Direkte Demokratie - Noch eine Illusion, die uns ans System binden soll

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In vielen Diskussionen oder Interventionen, sei es beim Presseverkauf auf der Strasse, auf den Demonstrationen oder unseren öffentlichen Veranstaltungen, aber auch anderswo, hört man Sorgen oder Befürchtungen über die Zukunft. Im selben Atemzug werden Politiker oder Parlamentarier für das herrschende Elend verantwortlich gemacht, beschuldigt, dass sie unfähig seien, sich für ein besseres Leben einzusetzen, dafür zu kämpfen, den Lebensstandard zu erhöhen. Da hat die Bourgeoisie mit ihrer „besten aller Regierungsformen“, der Demokratie, eine Reihe von Alternativen anzubieten. Das bekannteste Beispiel dafür ist aktuell der „Obamaismus“. Vor den Präsidentschaftswahlen in den USA wurden die Auftritte Obamas mediengerecht aufgezogen, wurde er selbst – nicht nur im eigenen Land – wie ein Popstar gefeiert. Viele Leute haben noch einmal Hoffnung auf eine Veränderung geschöpft – eine Veränderung im Rahmen dieses Systems.

In der Schweiz werden diese demokratischen Illusionen nicht nur durch Wahlen von Personen, sondern zusätzlich durch Referenden und entsprechende Abstimmungskämpfe um so genannte Sachvorlagen genährt.

Am diesjährigen 1. Mai in der Schweiz feierten die Redner der Gewerkschaften den „Sieg“ vom 7. März 2010, als das „Stimmvolk“ in einem Referendum der Linken die Senkung des Umwandlungssatzes bei der beruflichen Vorsorge (Rentenklau bei den Pensionskassen) ablehnte. Die „kommunistische“ PdA sagte am 7. März: „Der heutige Sieg ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die weiteren geplanten Abbaumassnahmen des Sozialstaats der bürgerlichen Parteien.“ Die Linken riefen gleich auf zum nächsten „fulminanten Abstimmungskampf“ beim Referendum gegen die Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, für das am 1. Mai eifrig Unterschriften gesammelt wurden - gerade auch von vielen jungen Unzufriedenen. Sie sammelten Unterschriften gegen diese Gesetzesänderung, die natürlich eine Verschlechterung für die Arbeitslosen vorsieht; andere sammelten Unterschriften für eine Initiative „Gemeinsam für gerechte Löhne“ oder für eine andere Initiative „Familiengerechte Stadt Zürich“; die Gruppe Schweiz ohne Armee mobilisiert potenzielle Unterschriftensammler für eine geplante Initiative „Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht“[1].

Sind diese direktdemokratischen Mittel der Volksinitiative und des Referendums nicht geeignete Mittel für all diejenigen, die gesellschaftlich etwas verändern wollen? Soll man nicht mit denjenigen Mitteln anfangen, die uns das System zur Verfügung stellt? Würden wir nicht auch in einer herrschaftsfreien Gesellschaft mit Mehrheitsentscheiden bestimmen, wie die Zukunft aussehen soll? Was ist denn da falsch an der direkten Demokratie?

Was ist ein Referendum?

