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Der folgende Artikel entspringt einem Bericht, den die deutsche Sektion der IKS anlässlich ihrer territorialen Konferenz im April 2008 verfasst hatte. Auf dieser Konferenz waren erstmals auch Genoss/Innen zugegen, die nicht der IKS angehören. Damit haben wir eine alte Tradition wieder aufleben lassen, die schon von der alten Arbeiterbewegung praktiziert worden war. Abgesehen von unserer Absicht, dem politischen Milieu in der Arbeiterklasse einen Einblick in unser internes Leben zu ermöglichen, versprachen wir uns von der Anwesenheit von Nicht-IKS-Mitgliedern auch eine Bereicherung der Diskussion auf der Konferenz. Eine Erwartung, die sich auch und gerade in der Diskussion über den Bericht zur nationalen Lage erfüllt hat. Insbesondere an der Frage der Solidarität, in der wir eine signifikante Veränderung in der Entwicklung des Klassenkampfes zu beobachten vermeinen, entzündeten sich einige Kontroversen. So gab es Genossen, die unseren Optimismus hinsichtlich der Rolle der Solidarität in den jüngsten weltweiten Kämpfen unserer Klasse nicht teilten. Ohne die Tendenzen zu einer verstärkten Solidarität zu verneinen, verwiesen sie dabei auf entgegengesetzte Tendenzen wie die Vereinzelung der Menschen, der grassierende Korporatismus in der Arbeiterklasse, der Individualismus, etc. Es war diesen Interventionen zu verdanken, dass sich die Diskussion in ihrem weiteren Verlauf zu einem echten Beispiel für Debattenkultur entwickelte. Am Anfang stand unsere These - die Tendenz zur Solidarisierung in den Arbeiterkämpfen. Dem schien die Antithese gegenüber zu stehen - die Gegentendenzen der wachsenden Konkurrenz innerhalb unserer Klasse. Und am Ende mündeten diese anfangs entgegengesetzt scheinenden Positionen in einer Synthese. Wir kamen darin überein, dass die Tendenz der Solidarisierung eben nur eine... Tendenz ist, wenn auch eine nicht unwichtige, dass es aber neben ihr durchaus auch andere, konträre Tendenzen gibt. Wir gelangten ferner zu der Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse heute oft nur sporadisch Solidarität praktiziert, sie oft mehr spontan denn als mit Vorbedacht ausübt. Damit diese Solidarität aber kein Muster ohne Wert bleibt, muss sie auf kurz oder lang mit der Perspektive einer besseren Welt, mit dem Kommunismus verknüpft werden. Und hier liegt das wahre Verdienst der Interventionen jener GenossInnen: Die Solidarität ist keine Sache, die sich automatisch aus der Krise und aus der Verschlechterung der Lebenslage ergibt. Sie muss theoretisch untermauert, mit einem Ziel versehen, zu einem bewussten Akt gegen das herrschende System werden. Andernfalls verkümmert das zarte Pflänzchen der Solidarität, das heute da und dort bereits sprießt.
Wir veröffentlichen hier hauptsächlich den Teil des Berichtes zum Klassenkampf in Deutschland, was ohnehin der Hauptteil war, und uns für die Debatte momentan auch am wichtigsten erscheint.
Die letzten Jahre waren gekennzeichnet von einem Phänomen, das die unselige Kampagne über den angeblichen Tod des Kommunismus noch in den neunziger Jahren für tot erklärt hatte - den Klassenkampf des Proletariats. In der Tat erlebt Deutschland zurzeit den Abschied von der viel gerühmten "Sozialpartnerschaft" zwischen Kapital und Arbeit, die dem Land jahrzehntelang zu einer der niedrigsten Streikquoten auf der Welt verholfen hatte. Das Jahr 2007 zeitigte so viele Streiks wie seit anderthalb Jahrzehnten nicht mehr.
Es ist sicherlich richtig, dass die aktuellen Kämpfe der Arbeiterklasse in Deutschland relativ unspektakulär daherkommen. Es trifft ebenfalls zu, dass fast alle dieser Kämpfe noch fest im gewerkschaftlichen Würgegriff stecken. Das Bestreben, den Kampf in die eigene Hände zu nehmen und ihn auszudehnen, ist allenfalls rudimentär vorhanden. Und dennoch messen wir den aktuellen Kämpfen ein größeres Potenzial bei, als sie auf dem ersten Blick vermuten lassen. Was veranlasst uns zu diesem Optimismus?
