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Im Juni lud die Gruppe Aufbrechen zu einem Wochenende der öffentlichen Debatten nach Berlin ein. Das von den Genossen vorgeschlagene Thema war die Frage des „Leninismus“ und damit verbunden eine Bilanz der Russischen Revolution. Nach Ansicht der Genossen von Aufbrechen können weder das historische Beispiel der Bolschewiki noch die theoretische Arbeit Lenins heute als Leitbild für die Arbeit einer neuen Generation von revolutionären Marxisten dienen. Das Einladungsschreiben der Aufbrechen-Genossen bezieht sich ausdrücklich auf die Kommunistische Linke als Alternative zu Lenin und zu den Bolschewiki und als geeigneter Ausgangspunkt einer kritischen Wiederaneignung der Theorie und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Das Einladungsschreiben unterscheidet dabei zwischen zwei Hauptrichtungen innerhalb der Kommunistischen Linken, zwischen der italienischen Linken, welche vor allem die Bedeutung der Klassenpartei für den Sieg der proletarischen Revolution betonte, und der deutsch-holländischen Linken, welche mehr die entscheidende Bedeutung der Arbeiterräte als revolutionäre Machtorgane des Proletariats betonte.
Aufbrechen und die „rätistischen“ Thesen Helmut Wagners
Bereits dieses Schreiben machte deutlich, dass die Aufbrechen-Genossen sich selbst mehr in der Tradition der deutsch-holländischen Linken sehen. Dies machte das Einleitungsreferat der Genossen auf der Veranstaltung selbst erneut deutlich. Vor allem die Analyse der Russischen Revolution weist deutliche Ähnlichkeiten mit den rätekommunistischen „Thesen über den Bolschewismus“ auf, welche Helmut Wagner in den 30er Jahren veröffentlichte, und die später von bedeutenden marxistischen Theoretikern wie Anton Pannekoek mehr oder weniger unkritisch übernommen wurden. Die Kernidee dieser Thesen ist, dass aufgrund der Rückständigkeit Russlands 1917 im wesentlichen eine bürgerliche, antifeudale Revolution auf der Tagesordnung stand, und dass infolge der Schwächen der eigentlichen Bourgeoisie in Russland diese Revolution durch eine intellektuelle Kaderpartei - sprich durch die Bolschewiki - durchgeführt werden musste. In der Nachfolge Wagners suchte Pannekoek in seinem Buch „Lenin als Philosoph“ den Beweis dafür, dass Lenin kein proletarischer, sondern im wesentlichen ein bürgerlicher Revolutionär war, in den philosophischen Schwächen des Buches „Materialismus und Empiriokritizismus“. Dieser Auffassung zufolge, welche Aufbrechen sich zu eigen macht, waren die antiproletarischen Maßnahmen, welche die russische Staatsmacht nach 1917 unter bolschewistischer Leitung ergriff - von der schleichenden Entmachtung der Arbeiterräte und der Militarisierung der Arbeit bis hin zur blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes von 1921 - die logische Folge einer bürgerlichen, staatskapitalistischen Revolutionsauffassung. So gesehen ist es nur logisch, wenn die Genossen diese Tradition als Beispiel für proletarische Revolutionäre heute verwerfen wollen.
Sowohl das Einladungsschreiben als auch das Einleitungsreferat können von der Adresse der Aufbrechen-Redaktion angefordert werden.