Wir können hier nicht einen umfassenden Überblick über alle möglichen Arten von Referenden geben[2]. Da aber dieses Mittel (zusammen mit der Volksinitiative) in der Schweizer Politik ein so grosses Gewicht besitzt und unter den Menschen, die etwas ändern wollen, nach wie vor relevant ist und da Referenden zunehmend auch von anderen Ländern für gewisse Teilbereiche der Politik übernommen werden, möchten wir kurz darlegen, wie und zu welchen Zwecken Volksinitiativen und Referenden in der Schweiz eingeführt wurden. Mit einem Referendum kann eine vom Parlament bereits beschlossene Gesetzesänderung zur Volksabstimmung gebracht werden, sofern 50'000 Stimmberechtigte dies mit ihrer Unterschrift verlangen; eine Volksinitiative, die 100‘000 Unterschriften erfordert, kann eine Änderung in der Bundesverfassung (entspricht dem Grundgesetz in Deutschland), begehren. Diese beiden direktdemokratischen Mittel wurden in der Schweiz im 19. Jahrhundert eingeführt (wobei es anfangs weniger Unterschriften brauchte), um den nationalen Zusammenhalt zu stärken. Die Schweiz war 1848 nach dem Sonderbundskrieg zwischen Liberalen und Konservativen als Bundesstaat entstanden. Die siegreichen Liberalen konnten aber nicht regieren, ohne auf die starken Minder- und Besonderheiten Rücksicht zu nehmen: die verschiedenen Sprachen, Kulturen und Konfessionen, Stadt und Land, Berg und Tal. Die damals 25 Kantone und Halbkantone entsprachen einer gesellschaftlichen Heterogenität, die zwar im zentralisierten Bundesstaat zusammengefasst wurde, aber doch irgendwie föderalistisch abgefedert werden musste. So führte die Bourgeoisie 1874 die Initiative und das Gesetzesreferendum ein. Damit hatten die für das System wichtigen politischen Minderheiten ein Mittel in der Hand, um für sie nachteilige Änderungen zu blockieren bzw. zur Volksabstimmung zu bringen oder Verfassungsänderungen vorzuschlagen. Es sind Mittel, die im 19. Jahrhundert vor allem für die ländlichen, katholischen, konservativen Teile der staatstragenden Klasse eingeführt wurden. Allein die Drohung mit dem Referendum führt dazu, dass sich das Parlament genau überlegt, wie der (sprichwörtlich schweizerische) Kompromiss formuliert sein muss, damit er alle Klippen umschiffen kann.

Dieser kurze Ausflug in die Geschichte macht deutlich, dass diese direktdemokratischen Mittel eingeführt wurden, nicht um die bürgerliche Gesellschaft in einem fortschrittlichen Sinne zu verändern, sondern um konservative Teile der Gesellschaft zufriedenzustellen und besser in den Staat zu Bundesstaat zu integrieren. Diese Funktion, die Referendum und Initiative im 19. Jahrhundert hatten, änderte sich mit dem Auftreten des Proletariats als revolutionäre Klasse am Ende des 1. Weltkrieges. Seither dienen die direktdemokratischen Mittel in erster Linie der Ablenkung des selbständigen Kampfes der Arbeiterklasse in die Bahnen des bürgerlich-demokratischen Systems.

Könnte man aber nicht mit einer Volksinitiative eine revolutionäre Verfassungsänderung erwirken? Dabei desillusioniert schon ein Blick auf die Statistik der bis heute zur Abstimmung gebrachten Initiativen: Von deren 171 wurden gerade einmal 16 angenommen (d.h. weniger als 10%); die letzte Initiative, die angenommen wurde, war das Minarettverbot – wahrlich (k)eine revolutionäre Leistung …

Ist das Referendum eine Alternative für die Arbeiterklasse?

Sollen die Arbeiter aber nicht trotzdem zur Urne gehen und ihre Stimme abgeben, wenn sie schon gefragt werden? Man kann doch nichts dagegen haben, wenn die Leute als Stimmbürger und -bürgerinnen selbst entscheiden können, ob sie mit dem einen oder anderen Anliegen einverstanden sind oder nicht?

Um diese Fragen besser beantworten zu können, um gegen jene, die diese Wahlmethode befürworten, argumentieren zu können, reicht es nicht aus, verschiedene Texte oder unsere Plattform zu zitieren[3].

