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In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist es zu einer gewissen Renaissance des Operaismus gekommen. Dabei erwies sich der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 gewissermaßen als Startschuss seiner Wiederauferstehung. Verunsichert durch die "new economy" der neunziger Jahre und durch die Ausbreitung des neuen "Prekariats", aber auch und besonders durch das Ausbleiben einer entsprechenden massiven Reaktion der Arbeiterklasse, erfreuen sich seitdem operaistische Theorien und Methoden wieder wachsender Beliebtheit unter jenen, die sich nicht mehr mit den alten Erklärungsmustern der "Linken" zufriedengeben wollen. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff "Operaismus"? Wie und wo kann man ihn einordnen? Ist er eine adäquate Antwort auf die derzeitigen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse?
Wir wollen in folgender Artikelreihe versuchen, den Operaismus auch unter Zuhilfenahme des 2002 erschienenen Buches "Den Himmel stürmen - Eine Theoriegeschichte des Operaismus" von Steve Wright zu entschlüsseln. Alle Zitate in diesem Artikel sind, wenn nicht anders angegeben, diesem Buch entnommen.
Die beiden Geburtsfehler des Operaismus
Der klassische Operaismus ist als historische Strömung Anfang der 1960er Jahre in Italien entstanden. Sein Ursprung geht auf eine Strömung von linken Intellektuellen zurück, die sich Ende der fünfziger Jahre innerhalb der PCI (Kommunistische Partei Italiens) und PSI (Sozialistische Partei Italiens) in Opposition zum stalinistischen Leitmodell, aber auch zur Sozialdemokratisierung ihrer Parteiführungen gebildet hatte und nach einem "dritten Weg" zwischen dem "Realsozialismus" des Ostblocks und dem westlichen Kapitalismus suchte. An ihrer Spitze stand Raniero Panzieri, ehemaliges Mitglied des PSI-Zentralkomitees, dessen Hauptanliegen die Neudefinierung des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse war und der im Gegensatz zur bürgerlichen Linken für eine Emanzipation der Arbeiterklasse von der Partei plädierte. Von ihm übernahm der Operaismus das ehrliche Bemühen um die vielzitierte Autonomie der Klasse gegenüber allen substitutionistischen Versuchungen und das Bestreben, den Marxismus aus dem ‚orthodoxen' Korsett des Stalinismus zu befreien.
Die ersten Gehversuche des Operaismus fanden unter dem Eindruck gewaltiger Umgestaltungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich der italienischen Gesellschaft statt. Ähnlich wie im Rest Westeuropas boomte auch die italienische Wirtschaft, was sich unter anderem darin ausdrückte, dass Heerscharen von jungen Angehörigen aus der bäuerlichen Klasse Süditaliens in die wachsende Produktion im Norden des Landes geworfen und somit proletarisiert wurden.
Es ist nur vor dem Hintergrund des "Wirtschaftswunders", das auch in Italien stattgefunden hatte, zu verstehen, dass sich in den fünfziger und sechziger Jahren eine Denkschule bildete, die davon ausging, dass der Kapitalismus seine historische Krise, die ihn zweimal in ein weltweites Inferno gestürzt hatte, überwunden habe. Pionier dieser Denkrichtung war die Gruppe Socialisme ou Barbarie, die sich in Reaktion auf die Degenerierung des Trotzkismus im II. Weltkrieg von selbigem löste und u.a. die Theorie vertrat, dass nicht mehr die Wirtschaftskrise Auslöser des revolutionären Klassenkampfes sei, sondern der Kampf zwischen Befehlsgebern und -empfängern. Ähnlich dachten unter anderem die aus Socialisme ou Barbarie hervorgegangene Gruppe Solidarity, aber auch die viel früher entstandene sog. Frankfurter Schule, die nicht nur die historische Krise des Kapitalismus überwunden glaubten, sondern auch der angeblich "verbürgerlichten" Arbeiterklasse in den Industrieländern jeglichen revolutionären Charakter absprachen. Diese und viele andere modernistische Strömungen zu jener Zeit meinten Marx widerlegt und das neue revolutionäre Subjekt im entrechteten Kleinbauern Lateinamerikas, im diskriminierten Schwarzen Nordamerikas, im Studenten oder gar im Kleinkriminellen hierzulande gefunden zu haben.