Vielleicht aus der Sorge heraus, dass auch die Auffassung des „italienischen“ Linkskommunismus zu Lenin und zur Russischen Revolution bei der Veranstaltung ausreichend dargestellt werden sollte, wurde das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) eingeladen. Das Büro konnte ein zweites Einleitungsreferat halten. Vertreter der beiden Hauptbestandteile des IBRP, Battaglia Comunista (Italien) und Communist Workers Organisation (Großbritannien) hatten ihre Teilnahme zugesagt. Da aber der Vertreter von Battaglia krankheitsbedingt verhindert wurde, vertrat der Genosse der CWO die Auffassungen dieser gesamten Strömung auf der Veranstaltung. Er verteidigte den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution in Russland sowie den bedeutenden Beitrag zum Marxismus und zum historischen Befreiungskampfes der Arbeiterklasse, welchen Lenin und die Bolschewiki geleistet haben. Der Genosse kritisierte die Herangehensweise des Aufbrechen-Referates als ahistorisch und idealistisch. So gäbe es nicht einen über der Geschichte schwebenden Lenin, sondern verschiedene Lenins, entsprechend der verschiedenen Phasen des Klassenkampfes, die er durchlebte, und entsprechend des sich dabei verändernden Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Russische Revolution habe gezeigt, dass die Arbeiterklasse die Revolution machen kann. Heute gehe es darum, nicht Lenin die Schuld für den Verlauf der Weltgeschichte zu geben, sondern die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen. Zu diesen Lehren gehört es nach Auffassung der CWO, dass sich die Klassenpartei nicht um jeden Preis an der Macht festklammern darf, sondern bereit sein muss, in die Opposition zu gehen und die Räte gegen den Staat zu verteidigen.
Die Verteidigung der Oktoberrevolution
Es war ein besonderes Anliegen der IKS auf dieser Veranstaltung, den proletarischen Charakter der Russischen Revolution und der Bolschewistischen Partei zu verteidigen. In diesem Sinne richteten wir einige Fragen an die Genossen von Aufbrechen. So wollten wir wissen, wie die Genossen es erklären können, weshalb die Bolschewiki und mit ihnen Lenin, obwohl sie laut Aufbrechen bürgerliche Revolutionäre waren, gegenüber den entscheidenden Fragen der Geschichte an der Spitze des proletarischen revolutionären Kampfes gestanden haben. Wir gaben drei Beispiele:
- Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg
Bereits auf dem Stuttgarter Kongress der 2. Internationalen 1907 waren es im wesentlichen Lenin und Rosa Luxemburg, welche die proletarische Position gegen den herannahenden Weltkrieg gemeinsam formulierten. Und während des Weltkrieges nahm Lenin die entschiedenste, kompromissloseste Position aller Revolutionäre ein.
- Der Kampf für eine neue, kommunistische Internationale
Auch hier bildeten die Bolschewiki den wichtigsten Pol des Widerstandes gegen den Verrat der Arbeiterparteien und der Umgruppierung für eine neue Internationale, um den herum sich alle künftigen Vertreter des Linkskommunismus scharten.
- Der Kampf für eine proletarische Weltrevolution.
Während Aufbrechen die Russische Revolution im wesentlichen als Antwort auf ein national beschränktes Problem - auf die Rückständigkeit Russlands - auffasst, sahen die Bolschewiki selbst den Roten Oktober als Auftakt zur proletarischen Weltrevolution. Auch hier waren sie der konsequenteste Vertreter des proletarischen Internationalismus. Somit war es kein Zufall, dass Trotzki in seinem Kampf gegen Stalins konterrevolutionäre Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ sich zum bedeutenden Teil auf Schriften Lenins stützen konnte.
