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Endlich ist wieder ein unerträglich großer weißer Fleck von der Landkarte der historischen Arbeiterbewegung fort. Mit seiner politischen Biographie "Richard Müller - Der Mann hinter der Novemberrevolution" hat Jungautor Ralf Hoffrogge dafür gesorgt. (1) Heute kennt kaum jemand den Namen Richard Müller und doch hatte er in der Deutschen Revolution 1918-1919 eine tragende Rolle gespielt. Ähnlich wie Leo Trotzki in Russland war Müller in Deutschland der Vorsitzende des Berliner Vollzugsrates der allgemeinen Arbeiter-und Soldatenräte. Wie Trotzki zur Russischen Revolution, so hat auch Müller eine bis heute unübertroffen fundierte Darstellung der revolutionären Ereignisse in Deutschland aus marxistischer Sicht geschrieben. (2) Das Buch Hoffrogges berichtet anhand der Biographie Richard Müllers über die Entstehung und Bedeutung der revolutionären Obleute, denen Müller selbst angehörte, sowie die Entwicklung und Vorstellungen des Rätesystems und der proletarischen Revolution in Deutschland. Weshalb ist dies für uns heute so wichtig? Erstens, weil die tatsächlichen Ereignisse bis heute meist totgeschwiegen, verzerrt oder mindestens marginalisierend dargestellt werden. Dies galt damals übrigens während des kalten Krieges für die Geschichtsschreibung auf beiden Seiten der Mauer. Gerade Müller und die Obleute passten in kein Schema, denn in der westdeutschen Geschichtsschreibung herrschte ein allgemeiner Antikommunismus, der dem Kommunismus stets was Totalitäres und Unterdrückerisches attestierte. Die revolutionären Obleute jedoch waren der elementarste Ausdruck der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland. Die Obleute um Müller organisierten zwar Streiks, Demonstrationen und Räte, doch betont Hoffrogge zu Recht: "Die Obleute und Müller selbst weigerten sich stets, Aktionen gegen die Mehrheit der Arbeiterklasse durchzusetzen, sondern handelten erst, wenn sie diese hinter sich wussten." (3) Doch auch in der ostdeutschen, stalinistischen Geschichtsschreibung war kein Platz für sie. Diese bemühte sich darum, die revolutionäre Opposition auf den Spartakusbund zu reduzieren und zu einer heroischen Parteigeschichte zu machen.
Können ArbeiterInnen ein politisches Bewusstsein entwickeln?
Dies ist eine Frage, wie man sie heute häufig vernimmt. Aus der Frage hört man (Selbst-)Zweifel und Unsicherheit heraus. Zurzeit gebe es ja "nur" Lohnkämpfe, von einer Revolution sei man meilenweit entfernt. Da ist sicher etwas dran, aber gerade die Kapitel, die den Zeitraum von 1914 bis 1919 behandeln, zeigen das Auf und Ab in der Entwicklung der Arbeiterklasse und in ihrem Ringen. 1914 billigten erst die Gewerkschaften, dann die Sozialdemokratie die Kriegskredite und setzten sich für den Burgfrieden ein, d.h. für die Einstellung des Klassenkampfes, um den Krieg zu unterstützen. Müller arbeitete als Dreher in Berlin. Die Dreher waren eine maßgebliche Gruppe in der (Kriegs-)Produktion der Großbetriebe. Sie traten bereits 1914 gegen den Burgfrieden auf, streikten wild. "Die Dreher wahrten nicht nur ihre Interessen, sie unterstützten auch andere schwächere Gruppen, besonders die Arbeiterinnen, bei Differenzen mit den Unternehmern." (4) Während des Krieges entstand vor allem in den Berliner Großbetrieben ein dichtes oppositionelles Netzwerk, das ab 1917 auch im ganzen Land Kontakte knüpfte und sich seit 1918 revolutionäre Obleute nannte. Obgleich es 1914 und 1915 - angeführt von den Obleuten - zu wilden Streiks kam, ging es in ihnen "nur" um ökonomische Forderungen, wie bessere Löhne und mehr Lebensmittel. Damals weigerte sich Müller noch ausdrücklich, sich mit "Parteipolitik" zu beschäftigen. Hoffrogge beschreibt nun anschaulich, wie sich diese bei der Mehrheit von ArbeiterInnen anzutreffende Haltung allmählich durch die Massenstreiks wandelte. Für die Gewerkschaften war der Massenstreik ausdrücklich kein Thema. Aber die Entwicklung nahm einen anderen Gang, als die ArbeiterInnen selbst dieses Kampfmittel wählten. Viele wissen heute, dass Karl Liebknecht am 1. Mai 1916 am Potsdamer Platz auf einer Demonstration rief: "Nieder mit dem Kriege! Nieder mit der Regierung!" und dafür eingesperrt wurde. Kaum bekannt ist aber, dass daraufhin die revolutionären Obleute aktiv wurden, als sie die Stimmung der ArbeiterInnen organisatorisch umsetzten. So organisierten sie für den 28. Juni 1916 den ersten politischen Massenstreik für die Befreiung Liebknechts, an der 55.000 Berliner und Braunschweiger ArbeiterInnen teilnahmen. Die folgenden Jahre sahen eine wachsende Vermischung von ökonomischen und politischen Kämpfen in Form von weiteren Massenstreiks. Die revolutionären Obleute und die kämpferischsten Arbeiter riskierten dabei ihr Leben, da sie Gefahr liefen, an die Front strafversetzt zu werden. Auch Richard Müller wurde dreimal an die Front strafversetzt. Die ersten Arbeiterräte wurden im Jahr 1917 in der Gestalt von Streikkomitees gegründet; sie stellten allerdings noch keine sozialistischen Forderungen. Am Werdegang Müllers lässt sich sehr anschaulich darstellen, wie sich ArbeiterInnen, die den ökonomischen Kampf von der "Politik" trennen wollten, sich immer weiter politisierten. So weit, dass schließlich im November 1918 den revolutionären Obleuten ihre eigenen Forderungen vom Januar 1918 - nämlich Frieden und Demokratisierung - nicht mehr weit genug gingen. Es musste sich wirklich etwas verändern. Was man brauchte, war eine tiefgreifende Revolution, ein Rätesystem - die proletarische Weltrevolution. Richard Müller und die anderen Obleute werden revolutionäre Anführer.