Der Operaismus, selbst eine von Socialisme ou Barbarie beeinflusste Strömung, meinte zwar an Marx festhalten zu müssen, ging aber faktisch von derselben Prämisse aus: Der Begriff "Wirtschaftskrise" kommt in seinen verschiedenen Theorien so gut wie gar nicht vor. Schon gar nicht nimmt er Notiz von der historischen Krise des Systems, von der Dekadenz des Kapitalismus, die nach marxistischem Verständnis erst die Perspektive des revolutionären Klassenkampfes konkret eröffnet.
Der zweite Geburtsfehler des Operaismus liegt in seiner Haltung gegenüber der Frage der Politik begründet. Selbst angewidert von der Politik der KP, SP und der Gewerkschaften, war der klassische Operaismus in gewisser Hinsicht eine Antwort auf das damals weit verbreitete Misstrauen innerhalb der Arbeiterklasse gegenüber allem, was über den Tageskampf hinausging. Anders als die Agitatoren der linksextremistischen Organisationen, deren besserwisserisches Treiben das Misstrauen der Arbeiter hervorrief, gelang es den Operaisten in ihren Hoch-Zeiten, in etlichen Betrieben Italiens Fuß zu fassen, indem sie die Politik außen vor ließen und stattdessen den Arbeitern u.a. mittels Fragebögen Gehör schenkten. In diesem Sinne haben sie sich der politik-feindlichen Stimmung innerhalb der Klasse angepasst. Der Operaismus war die Theoretisierung dieser Reaktion, denn er betrachtete den Klassenkampf nicht als einen politischen, sondern als einen rein ökonomischen Kampf, der nur in den Betrieben stattfindet.
Trotz dieser Geburtsfehler und ungeachtet der linksbürgerlichen Herkunft vieler seiner Vordenker ist es abwegig, den Operaismus als dem linksbürgerlichen Spektrum zugehörig zu betrachten. Anders als die Stalinisten jeglicher Couleur hat er den Ostblock nie unterstützt; entgegen den Modernisten hat er im Großen und Ganzen am Klassenbegriff, an der Tatsache des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit festgehalten. Und trotz seiner unklaren Haltung zu den Gewerkschaften ist er insofern für die Selbstorganisation der Arbeiter eingetreten, als er die wilden Streiks der italienischen Arbeiterklasse Anfang der siebziger Jahre einhellig unterstützte. Aber vor allem: nie hat er die Arbeiterklasse zur Teilnahme am Krieg aufgerufen und damit jenen Sündenfall begangen, den sich sämtliche linkskapitalistischen Gruppierungen, von den Sozialdemokraten bzw. Sozialisten über die KP's bis hin zu den Trotzkisten, Maoisten etc., schuldig gemacht hatten.
Doch es wäre gleichfalls töricht, all die Ungereimtheiten und Konfusionen zu verschweigen, die es unserer Auffassung nach in der operaistischen Weltanschauung gibt. Beide Geburtsfehler des Operaismus - die Leugnung der Wirtschaftskrise und der politischen Dimension des Klassenkampfes - führten zu erheblichen Fehleinschätzungen der Arbeiterklasse bzw. ihres Kampfes gegen den Kapitalismus sowie der Rolle der kapitalistischen Linken.
