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Wir laden den Leser und die Leserin, welche die Entwicklung dieser Debatte verfolgen wollen, dazu ein, die Artikel in den Nummern 42, 43 und 44 dieser Revue zu lesen. Der Artikel, den wir nachfolgend veröffentlichen, beruft sich auf die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus, die die Idee vertritt, dass der Aufschwung der 1950er und 60er Jahre auf der Einführung von keynesianischen Maßnahmen durch die Bourgeoisie beruhte. Er antwortet auf die Artikel, die in der Revue Nr. 44 veröffentlicht worden sind und die die Idee vertreten, dass der Aufschwung vor allem eine Folge der Ausbeutung der letzten wichtigen außerkapitalistischen Märkte und eine blinde Flucht in die Verschuldung war (These Außerkapitalistische Märkte und Verschuldung)[1], bzw., dass dieser Aufschwung vor allem dem Gewicht der Kriegswirtschaft und des Staatskapitalismus in der Gesellschaft geschuldet war[2].
In der Einführung zur Veröffentlichung dieser beiden Artikel, haben wir einen Überblick über die Entwicklung der Diskussion gegeben und darauf hingewiesen, dass die These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus „nun offen verschiedene Positionen der IKS in Frage stellt". Die GenossInnen, die den vorliegenden Artikel unterschrieben haben, sind mit dieser Behauptung nicht einverstanden und erklären warum[3].
Schließlich haben wir in der erwähnten Einführung darauf hingewiesen, dass der Artikel Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus in der RevueNr. 43 (der auch die These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus vertritt) einige Probleme bereitet wegen eines Mangels an „strengstmöglicher wissenschaftlicher und militanter Klarheit, insbesondere was die Verweise auf Texte der Arbeiterbewegung betrifft, die zur Unterstützung eines Arguments oder für die Polemik benutzt werden", insbesondere durch die Verfälschung des Sinns von einigen der verwendeten Zitate. Dieses Problem hat überhaupt nichts mit dem Inhalt dieser Position zu tun, was der vorliegenden, neue Artikel beweist, der auf dieser Ebene tadellos ist.
Zur Verteidigung der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus
Antwort auf Silvio und Jens
Wir setzen hier die Debatte fort, die in der Internationalen Revue Nr. 42 über „die ökonomische Analyse der starken Aufschwungsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg" begonnen hat, eine Periode, die „mit ihren spektakulären und einzigartigen Wachstumsraten der Weltwirtschaft eine Ausnahme in der Geschichte der Dekadenz des Kapitalismus" darstellte. Wir wollen auf die Argumente der Beiträge der Genossen Silvio und Jens antworten, die in der Nr. 44 veröffentlicht worden sind, und auch auf die Einführung zu diesen Beiträgen in der gleichen Nummer, die unseres Erachtens einige Missverständnisse enthält.
Die verschiedenen Auffassungen, über die wir gegenwärtig in unserer Organisation diskutieren, befinden sich alle im Rahmen der Positionen, die von den Revolutionären in der Zweiten und Dritten Internationalen und in der Kommunistischen Linken vertreten wurden. Dabei meinen wir unter anderem die Beiträge von Luxemburg, Bucharin, Trotzki, Pannekoek, Bilan und Mattick. Wir sind uns bewusst, dass diese Beiträge sich nicht alle versöhnen lassen, da sie sich doch in verschiedener Hinsicht ausdrücklich widersprechen. Aber keiner von ihnen erklärt für sich allein abschließend und befriedigend die Entwicklung des so genannten „Wirtschaftswunders", und zwar aus dem einfachen Grund, dass ihre Autoren (mit der Ausnahme von P. Mattick) nicht in dieser Zeit lebten. Wir meinen, dass alle von ihnen zur Diskussion, die wir gegenwärtig führen, beigetragen haben. Es obliegt den heutigen Revolutionären, die offene Diskussion in der revolutionären Bewegung fortzuführen, um die Mechanismen, welche die Entwickluång des Kapitalismus - vor allem in seiner Niedergangsphase - ermöglichen oder bremsen, besser zu verstehen.
