit denen von Hunderttausenden anderer, die sich in derselben Lage wie er befinden. Es gibt ein Klassendenken, wie es auch eine Klassenstellung im Arbeitsprozeß gibt.
Die Form, worin die Arbeitsverhältnisse der verschiedenen Klassen, der Kapitalisten, der Unternehmer, der Arbeiter usw. ans Licht treten, ist in der kapitalistischen und im allgemeinen in der in Klassen gespaltenen Gesellschaft zugleich ein Eigentumsverhältnis. Kapitalisten, Kaufleute, Lohnarbeiter, Bauern habe nicht nur in der Produktion eine ihnen eigentümliche Stellung inne, sondern auch in dem Besitz, in dem Eigentum. Der dividendeneinstreichende Aktionär spielt im Produktionsprozeß nicht nur die Rolle des Geldleihers und des Schmarotzers, sondern er ist auch Miteigentümer der Unternehmung, der Produktionsmittel, des Grundstücks, der Werkzeuge, der Rohstoffe, der Produkte. Der Kaufmann ist nicht nur Austauscher, Zwischenperson, sondern auch Besitzer der Kaufwaren und des Handelsgewinns. Der Arbeiter ist nicht nur der Verfertiger von Gütern, sondern auch Besitzer seiner jedesmal von ihm verkauften Arbeitskraft und des dafür erhaltenen Preises. Mit anderen Worten, Arbeitsverhältnisse sind in einer Gesellschaft, die in Klassen geteilt ist, zugleich Eigentumsverhältnisse.
Nicht immer war das so. In der primitiven kommunistischen Gesellschaft waren Grund und Boden, das gemeinschaftlich gebaute Hause, die Viehherden, kurz, die hauptsächlichsten Produktionsmittel, gemeinschaftliches Eigentum. Man verrichtete die hauptsächlichsten gesellschaftlichen Arbeiten zusammen; man war, abgesehen von dem Unterschied in Geschlecht und Alter, im Produktionsprozeß einander gleich, und im Eigentum gab es keinen oder nur einen geringen Unterschied. Nachdem aber die Arbeitsteilung so groß geworden war, daß besondere Berufsarten entstanden, und nachdem durch bessere Technik und Arbeitsteilung ein Überschuß über das für das Leben direkt Notwendige produziert wurde, wußten einige durch Wissen oder Streitbarkeit hervorragende Berufe, wie Priester oder Krieger, sich diesen Überschuß und schließlich auch die Produktionsmittel anzueignen. So sind die Klassen entstanden und ist das Privateigentum die Form geworden, worin die Arbeitsverhältnisse ans Licht treten.
Durch die Entwicklung der Technik und durch die Teilung der Arbeit sind also die Klassen entstanden, Klassenverhältnisse und Eigentumsverhältnisse beruhen auf der Arbeit. Durch die Entwicklung der Technik, die einige Berufe in den Stand setzte, sich der Produktionsmittel zu bemächtigen, entstanden Besitzende und Besitzlose und wurde die große Menge des Volkes zu Sklaven, Leibeigenen, Lohnarbeitern. Und der Überschuß, den die Technik, die Arbeit über das unmittelbar Notwendige hinaus erzeugt, ist immer größer geworden und immer schroffer wurde also der Klassengegensatz zu den Besitzlosen. In gleichem Maße wuchs also auch der Klassenkampf, der Kampf, den die Klassen um den Besitz der Produkte und der Produktionsmittel führen, und so wurde es zur allgemeinen Form des Kampfes ums Dasein der Menschen in der Gesellschaft. Die Arbeitsverhältnisse sind Eigentumsverhältnisse, und Eigentumsverhältnisse sind Verhältnisse der miteinander kämpfenden Klassen: und alle zusammen beruhen sie auf der Entwicklung der Arbeit, gehen sie hervor aus dem Arbeitsprozeß aus der Technik.
