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"Uns droht immerhin die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg (...) Diesmal haben wir es nicht mit einer normalen Krise zu tun, sondern mit einer systemrelevanten Krise..." Dies stellte kein Geringerer als der selbsternannte Arbeiterführer und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, in einem Interview mit dem "Spiegel" (1) fest. Und er ist beileibe kein einsamer Rufer in der Wüste. Wenn es so etwas wie Einigkeit in der bürgerlichen Klasse weltweit gibt, dann ist es die Erkenntnis, dass diese Rezession, die im Sommer 2008 in den USA ihren Ausgang nahm, schon jetzt in ihrer voraussichtlichen Dauer, in der Rasanz ihrer Ausbreitung und in ihren Ausmaßen alles bisher Dagewesene seit 1929 bei weitem übertrifft. Kein Experte wird müde, vor einer drohenden weltweiten ökonomischen Depression zu warnen. Alle beteuern, dass sie in ihrem gesamten Leben so etwas noch nie erlebt hätten.
Nach dem Beben auf den Finanzmärkten nun der Tsunami in der Realwirtschaft
Fest steht, dass die Rezession von der Finanzkrise zwar nicht verursacht, aber ausgelöst und beschleunigt wurde. Deutlich wird dies am Beispiel der Automobilindustrie. Hier gingen die Absatzzahlen zwar schon seit dem vergangenen Sommer kontinuierlich zurück. Doch im Dezember, auf dem bisherigen Höhepunkt der US-Bankenkrise, purzelten die Verkaufszahlen der US-Autohersteller geradezu in den Keller. Allein bei Chrysler halbierten sich die Verkaufszahlen im Vergleich zum Vorjahresmonat. Ford (-32%) und General Motors (-31%) kamen nur wenig besser davon. Auch die deutschen Hersteller, wie Daimler, BMW, VW und Porsche, blieben nicht ungeschoren. Durch den Einbruch des wichtigsten Auslandsmarktes, der USA, gingen die Exporte deutscher Autos im Dezember um 22 Prozent zurück, aber auch im Inland schrumpften die Neuzulassungen um sieben Prozent.
Für Deutschland als einem führenden Automobilherstellerland hieß dies, dass die Krise nun auch die "Realwirtschaft" des deutschen Kapitalismus erreicht hatte. Der Einbruch im Absatz der deutschen Autohersteller hat weit reichende Folgen für die Gesamtwirtschaft. Als erstes müssen die Zuliefererbetriebe der Autoindustrie dran glauben, die nicht nur unter der Stornierung vieler Aufträge der Automobilhersteller, sondern unter der trotz aller Bemühungen der Politik immer noch herrschenden Kreditklemme ächzen. Stahl- und Metallindustrie sind die nächsten Leidtragenden dieser Krise, die noch weitere Kreise zieht und dabei auch die Chemieindustrie erfasst hat. Insbesondere die BASF muss zum ersten Mal in ihrer Firmengeschichte ganze Anlagen für Wochen stilllegen, mangels Aufträgen aus der Automobilindustrie. Das jüngste Beispiel dieses katastrophalen Schrumpfungsprozesses bildete das Scheitern des Rettungspaketes der deutschen und portugiesischen Regierung für den Halbleiterhersteller Qimonda. Darüber hinaus ist der Frachtverkehr, einer der größten Globalisierungsgewinner, massiv zurückgegangen (um bis zu 20 Prozent z.T.).
Krise, wohin das Auge blickt. In den hoch entwickelten westlichen Industrienationen genauso wie in den Armenhäusern dieser Welt, in den Erdölförderländern wie auch in den Schwellenländern, in praktisch jedem Industriezweig, in der Dienstleistungsbranche, im internationalen Handel. Um es mit den Worten eines Vertreters des deutschen Kapitals auszudrücken: "Jetzt haben wir eine synchrone Krise. Das ist neu." (2)
Das Krisenmanagement der Politik - ein Stochern im Nebel
"Tod dem Neoliberalismus! Es lebe der Keynesianismus!" So lautet der neue (alte) Schlachtruf der herrschenden Klasse. Quasi über Nacht ist somit eine ganze Denkschule, die seit zwei Jahrzehnten nahezu unangefochten die Politik der Industrieländer beherrscht hat, auf den Kopf gestellt worden - der Marktliberalismus. Gestern noch wurde uns erzählt, dass die Politik der Verschuldung der öffentlichen Haushalte Gift für die Volkswirtschaften sei und kommende Generationen aufs Schwerste belaste. Heute ist das alles Schnee von gestern. Heute gilt: Klotzen, nicht Kleckern.