Diejenigen, die diesen Artikel geschrieben haben, vertreten die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus. Diese These wurde durch C.Mcl detaillierter in der Internationalen RevueNr. 43 vorgestellt. C.Mcl hat es aber in der Zwischenzeit vorgezogen, die Debatte zu verlassen, und den Kontakt zu uns abgebrochen. Deshalb wissen wir nicht, ob die Position, die wir hier verteidigen, mit der seinigen absolut identisch ist.
Von welchen Fakten gehen wir aus?
Bevor wir mit der eigentlichen Debatte fortfahren, möchten wir zuerst einige historische Fakten festhalten, über die es unter den drei Positionen, die bis jetzt in der Debatte formuliert worden sind, Einigkeit zu geben scheint:
1. In der Zeit von 1945-75 stieg mindestens in den industrialisierten Ländern des US-amerikanisch beherrschten Blockes nicht nur das BIP pro Kopf wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus[4], sondern es gab auch einen Anstieg des Reallohnes der Arbeiter[5].
2. In der gleichen Zeit und in den gleichen Ländern gab es eine anhaltende Zunahme in der Arbeitsproduktivität, die „größten Produktivitätssteigerungen in der Geschichte des Kapitalismus. Dies war vor allem der Perfektionierung der Fließbandproduktion (Fordismus), der Automatisierung der Produktion und ihrer größtmöglichen Ausweitung geschuldet"[6]. Oder einfach gesagt: Technik und Organisation der Produktion ermöglichten es, dass ein Arbeiter in einer Stunde viel mehr produzierte als zuvor.
3. Die Profitrate (d.h. der Profit im Verhältnis zum gesamten investierten Kapital) war in fast der ganzen Zeit des „Wirtschaftswunders" sehr hoch, begann aber ab 1969 tendenziell wieder zu sinken. Alle, die an dieser Debatte teilnehmen, beziehen sich in dieser Hinsicht auf die gleichen Statistiken[7].
4. Mindestens bis 1971 gab es zwischen den Staaten des US-amerikanisch beherrschten Blockes eine besondere Konzertierung wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus (Blockdisziplin, Bretton-Woods-System[8]).
Was die ersten drei Punkte betrifft, so ist eine gewisse Konsequenz in der Argumentation vonnöten. Wenn wir uns alle über diese Fakten einig sind, so können wir nicht plötzlich auf halbem Weg stehen bleiben und darauf beharren, „dass die tatsächliche Prosperität der 1950er und 1960er Jahre nicht so großartig war, wie die Bourgeoisie gern vorgibt, wenn sie stolz auf das BSP der wichtigsten Industrieländer jener Zeit verweist"[9]. Was uns die Bourgeoisie über diese Zeit erzählt, ist das eine; das andere ist, dass wir das Problem nicht lösen können, indem wir einfach sagen: Es existiert nicht, denn das Wachstum war nicht so stark. Wir können die Debatte nicht diesem Punkt aufgeben. Wir müssen den Gedanken weiter treiben, denn wir haben - wie das Proletariat ganz allgemein - kein Interesse daran, Tatsachen zu verheimlichen. Wir stehen also vor der Herausforderung, die Mechanismen zu erklären, die gleichzeitig dreierlei erlaubten:
- eine Akkumulation ohne größere Unterbrüche (abgesehen von den üblichen zyklischen Krisen);
- eine hohe Profitrate;
- wachsende Reallöhne.
Ob wir einen Aspekt überbewerten oder gewisse Schwierigkeiten unterschätzen - das sind relative Argumente (es geht dabei um mehr oder weniger Quantität), aber hier interessiert uns eine qualitative Frage: Wie war es möglich, dass der dekadente Kapitalismus eine ungefähr zwanzigjährige Aufschwungphase erlebte, in welcher die Löhne stiegen und die Profite auf einem hohen Niveau blieben? Dies ist die Frage, auf die wir antworten müssen.
Bis zu welchem Punkt stimmt die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus mit Rosa Luxemburg überein?
