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Die Ausbeuter streiten um die beste Regierungsmannschaft
Als
vor nicht mal einem Jahr auf öffentlichen Diskussionsveranstaltungen
der IKS von Sympathisanten der Organisation die Auffassung vertreten
wurde, dass die Bundestagswahlen 2006 für die rot-grüne
Regierungskoalition sozusagen im voraus bereits verloren gegangen
seien, widersprachen wir. Damals fuhr die deutsche Sozialdemokratie im
Zuge der "Gesundheitsreform" sowie der Vorbereitung auf die mit dem
Namen "Hartz" verbundenen "Arbeitsmarktreformen" die schlechtesten
Umfragewerte der Nachkriegszeit ein. Trotzdem sagten wir damals voraus,
dass die Regierungskoalition in der Wählergunst bis zu den
Bundestagswahlen aufholen werde. Es waren drei Erwägungen, welche uns
damals zu dieser Aussage bewogen. Erstens die traditionelle Taktik
bürgerlicher, "demokratisch legitimierter" Regierungen, ihre
Hauptangriffe gegen die Arbeiterklasse in die erste Hälfte ihrer
jeweiligen Amtszeit zu verlegen, damit diese Gräueltaten dann
rechtzeitig in den Hintergrund treten, wenn man sich zur Wiederwahl
stellen muss. Zweitens die Notwendigkeit für die herrschende Klasse
insgesamt, die Wahlen möglichst spannend zu halten, und damit als
Kopf-an-Kopf-Rennen darstellen zu können.
Die Wirksamkeit des Wahlzirkus im Dienste des Kapitals
Denn
der Wahlzirkus, wie überhaupt die bürgerliche Demokratie, ist ein
Hauptmittel der Vertuschung der Despotie des Kapitals, indem er die
Illusion weckt, dass die Bevölkerung selbst die Regierung und ihre
Politik bestimmen würde. Drittens aber die Erwägung, dass innerhalb der
herrschenden Klasse Deutschlands gewisse Nuancen derzeit erkennbar sind
hinsichtlich der Außenpolitik, welche es ratsam erscheinen lassen, sich
nicht frühzeitig auf eine Regierung Merkel-Westerwelle festlegen zu
lassen.
Nun,
die von uns vorausgesagte, wundersame rot-grüne Erholung bei den
Umfragen ist längst eingetreten. Auch wenn das Ansehen der bürgerlichen
Politik insgesamt, angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs und der
grassierenden Armut, immer mehr sinkt, so werden dennoch die
notwendigen Zutaten zusammengetragen, um in den Monaten bis zu den
kommenden Bundestagswahlen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung in
Beschlag zu nehmen. Dazu gehört die sorgsam geschürte Illusion, dass
die Bevölkerung wenigstens durch ein Protestwahlverhalten ihrem Unmut
über die erlittenen Angriffe des Kapitals wirksam Nachdruck verleihen
könnte (indem sie einfach die bestehende Regierung abwählt oder für
irgendwelche Randparteien stimmt). Dazu gehört aber auch das
Schreckgespenst des Wiederauflebens des Nationalsozialismus sowie der
daraus unvermeidlich zu ziehenden Schlussfolgerung des "Zusammenstehens
aller Demokraten" – sprich die Ausgebeuteten sollen sich hinter ihre
Ausbeuter stellen. Jedenfalls ist es der herrschenden Klasse angesichts
von über fünf Millionen amtlich gezählten Erwerbslosen ein dringendes
Anliegen, mittels der Demokratie die Arbeiterklasse davon abzuhalten,
über die Ausweglosigkeit der Krise des Kapitalismus nachzudenken. Wie
wirkungsvoll diese Waffe heute noch eingesetzt werden kann, um die
Bevölkerung um aufgebauschte Scheinalternativen herum zu polarisieren,
zeigt der letzte Wahlgang in den USA. Obwohl dort die Kontrahenten Bush
und Kerry sich ständig darin zu überbieten versuchten, wer mehr Waffen,
Soldaten und Polizisten aufzubieten gedachte, um die Interessen des
amerikanischen Imperialismus durchzusetzen, wurde der Wahlgang von den
Medien als Schicksalsentscheidung zwischen Krieg und Frieden
hingestellt.
