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Was war das für eine Euphorie in den Tagen und Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer! Ein ganzes Volk, Bourgeois und Arbeiter, Ost- und Westdeutsche, schwebte auf Wolke 7. „Wahnsinn“ war das am häufigsten benutzte Wort für die sich überschlagenden Geschehnisse damals. Und „freudetrunken“ der Begriff, der den Geisteszustand der Bevölkerung in Ost und West in jenen Tagen vielleicht am besten umschreibt. Die Erwartungen, die sich an der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Wiedervereinigung knüpften, waren riesig. Die Arbeiter und Arbeiterinnen im Osten Deutschlands, also in der ehemaligen DDR, erhofften sich von ihr ein Leben in Freiheit und Wohlstand. Die Kapitalisten im Westen Deutschlands witterten ihrerseits große Geschäfte, riesige Märkte, die ihnen nun wie reife Früchte in den Schoß fielen. Die politische Klasse trug ihr Teil dazu bei, diesen Hoffnungen Auftrieb zu verleihen. Erinnert sei an die mittlerweile zum geflügelten Wort gewordene Formulierung von den „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl der ostdeutschen Arbeiterklasse versprach.
In diesem Jahr jährt sich der „Tag der deutschen Einheit“ nun zum zwanzigsten Mal. Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Was ist aus all den Hoffnungen und Erwartungen geworden? Sind sie erfüllt worden, oder sind sie in der rauen Realität des Kapitalismus westlicher Prägung zerstoben? Was ist aus den „blühenden Landschaften“ geworden? Hat Ostdeutschland Anschluss gefunden an das Niveau der westdeutschen Gesellschaft, oder hinkt es nicht vielmehr noch immer hoffnungslos hinterher? Kurz: ist die deutsche Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte, ein Impuls, der einen Aufbruch der deutschen Bourgeoisie zu neuen Ufern bewirkt hat? Oder ist sie nicht eher eine Demonstration dafür, dass im Zeitalter des Niedergangs des Weltkapitalismus die bloße territoriale Erweiterung, wie sie sich durch die Vereinigung beider deutscher Staaten ergeben hat, nicht nur zu einem Machtzuwachs der deutschen Bourgeoisie geführt hat, sondern auch ein Kraftakt war (und ist), der die wirtschaftliche und finanzielle Substanz der Bundesrepublik erheblich beeinträchtigt, wenn nicht sogar bedroht.
Die Währungsunion – der Anfang vom Ende der DDR-Wirtschaft
Als am 1. Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR in Kraft trat, geschah dies vor dem Hintergrund einer nicht abreißenden Auswanderungswelle von DDR-Bürgern. Täglich strömten Tausende und Abertausende von Menschen über die nun nicht mehr existente Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, um ihr Glück im „goldenen Westen“ zu suchen. Zum Teil verließen sie ihre Heimat Hals über Kopf, alles, in einigen wenigen Fällen sogar die eigenen Kinder, hinter sich lassend, so als befürchteten sie, der Traum von der „grenzenlosen Freiheit“ könne bald wieder zerplatzen.
Die herrschende Klasse Westdeutschlands stand also unter einem mächtigen Zugzwang, wollte sie dem Exodus aus Ostdeutschland Einhalt gebieten. Außerdem ging es darum, die Gunst der Stunde auszunutzen, um die deutsche „Wiedervereinigung“ zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Tatsache werden zu lassen. Ihre Lösung lautete: Angleichung der Lebensumstände Ostdeutschlands an den Westen – und zwar so schnell wie möglich und koste, was es wolle. So kamen über Nacht mehr als 17 Millionen DDR-Bürger (noch bestand die DDR) nicht nur in den Genuss westdeutscher wohlfahrtsstaatlicher Leistungen (Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung), sie wurden auch, was ihre Zahlungsmittel anging, zu Bundesbürgern: Ihre Löhne und Gehälter bzw. Renten wurden fortan in D-Mark ausgezahlt, und ihre Ersparnisse zum Teil 1:1, zum Teil 1:2 in selbige umgewandelt, was angesichts des krassen Verfalls der DDR-Währung jeder finanzwirtschaftlichen Logik zuwider sprach, doch politisch gewollt war.
