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Für die Leute, die eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wollen, ist im Allgemeinen klar, dass es für eine solche Befreiung eine Revolution braucht und dass diese nicht über die Einrichtungen des bürgerlichen Staats, namentlich das Parlament, vollbracht wird. So lesen wir beispielsweise in einem Flugblatt, das im März dieses Jahres in Moldawien anlässlich der dort stattfindenden Wahlen verteilt wurde, folgendes: „Wahlen sind Verarschung!!! - Die herrschende Klasse gibt uns nur eine Möglichkeit, unter neuen oder alten Herren zu wählen. Aber was für einen Unterschied macht es, wer unser Blut saugen wird - bürgerliche Kommunisten, bürgerliche Demokraten oder bürgerliche Nationalisten?“[1] Bezeichnenderweise interpretierte die stalinistische KP, die in Moldawien an der Macht ist, dieses Flugblatt als Appell zum Sturz des Regimes und verfolgt die Leute, die es verteilten mit Strafklage.
Und doch müssen wir immer wieder feststellen, wie auch ehrliche Kämpfer für eine bessere Welt sich einspannen lassen für Kampagnen, in denen genau diese Mittel, die uns die bürgerliche Demokratie zur Verfügung stellt, Wahlen und Abstimmungen, noch einmal benützt werden. Warum?
Dieser Frage wollen wir anhand des aktuellen Beispiels der Kampfjet-Initiative nachgehen, und zwar unter zwei Aspekten:
1. Was sind die Gründe, die jeweils von den Verfechtern einer solchen Politik des Unterschriftensammelns genannt werden? Sind diese Gründe vereinbar mit unserem Ziel einer wirklich befreiten Gesellschaft?
2. Warum hat die demokratische Ideologie immer noch so viel Macht?
Warum Unterschriften sammeln - oder eben nicht?
Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee engagiert sich seit ihrem Beginn in den 1980er Jahren mit Unterschriftensammlungen gegen den Militarismus. Damals gab es eine grosse Friedensbewegung in Westeuropa gegen die Raketenstationierungen der NATO im Rahmen des Kalten Krieges. Die erste Volksinitiative, welche die GSoA 1986 einreichte, forderte die Abschaffung der Armee. Im November 1989, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, wurde die Initiative in der Volksabstimmung abgelehnt, wobei die Ja-Stimmen etwa 36% betrugen, was die GSoA so kommentiert: „Das überraschend gute Resultat führte in den folgenden Jahren zu einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Armee.“ (GSoA-Webseite, Geschichte)
Ganz ähnlich sind auch die Argumente zugunsten der jetzt eingereichten Initiative gegen neue Kampfflugzeuge. Die Schweizer Luftwaffe habe noch vor einem Jahr 33 neue Kampfjets anschaffen wollen. Unter dem Druck der Initiative habe die Armee ihre Ansprüche jetzt auf etwa 20 Flieger reduziert, die etwa eine Milliarde Franken weniger kosten würden (Pressemappe der Initianten vom 8. Juni 2008).
Im November 2009 wird es zur Abstimmung über eine weitere GSoA-Initiative kommen, eine „Initiative für ein Verbot von Kriegsmaterialexporten“.
In den 27 Jahren ihres Bestehens hat die GSoA Unterschriften für sechs eigene Initiativen und zwei Referenden gesammelt und weitere ähnliche Kampagnen unterstützt. Bis jetzt hat noch keine Abstimmung mit einem „Sieg“, das heisst einer Mehrheit der Stimmen zugunsten einer solchen Initiative, geendet. Und wenn man die zuvor zitierten Argumente anschaut, scheinen sich die GSoA-Leute darüber auch keine Illusionen zu machen. Es geht ihnen um den „Achtungserfolg“, um den angeblichen Druck, den sie mit einem relativ hohen Ja-Stimmen-Anteil erzeugen würden. Oder anders gesagt: „Wenn die GSoA nicht wäre, käme es noch schlimmer.“ - Was ist von diesem Argument zu halten?
