Tarifrunde 2007: Der Lohnraub geht weiter

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Deutschland im Jahr 2007: die Wirtschaft boomt, die Auftragsbücher sind prall gefüllt, die Exportindustrie schlägt ein Rekord nach dem anderen, und das Wirtschaftswachstum wird Monat für Monat immer höher prognostiziert. Auch der Finanzminister der Großen Koalition in Berlin hat Grund zum Jubeln: Nicht nur, dass die Maastrichter Schuldenkriterien um fast die Hälfte unterboten wurden; Steinbrück erwartet darüber hinaus fürs nächste Jahr gar einen schuldenfreien Haushalt. Doch je optimistischer die Meldungen von der Wirtschaftsfront, desto größer auch die Begehrlichkeiten. Vor allem die Gewerkschaften verkündeten vor den diesjährigen Tarifverhandlungen, dass die Jahre des Verzichts für die ArbeitnehmerInnen angesichts der Gewinne der Unternehmen vorüber seien. „Plus ist Muss“ war das Motto der IG Metall für die diesjährigen Tarifverhandlungen. Jahrelang habe man den Beschäftigten angesichts der Rezession und der schwächelnden Unternehmen eine Reduzierung ihrer Nettoeinkommen zugemutet. Nun, wo die Wirtschaft brummt und die Unternehmen Rekordgewinne einfahren, sei es nur zu gerecht, wenn auch die Beschäftigten ihren Anteil daran fordern.

Es scheint, als habe das Kapital ein Einsehen gehabt. Eine der größten und wichtigsten Wirtschaftsbranchen Deutschlands, die Metallindustrie, gewährte ihren Beschäftigten ohne größeren Widerstand eine Tariferhöhung, die so hoch wie lange nicht mehr ist: 4,1 Prozent in diesem Jahr und 1,7 Prozent im Juni 2008 incl. Einmalzahlungen. Es liegt auf der Hand, dass die IG Metall dies als einen Erfolg für uns Beschäftigte feierte. Hat sich doch nach ihrer Lesart ihre Politik bewährt: Zurückhaltung, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, und kräftig zulangen, wenn sie boomt. Doch wie verhält es sich tatsächlich mit diesen – auf dem ersten Blick sehr hoch anmutenden – Tariferhöhungen in der Metallindustrie? Bewahrheitet es sich am Ende doch, dass, wenn es der Wirtschaft gut geht, es auch der Arbeiterklasse gut geht? Oder ist – umgekehrt - der aktuelle Aufschwung neben anderem nicht gerade durch eine massive Erhöhung der Ausbeutungsrate, d.h. durch die Verbilligung der Arbeitskraft zustande gekommen?

Die Prekarisierung greift um sich

In den 60er Jahren galt unter den ArbeiterInnen Westdeutschlands das geflügelte Wort: „Keiner arbeitet für Tariflohn!“ Die Tariflöhne bildeten nur die untere Grenze der tatsächlich bezahlten Löhne; sie stellten faktisch Mindestlöhne dar. Noch heute schwärmt diese Generation der Arbeiterklasse in Deutschland von jenen Zeiten, als die Unternehmen bei der Anwerbung von Arbeitskräften sich einander geradezu überboten. Nun, diese Zeiten sind unwiderbringlich vorbei. Denn sie waren mit einer Phase in der Bundesrepublik verknüft, als Vollbeschäftigung herrschte, als die Unternehmen noch händeringend nach Arbeitskräften suchten und den ersten Arbeitsimmigranten, die ins Land kamen, geradezu den roten Teppich ausrollten. Heute, fast 40 Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, hat der eingangs zitierte Spruch eine andere Bedeutung bekommen. Infolge des sukzessiven Wachstums der Arbeitslosigkeit, die mittlerweile Millionen von ArbeiterInnen in die Reservearmee des Kapitals geworfen hat, hat sich das Blatt im wirtschaftlichen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit gründlich zuungunsten Letzterer gewendet. Der Druck auf die Löhne hat heute Auswüchse angenommen, die es immer weniger Arbeiter und Arbeiterinnen erlauben, mittels Arbeit ihre reinen Reproduktionskosten zu decken, d.h. ihre bloße Existenz – das Dach über dem Kopf, die tägliche warme Mahlzeit, etc. – zu sichern. Obwohl sie einer Vollzeit-Beschäftigung nachgehen, sind sie auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Die zu Hungerlöhnen schuftenden Callcenter-ArbeiterInnen, die wachsende Heerschar von ZeitarbeiterInnen und Tagelöhnern, das als „Generation P“ (P wie Praktikum) bezeichnete akademische Proletariat – all sie sind Ausdruck der Tatsache, dass die „working poor“, die noch vor wenigen Jahren als typisch amerikanisches Phänomen dargestellt wurden, nun auch hierzulande um sich greifen.

Doch wer meint, das sog. Prekariat als einen besonderen, in sich abgeschlossenen Teil der hiesigen Arbeiterklasse zu identifizieren, dem gegenüber der „privilegierte“ Kern der Facharbeiter stehe, übersieht, dass die wachsende Tendenz zur relativen und absoluten Pauperisierung längst sämtliche Teile unserer Klasse erfasst hat. Was wir gerade derzeit erleben, ist ein beispielloser Angriff gegen jene Bereiche der Arbeiterklasse in Deutschland, die noch zu Tariflöhnen arbeiten. Obwohl die Tariflöhne in den letzten 15 Jahren auf breiter Front schrumpften, bemühen sich immer mehr Unternehmen darum, sich vom Korsett der Tarifgemeinschaft zu lösen, indem sie große Teile ihrer Produktion auslagern. Jüngstes – und besonders krasses - Beispiel für die massive Verbilligung der Arbeitskraft auch in den Kernbereichen der Arbeiterklasse in Deutschland ist die Telekom (wir haben bereits an anderer Stelle darüber berichtet).