Die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus wird vor allem deshalb kritisiert, weil sie einen Teil der Argumentation Rosa Luxemburgs zurück weist, wie es aus dem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 43, der unsere These im Einzelnen vorstellt, hervorgeht. Anscheinend ist nicht klar, bis zu welchem Punkt wir einverstanden sind mit R. Luxemburg. So meint der Genosse Jens in seinem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 44, dass C.Mcl seine Auffassung seit einem früheren Artikel, den dieser Genosse in der International Review Nr. 127 (engl./franz./span. Ausgabe) schrieb, geändert habe. Doch schon in diesem Artikel wurde (im Namen der IKS in einer Polemik mit der CWO) erklärt, dass die Verkleinerung des zahlungsfähigen Marktes im Vergleich zu den Bedürfnissen des Kapitals „natürlich nicht (...) der einzige Faktor ist, der der Krise zugrunde liegt", vielmehr müsse auch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und das Ungleichgewicht der Akkumulationsgeschwindigkeit in den beiden großen Abteilungen der Produktion in Betracht gezogen werden.
Unserer Meinung nach ist die Realisierung des produzierten Mehrwerts in der Tat ein Grundproblem des Kapitalismus. Es gibt nicht nur eine, sondern zwei wesentliche Ursachen der kapitalistischen Krise (für den Moment interessieren wir uns nicht für das dritte Problem, dasjenige der Proportionalität). Es gibt nicht bloß das Problem, dass die Profitrate wegen der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals tendenziell sinkt, sondern (nach dem Akt der Produktion und der Aneignung des Mehrwerts) taucht das Problem des Verkaufs des Produkts einschließlich des Mehrwerts auf. Es ist ein Verdienst R. Luxemburgs, die Schwierigkeit der Realisierung des Produkts aufgrund des Mangels an zahlungsfähigen Märkten beleuchtet zu haben.
Der Kapitalismus ist ein System, das sich notwendigerweise ausdehnen muss. Die Akkumulation ist nicht einfache Reproduktion, sondern erweiterte. Das Kapital will nach jedem Produktionszyklus seine Grundlage erweitern, d.h. sowohl das konstante als auch das variable Kapital. Der Kapitalismus entwickelte sich in einer feudalistischen Umgebung, in einem außerkapitalistischen Milieu, mit dem er Beziehungen knüpfte, um die materiellen Mittel für seine Akkumulation zu erhalten: Rohstoffe, Arbeitskräfte usw.
Ein anderes Verdienst R. Luxemburgs war, dass sie die Beziehungen zwischen der kapitalistischen Sphäre und dem außerkapitalistischen Milieu analysierte. Wir sind nicht mit allen Argumenten dieser ökonomischen Analyse einverstanden (wie wir weiter unten darlegen werden), aber wir teilen mit ihr die Kerngedanken: dass der Kapitalismus ständig die anderen Produktionsweisen um ihn herum zerstört, dass der innere Widerspruch eine Lösung in der Erweiterung des äußeren Feldes sucht und dass eine qualitative Veränderung in der Entwicklung des Kapitalismus von dem Moment an eintrat, wo der ganze Planet vom Kapitalismus erobert war, d.h. als der Weltmarkt ausgebildet war. In diesem Moment hatte der Kapitalismus seine fortschrittliche Funktion erfüllt und trat in seine Niedergangsphase ein. Wie C.Mcl in der International Review Nr. 127 sagte: Luxemburg erklärte „tiefer den Grund und den Moment des Eintritts des kapitalistischen Systems in die Dekadenz, denn sie analysierte nicht nur die geschichtliche Beziehung zwischen den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und dem Imperialismus, indem sie nachwies, dass das System nicht überleben kann, ohne sich auszudehnen, ohne seinem Wesen nach imperialistisch zu sein, sondern sie präzisierte darüber hinaus den Moment und die Art und Weise, wie das kapitalistische System in seine Niedergangsphase eintritt. (...) So zeichnete sich der Eintritt in die Dekadenz des Systems nicht durch das Verschwinden der außerkapitalistischen Märkte aus (...), sondern durch ihr Ungenügen gemessen an den Bedürfnissen der im Kapitalismus erreichten erweiterten Akkumulation"[10].
Braucht es zur kapitalistischen Akkumulation für jeden Zyklus außerkapitalistische Märkte?