Die wirtschaftliche Lage des deutschen Kapitalismus
Ein Grund hierfür ist im fortgeschrittenen Stand der Wirtschaftskrise zu suchen. Lange Zeit war es der deutschen Bourgeoisie gelungen, die Folgen der seit Ende der sechziger Jahre grassierenden Überproduktionskrise relativ glimpflich zu überstehen. Der "rheinische Kapitalismus", der sich neben der o.g. "Sozialpartnerschaft" vor allem durch die enge Vernetzung des heimischen Finanz- und Industriekapitals auszeichnete, besaß in den siebziger und achtziger Jahren Vorbildcharakter für andere Industrieländer ("Modell Deutschland"). Doch in den neunziger Jahren änderte sich das Bild. Plötzlich galt Deutschland als der "kranke Mann Europas"; sein Bruttosozialprodukt wies das geringste Wachstum in der Europäischen Union auf, die Arbeitslosenquote dagegen gehörte zu den höchsten in den westlichen Industrieländern. Die "Deutschland AG", in den Zeiten des Kalten Krieges eine Erfolgsstory, erwies sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem darauffolgenden Liberalisierungsschub des Weltmarktes als zunehmend untauglich. Ihr "Konsensprinzip" entpuppte sich als größtes Hemmnis bei dem Vorhaben der deutschen Bourgeoisie, ihre Wirtschaft konkurrenzfähig zu halten.
Der größte Trumpf des deutschen Kapitalismus ist seine industrielle Potenz. Die deutsche Wirtschaft gehört schon seit Jahrzehnten zu den Hauptexporteuren von Industriegütern. Und auch die Tatsache, dass Deutschland in den letzten Jahren seine Stellung als Exportweltmeister zurückerobern konnte, ist zu einem großen Teil auf den reißenden Absatz deutscher Maschinen, Autos etc. in aller Welt zurückzuführen. In einem gewissen Sinn ist Deutschland die "Werkstatt der Welt". Wie kein anderes Industrieland dominiert der deutsche Kapitalismus die Königsdisziplin der kapitalistischen Produktionsweise - die Produktion der Produktionsgüter, den Maschinenbau, der neben der wirtschaftlichen Basis gleichzeitig auch die Grundlage für die imperialistischen Ansprüche der deutschen Bourgeoisie bildete und bildet. (Ein Beispiel: Als Hitler an die Macht kam, konnte er die Wiederaufrüstung der Reichswehr - nach ihrer massiven Abrüstung durch den Versailler Vertrag - dank dieser industriellen Kraft in kürzester Frist durchführen und Deutschland wieder zu einem waffenstarrenden Land machen.) Da der deutsche Kapitalismus andererseits, anders als beispielsweise die angelsächsischen Länder, deren wirtschaftliche Stärken im globalen kapitalistischen Finanzsektor liegen, nie einen sonderlich großen Einfluss auf die Finanzmärkte ausübte, kann er nicht auf seine industrielle Basis verzichten und etwa durch den Ausbau seiner Finanzinstitutionen kompensieren, wie es in Großbritannien, aber auch in den USA der Fall ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Brutalität der Angriffe, die das Kapital gegen die Arbeiterklasse in Deutschland in den letzten Jahren lanciert hatte.