Schon auf der Ebene der geschichtlichen Tatsachen hält das Argument der GSoA nicht lange Stand. Weder die Friedensbewegung in den 1980er Jahren noch die Armeeabschaffungs-Initiative bremsten die Aufrüstung im westlichen Block, zu welchem die Schweiz zwar nicht völkerrechtlich, aber faktisch gehörte. In Grossbritannien, Italien, Deutschland, Belgien und den Niederlanden wurden trotz Millionen von demonstrierenden Pazifisten Mittelstreckenraketen stationiert. Was dem Rüstungswettlauf in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein vorläufiges Ende bereitete, war die Bankrotterklärung des ‚Realsozialismus’. Gorbatschow war aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, den USA Abrüstungsverhandlungen vorzuschlagen[2]. 1989 brach dann bekanntlich der Ostblock zusammen. Dass nach diesem Ereignis die Schweizer Armee redimensioniert und auf neue nationale Aufgaben ausgerichtet wurde, war schlicht und einfach eine Frage der staatskapitalistischen Logik. Zu behaupten, diese Neuorientierung der schweizerischen Militärstrategie sei eine Folge der „beachtlichen“ 36% Ja-Stimmen für die GSoA-Initiative ist Schaumschlägerei.
Dasselbe betrifft die neu eingereichte Initiative gegen neue Kampfjets. Wenn heute die Luftwaffe bescheidener als ursprünglich gefordert erneuert wird, so entspricht dies einerseits dem normalen Lauf des parlamentarischen Geschäfts, andererseits dem Spardruck in der Krise.
Manchmal sind aber auch subtilere Argumente zugunsten solcher Volksinitiativen zu hören. Es heisst, dass die durch Abstimmungskampagnen angeregten Diskussionen in der Öffentlichkeit das „fortschrittliche“ Bewusstsein förderten. Vor allem trotzkistische Kreise behaupten im gleichen Atemzug, dass dadurch ein günstiges Kräfteverhältnis für eine „antikapitalistische“ Veränderung, ja letztlich für die Arbeiterklasse und die Revolution entstehe. Was ist davon zu halten? Wie soll dies vonstatten gehen? Wie soll eine Begründung, wie die folgende zugunsten des Kriegsmaterialexport-Verbots, eine radikale Bewusstseinsveränderung bewirken: „Die Schweiz ist wirtschaftlich nicht auf Waffenexporte angewiesen. Die Umstellung der Rüstungsbetriebe auf zivile Produktion muss vorangetrieben werden.“[3]? - Und wenn die Schweiz auf die Kriegsproduktion angewiesen wäre? - Dann müsste man, der Logik folgend, diesen Wirtschaftssektor ausbauen, damit die „Schweiz“ ihre Interessen weiter wahren kann? - Was ist diese „Schweiz“ anderes als die kapitalistische Schweiz im internationalen Konkurrenzkampf? - Wie soll dadurch, dass wir für die zivile (kapitalistische) Produktion einstehen, ein anderes Bewusstsein entstehen? Wie soll Klassenbewusstsein entstehen ohne vereinigende Kämpfe der Klasse? Mit System erhaltenden Abstimmungskampagnen, in denen die Arbeiter nicht als Arbeiter angesprochen werden, sondern als Staatsbürger?
Eine Frage nach der anderen, die uns niemand beantworten kann - weil es darauf keine Antworten gibt. Die GSoA vertritt sowohl in der Theorie als auch in der Praxis eine Politik im Rahmen des herrschenden Systems. Sie ist ein Rad in der staatskapitalistischen Maschine, ein Teil des bürgerlichen Apparats wie alle Parteien und Organisationen, die am parlamentarischen Betrieb im weitesten Sinn teilnehmen. Schade, dass sich dafür immer wieder engagierte Leute, die ehrlich für eine bessere Welt kämpfen wollen, einspannen lassen!
Hören wir endlich auf mit dieser Logik des Mitentscheidens in der Demokratie des kapitalistischen Staats!
Demokratie = Herrschaft des Kapitals
Aber wenn es mit einem solchen Aufruf getan wäre, müssten wir wohl nicht länger über Demokratie und Pazifismus reden. Diese Ideologien sind tief verwurzelt in dieser bürgerlichen Gesellschaft, in der wir immer noch leben.