Nach anfänglichem Widerstand seitens Merkel und Steinbrück, beide erklärte Gegner des keynesianischen deficit spending, d.h. staatlicher Ausgabenprogramme, rang sich die Bundesregierung nun zu einem - für deutsche Verhältnisse - gigantischem Konjunkturprogramm von über 50 Milliarden Euro für 2009 durch - zwei Prozent des Bruttosozialprodukts. Mit der Option, weitere 40 Milliarden auszugeben, falls sich die Rezession bis ins Jahr 2010 hinzieht.
Der aktuelle Hype um den Staat als letzten Rettungsanker für Wirtschaft und Gesellschaft und sein hektischer Aktionismus beim Aufspannen von "Rettungsschirmen" für Banken und Wirtschaft stehen in krassem Gegensatz zu seinen tatsächlichen Kräften. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die herrschende Klasse bei der Bewältigung dieser Rezession eigenen Worten zufolge nur "auf Sicht fährt"; die Situation ist trotz aller bisherigen staatlichen Interventionen alles andere als unter Kontrolle. Schockiert muss sie mit ansehen, dass der Virus der Wirtschaftskrise zunehmend Resistenzen gegen das Allheilmittel der herrschenden Klasse, staatliche schuldenfinanzierte Ausgabenprogramme, entwickelt. So ist es der Bundesregierung trotz ihres milliardenschweren Bankenfonds bisher nicht gelungen, den Interbankenverkehr wiederanzukurbeln und das produzierende Gewerbe aus der Kreditklemme zu befreien. Und auch das größte Konjunkturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik wird, wie selbst bürgerliche Experten einräumen, die Auswirkungen dieser Rezession allenfalls lindern (wenn überhaupt), aber keinesfalls verhindern. Darüber hinaus treiben solche Programme die Schuldenberge in noch schwindelndere Höhen und das bürgerliche Staatswesen letztendlich in Richtung Staatsbankrott.
Der Angriff gegen die Arbeiterklasse in zwei Akten
Hauptleidtragende dieser dramatischen Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland sind, wen wundert's, die über 40 Millionen Erwerbstätigen dieser Republik. Bei seinen Angriffen gegen die Arbeiterklasse verfährt das deutsche Kapital zweigleisig. Die ersten Opfer sind die LeiharbeiterInnen und die befristet Beschäftigten. Bereits im Dezember vergangenen Jahres, kurz vor den Weihnachtsferien, schickten die Automobilhersteller Tausende Leiharbeiter nach Hause. Und dies war erst der Anfang. Von den über 750.000 ZeitarbeiterInnen dürfen sich wahrscheinlich nur die wenigsten Hoffnungen auf eine Verlängerung des Zeitvertrages oder gar auf eine unbefristete Übernahme machen; sie werden im Laufe dieses Jahres so schnell aus der Produktion ausgemustert werden, wie sie in den letzten zwei, drei Jahren eingestellt worden waren.. Dass die Arbeitslosenzahlen im Dezember dennoch "nur" auf 3,1 Millionen gestiegen sind, liegt auch daran, dass ein Teil dieser nun arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer eine Zeitlang von ihren Zeitarbeitsunternehmen weiterbezahlt werden.
Das Empörende an der ganzen Angelegenheit ist, dass bis auf ein paar dürre Nachrichten im Dezember das Schicksal dieser nach Hunderttausenden, wenn nicht Millionen zählenden prekär beschäftigten Kolleginnen und Kollegen in der Öffentlichkeit fast völlig ausgeblendet wird. Ihr Los ist politisch gewollt, ihre Existenz das Ergebnis der Kampagne für "mehr Flexibilität" der Arbeitskraft, die - beginnend in den 90er Jahren - in der rot-grünen "Agenda 2010" ihren Höhepunkt fand. Mit ihnen hat sich das Kapital eine moderne Reservearmee geschaffen, die zu Konjunkturzeiten kurzfristig eingestellt und in Krisenzeiten ohne viel Federlesen von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt werden kann - ohne Recht auf Widerspruch und ohne Aufschrei in der Öffentlichkeit.