Aber die Technik steht nicht still. Sie ist in einer rascheren oder langsameren Entwicklung und Bewegung begriffen, die Produktivkräfte wachsen, die Produktionsweise ändert sich. Und wenn die Produktionsweise sich ändert, müssen sich notwendig auch die Verhältnisse ändern, worin die Menschen im Arbeitsprozeß zueinander stehen. Das Verhältnis der früheren kleinen Meister zueinander und zu ihren Gesellen ist ein ganz anderes, als jetzt das Verhältnis der großen Unternehmer zueinander und zu dem Lohnproletariat. Die maschinenmäßige Produktion hat eine Änderung der alten Verhältnisse bewirkt. Und da in einer Klassengesellschaft Produktionsverhältnisse zugleich Eigentumsverhältnisse sind, werden mit den ersten auch die zweiten umgewälzt. Und da die Anschauungen, Vorstellungen, Ideen, usw. sich bilden innerhalb der Verhältnisse und nach den Verhältnissen, worin die Menschen leben, ändert sich ihr Bewußtsein auch, wenn die Arbeit, die Produktion und das Eigentum sich ändern: Arbeit und Denken sind in fortwährender Änderung und Entwicklung begriffen: "Der Menschen verändert, indem er durch seine Arbeit die Natur verändert, zugleich seine eigene Natur". Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt das ganze gesellschaftliche Leben. "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt".
Aber auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Innerhalb der alten Verhältnisse können sich die neuen Produktivkräfte nicht entwickeln, sich nicht ausleben. Dann erhebt sich ein Kampf zwischen denen, die an den alten Produktions- und Eigentumsverhältnissen interessiert sind, und denen, die ein Interesse an der Entwicklung der neuen Produktivkräfte haben. Es tritt eine Epoche sozialer Revolution ein, bis die neuen Produktivkräfte den Sieg erringen und die neuen Produktions- und Eigentumsverhältnisse entstanden sind, innerhalb deren sie blühen können. Und durch diese Revolution ändert sich auch das Denken der Menschen, es ändert sich mit ihr und in ihr.
Dies ist kurzgefaßt der Inhalt unserer Lehre. In anschaulicher Darstellung kann man sie in folgender Weise noch einmal übersehen:
1) Die Technik, die Produktivkräfte bilden die Basis der Gesellschaft. Die Produktivkräfte bestimmten die Produktionsverhältnisse, die Verhältnisse, worin die Menschen im Produktionsprozeß einander gegenüberstehen. Die Produktionsverhältnisse sind zugleich Eigentumsverhältnisse. Die Produktions- und Eigentumsverhältnisse sind nicht nur Verhältnisse von Personen, sondern von Klassen. Diese Klassen-, Eigentums- und Produktionsverhältnisse (mit anderen Worten das gesellschaftliche Sein) bestimmen das Bewußtsein der Menschen, d.h. ihre Anschauungen über das Recht, Politik, Moral, Religion, Philosophie, Kunst. usw.
2) Die Technik entwickelt sich fortwährend. Die Produktivkräfte, die Produktionsweise, die Produktionsverhältnisse, die Eigentums-, die Klassenverhältnisse ändern sich demnach ununterbrochen. Das Bewußtsein der Menschen, ihre Anschauungen und Vorstellungen über Recht, Politik, Moral, Religion usw. ändern sich also auch mit den Produktionsverhältnissen mit den Produktivkräften.
3) Die neue Technik gerät auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung in Widerspruch mit den alten Produktions- und Eigentumsverhältnissen.
Schließlich siegt die neue Technik. Der ökonomische Kampf zwischen den konservativen Schichten, die an den alten Formen, und den fortschrittlichen Schichten, die an den neuen Kräften interessiert sind, kommt ihnen in juristischen, politischen, religiösen, philosophischen und künstlerischen Formen zum Bewußtsein.
(aus Gorter, Der historische Materialismus, Berlin 1909).