Mit der Agenda 2010, Hartz IV, der Renten- und Gesundheitsreform kündigte Rot-Grün, ganz im Sinne der Herrschenden, den Wohlfahrtsstaat einseitig auf. Fortan galt das Versprechen auf einen sicheren Lebensabend und auf ein besseres Leben für die Kinder nicht mehr. Auch der zurzeit der sozialen Marktwirtschaft gepredigte Glaubenssatz: Wenn es der Firma gutgeht, geht es auch den Beschäftigten gut, ist nur noch Makulatur. Seither ist die Arbeiterklasse in Deutschland der vollen Wucht der Krisenmaßnahmen der Herrschenden ausgesetzt. Das Ergebnis ist eine unerhörte Prekarisierung immer größerer Teile der Arbeiterklasse: jener, deren Lebenshaltungskosten durch Hartz IV auf ein Minimum zusammengestrichen wurde und denen eine bittere Altersarmut droht, und jener, die als Zeitarbeiter, Tagelöhner, Praktikanten usw. für einen Hungerlohn schuften und denen die jederzeitige Arbeitslosigkeit droht. Nicht zu vergessen die andere “Hälfte” der Arbeiterklasse, die noch unter "regulären" Bedingungen ihre Arbeitskraft verkauft: Nachdem diese ArbeiterInnen in den letzten fünfzehn Jahren durch die Tarifabkommen bereits erhebliche Reallohneinbußen erlitten hatten, sehen sie sich spätestens seit letztem Jahr mit einer sprunghaft angestiegenen Inflation (mittlerweile bei drei Prozent) konfrontiert, die eine weitere Verminderung ihrer Konsumfähigkeit zur Folge hat.
Der Klassenkampf in Deutschland: Ein Sprung in Quantität und Qualität
Die Verschärfung der seit Ende der 60er Jahre schwelenden Überproduktionskrise und die damit einhergehenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der LohnarbeiterInnen vertreiben sukzessive die Illusionen, die unsere Klasse in diesem Gesellschaftssystem noch hat; sie erschüttern ihr Vertrauen gegenüber dem Kapitalismus als beste unter allen Gesellschaften, als das Nonplusultra in der Menschheitsgeschichte. Vor allem aber haben sie die Arbeiterklasse in Deutschland aus den Winterschlaf der Nach-Wende-Jahre gerissen und ihren Kampfgeist angestachelt. Letztere hat mit ihren Protesten, Streiks und Betriebsbesetzungen, die sich seit 2004 (Mercedes und Opel) häufen, unübersehbar bewiesen, dass die internationale Wende im Klassenkampf schon längst in Deutschland angekommen ist.
Dafür spricht nicht nur die reine Statistik, d.h. die deutlich gestiegene Quantität der Streiks, auf die wir bereits eingangs hingewiesen hatten, sondern auch und vor allem die neue Qualität der Kämpfe in den letzten drei Jahren. Sicherlich, verglichen beispielsweise mit den so genannten Septemberstreiks 1969 und den Streiks bei Ford 1973 in Westdeutschland, nimmt sich der aktuelle Klassenkampf, oberflächlich betrachtet, geradezu "langweilig" aus: keine wilden Streiks, keine Massenversammlungen, keine Aufruhrstimmung, alles fest in gewerkschaftlicher Hand. Doch der Vergleich zwischen '68 und den heutigen Arbeiterkämpfen hinkt in gewisser Weise. Damals traf die Arbeiterklasse auf völlig überrumpelte Gewerkschaften; ihre wilden Streiks ergaben sich quasi automatisch aus der Abwesenheit Letztgenannter. Heute dagegen hat es die Arbeiterklasse auch und gerade in Deutschland mit einem Gegner zu tun, der mit Argusaugen auf jede Regung von Widerstand in der Klasse achtet und ihn mit Finten, Täuschungsmanövern und Mimikry zu brechen versucht. Damals ging eine Arbeiterklasse zum Angriff über, die unbefangen und voller Illusionen über ihre Perspektiven im kapitalistischen Nachkriegsdeutschland war. Heute treffen wir auf eine Klasse, die wachsende Zweifel über eben diese Perspektiven hegt, aber noch vor der Ungeheuerlichkeit der Konsequenzen zurückscheut.
Darüber hinaus bergen die aktuellen Kämpfe unserer Klasse einen wichtigen Keim der Politisierung in sich, ist doch ein zentrales Anliegen vieler dieser Kämpfe die Frage der Solidarität. Schon der Kampf bei Daimler 2004, mit dem die jüngste Welle von Klassenkämpfen in Deutschland eingeläutet wurde, machte dies deutlich. Hier traten die Mercedesarbeiter in Bremen aus Protest gegen den Versuch des Vorstandes, sie gegen ihre KollegInnen in Sindelfingen auszuspielen, in den Streik. Aber auch die jüngsten Auseinandersetzungen an der Klassenfront standen im Zeichen der Solidarisierung: Im Falle der Nokia-Betriebsschließung in Bochum waren es die Arbeiter aus der nahegelegenen Opel-Fabrik, die in einen mehrstündigen Solidaritätsstreik traten und zudem der Nokia-Belegschaft anboten, sich im Falle eines Streiks bei Nokia anzuschließen. Im Falle des BVG-Streiks in Berlin, einer der längsten unbefristeten Streiks in der Geschichte der Bundesrepublik, waren es die jüngeren und neu eingestellten Kollegen, die sich aus Solidarität dem Streik der "Altbeschäftigten" anschlossen, was um so erstaunlicher ist, weil es sich hierbei um einen Akt der Solidarität der finanziell schlechter gestellten Kollegen mit ihren besser bezahlten Kollegen handelte.