Die Abwesenheit einer revolutionären politischen Zentralisierung - eine Tragödie der Deutschen Revolution
Dicht folgt Hoffrogge Richard Müller und seinen Weggefährten auf den Spuren der revolutionären Ereignisse, schildert persönliche Augenzeugenberichte und bietet zugleich auch eine allgemeine und politische Einordnung der Geschehnisse an. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung des Verhältnisses zwischen den revolutionären Obleuten und dem Spartakusbund um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Auch wenn im Buch diese Schlussfolgerung nicht explizit gezogen wird, so wird doch in der Darstellung der Ereignisse deutlich, dass ein konzertiertes Vorgehen der Obleute und der Spartakisten für eine erfolgreiche Revolution unabdingbar gewesen wäre. Beide kämpften mit Leib und Seele für die Revolution. Beide hatten aber auch unterschiedliche Ausgangspunkte. Die Obleute waren Arbeiter, mit zunächst lokal und betrieblich begrenzter Wirkung, wobei sie dort, wo sie wirkten, die Unterstützung aller ArbeiterInnen, die sie als ihre Vertreter gewählt hatten, genossen.5 Sie hatten sich vor allem erst mit dem Krieg politisiert und waren z.T. mit der marxistischen Theorie nicht sehr vertraut. Der Spartakusbund um Liebknecht und Luxemburg auf der anderen Seite war eine zentralisierte politische marxistische Organisation, theoretisch und politisch sehr erfahren, welche als solche brutalsten Verfolgungen ausgesetzt war, und daher um ihren Einfluss in den Betrieben unter Lebensgefahr kämpfen musste. Obwohl sich die jeweiligen Besonderheiten beider Gruppe im Laufe der Revolution abmilderten, liegt es auf der Hand, dass sie ihre Kräfte am stärksten als Einheit hätten entfalten können. Aus verschiedenen und letztlich tragischen Gründen kam diese Einheit zu spät zustande. Dies bedeutete eine unglaubliche Schwächung der Revolution. Besonders deutlich wird das anhand der Ereignisse vom Januar 1919, die als Spartakusaufstand in die Geschichte eingegangen sind. Der Autor betont, dass es sich tatsächlich aber um den Aufstand der revolutionären Obleute um Müller gehandelt habe. Auf einer Buchvorstellung neulich in Berlin (6) haben wir eine Debatte darüber angestoßen, indem wir darauf aufmerksam machten, dass diese Auffassung von jener Richard Müllers abweicht. Müller hat nämlich in seiner Revolutionsgeschichte die These vertreten, dass es überhaupt keinen Aufstand in dem Sinne gab, sondern es sich vielmehr um eine Provokation der Konterrevolution um die SPD und die Militärs gehandelt habe. Müller wusste schon damals, dass das restliche Land noch nicht mitziehen würde, so dass die Gefahr bestanden hatte, dass die am weitesten entwickelte Arbeiterschaft Berlins isoliert geblieben wäre. In der Diskussion bestätigte Hoffrogge diese These. Schließlich geht es ihm nicht darum, "einen neuen Helden den alten hinzuzufügen. Gerade das Scheitern, Richard Müllers Dasein als Sisyphos der Revolution, der letztlich doch an seiner Aufgabe zerbrach und die Seiten wechselte, macht das Menschliche und Interessante dieser Persönlichkeit aus." (7)
Fazit
Zu Recht weist Hoffrogge in seiner Biographie darauf hin, dass Richard Müller zwar häufig für seine große Quellensammlung herangezogen wird, seine politische Einschätzung der Deutschen Revolution aber fahrlässigerweise übergangen wird. Richard Müllers Werk macht klar, dass die Deutsche Revolution mehr als nur der November 1918 und der so genannte Januaraufstand 1919 waren. Noch viel wichtiger ist, dass wir mit seiner Hilfe begreifen können, dass die Deutsche Revolution wirklich auf Messers Schneide stand, zwischen Sieg und Niederlage. Erst im Frühjahr 1919 schwenkte das Pendel dann zugunsten der Konterrevolution aus. Die politische Biographie über Richard Müller von Ralf Hoffrogge kommt gerade rechtzeitig heraus - nicht nur angesichts des 90-jährigen Jubiläums der Deutschen Revolution, sondern auch angesichts der sich wieder verstärkenden Kämpfe innerhalb der Weltarbeiterklasse. Richtig, noch sind die meisten Kämpfe (abgesehen von Ausnahmen) reine Lohnkämpfe, aber wir haben ja anhand der Biographie Richard Müllers gesehen, wohin das führen kann... 15.1.2009