Doch die Leih- und ZeitarbeiterInnen werden nicht die letzten Opfer sein. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Arbeitslosigkeit weitere Kreise ziehen wird. Es gilt als nicht unwahrscheinlich, dass die Arbeitslosenzahlen in den nächsten 24 Monaten um weitere zwei Millionen steigen werden. Viele Betriebe haben trotz der Entlassung ihrer Kontingente an Leih- und ZeitarbeiterInnen immer noch einen deutlichen Personalüberhang. Damit dennoch die Stammbelegschaften vorerst von der Entlassungswelle unverschont bleiben, reden Merkel, Steinmeier & Co. derzeit mit Engelszungen auf die Manager der großen Konzerne ein, vorläufig keine "betriebsbedingten" Kündigungen auszusprechen. Zügig hat die Bundesregierung die Fristen für die Kurzarbeit verlängert. Darüber hinaus wird das Kurzarbeitergeld großzügig aufgestockt, sofern die betroffenen Beschäftigten an einer Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen.
Wie ist die geradezu fürsorgliche Belagerung der sog. Stammbelegschaften durch die Große Koalition zu erklären? Ein Motiv ist sicherlich die Sorge der kapitalistischen Klasse vor einer ernsten Beeinträchtigung der industriellen Basis Deutschlands. Schon heute herrscht in Deutschland, dem Land der Ingenieure schlechthin, ein akuter Mangel an denselben. Jede weitere Entlassungswelle in der Industrie führt zu einem weiteren Verlust von hochqualifizierten "Humankapital", das für viel Geld ausgebildet worden war. Oder um es in den Worten des bereits eingangs zitierten NRW-Ministerpräsidenten Rüttgers zu formulieren: Es besteht die "Gefahr, dass die industrielle Struktur Deutschlands auf lange Zeit und wahrscheinlich unwiederbringlich beschädigt wird". (3)
Doch das Hauptmotiv ist politischer Natur. Die größte Sorge der deutschen Bourgeoisie gilt der Gefahr eines sozialen Flächenbrandes, die droht, wenn die Krisenfolgen ungefiltert und ohne zeitliche Verzögerung auf die Erwerbstätigen abgewälzt werden. Ihr geht es vorrangig darum, einen Frontalangriff, einen synchronen Angriff gegen die gesamte Arbeiterklasse solange wie möglich hinauszuzögern. Auch im Zeichen einer Krise, die die gesamte Weltwirtschaft so massiv und so schnell erfasst hat wie nie zuvor, hält sie an ihrer alten Strategie fest, indem sie versucht, die Krisenfolgen häppchenweise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Und tatsächlich sind die Stammbelegschaften der deutschen Industrien bisher von Massenentlassungen weitgehend verschont geblieben. Indes melden sich die ersten Stimmen aus dem Kreise der Spitzenmanager gegen einen allgemeinen Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen im Wahljahr 2009 zu Wort. Schon jetzt versuchen Unternehmen, jüngere wie ältere KollegInnen mit mehr oder weniger hohen Abfindungen u.ä. zur "einvernehmlichen" Kündigung zu bewegen. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch der Kern der Arbeiterklasse in Deutschland wie in allen anderen Industriestaaten ins Fadenkreuz der Angriffe durch das Kapital gerät. Denn das steht fest: Wir haben noch nicht den Tiefpunkt dieser Rezession erreicht und stehen erst am Anfang der Offensive des Kapitals gegen die Arbeiterklasse. Das dicke Ende kommt erst noch.
Um es zu wiederholen: die viel beschworene "Renaissance des Staates" entspricht in keiner Weise seinen tatsächlichen Fähigkeiten als Krisenmanager, die doch, wie wir aus den letzten 40 Jahren sattsam wissen, äußerst eingeschränkt sind. Nie waren die bürgerliche Klasse und ihr staatskapitalistisches Regime so ratlos wie heute. Und nie war die Diskrepanz zwischen dem Vertrauen, um das die Regierung wirbt, und der Hilflosigkeit, die in ihrem "Krisenmanagement" zum Ausdruck kommt, so deutlich wie in diesen Tagen.
Es führt kein Weg vorbei: Wenn unsere Klasse sich selbst und die restliche Menschheit vor einer weiteren Eskalierung der Krisen und der Verelendung bewahren will, dann muss sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und darf es nicht in Hände staatlicher Funktionäre legen, die Teil des Problems, nicht der Lösung sind. 2.1.09
(1) Der Spiegel, Nr. 2, 5.1.2009.
(2) BASF-Chef Jürgen Hambrecht, zitiert im Berliner Tagesspiegel, 4.1.09.
(3) Der Spiegel, Nr. 2, 5.1.2009.