Wir denken, es ist kein Zufall, dass die aktuellen Kämpfe - stärker als in der Periode von 1968 bis 1989 - ihr Augenmerk auf den Aspekt der Solidarität legen. Neben der Brutalität der Angriffe ist es vor allem die Tatsache, dass der deutsche Staat seine eigene "Solidarität" mit den LohnarbeiterInnen aufgekündigt hat. Unter dem Druck der Krise ist die herrschende Klasse gezwungen, den so genannten Wohlfahrtsstaat zu demontieren, der in den 50er und 60er Jahren auch aus politischen Gründen eingeführt worden war. "Vater Staat" sollte - dies war der Hintergedanke - mit seinen milden Gaben (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Ausbau der Renten- und Krankenversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung) die proletarische Solidarität überflüssig machen. Die Tatsache, dass der Standort Deutschland Zahlungen in diesem Umfang sich nicht mehr leisten kann und sich auch nicht zu leisten gedenkt, zwingt die ArbeiterInnen dazu, den Solidaritätsgedanken wiederzubeleben. Dies wird nicht nur auf der Ebene des offenen Kampfes sichtbar, sondern auch im Privatleben unzähliger Arbeiterfamilien: Man denke nur an die vielen Fälle, in denen die Alten ihren Kindern und Enkeln finanziell unter die Arme greifen, wie auch umgekehrt.
Seit dem Ende der Konterrevolution im Allgemeinen und seit 1968 im Besonderen hat die Arbeiterklasse in Deutschland stets am internationalen Klassenkampf partizipiert, doch hinkte sie ständig ihren Klassenbrüdern und -schwestern im Ausland mehr oder weniger hinterher. Doch nun bahnt sich eine substanzielle Veränderung an: Seit 2004 übt die hiesige Klasse nicht nur eine aktive, sondern auch eine zunehmend führende Rolle im internationalen Arbeiterkampf aus. Wir gehen sogar so weit zu sagen, dass die französische Arbeiterklasse als eine Speerspitze des internationalen Klassenkampfes von der Arbeiterklasse Deutschlands begleitet wird. Man mag einwenden, dass die französische Studentenbewegung von 2006 die deutlichste Manifestation des Massenkampfes und der Selbstorganisierung war. Doch bei allem Enthusiasmus über den Kampf der StudentInnen in Frankreich gegen das CPE sollte man nicht übersehen, dass die Studentenschaft eher zur Peripherie der Arbeiterklasse gehört, da StudentInnen strenggenommen nur ansatzweise (als Jobber zur Finanzierung ihres Studiums) Lohnarbeiterstatus besitzen. In Deutschland dagegen gehen die Solidaritätsimpulse unter anderem vom industriellen Kernbereich der hiesigen Klasse aus. In Deutschland entwickelt sich in Teilen der Arbeiterkonzentrationen an Rhein, Ruhr und Neckar schon seit Jahren allem Anschein nach ein neues Selbstbewusstsein und Verantwortungsgefühl für den Rest der Klasse. So haben bereits in den neunziger Jahren die Mercedes-ArbeiterInnen mit ihren Streiks den Versuch der Kohl-Regierung vereitelt, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einzuschränken, und sie haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie dabei nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch und vor allem die Interessen aller Lohnabhängigen verteidigen.
Die Anzeichen mehren sich, dass die Arbeiterklasse in Deutschland wieder an ihre alte Rolle der Vorhut des internationalen Proletariats anknüpft, die sie insbesondere vor der Konterrevolution gespielt hatte. Denn wie das deutsche Kapital aufgrund seiner industriellen Potenz (s.o.), seiner geographischen Lage und der Bevölkerungsmasse Deutschlands (im Verhältnis zu den meisten anderen westlichen Industrieländern) eine Schlüsselstellung in der Weltwirtschaft innehat, so übte das deutsche Proletariat seit jeher eine Ausschlag gebende Funktion im internationalen Klassenkampf aus. Daran hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert.