Unserer Meinung nach haben die Genossen von Aufbrechen diese Frage nicht befriedigend beantworten können. Sie bestritten nicht die Gültigkeit der Beispiele, die wir anführten, sondern machen geltend, dass die Bolschewiki zu verschiedenen Zeitpunkten der politische Ausdruck von unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft sein konnten. Diese Argumentation scheint uns wenig marxistisch zu sein. In einer Klassengesellschaft ist eine politische Organisation immer der Ausdruck der Interessen einer bestimmten Klasse der Gesellschaft. Eine proletarische Organisation kann verraten und auf die Seite der Bourgeoisie überwechseln, was mit den Parteien der 2. und später auch der 3. Internationalen (einschließlich der russischen Partei) auch geschah. Aber dann ist diese Partei für das Proletariat für immer verlorengegangen. Aber eine Partei kann nicht mal eine und mal eine andere Klasse der Gesellschaft vertreten. Wenn ein solches Wunder möglich wäre, könnte man genauso gut hoffen, dass die SPD plötzlich wieder die Interessen der Arbeiterklasse wahrzunehmen beginnen könnte - eine Illusion, welche der Trotzkismus täglich von neuem zu verbreiten versucht. Etwas anderes wäre es zu sagen, eine proletarische Partei kann unter dem Einfluss der Ideologie fremder Klassen Fehler begehen und sogar degenerieren und am Ende verraten. Und genau dies ist nach unserer Überzeugung mit den Bolschewiki auf dem tragischen Hintergrund der Isolation der russischen Revolution und des Sieges der weltweiten Konterrevolution auch geschehen. Weil die Genossen die Augen vor dieser gigantischen historischen Tragödie verschließen, befassen sie sich auch nicht mit den Lehren, welche die Kommunistische Linke aus den Fehlern von Lenin und der Bolschewiki gezogen haben. Schlimmer noch: als Genossen, welche sich immer noch nicht vollständig vom Erbe des „Marxismus-Leninismus“ sprich des Stalinismus gelöst haben, laufen sie Gefahr, mit ihrer Vorstellung von einer bürgerlichen Revolution in Russland, Tür und Tor zu öffnen für die Idee, dass der Stalinismus ein revolutionäres, fortschrittliches (wenn auch bürgerliches) Phänomen war. Keine gute Voraussetzung, meinen wir, um den zutiefst konterrevolutionären Charakter des Stalinismus wirklich zu verstehen.
Die Notwendigkeit einer offenen und ehrlichen Debatte
Weil der Vertreter von Battaglia fehlte, schlug ein Genosse der ex-GIK aus Österreich (der sich als Sympathisant des IBRP bezeichnete) vor, an seiner Stelle eine kurze Darstellung der Geschichte des italienischen Linkskommunismus zu geben.
Wir denken, es lohnt sich, die Rolle dieses Genossen auf dieser Veranstaltung zur Sprache zu bringen.
In seiner Einleitung, der der Genosse in eigener Verantwortung hielt, trug er zwar im wesentlichen die geschichtliche Einschätzung der Gruppe Battaglia Comunista vor, kritisierte aber die opportunistische Politik der Vorläuferorganisation von Battaglia (der Partito Comunista Internazionalista) während des 2.Weltkrieges gegenüber den Partisanen - ein Opportunismus, den Battaglia, so weit wir wissen, bis heute niemals öffentlich zugegeben hat. Auch hielt der Genosse aus Österreich an der Vorstellung eines internationalistischen, im wesentlichen aus der IBRP, der IKS und den „bordigistischen“ IKPs bestehenden proletarischen Lagers fest.
Und als am Anfang der Veranstaltung Aufbrechen es für nötig hielt, sich dagegen auszusprechen, dass eine der anwesenden Gruppen anschließend in ihrer Presse über diese Veranstaltung berichtet (nur unsere Organisation wurde dabei namentlich erwähnt), verteidigte der Genosse der ex-GIK die Notwendigkeit einer solchen Berichterstattung. Er bezeichnete die regelmäßige Berichterstattung über öffentliche Debatten in den Seiten der ‚Weltrevolution‘ als sehr nützlich und interessant und fragte, ob die Aufbrechen-Genossen in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hätten, dass die IKS solche Debatten verfälscht wiedergegeben hat - was Aufbrechen verneinte.
Wenn wir richtig verstanden haben, war es auch der Genosse aus Österreich, der ursprünglich der Aufbrechen-Gruppe den Vorschlag machte, diese Veranstaltung abzuhalten und die verschiedenen Gruppen des Linkskommunismus einzuladen.
Wir wollen somit an dieser Stelle seine Haltung ausdrücklich begrüßen, die öffentliche Debatte unter Revolutionären zu fördern und keine der ernstzunehmenden Gruppen des proletarischen Milieus dabei außen vorzulassen.