Wer aber die Frage nach dem Nutzen von Referenden für die Arbeiterklasse stellt, geht mit uns offenbar darin einig, dass die Arbeiterklasse diejenige gesellschaftliche Kraft ist, welche vorangehen muss, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen. Die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, können wir nur gemeinsam lösen. Eine wirklich klassenlose Gesellschaft lässt sich nur verwirklichen, wenn wir weltweit bewusst und gemeinsam dieses Ziel erkämpfen. In diesem Kampf müssen wir miteinander diskutieren, die beste Lösung in der klärenden, solidarischen Kontroverse suchen. Die demokratische Stimmabgabe ist dagegen ein Einzelakt von Individuen, die möglichst nicht wissen dürfen, wem der Nachbar die Stimme gegeben hat – schliesslich gilt ja das Abstimmungsgeheimnis bzw. das geheime Wahlrecht. Die bürgerliche Demokratie behauptet, dass die Stimmabgabe eine direkte Beteiligung auch der Arbeiter an der politischen Macht beinhalte. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Mit dem passiven Einwerfen eines Stimmzettels stirbt das wirkliche politische Denken. Es wird zu einem leeren Ritual, das uns zwingt, uns entweder hinter die eine oder andere Version bürgerlicher Alternativen zu stellen – Alternativen, welche stets im nationalstaatlichen Denken gefangen sind. In einer Vollversammlung von Arbeitern, die einen Streik beschliessen, werden zwar auch die Stimmen gezählt, doch dient dieser „demokratische“ Akt nur dazu, den Stand der Einigkeit in einem Kollektiv abzuschätzen: Sind wir uns heute einig genug, dass wir den Kampf in dieser oder jener Form aufnehmen? Oder sollen wir noch weiter diskutieren? Das Stimmenverhältnis in einer Vollversammlung oder in einem Arbeiterrat ist nur ein Moment in einem dynamischen Prozess, in dem weiter diskutiert und gekämpft wird. Die Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft ist aber das Gegenteil: Man gibt seine Stimme ab, dann wird ausgezählt – und am Ende hat die Mehrheit hat recht bzw. hat sich durchgesetzt. Das Gesetz, das vorher von den Parlamentariern ausgehandelt wurde, kann nur noch angenommen oder abgelehnt werden. Wollt ihr eine Arbeitslosenversicherung, die pleite geht? Oder wollt ihr schon heute bei der Arbeitslosenentschädigung Abstriche machen, damit die Pleite hinausgeschoben werden kann? Nur das steht im „fulminanten Abstimmungskampf“ um das Arbeitslosenversicherungs-Referendum zur Diskussion.

Fängt denn politisches Denken nicht mit der Diskussion um einen Abstimmungskampf an? Wir meinen, dass das Gegenteil der Fall ist: Spätestens wenn man an der Urne seine Stimme für die eine oder andere der uns vorgelegten systemkonformen „Lösungen“ abgibt, hört das politische Denken und vor allem die gemeinsame Suche nach wirklichen Alternativen zu dieser Gesellschaft auf.

Sicherlich können wir hier nicht verkennen, dass Teile der Arbeiterklasse trotzdem zur Urne gehen, egal ob es sich um Wahlen zur Repräsentation im Parlament oder um Abstimmungen über ein Referendum handelt. Deshalb sind die Arbeiter noch lange nicht dumm oder unfähig; sie sind auch nicht als Privilegierte anzusehen, die auf die Seite der bürgerlichen Klasse gewechselt wären. Es handelt sich um einen Ausdruck der Schwierigkeiten der Arbeiterklasse, zu einem wirklichen Klassenbewusstsein zu gelangen. Dieses Bewusstsein ist noch nicht an jenem Punkt angelangt, wo die Manöver und Spaltungstaktiken der herrschenden Klasse kollektiv durchschaut werden. Auch wenn die Bourgeoisie bei ihrem Spiel mit der Demokratie mitunter Schwierigkeiten hat, gelingt es ihr immer wieder, kurzfristig ihre Interessen durchzusetzen. Dabei ist die demokratische Methode eine ihrer Waffen, mit der sie Illusionen verbreiten kann. Und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die parlamentarische (repräsentative) Demokratie bei vielen Leuten je länger je weniger verfängt, ist zu beobachten, dass die herrschende Klasse auch in anderen Ländern direktdemokratische Mittel in Teilbereichen der Politik einführen will. In Österreich und Deutschland gibt es Bürgerinitiativen, die sich für „mehr Demokratie“ einsetzen. In Italien gibt es schon verschiedene Arten von Referenden, die vor allem von der parlamentarischen Linken propagiert werden[4].

Gerade die demokratischen Illusionen der Arbeiterklasse sind für den Kapitalismus sehr wichtig. Sie binden die Arbeiterklasse an die herrschende Logik des Staates und hindern sie daran, nach ihren eigenen Lösungen zu suchen und gemeinsam dafür zu kämpfen – über alle Grenzen hinweg! Ghz & Flc, 16.05.10



[2] Um diesbezüglich genauere Informationen zu bekommen, siehe den Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Referendum

[3] Wir haben darüber einige Artikel veröffentlicht. Interessenten möchten wir wir auf unsere territoriale und internationale Presse, insbesondere auf den Artikel „Wählt nicht, kämpft“, verweisen. Ebenfalls möchten wir auf unsere Broschüre „Plattform und Manifeste“, insbesondere auf den Plattformpunkt acht über die parlamentarischen Wahlen, hinweisen.

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