Die Visa-Affäre als Ausdruck eines Unbehagens der Bourgeoisie
Inzwischen
hat sich die Lage in Deutschland weiter entwickelt. Diese Entwicklung
kann man anhand von drei Ereignissen ausmachen. Erstens an der
sogenannten Visa-Affäre um die besonders "freizügige" Vergabe von
Touristenvisa v.a. durch die deutsche Botschaft in Kiew. Zweitens am
Scheitern der Wiederwahl der rot-grünen Koalition unter Heidi Simonis
in Schleswig-Holstein aufgrund der wiederholten Stimmenthaltung aus den
eigenen Reihen bei vier Wahlgängen. Drittens anhand des "Jobgipfels",
welcher Mitte März angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen eiligst
einberufen wurde.
Die
Visa-Affäre und die Vorwürfe gegen den Außenminister und Vizekanzler
Joschka Fischer unterstreichen die Unzufriedenheit der deutschen
Bourgeoisie angesichts der als zu mager eingestuften Erfolge der
derzeitigen Außenpolitik. Vordergründig soll es dabei um die Kritik der
Tatsache gehen, dass aufgrund einer angeblich liberalen
Visa-Vergabepraxis ukrainischen Schleuserbanden Tür und Tor geöffnet
und damit die "innere Sicherheit" gefährdet wurde. Doch just zu der
Zeit, als das Auswärtige Amt seine Botschaft in Kiew zur großzügigeren
Vergabe von Touristenvisa anhielt, verlangte die jetzt in die Rolle des
Anklägers geschlüpfte CDU/CSU selbst öffentlich die Beförderung der
Einreise ukrainischer Staatsbürger. Die Gründe dafür liegen auf der
Hand. Zum einen können die deutschen Unternehmer die besonders billigen
ukrainischen Arbeitskräfte dringend gebrauchen, um die Lohnkosten
insgesamt noch mehr zu drücken. Zum anderen bedeutet die Beförderung
von Schleuserbanden nichts anderes als Kontaktpflege zu wichtigen
Teilen der ukrainischen Bourgeoisie. Die Einsetzung einer
Untersuchungskommission in dieser Sache ist vielmehr Ausdruck der
Unzufriedenheit angesichts mangelnder Erfolge dieser Kontaktpflege.
Denn nicht zuletzt gegenüber der Ukraine war es Washington und nicht
Berlin, das von der dortigen "orangefarbenen Revolution" – sprich die
Loslösung der Ukraine von der Umklammerung Moskaus – profitieren
konnte, um Kiew näher an die Vereinigten Staaten zu locken. Auch das
Auftauchen eines Abtrünnigen – vermutlich in den Reihen der SPD – in
Kiel, um die Fortsetzung der dortigen rot-grünen Koalition zu
sabotieren, mag vielleicht ein Hinweis darauf sein, dass die Zahl der
Kritiker der Politik von Schröder-Fischer innerhalb der deutschen
Bourgeoisie momentan eher zunimmt.
Somit
zeichnet sich eine etwas veränderte politische Konstellation ab
gegenüber den letzten beiden Bundestagswahlen. Als 1998 Rot-Grün die
Regierung Kohl ablöste, geschah dies im Zeichen der völligen
außenpolitischen Kontinuität. Vor allem die Ernennung Fischers als
Außenminister verkörperte die Entschlossenheit der deutschen
Bourgeoisie, die von Kohl und Genscher nach der Wiedervereinigung
eingeleitete Politik der vorsichtigen Herausforderung der USA
fortzusetzen, zu verfeinern, und propagandistisch im Zeichen der
"Friedenstaube" auszuschmücken. Diese Politik gipfelte in der offenen
Ablehnung der Invasion in den Irak durch die USA. Auch bei den Wahlen
von 2002, welche im Vorfeld des Irakkriegs stattfanden, wurde die
außenpolitische Übereinstimmung der führenden Fraktionen der deutschen
Bourgeoisie sichtbar. Denn die damaligen Kontrahenten Schröder und
Stoiber lehnten beide eine deutsche Kriegsbeteiligung an der Seite
Amerikas ab. Jetzt aber scheint sich innerhalb der Union, im Vorfeld
der Bundestagswahl von 2006, die Fraktion um Merkel durchzusetzen,