Der so genannte Linksrutsch in der politischen Klasse
Vor dem Hintergrund des ungebrochenen Kampfgeistes der Arbeiterklasse ist auch eine Entwicklung zu verstehen, die sich auf allen Ebenen dieser Gesellschaft Platz verschafft - ein allgemeiner Linksrutsch. Die Sprache der Medien, der bürgerlichen Intellektuellen und Ideologen bedient sich wieder der sozialen Rhetorik; sie räumen freimütig die Existenz von Klassen und der Klassengesellschaft ein. Begriffe, die noch in den 90er Jahren, als die New Economy und das Enrichissez-vous das Maß aller Dinge waren, Unworte waren, die unwiderruflich der Vergangenheit angehörten.
Besonders die politische Klasse verbreitet neuerdings eifrig ihre Soziallyrik über die "Gerechtigkeitslücke", über die unangemessenen Managergehälter, über eine "soziale Politik". Den Anfang machte die SPD, mit Kurt Beck als neuen Parteivorsitzenden, als sie - gegen den Widerstand des Arbeitsministers und Parteifreundes Müntefering, aber mit Zustimmung ihrer Koalitionspartner CDU und CSU (!) - die Verlängerung der Auszahlungsfrist des Arbeitslosengeldes 1 (ALG 1) für ältere Arbeitnehmer durchsetzte. Dem schloss sich die Debatte über staatlich verordnete Mindestlöhne an, die besonders von der SPD und Teilen der CDU forciert wurde. Es ging weiter mit der von den Medien und Politikern aller Couleur entfesselten Kampagne gegen zu hohe Managergehälter, die in keinem Verhältnis zu den erbrachten Leistungen stünden. Vorläufiger Höhepunkt war aber die effektvoll inszenierte Vorführung des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post, Zumwinkel, als Steuersünder. Der eigentliche Adressat dieser Manöver ist die Arbeiterklasse. Ihr wachsendes Bewusstsein über den wahren Charakter des Kapitalismus, über seine Perspektivlosigkeit gilt es zu trüben. Der Linksrutsch von Parteien, Verbänden, Kirchen, Medien verfolgt vor allem den Zweck, neues Vertrauen der Arbeiterklasse zum Staat und den ihm angeschlossenen Institutionen zu wecken. Der Zorn der ArbeiterInnen soll - das alte Lied vom schwarzen Schaf - gegen Spitzenmanager, einzelne Branchen (Zeitarbeit, Callcenter) und Praktiken (Outsourcing) gelenkt werden. Der Staat dagegen erscheint in diesen Kampagnen als Gegenkraft zum Privatkapital, als Garant der "Gerechtigkeit". Er soll - so wird uns weisgemacht - die "Auswüchse" des entfesselten und globalisierten Privatkapitals eindämmen. Die Absicht liegt auf der Hand: Die Arbeiterklasse soll mit allen Mitteln davon abgebracht werden, grundsätzliche Fragen über das herrschende Gesellschaftssystem zu stellen.
Mit der Partei Die Linke hält die herrschende Klasse einen weiteren Trumpf gegen die Arbeiterklasse hierzulande in der Hand. Allen offiziellen Verteufelungen zum Trotz passt der Erfolg, den diese Linkspartei derzeit feiert, der deutschen Bourgeoisie vortrefflich ins Konzept. All die Kritik am Populismus der Linken kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Melange aus alten SED-Kadern und westdeutschen Gewerkschaftern aktiv gefördert wurde. Kein deutscher Politiker wird so häufig zu Polit-Talks im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eingeladen wie Oskar Lafontaine, dem auf diese Weise ein Forum geboten wird, auf dem er sich an ein Millionenpublikum wenden kann. Was versprechen sich die herrschenden Fraktionen der deutschen Bourgeoisie von der Linkspartei?