Es trifft zu, dass im aufsteigenden Kapitalismus die Märkte außerhalb der kapitalistischen Sphäre einen Absatzmarkt für die Waren darstellten, wenn es Überproduktion gab. Schon in seiner aufsteigenden Phase litt der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen und überwand sie zeitweilig auf der einen Seite durch die periodischen Krisen und auf der anderen durch den Verkauf der Produkte, die in der rein kapitalistischen Sphäre nicht verkauft werden konnten, auf außerkapitalistischen Märkten. In den zyklischen Krisen, die durch den Fall der Profitrate hervorgerufen werden, entwerten sich verschiedene Teile des Kapitals so, dass sich eine neue organische Zusammensetzung ergibt, die es wieder erlaubt, rentabel zu akkumulieren. Und auf der anderen Seite stellte die außerkapitalistische Umgebung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus ein „Ventil für den Verkauf von Waren aus der Überproduktion"[11] dar, was auf dieser Ebene das Problem des Mangels an zahlungskräftigen Märkten abschwächte.
Der Fehler von R. Luxemburg besteht darin, dass sie diese außerkapitalistischen Märkte und den Verkauf des zur Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwerts auf diesen Märkten zu wesentlichen (unabdingbaren) Elementen der erweiterten Reproduktion erklärt. Der Kapitalist produziert für den Verkauf, und nicht für die Produktion als Selbstzweck. Die Ware muss also einen Käufer finden. Und jeder Kapitalist ist vor allem ein Verkäufer; er kauft nur, um wieder zu investieren, und nur, nachdem er sein Produkt mit Gewinn hat verkaufen können. Das heißt, das Kapital muss eine Geldphase durchlaufen, und je einzeln und zu ihrer Realisierung müssen die Waren in Geld verwandelt werden, aber dies betrifft nicht die Gesamtheit der Waren im gleichen Moment, auch nicht jährlich, wie es Luxemburg darstellt: ein Teil kann in der materiellen Form verharren, während ein anderer durch verschiedene Handelstransaktionen weitergereicht wird, bei denen eine bestimmte Menge Geld mehrere Male bei der Umwandlung von Ware in Geld oder umgekehrt dienen kann.
Wenn es keinen Kredit gäbe und wenn man die jährliche Produktion auf einmal auf dem Markt in Geld verwandeln müsste, so wäre tatsächlich ein Käufer nötig, der sich außerhalb der kapitalistischen Produktion befände.
Aber so verhält es sich nicht. Selbstverständlich kann es Hindernisse geben im Zyklus Kauf - Produktion / Mehrwertabpressung - Verkauf - neuer Kauf usw. Es gibt sogar manche Schwierigkeit dabei. Aber der Verkauf an einen außerkapitalistischen Käufer ist nicht konstitutiv für die „normale" Akkumulation, sondern lediglich ein mögliches Ventil im Falle von Überproduktion oder Ungleichgewicht zwischen Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsumgütern - von Problemen, die sich nicht ständig äußern.
Dieser Schwachpunkt in der Argumentation R. Luxemburgs wurde auch schon von „Luxemburgisten" kritisiert, wie Fritz Sternberg, der in dieser Hinsicht von „fundamentalen, schwer begreiflichen Irrtümern"[12] spricht. Es ist schwer begreiflich, weshalb dieser Kritikpunkt Sternbergs von den Verteidigern des „reinen Luxemburgismus" nicht in Betracht gezogen wird. Seit dem Beginn der Debatten in der IKS über die Dekadenz (1970er Jahre) ist F. Sternberg eine wichtige Referenz, und zwar gerade weil er sich selber als Luxemburgisten betrachtet.
Der Genosse Jens ist nicht einverstanden mit der Idee der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus, wonach „die außerkapitalistischen Märkte nicht anderes sind als eine Art Überlaufventil für den kapitalistischen Markt, wenn er zu voll wird"[13]. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wir denken, dass genau hier der Unterschied liegt zwischen dem „reinen Luxemburgismus" von Jens (und Silvio) und dem Luxemburgismus von Sternberg. In diesem Punkt stimmen wir mit Sternberg überein.
Für uns ist das Rätsel des „Wirtschaftswunders" nicht erklärbar mit Überresten von außerkapitalistischen Märkten, denn diese vermögen schon seit dem Ersten Weltkrieg den Akkumulationsbedürfnissen, die der Kapitalismus erreicht hat, nicht mehr zu genügen.