Die Notwendigkeit einer Synthese der historischen Beiträge
Da die IKS keine Gelegenheit erhielt, bei dieser Veranstaltung ein eigenes Referat zu halten, wollen wir uns hier abschließend ganz kurz zur Darstellung des Linkskommunismus im Einladungsschreiben von Aufbrechen äußern. Dies auch deshalb, weil einige Teilnehmer an der Veranstaltung ihr Interesse bekundeten, mehr über die Unterschiede zwischen der IKS und der IBRP zu erfahren. Es ist nicht ganz falsch, aber dennoch undifferenziert zu behaupten, dass von den beiden Hauptströmungen des Linkskommunismus die „Italienische“ mehr die Bedeutung der Klassenpartei und die „Deutsch-Holländische“ mehr die der Arbeiterräte betonte. Richtig jedenfalls ist, dass der „Rätekommunismus“ später unter dem Einfluss der stalinistischen Konterrevolution die Organisation der Revolutionäre verwarf oder deren Bedeutung unterschätzte sowie, damit zumeist einhergehend, den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution und der Bolschewiki leugnete. Richtig ist auch, dass die italienische Linke viel konsequenter an der Notwendigkeit der revolutionären Organisation und an der Verteidigung der Oktoberrevolution festhielt. Dass ist auch der Grund, weshalb alle Organisationen des heutigen proletarischen Milieus -einschließlich der IKS und des IBRP - aus der italienischen Linken hervorgegangen sind.
Aber im Gegensatz zum Einladungsschreiben von Aufbrechen erscheint es uns notwendig, in erster Linie die Gemeinsamkeiten der geschichtlichen Hauptströmungen des Linkskommunismus zu betonen. So haben während der Revolutionsjahre selbst alle die Notwendigkeit der revolutionären Organisation und der Verteidigung der Oktoberrevolution vertreten. Und auch später gab es innerhalb der deutsch-holländischen Linken - namentlich innerhalb der KAPD - immer eine Strömung, welche an diesen Grundfesten festhielt - bis sie Mitte der 30er Jahre in der Illegalität unter den Hammerschlägen der Repression des NS-Regimes in Deutschland zerschlagen wurde. Umgekehrt hieß bereits zur Zeit der Oktoberrevolution die erste bedeutende Oppositionszeitung der italienischen Kommunisten unter Bordiga „Il Soviet“ (Der Arbeiterrat). Und es war gerade die Auslandsfraktion der italienischen Linkskommunisten, welche später die Bilanz der russischen Revolution zog und dabei entscheidende Einsichten in die Rolle der Arbeiterräte gewann.
In dieser Hinsicht vertreten die IKS und das IBRP zwei unterschiedliche Traditionen innerhalb der italienischen Linken. Das IBPR (und auf viel karikaturalere Weise die „bordigistischen“ IKPs) sind der Ansicht, dass man nichts wesentliches von der deutsch-holländischen Linken zu lernen habe. Die IKS hingegen steht in der Tradition der Auslandsfraktion der 20er und 30er Jahre, insbesondere um die Zeitschrift Bilan, sowie in der Tradition der Kommunistischen Linken Frankreichs (GCF) nach dem 2. Weltkrieg, welche eine kritische Synthese der Beiträge aller Linkskommunisten vorgenommen haben. So gesehen halten wir die Gegenüberstellung der verschiedenen historischen Strömungen des Linkskommunismus für nicht hilfreich und auch nicht marxistisch. Aber wir werden in unserer Presse auf diese wichtige Frage bald zurückkommen.
Dieses Veranstaltungswochende war ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer proletarischen Diskussionskultur, die es ermöglichte, in der Öffentlichkeit offen und kontrovers über die wichtigen Fragen nicht nur der Geschichte sondern auch über die wichtigen Fragen von heute und von morgen auszutauschen.