Es ist nicht im Interesse dieser Kreise, dass die derzeitige Regierungskonstellation, die Große Koalition, längerfristig Bestand hat. Denn eine solche Elefantenhochzeit birgt zwei entscheidende Nachteile in sich. Zum einen besteht die akute Gefahr einer Erosion beider "Volksparteien", insbesondere der SPD, die bereits einen historischen Tiefstand in den Meinungsumfragen erreicht hat. Zum anderen würde eine längerfristige Festlegung auf eine große Koalition zu einem nachlassenden Interesse in der Arbeiterklasse an den Wahlen führen, was nicht im Sinne der Herrschenden sein kann. In dieser Situation - ein Vier-Parteien-System, bei dem sich Rot-Grün und Schwarz-Gelb gegenseitig lahmlegen - kommt Die Linke wie gerufen. Mit ihr ist es möglich, diese Pattsituation aufzulösen. Und seitdem der SPD-Parteivorsitzende Beck der hessischen SPD-Vorsitzenden Ypsilanti freie Hand bei ihrem Vorhaben gewährt hatte, sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, kommt Bewegung in die politische Landschaft Deutschlands. Plötzlich kommt es in Hamburg zur ersten schwarz-grünen Liaison auf Länderebene, und FDP-Chef Westerwelle löst sich von seiner einseitigen Ausrichtung auf die CDU/CSU, was die Installierung der so genannten Jamaica-Koalition in den Bereich des Möglichen rückt. Mit anderen Worten: die herrschende Klasse in Deutschland besitzt wieder mehr Optionen, um auf Veränderungen in der sozialen Lage flexibel reagieren zu können. Darüber hinaus hat sich die deutsche Bourgeoisie mit der Linkspartei ein Mittel geschaffen, um jenen Teil der Arbeiterklasse, der im Begriff ist, sich von dieser Gesellschaft abzuwenden, wieder auf das parlamentarische Terrain zurückzulocken.
Auch in die Gewerkschaften ist Bewegung gekommen. Vor allem hat sich eine Entwicklung verfestigt, die sich bereits vor einigen Jahren mit der Gründung bzw. Verselbständigung der Vereinigung Cockpit und des Marburger Bundes abgezeichnet hatte und die jetzt mit der Erfolgsgeschichte der GDL fortgesetzt wird: die Wiederauferstehung eines extremen Korporatismus. Dies ist ärgerlich für die bisher tonangebenden Gewerkschaften Ver.di sowie Transnet und andere sozialdemokratisch geführte DGB-Gewerkschaften, die einen Teil ihres Einflusses und ihrer Pfründe fortan mit anderen teilen müssen, aber durchaus im Sinne der herrschenden Fraktionen. Denn der Korporatismus ist nur eine weitere Methode, die Kämpfe der ArbeiterInnen voneinander zu isolieren. Wie peinlich genau die Herrschenden auf die zeitliche und räumliche Abgrenzung der einzelnen Kämpfe achten, demonstriert der BVG-Streik. Nicht nur dass ein gleichzeitig drohender Streik der Lokführer in letzter Minute abgewendet wurde, indem Druck auf Bahnchef Mehdorn ausgeübt wurde, damit dieser endlich gegenüber der GDL einknickt. Darüber hinaus ist es Ver.di gelungen, ein Zusammengehen des BVG-Streiks mit dem Tarifkampf der anderen Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes zu vermeiden, indem für die Tarifverhandlungen Letzterer eine Schlichtungskommission ins Leben gerufen wurde, was die Aussetzung eines möglichen Streiks der Müllmänner, Kita-Angestellter, LehrerInnen bedeutete. Doch der BVG-Streik zeigt noch etwas anderes. Die linken Fraktionen des Kapitals, mit den Gewerkschaften und Linksextremisten an vorderster Front, haben zunehmend Mühe, den Topf auf dem Deckel zu halten.
Der BVG-Streik ist eines von vielen Anzeichen dafür, dass die Bedingungen künftiger Massenstreiks langsam heranreifen. Denn viele Zeichen stehen auf Sturm: Einerseits kündigt sich mit der sehr wahrscheinlichen Rezession in den USA eine weitere Verschärfung der Krise und damit eine weitere Forcierung der Angriffe gegen die Arbeiterklasse an. Andererseits hat Letztere zu Genüge bewiesen, dass sie nicht gewillt ist, stillzuhalten und der Logik des Kapitals zu gehorchen. Mai 08