ERA und die Relativierung des Metallabschlusses

Eine besonders perfide Art des Lohnraubs findet derzeit in der Metallindustrie statt. Seit dem Frühjahr gelten die - bereits 2002 von der IG-Metall und den Arbeitgebern ausgehandelten - Bestimmungen eines neuen „Entgeltrahmentarifabkommens“ (kurz: ERA). Dieses neue Rahmentarifabkommen sollte angeblich mehr „Gerechtigkeit“ bei der Entlohnung der Beschäftigten in der Metallindustrie schaffen. Kernstück von ERA ist die Abschaffung der unterschiedlichen Kategorien von Lohn und Gehalt. Künftig sollen Arbeiter und Angestellte nach einem einheitlichen Tarif bezahlt werden. Unterschiedliche Bezahlungen für dieselbe Tätigkeit sollen so aus dem Weg geräumt werden. Doch was für die beiden Tarifparteien – IG-Metall und Metallarbeitgeberverband – eine „Revolution“ ist, entpuppt sich für Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Beschäftigten als böse Überraschung. Denn die Arbeitgeber nutzten die Gelegenheit, um die Anpassung der bisherigen Löhne und Gehälter an die neue Entgeltstruktur überwiegend durch Herabstufungen vorzunehmen. Massenhaft wurden hohe Gehalts- und Lohngruppen gekappt und in niedrigere ERA-Gruppen gedrückt. Neben den Angestellten ist vor allem eine Gruppe von diesen Herabstufungen betroffen, die den um Kostenminimierung bemühten Unternehmen bislang ein Klotz am Bein war – jene trotz Frühverrentung immer noch relativ große Schar an Beschäftigten (darunter viele Facharbeiter), die sich im Laufe ihrer langen Betriebszugehörigkeit höhere Lohngruppen erarbeitet hatten. „So kann es passieren, dass sich ein Facharbeiter mit der alten Lohngruppe 8 mit einem monatlichen Einkommen von 1970,13 Euro plötzlich in der neuen ERA-Gruppe 3 mit einem Einkommen von 1770 Euro wiederfindet. Aufs Jahr gerrechnet hätte er mehr als 2000 Euro Verlust.“ (1)

Vor diesem Hintergrund erscheinen die eingangs erwähnten Tariferhöhungen in der Metallindustrie in einem völlig neuen Licht. Für viele der 3,4 Millionen Beschäftigten ist der „kräftige Schluck aus der Pulle“, den IG-Metall-Vorsitzender Peters, stolz wie Oskar, am Abend des Abschlusses verkündete, nur ein leichtes Nippen an der Flasche. Denn um größeren Unmut unter den Betroffenen zu vermeiden, sollen die Herabstufungen nicht abrupt erfolgen, sondern durch den völligen oder teilweisen Ausschluss der Betroffenen von den diesjährigen und den kommenden Tariferhöhungen schrittweise vonstatten gehen. Doch die IG Metall hat noch ein weiteres Mittel in petto, um den Widerstand der Beschäftigten in Grenzen zu halten. Indem dieses famose Entgeltrahmentarifabkommen – typischer euphemistischer Beamtensprech – jedem Beschäftigten die Möglichkeit des „Widerspruchs“ einräumt und gleich mehrere Vermittlungsinstanzen bis zur endgültigen Entscheidung durch das Arbeitsgericht (!) vorsieht, soll der anschwellende Strom der Unruhe und des Missmuts in den Belegschaften in Abertausende kleine Rinnsale des individuellen Protestes auf dem (juristischen) Terrain des Klassengegners aufgespalten werden. Dennoch: es tut sich was. Belegschaftsversammlungen, die bislang tröge und monoton waren, haben sich mittlerweile zu lebhaften Veranstaltungen entwickelt. Die Betriebsräte haben alle Mühe, die erhitzten Gemüter der Kollegen und Kolleginnen zu besänftigen. Und plötzlich erwacht der Kampfgeist auch in Schichten der Arbeiterklasse, die diesbezüglich bis dahin noch nicht aufgefallen waren. So beteiligten sich zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte ihrer Branche die Sekretärinnen von Siemens-Erlangen an einer Demonstration gegen diesen Lohnraub. Es stellt sich die Frage, ob sich ERA nicht letztendlich als ein Bumerang für die herrschende Klasse erweisen wird. Denn ERA hebt nicht nur die formale Spaltung zwischen Angestellten und Arbeitern auf und trägt zur Proletarisierung des Bewusstseins der Ersteren bei, die einst als „Industriebeamte“ treu ihren Dienst für die Kapitalisten taten. ERA fördert zudem in immer größeren Teilen unserer Klasse die Einsicht, dass wir alle – ob Angestellte oder Arbeiter, ob festangestellte oder ZeitarbeiterInnen, ob Callcenter-Beschäftigte oder Facharbeiter – einer mal mehr, mal weniger drastischen Verschlechterung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Das „Prekariat“ ist das Proletariat!

  1. Spiegel, Nr. 22, 26. Mai 2007.

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