Noch viel gravierender waren die Folgen dieser mit heißer Nadel gestrickten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion jedoch für die ostdeutsche Wirtschaft. Mit der Umwandlung der Löhne in D-Mark verteuerten sich von einem Tag auf den anderen die DDR-Produkte um ein Mehrfaches ihres ursprünglichen Preises. Nichts machte die hoffnungslose Unterlegenheit der DDR-Erzeugnisse deutlicher als die D-Mark in den Geldbeuteln der ostdeutschen Bevölkerung: Waren aus DDR-Produktion, für deren Erwerb die DDR-Bevölkerung gestern noch Schlange gestanden hatte, erwiesen sich nun als völlig überteuerte Ladenhüter. Konsumartikel westlicher Provenienz, vom Auto bis zum Waschmittel, vom Kaffee bis zur Hifi-Anlage, überschwemmten die (bis dato gähnend leeren) Regale der DDR-Warenhäuser und fanden reißenden Absatz in der nunmehr „solventen“ Bevölkerung Ostdeutschlands. Mit dem Zusammenbruch der ostdeutschen Konsumgüterindustrie brach auch die Grundlage der Produktionsgüterindustrie der DDR auseinander. Die Chemie- und Maschinenbaukombinate waren gleich in doppelter Weise gehandicapt: Neben dem Binnenmarkt brachen ihnen auch die traditionellen osteuropäischen Märkte der ehemaligen COMECON-Länder weg. Die Folge: „Mit Einführung der DM sank das Bruttoinlandsprodukt der Ex-DDR im zweiten Halbjahr 1990 real um 27,5 Prozent und im ersten Halbjahr 1991 nochmals über 25 Prozent.“[1]
Diese Entwicklung war durchaus absehbar. Die zahllosen Kontakte im Rahmen der deutsch-deutschen Handelsbeziehungen hatten der herrschenden Klasse der Bundesrepublik einen relativ tiefen Einblick in den hoffnungslosen Zustand der DDR-Ökonomie verschafft. Seit Anfang der 80er Jahre schwebte das Damoklesschwert des Staatsbankrotts über dem DDR-Regime, der zuletzt allein durch die Milliardenkredite der Bundesrepublik abgewendet werden konnte.[2] Die Wirtschaft befand sich größtenteils in einem völlig desolaten Zustand. Versorgungsengpässe und Mangelerscheinungen allerorten, überholte Technologien, marode Industrieanlagen, ruinierte Infrastrukturen und eine verwüstete Umwelt – dies alles waren trotz aller Geheimniskrämerei der DDR-Behörden schon lange unübersehbare Anzeichen dafür, dass sich die DDR-Wirtschaft spätestens seit den 70er Jahren im freien Fall befand.
Die Währungsunion vom 1. Juni 1990 war somit der Versuch, eine Wirtschaft, deren industrielle Substanz marode geworden war[3], ohne jeglichen Übergang in die „freie Marktwirtschaft“ der westlichen Industrienationen zu katapultieren. Dieser Versuch musste scheitern, und er sollte scheitern.
Die Treuhand: Die massivsteDe-Industrialisierung in der Geschichte
Waren die Konstrukteure der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – neben dem Bestreben, die imperialistischen Rivalen so schnell wie möglich vor vollendete Tatsachen zu stellen - noch primär von der Sorge getragen, nur durch eine schnelle Angleichung der Lebensumstände in Ost und West eine weitere Entvölkerung der DDR zu verhindern, so standen bei der Treuhand-Anstalt andere Interessen im Vordergrund.