welche einer weniger zur Schau gestellte Herausforderung der
Vereinigten Staaten das Wort redet. Durch eine größere Bereitschaft, an
der Seite Amerikas zu agieren, verspricht sich diese Fraktion größere
Möglichkeiten, um die Politik Washingtons wirksam zu sabotieren und
eigene Vorteile für den deutschen Imperialismus herauszuschlagen. Dass
Merkel gegenüber ihrem Kontrahenten Stoiber innerhalb der Union um die
Frage der Kanzlerkandidatur derzeit die Nase vorn zu haben scheint,
muss nicht eine Vorentscheidung der deutschen Bourgeoisie zugunsten
einer künftigen Regierung Merkel-Westerwelle bedeuten. Denn es würde
allen bisherigen Gepflogenheiten der CDU/CSU widersprechen, wenn ein
bereits einmal gescheiterter Kanzlerkandidat aus Bayern direkt wieder
aufgestellt würde. Wenn es sich bewahrheitet, dass 2006 zwei Kandidaten
gegeneinander auftreten – Schröder und Merkel – welche in der
Außenpolitik zwar das gleiche Ziel verfolgen, aber etwas
unterschiedliche Mittel befürworten, um dieses Ziel zu erreichen, dann
kann man davon ausgehen, dass dieses Wettrennen mit besonders harten
Bandagen ausgefochten wird. Und wenn beide Kandidaten alles aufbieten
müssen, um die deutsche Bourgeoisie von ihren jeweiligen Methoden zu
überzeugen, so kann das nur von Vorteil sein, um die lohnabhängige
Bevölkerung ideologisch in Beschlag zu nehmen.
Der Jobgipfel: Eine Alibiveranstaltung
So
schauen momentan die Medien "gebannt" nach den kommenden Landtagswahlen
in Nordrhein-Westfalen, welche bereits als Vorentscheidung für 2006
bezeichnet werden. Und tatsächlich: Da die Zugänge zu den staatlichen
Quellen von Macht, Einfluss und Reichtum nicht allein auf Bundesebene
zu finden sind, sondern in den Städten und v.a. auf Länderebene
ebenfalls sprudeln, könnte Teilen der SPD die Lust auf das Regieren auf
Bundesebene vergehen, wenn der Preis dafür die Verlust der
Vorherrschaft über das bevölkerungsreichste Bundesland wäre.
Denkbar
wäre also ein Verschnaufpause der Sozialdemokratie in der Opposition,
damit sie sich um die Gunst v.a. der eigenen Stammwählerschaft
erfolgreicher bemühen kann. Ein solcher Wechsel hätte natürlich auch
den Vorteil, dass kaum etwas die demokratischen Illusionen besser
aufzupolieren imstande ist als ein Regierungswechsel. Jedoch kann man
festhalten, dass in der heutigen Zeit, wo die Arbeiterklasse ihre
eigene Klassenidentität – geschweige denn eine eigene
Klassenperspektive – noch nicht wieder erobern konnte, dieser Gang in
die Opposition noch nicht zwingend erforderlich ist, um den eigenen Ruf
zu retten. In Großbritannien beispielsweise befindet sich die
Sozialdemokratie unter Blair noch länger an der Regierung als in
Deutschland, ohne dass sie dadurch schon verschlissen wäre.
Der sogenannte Jobgipfel am 17. März in Berlin offenbarte dafür eine andere Sorge der politischen Klasse: Nämlich dass angesichts der Dauerkrise des Systems beide großen "Volksparteien" – also SPD und Christdemokraten – gleichermaßen an Einfluss und an Mobilisierungspotential bei den Wahlen einbüßen. Denn die besondere Stabilität des deutschen wie auch des britischen Parteiensystems ruht nicht zuletzt auf dem Vorhandensein zweier großer Parteien, welche von "links" und "rechts" sich gegenseitig ablösen können. Der Jobgipfel war eine Alibiveranstaltung mit dem Ziel, den Opfern der kapitalistischen Krise vorzugaukeln, dass diese Säulen der bürgerlichen Demokratie sich um die Probleme der Arbeiterklasse kümmern. Vor allem galt es aber zu verhindern, dass die Arbeiter damit anfangen, sich selbst als Klasse um ihre Probleme zu kümmern. 19.03.05