Wie funktioniert die Akkumulation bei einer starken Zunahme der Produktivität?
Für die These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus ist der lange Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg der Kombination von mindestens drei wesentlichen Faktoren geschuldet:
- eine starke Zunahme der Produktivität während einer Phase von mehr als zwei Jahrzehnten;
- eine erhebliche Erhöhung der Reallöhne in der gleichen Zeit;
- ein entwickelter Staatskapitalismus, der keynesianische Maßnahmen auch auf anderen Gebieten als demjenigen des Arbeitslohnes umsetzte (und auf zwischenstaatlicher Ebene koordiniert wurde).
In der Internationalen Revue Nr. 44 fragt der Genosse Silvio fassungslos: „Was bedeutet es, die Profitproduktion zu steigern? Es bedeutet, Waren zu produzieren und zu verkaufen, doch um welche Nachfrage zu befriedigen? Die der ArbeiterInnen?"
Wir möchten auf die Sorge des Genossen antworten: Wenn die Arbeitsproduktivität allgemein, in allen Industriezweigen, ansteigt, werden die Konsumgüter der Arbeiter billiger. Der Kapitalist bezahlt seinen Arbeitern weniger Geld für die gleiche Arbeitszeit. Die unbezahlte Arbeitszeit nimmt zu und damit der Mehrwert. Das heißt, die Mehrwertrate wächst (was dasselbe ist wie die Ausbeutungsrate). Diesen Mechanismus nannte Marx die relative Mehrwertproduktion. Wenn die anderen Faktoren gleich bleiben (oder wenn das konstante Kapital selbst billiger wird), bedeutet eine Erhöhung der Mehrwertrate auch eine Erhöhung der Profitrate. Wenn dieser Profit genügend hoch ist, können die Kapitalisten gleichzeitig die Löhne anheben, ohne den ganzen Zuwachs an abgepresstem Mehrwert zu verlieren.
Soweit so gut, nun kommt als zweite Frage der Markt ins Spiel. Wenn der Lohn des Arbeiters erhöht wird, kann er mehr konsumieren. Die Arbeitskraft muss reproduziert werden, wie dies Marx beschrieben hat. Es handelt sich um die Reproduktion des variablen Kapitals (v), die ebenso notwendig ist wie die Erneuerung des konstanten Kapitals (c). Dabei ist aber auch das konstante Kapital Teil des kapitalistischen Marktes. Ein allgemeiner Anstieg der Löhne bedeutet eine Vergrößerung dieses Marktes.
Darauf könnte man antworten, dass eine solche Vergrößerung des Marktes nicht genüge, um den ganzen für die Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwertes zu realisieren. Dies trifft sicher zu, wenn man die Frage allgemein und für einen längeren Zeitraum stellt. Wir, die diese These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismusvertreten, meinen nicht, wir hätten die Lösung für die inneren Widersprüche des Kapitalismus gefunden - eine Lösung, die nach Gutdünken immer wieder aus dem Hut gezaubert werden könnte. Unsere Analyse ist keine neue Theorie, sondern eine Fortsetzung der Kritik der kapitalistischen Ökonomie, eine Kritik, die Marx begann und andere schon zitierte Revolutionäre weiter führten.
Aber man kann nicht bestreiten, dass eine solche Vergrößerung des Marktes das Problem der ungenügenden Nachfrage unter den Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, abschwächte. Vielleicht fragt sich der Genosse Silvio immer noch: Woher kommt diese Nachfrage? - Eine Nachfrage setzt im Kapitalismus zweierlei voraus: ein Bedürfnis (der Wunsch zu konsumieren) und die Zahlungsfähigkeit (Besitz von Geld). Der erste Faktor ist fast nie ein Problem, denn immer gibt es einen Bedarf nach Konsumgütern. Der zweite Faktor dagegen ist für den Kapitalismus ein Dauerproblem - eines, das er eben in der Zeit des Wirtschaftswunders mit den steigenden Löhnen genau abschwächen konnte.