Die Treuhand-Anstalt, ursprünglich auf Initiative von DDR-Bürgerrechtlern per Beschluss vom DDR-Ministerrat im März 1990 gegründet, entwickelte sich spätestens nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schnell zur größten Staatsholding der Welt. In ihrer kurzen Existenz (1994 wurde sie aufgelöst) übernahm sie die Geschicke von 8.000 sog. „Volkseigenen Betrieben“ (VEB) und vielen tausend Immobilien sowie Betriebsteilen. Ihre zentrale Aufgabe bestand darin, die „früheren volkseigenen Betriebe wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren“[4]. Dabei sollte sie sich selbst über die Verkäufe dieser VEB’s finanzieren. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass sich die herrschende Klasse Westdeutschlands die Beute, die ihr da wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war, prächtiger ausgemalt hatte, als sie in Wahrheit war. Schnell musste man anfängliche Schätzungen, die von einem Verkaufswert der DDR-Unternehmen in Höhe von 800 bis 1.000 Mrd. D-Mark ausgingen, nach unten revidieren. Im Treuhandbericht des Bundesfinanzministeriums vom 31. Oktober 1991 war nur noch von rund 200 Mrd. DM die Rede, die man aus der Liquidation der DDR-Wirtschaft einzunehmen gedenke. Aber auch dies waren Zahlen aus dem Wolkenkuckucksheim. Als die Treuhand 1994 aufgelöst wurde, hinterließ sie offiziell ein Defizit von 256,4 Mrd. DM. Und es sollte nicht die einzige Hinterlassenschaft der Treuhand sein...
Anfangs beherrschte ein interner Richtungsstreit den Kurs der Treuhand. Personifiziert wurde dieser Konflikt auf der einen Seite von Detlev Karsten Rohwedder – klassischer Vertreter des sozialdemokratisch geprägten Staatsinterventionismus, legendärer Sanierer des Stahlwerks Hoesch und seit August 1990 Vorsitzender der Treuhand-Anstalt – und auf der anderen Seite von Birgit Breuel – Verfechterin des Neoliberalismus, ehemalige CDU-Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachsen und nun Stellvertreterin Rohwedders im Treuhand-Vorstand. Der eine legte das Hauptgewicht auf die staatliche Sanierung der Ostbetriebe vor ihrer Privatisierung; die andere drängte auf die schnelle Privatisierung vor der Sanierung. Neben den vielen ungeklärten Eigentumsfragen sollte vor allem diese Auseinandersetzung die Arbeit der Treuhand in den ersten Monaten lähmen. Erst der Tod Rohwedders[5] löste diesen Stau auf.
Mit Breuel als neue Treuhand-Vorsitzende setzte sich letztendlich die Mehrheitsfraktion innerhalb der deutschen Bourgeoisie durch. Nun begann der Ausverkauf der soeben verblichenen DDR. Privatisierungen wie am Fließband: „Bis Ende März 1991 geschah das in rund 1.200 Fällen; bis Ende Mai registrierte man 1.900 Privatisierungen, und dann folgten etwa 300 bis 400 Privatisierungen im Monat; im Oktober 1991 durchschnittlich 24 pro Tag!“[6] Am Ende waren es über 15.000 Betriebe, Betriebsteile und Immobilien, die verramscht wurden. Oberste Priorität bei der Veräußerung des DDR-Nachlasses war nicht, wie die Treuhand vorgab, der Erhalt der Arbeitsplätze oder etwa der industriellen Struktur Ostdeutschlands, sondern das Bestreben, eben jene „industriellen Kerne“ in Ostdeutschland zu verhindern. Das westdeutsche Kapital hatte nicht die Absicht, sich seine eigene Konkurrenz heranzuzüchten. Was es benötigte, waren nicht neue Produzenten, die die allseitige Überproduktion nur noch weiter verschärft hätten, sondern neue Märkte. So tat denn die Treuhand alles, Versuche einer eigenständigen industriellen Entwicklung in Ostdeutschland zu torpedieren. Verhandlungen mit Investoren wurden solange hinausgezögert, bis diese absprangen. Betriebe wurden gegen den Willen der Belegschaften zerstückelt und ausgeschlachtet, wobei die Rosinen verhökert, der Rest hingegen in sog. „Beschäftigungsgesellschaften“ umgewandelt wurde. Anderen Betrieben wiederum wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, indem das Betriebsgelände an die Alteigentümer ausgehändigt wurde. Erfolg versprechende „Management-Buy-Out“-Konzepte (also der Erwerb des eigenen Betriebes durch leitende Angestellte und Vorstand) wurden von der Treuhand unter fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Am Ende waren 85 Prozent des von der Treuhand privatisierten DDR-Vermögens in westdeutscher Hand, nur zehn Prozent in ausländischem Besitz und ganze fünf Prozent im Besitz ostdeutscher Eigentümer.