Es reicht nicht, dass wir den Kapitalismus ablehnen. Der Antikapitalismus, die abstrakte Negation des Kapitalismus, ist lediglich die Ablehnung des Systems, aber vermag nicht darüber hinaus zu gehen. Die demokratische Ideologie entspricht am perfektesten der herrschenden Ordnung, der Warengesellschaft, wo es letztlich immer ums Zählen (der Stimmen, des Geldes, des Profits) geht. Es ist eine politische 0rdnung von atomisierten, isolierten Einzelpersonen - one man one vote!
Die Arbeiterklasse entwickelt in ihren Kämpfen spontan ein anderes Prinzip als das des demokratischen Interessenausgleichs: die Vereinigung der Kämpfe auf möglichst weit gespannter Grundlage, die Zentralisierung dieser Kämpfe in Vollversammlungen, Streikkomitees, arbeiterräteähnlichen Strukturen. Die kämpfende Arbeiterklasse sucht die Einheit, die für sie mit den Mitteln der Demokratie nicht zu erreichen ist. In der Demokratie gibt es nur die scheinbare Einheit des Volkes, eine Summe von Individuen, die für die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung so nützlich ist.
Den Schritt zur Überwindung der demokratischen Repräsentation, zur selbst organisierten, aktiven Vereinigung all derjenigen, die dasselbe Interesse haben - aller Arbeiter und Arbeiterinnen, Angestellten, Lohnabhängigen, Proletarier und Proletarierinnen - können nur die Betroffenen selber tun. Die Arbeiterklasse muss das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurück gewinnen - wie 1917/18, als Teile der Generationen unserer Gross- und Urgrosseltern einen ersten Anlauf zur Weltrevolution nahmen, der aber schliesslich 1923 stecken blieb.
Die Demokratie ist die letzte politische Bastion des Kapitalismus, eine Trumpfkarte, die er immer wieder neu aus dem Ärmel zieht. Obama ist der demokratischste US-Präsident aller Zeiten. Die Unruhen im Iran im Juni geben der Demokratie auch hier noch einmal neuen Aufwind. Der Pyjama-Putsch in Honduras kurz danach wird von der Organisation Amerikanischer Staaten als Angriff auf die Demokratie verurteilt. Die Putschisten und neuen Machthaber werden vom alten Parlament und der alten Judikative demokratisch abgesegnet. Der Konflikt in der Schweiz zwischen Exekutive, Judikative und parlamentarischer Geschäftsprüfungskommission um die Vernichtung eines Teils der Tinner-Akten ist rechtstaatlich kein ernsthaftes Problem - im Zweifelsfall hat die Exekutive aufgrund der Polizeiklausel den Vorrang. So funktioniert es im Staatskapitalismus. Es gibt nichts, was die demokratische Verfassung für die Bourgeoisie nicht richten könnte.
Ein erster Schritt zur Überwindung der demokratischen Ideologie ist der Bruch mit dem herrschenden politischen System, mit dessen Logik, mit dem Parlamentarismus in all seinen Formen. Dass sich die Bourgeoisie je länger je mehr auf diese letzte Verteidigungslinie zurück ziehen und alles daran setzen muss, überall die demokratische Legitimität zur Schau zu tragen, möglichst nur dort mit brutaler Gewalt vorzugehen, wo es zur Demoralisierung und zur Einschüchterung der Lohnabhängigen dient, nach Möglichkeit keine Massenempörungen hervorzurufen, sind Zeichen dafür, dass sie sich vor solchen Reaktionen der Klasse fürchtet. Solange aber im Proletariat nicht das Selbstvertrauen gewachsen ist und eine historische Alternative breit diskutiert wird, werden wir noch manche Neuauflage von Kampfjet-Initiativen und ähnlichem haben. Juli, 15.07.09
[1] Das Flugblatt wurde im deutschsprachigen Internet von den Unabhängigen Rätekommunisten (Revolution Times) verbreitet : https://www.geocities.com/raetekommunismus/Moldavia.html