Aber die Erweiterung des Absatzmarktes durch die Lohnabhängigen ist nicht der einzige Faktor, der der Knappheit der Märkte in dieser Zeit entgegenwirkte; vielmehr kamen die größeren Ausgaben des keynesianischen Staates (z.B. Investitionen in Infrastrukturprojekte, in die Rüstung etc.) hinzu. Es gab eine Dreiteilung des Gewinnzuwachses, eine Aufteilung der dank des Produktivitätszuwachses erreichten Gewinne zwischen Kapitalisten (Profite), Arbeitern (Löhne) und Staat (Steuern). Es scheint, dass uns der Genosse Silvio insoweit folgt, wenn er sagt: „Es trifft zu, dass der Konsum der ArbeiterInnen und die Staatsausgaben es möglich machen, die Produkte einer gesteigerten Produktion zu verkaufen". Doch sieht er ein anderes Problem: „(...) wie wir gesehen haben, mündet dies in eine Sterilisierung des produzierten Reichtums, da er nicht sinnvoll verwendet werden kann, um Kapital zu verwerten". Dabei bezieht er sich auf den Gedanken, dass „die Erhöhung von Löhnen über das für die Reproduktion der Arbeitskraft Erforderliche hinaus - vom kapitalistischen Standpunkt aus - nichts anderes als reine Verschwendung von Mehrwert [ist], der nicht zu einem Bestandteil des Akkumulationsprozesses werden kann".
Hier vermischt der Genosse zwei verschiedene Sphären, die zuerst einmal zu unterscheiden sind, bevor der Gesamtprozess analysiert werden kann, der beide vereint:
- ein Problem (in der Sphäre der Zirkulation, der Märkte) ist die Realisierung des geschaffenen Produkts; auf dieser Ebene scheint uns Silvio recht zu geben, wenn er sagt, dass der Arbeiterkonsum (ebenso wie die Ausgaben des Staates) es erlaubt, die wachsende Produktion abzusetzen;
- ein anderes Problem (in der Sphäre der Produktion) ist die Verwertung des Kapitals dergestalt, dass die Akkumulation nicht nur mit Profit, sondern mit ständig mehr Profit möglich ist.
Offensichtlich befindet sich der Einwand des Genossen über die „Verschwendung des Mehrwerts" auf dieser zweiten Ebene, auf derjenigen der Produktion. Folgen wir ihm also (nachdem wir festgestellt haben, dass er uns immerhin zum Teil auf der Ebene der Märkte recht gibt) in die Fabrik, wo der Arbeiter mit steigendem Lohn ausgebeutet wird. Was geschieht hier, wenn der Mehrwert dank starkem Anstieg der Arbeitsproduktivität wächst? (Abstrahieren wir für einen Moment von der Dreiteilung der Gewinne, d.h. von den Steuern, die sich in Staatsausgaben verwandeln. Die Zweiteilung zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter genügt, um den Grundmechanismus zu erklären.) Das Gesamtprodukt einer Einheit (sei es eines Unternehmens, eines Staates oder der kapitalistischen Sphäre in ihrer Gesamtheit) in einer gewissen Zeit, z.B. in einem Jahr, lässt sich in drei Teile gliedern: das konstante Kapital c, das variable Kapital v und den Mehrwert m. Wenn wir von Akkumulation sprechen, so wird der Mehrwert vom Kapitalisten nicht vollständig konsumiert, sondern zu einem Teil für die Erweiterung der Produktion wieder investiert. Somit teilt sich der Mehrwert auf in den Teil, den der Kapitalist konsumiert (seine Rente r), und den Teil, den er für die Akkumulation verwendet (a): m = r + a. Bei diesem zweiten Teil (a) können wir wiederum den Teil, der in konstantes Kapital investiert wird (ac), von dem unterscheiden, der in variables Kapital investiert wird (av). Somit lässt sich das Gesamtprodukt dieser kapitalistischen Einheit darstellen als:
c + v + m, oder als:
c + v + (r + a), oder als:
c + v + (r + ac + av).