Es wäre vermessen, in diesem Artikel alle Aspekte des Operaismus zu behandeln. Zumal Letzterer sich durch eine große Heterogenität in seinen Reihen auszeichnet. Da gibt es den Operaismus der sechziger Jahre, der eine Vorliebe für den "Massenarbeiter", sprich: Fabrikarbeiter, hatte, und da gibt es den Operaismus Toni Negris, der, enttäuscht über das Scheitern der "Fabrikkämpfe" in den siebziger Jahren, sich dem so genannten gesellschaftlichen Arbeiter zuwandte, d.h. all jenen Beschäftigten, die nicht in der unmittelbaren Produktionssphäre tätig sind. Die einen unterstützten (zumindest anfangs) den Terrorismus der Roten Brigaden als bewaffnete Vorhut der Arbeiterkämpfe, die anderen lehnten jegliche Zusammenarbeit mit ihnen ab. Ja, vereinzelte Stimmen innerhalb des operaistischen Milieus äußerten sich sogar skeptisch gegenüber den Säulen des Operaismus, wie die rein soziologische Herangehensweise.
Die Klassenzusammensetzung als Dreh-und Angelpunkt des Operaismus
Bei aller Vielfalt der operaistischen Strömungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es natürlich auch Gemeinsamkeiten, die in ausgeprägter oder abgeschwächter Form jeder operaistischen Denkart zu eigen sind - die Theorie der Klassenzusammensetzung und der "Umkehrung des Primatverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit". Diese Theorie ist zwar im Verlaufe der Entwicklung des Operaismus unterschiedlich interpretiert worden, doch in ihrem Kern unangetastet geblieben.
Es war Mario Tronti, einer der Vordenker des Operaismus, der eine ganz wesentliche Säule in der operaistischen Konzeption formulierte: "Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muss das Problem umdrehen (und) wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf." Soll heißen: Die Arbeiterklasse gibt jederzeit den Takt der Gesellschaft vor, bestimmt die Politik von Kapital und Staat - es herrscht stets das Primat des Klassenkampfes. Krisen, imperialistische Rivalitäten und andere Faktoren spielen keine Rolle in diesem Konzept. Das Mantra des Operaismus lautet schlicht und einfach: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen" - der berühmte Satz aus dem Kommunistischen Manifest.
Diese Auffassung - die Reduzierung des täglichen Lebens der bürgerlichen Gesellschaft auf die soziale Frage - ist nicht neu in der Arbeiterbewegung und keineswegs eine Besonderheit des Operaismus. So gab es in der Italienischen Kommunistischen Linken in den dreißiger Jahren die Neigung, im Krieg eine Verschwörung der Weltbourgeoisie gegen den angeblich anschwellenden Klassenkampf der Arbeiter zu sehen. Die Operaisten ihrerseits nun witterten hinter jeglichen Umstrukturierungen in der Industrie, hinter allen technologischen Neuerungen in den Produktionsabläufen einen bewusst inszenierten Anschlag des Kapitals auf die Kampfkraft der Arbeiter. Raniero Panzieri kritisierte in diesem Zusammenhang die "Linke", dass sie "nicht den leisesten Verdacht hegt, dass der Kapitalismus die neue ‚technische Basis', die der Übergang zum Stadium der fortgeschrittenen Mechanisierung (und der Automatisierung) ermöglicht hat, dazu ausnutzen könnte, um die autoritäre Struktur der Fabrikorganisation zu verewigen und zu konsolidieren...". Ob die Einführung des Fordismus und Taylorismus im Nachkriegsitalien, die die starke Stellung des Facharbeiters untergraben habe, die Dezentralisierung der Großindustrie in Kleinbetriebe als Antwort auf den Heißen Herbst 1969 oder die Modernisierung der Betriebsabläufe durch die Computertechnologie - überall betonen die Operaisten die politische Absicht des Managements, die Arbeiterklasse zu zersplittern und ihre Stellung im Produktionsprozess zu untergraben.
Es ist sicherlich völlig richtig, den Klassenkampf als Motor der menschlichen Geschichte zu bezeichnen. In der Tat drückt das tägliche Ringen mit ihrem proletarischen Gegner dem Denken und Handeln der Bourgeoisie unübersehbar seinen Stempel auf.