Als die Treuhand am 31. Dezember 1994 aufgelöst wurde, hinterließ sie nicht nur Schulden in Milliardenhöhe (s.o.), sondern auch ein Land, das seiner industriellen Struktur beraubt war. Die „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl auf seiner Wahlkampftour durch Ostdeutschland im Sommer 1990 versprochen hatte, sind nie über kleine Oasen (Jena, Dresden, Leipzig) hinausgewachsen, umgeben von einer einzigen industriellen Wüstung. Die Autoindustrie in Zwickau? Von der Bildfläche verschwunden. Der traditionsreiche Maschinenbau Mitteldeutschlands? Ersatzlos „abgewickelt“. Die Elektroindustrie Ostberlins? Gibt es nicht mehr. Bereits im zweiten Halbjahr 1991 erwirtschaftete die ostdeutsche Industrie nur noch ein Viertel des Bruttoinlandproduktes vom 1. Halbjahr 1990. Mit anderen Worten: Was sich zwischen 1990 und 1994 zwischen Rostock und Leipzig, zwischen Erfurt und Frankfurt/Oder ereignet hatte, war nichts Geringeres als eine der massivsten Wellen der De-Industrialisierung in der Geschichte des modernen Kapitalismus.
Es ist keine Überraschung, dass die Treuhand-Anstalt zu einer der meist verhassten Institutionen in Ostdeutschland avancierte. In der Tat ist die Treuhand eines der Synonyme schlechthin für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung geworden – für eine Wiedervereinigung, die nicht auf Augenhöhe stattfand, sondern eher die Form einer Annexion annahm. Mit der Arroganz eines Siegers und im Stile eines Kolonialherrn fiel das westdeutsche Kapital, in seinem Schlepptau Heerscharen von Glücksrittern, Hochstaplern und Abenteurern, über Ostdeutschland her, machte alles platt, was noch nicht kaputt war, und sog alles aus diesem Land, was sich aus dessen Konkursmasse noch verwerten ließ. Übrig blieb ein Torso, der auf unabsehbare Zeit am Tropf westdeutscher Transferleistungen hängen wird.
(Fortsetzung folgt – Nächster Teil: Die Kosten der Wiedervereinigung)
[1] Martin Flug, „Treuhand-Poker. Die Mechanismen des Ausverkaufs“, Ch.Links-Verlag, Berlin, S. 54.
[2] "... Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt ...: von 2 Mrd. VM 1970 auf 49 Mrd. VM 1989." [VM: ValutaMark = DM West] (aus dem sog. „Schürer-Papier“ vom 18.10.89, benannt nach der Analyse des Chefs der staatlichen Planungskommission der DDR, Gerhard Schürer)
[3] Darüber können auch die internationalen Statistiken nicht hinwegtäuschen, die die DDR noch in den 80er Jahren als zehntstärkste (!) Industrienation aufführten.
[4] aus: Artikel 25 des Einigungsvertrages
[5] Rohwedder wurde am 1. April 1991 unter mysteriösen Umständen ermordet. Trotz eines angeblichen Bekennerschreibens bestehen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version, die von der RAF als Täter ausgeht. Neben vielen anderen Ungereimtheiten entsprach auch das Tatmuster (Rohwedder wurde aus größerer Entfernung von einem Scharfschützen mit einem einzigen Schuss getötet) nicht dem üblichen Vorgehen der RAF-Terroristen. Die Täter sind bis heute nicht gefasst.
[6] Martin Flug: „Treuhand-Poker“, S. 44.