Wenn der Kapitalist dank einem starken Anstieg der Produktivität einen genügend großen Mehrwert abpresst, kann der Teil ac ständig schneller zunehmen, obwohl der Teil av „über das Erforderliche hinaus" wächst. Wenn z.B. die Konsumtionsmittel um 50% billiger werden und die nicht bezahlten Stunden eines Arbeitstages dank der Produktion von relativem Mehrwert von 3 auf 5 ansteigen (von einem Arbeitstag von 8 Stunden), so steigt die Mehrwertrate von 3/8 auf 5/8, z.B. von 375 € auf 625 €, obwohl für den Arbeiter eine Reallohnerhöhung von 20% herausschaut (er beginnt mit einem Lohn, der dem Produkt von 5 Stunden entspricht; am Schluss entspricht sein Lohn bei doppelter Produktivität dem Produkt von 3 Stunden = 6 Stunden von vorher). Dasselbe geschieht mit dem gesteigerten Konsum des Kapitalisten (denn seine Konsumptionsmittel verbilligen sich auch um 50%) und der Teil des Mehrwerts, der für die Akkumulation bestimmt ist, kann ebenfalls wachsen. Und von Jahr zu Jahr kann auch der Anteil ac wachsen, obwohl der Teil av „über das Erforderliche hinaus" wächst - unter der Bedingung, dass die Arbeitsproduktivität weiter im gleichen Tempo zunimmt. Die einzige „schädliche" Wirkung dieser „Verschwendung von Mehrwert" ist, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals langsamer zunimmt, als dies theoretisch möglich wäre: das Wachstum der organischen Zusammensetzung bedeutet, dass der Teil ac schneller zunimmt als der Teil av; wenn der Teil av „über das Erforderliche hinaus" wächst, wird diese Tendenz gebremst (oder kann sogar zunichte gemacht oder umgekehrt werden), aber man kann nicht behaupten, dass diese „Verschwendung von Mehrwert" kein Bestandteil des Akkumulationsprozesses sein könne. Im Gegenteil: Diese Aufteilung der Gewinne aus der Erhöhung der Produktivität geht vollumfänglich in die Akkumulation ein. Und nicht bloß dies - sie schwächt genau das Problem ab, das R. Luxemburg im 25. Kapitel ihrer Akkumulation des Kapitals analysierte, wo sie überzeugend nachwies, dass die Tendenz zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals langfristig einen Austausch zwischen den beiden Hauptabteilungen der kapitalistischen Produktion (Produktion von Produktionsmitteln auf der einen Seite, von Konsumtionsmitteln auf der anderen Seite) verunmöglicht[14]. Schon nach wenigen Umschlägen des gesamten Kapitals bleibt ein nicht verkäuflicher Rest in der zweiten Abteilung übrig, in der Abteilung der Konsumgüterproduktion. Die Kombination von Fordismus (Erhöhung der Produktivität) und Keynesianismus (Erhöhung der Löhne und der Staatsausgaben) erlaubt es, diese Tendenz zu bremsen, schwächt das Problem der Überproduktion in dieser Abteilung II und das Problem der Proportionalität zwischen den beiden Hauptzweigen der Produktion ab. Die Führer der Wirtschaft im westlichen Block konnten zwar auf diese Weise nicht den Eintritt der Krise Ende der 1960er Jahre verhindern, aber sie konnten ihn hinauszögern.