Doch heißt dies, dass die Schwächung der Arbeiterklasse das einzige Kriterium bei der "Neuzusammensetzung" der Arbeiterklasse, bei den Umstrukturierungen im Produktionsapparat ist? War die Einführung einer neuen Arbeitsorganisation in der italienischen Großindustrie in der Nachkriegszeit, die Einbeziehung neuer, unerfahrener Arbeiterschichten aus dem Süden Italiens in den sechziger Jahren und das Ausgliedern von Unternehmensteilen in den siebziger Jahren allein der Absicht geschuldet, den Arbeitern über die erhöhte Ausbeutungsrate hinaus auch politisch zu schädigen?
Schauen wir etwas weiter zurück. Mit Blick auf die erste Maschinisierungswelle der Industrie Anfang des 19. Jahrhunderts stellte Karl Marx fest: "Seit 1825 ist die Erfindung und Anwendung der Maschinen nur das Resultat des Krieges zwischen Unternehmern und Arbeitern. Und auch das gilt nur für England. Die europäischen Nationen sind zur Anwendung der Maschinen durch die Konkurrenz gezwungen worden, die die Engländer ihnen sowohl auf dem inneren Markt als auch auf dem Weltmarkt machten. In Nordamerika schließlich war die Einführung der Maschinen die Folge sowohl der Konkurrenz mit den anderen Völkern als auch des Mangels an Arbeitskräften, d.h. des Missverhältnisses zwischen der Bevölkerungszahl und den industriellen Bedürfnissen Nordamerikas." (1) In wenigen Sätzen zählte Marx neben dem, was er den "Krieg zwischen Unternehmer und Arbeiter" nennt, gleich zwei weitere Motive des Kapitals bei der Maschinisierung auf: die Konkurrenz und den Arbeitskräftemangel. Wir möchten an dieser Stelle noch auf ein drittes Motiv für betriebliche Umstrukturierungen hinweisen, das, wie wir bereits an anderer Stelle gezeigt haben, dem Operaismus gänzlich unbekannt zu sein scheint, das aber gerade in den letzten Jahrzehnten brandaktuell geworden ist: die Weltwirtschaftskrise, die nun schon seit fast 40 Jahren mit immer größerer Intensität wütet und die jeden Kapitalisten dazu zwingt, unablässig die organische Zusammensetzung seines Kapitals zuungunsten des lebendigen Kapitals, sprich: der Arbeitskraft, zu modifizieren.
Die Tatsache, dass das Kapital neue Technologien prinzipiell auch als Mittel zur Unterminierung der Stellung bestimmter Bereiche der Arbeiterklasse einsetzt, ist nichts Neues für Marxisten. Was den Operaismus jedoch gegenüber allen anderen Strömungen auszeichnet, das ist seine eindimensionale Sichtweise der Veränderungen im kapitalistischen Produktionsapparat. Eine Sichtweise, die geradezu versessen darauf ist, jeden Schritt, jede Handlung, jeden Mucks der Bourgeoisie als Ranküne gegen die Arbeiterklasse zu entlarven. Erst spät äußerten sich kritische Stimmen innerhalb des Operaismus-freundlichen Lagers gegenüber dieser Fixierung - wie die von Gisela Bock, Verfasserin des Buches "Die ‚andere' Arbeiterbewegung in den USA", die "die Theorie der Neuzusammensetzung nicht im Sinne einer bloßen Aneinanderreihung von Herrschafts- und Spaltungsmanövern" verwendete und nicht mehr bereit war, "ihr im Sinne der so genannten Massenarbeiterthese eine teleologische Funktion zuzuschreiben" (2).
Fortsetzung folgt
Fußnoten:
(1) Marx, Brief an P.W. Annenkow, MEW Bd. 4, S. 551).
(2) Zitat von Rexroth; aus: "Den Himmel stürmen".