Wir können dieses Thema nicht abschließen, ohne darauf hinzuweisen, dass uns der Genosse Silvio mit folgender Argumentation verblüfft hat: Es scheint, dass er auf theoretischer Ebene verstanden hat, was wir soeben ausgeführt haben, nämlich den Mechanismus der relativen Mehrwertproduktion als ideale Grundlage für eine Akkumulation, die möglichst in rein kapitalistischem Rahmen und möglichst wenig mit Unterstützung außerkapitalistischer Märkte funktioniert. So schreibt er nämlich: „Solange es Fortschritte in der Produktivität gibt, die ausreichen, damit der Konsum in demselben Rhythmus wie die Arbeitsproduktivität wächst, kann das Problem der Überproduktion gelöst werden, ohne die Akkumulation zu hemmen, da die Profite, die ebenfalls steigen, ausreichen, um die Akkumulation abzusichern."[15] Wir gehen davon aus, dass Silvio weiß, was er sagt, d.h. versteht, was er soeben gesagt hat, denn es handelt sich um seine eigene Formulierung, um eine Schlussfolgerung aus einem Zitat von Marx aus den „Theorien über den Mehrwert", 2. Band (einem Zitat, das natürlich für sich allein nichts beweist). Aber Silvio antwortet nicht auf dieser theoretischen Ebene, er folgt nicht der Logik des Arguments, sondern wechselt lieber das Thema, indem er mit folgendem Einwand weiter fährt: „Während seines gesamten Lebens hat Marx nie einen Anstieg der Löhne im Gleichklang mit der Produktivität erlebt; ja, er nahm an, dass dies unmöglich sei. Dennoch hat sich genau dies in gewissen Momenten im Leben des Kapitalismus ereignet; jedoch gestattet uns dieses Tatsache keineswegs, daraus zu folgern, es könne, mindestens zeitweise, das fundamentale Problem der Überproduktion lösen, das Marx hervorhob." - Was für eine Antwort! Wir sind drauf und dran, eine Schlussfolgerung aus einer Gedankenfolge zu ziehen - doch statt die Schlussfolgerung aus einer bestimmten Konstellation von Fakten theoretisch nachzuvollziehen oder zu widerlegen, fahren wir weiter mit einem Werweißen darüber, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich auf empirischer Ebene eine solche Konstellation sei. Und als ob der Genosse gespürt hätte, dass dies nicht genügt, repliziert er gleich selber, bevor jemand einen Einwand erhebt: „Der Marxismus reduziert diesen Widerspruch der Überproduktion nicht einfach auf das Verhältnis zwischen steigenden Löhnen und wachsender Produktivität." Die Autorität von Marx genügt nicht, es braucht noch diejenige des „Marxismus". Ein Appell zur Orthodoxie! Fragt sich bloß: welcher?
Seien wir konsequenter in der Argumentation, offener und kühner in den Schlussfolgerungen!
Der Wert der Schemata der kapitalistischen Akkumulation
Im zweiten Band von Das Kapital stellt Marx das Problem der erweiterten Reproduktion (das heißt der Akkumulation) anhand von Schemata dar, beispielsweise:
Abteilung I:
4000c + 1000v + 1000m = 6000
Abteilung II:
1500c + 750v + 750m = 3000
Wir ersuchen die Leserinnen und Leser um Nachsicht und Geduld bei der doch etwas mühsamen Lektüre und dem Verständnis dieser Schemata. Aber wir denken, dass man vor ihnen nicht zurückschrecken sollte.
Die Abteilung I ist der Wirtschaftszweig, in dem die Produktionsmittel hergestellt werden; in der Abteilung II werden die Konsumtionsmittel produziert. 4000c ist der Wert, der in der Abteilung I für die Reproduktion des konstanten Kapitals (c) geschaffen wird; 1000v ist die Gesamtheit der Löhne, die in der Abteilung I bezahlt werden; 1000m ist der Mehrwert, der den Arbeitern in der Abteilung I abgepresst wird - und dasselbe für die andere Abteilung II. Für die erweitere Reproduktion ist wesentlich, dass das Verhältnis zwischen den verschiedenen Bestandteilen der beiden Abteilungen stimmt. Die Arbeiter der Abteilung I stellen beispielsweise Maschinen her, benötigen aber zu ihrer Reproduktion Konsumgüter, die in der anderen Abteilung produziert werden. Es gibt einen Austausch zwischen den verschiedenen Einheiten nach bestimmten Regeln. Wenn zum Beispiel der Mehrwert der Abteilung I in der Höhe von 1000m zur Hälfte für die Erweiterung der Produktion verwendet wird und die organische Zusammensetzung im nächsten Zyklus gleich bleibt, so ist bei den genannten Zahlen vorbestimmt, dass von 500m, die neu investiert werden, 400 für die Erweiterung des konstanten Kapitals und 100 für die Erhöhung der Lohnmasse in dieser Abteilung verwendet werden. So steht bei Marx als Beispiel für den zweiten Zyklus:
I: 4400c + 1100v + 1100m = 6600
II: 1600c + 800v + 800m = 3200
Und er setzte die Reihe fort mit möglichen Schemata für mehrere Akkumulationszyklen. Diese Schemata wurden von Luxemburg, Bauer, Bucharin, Sternberg, Grossmann und anderen erweitert, kritisiert und präzisiert. Daraus kann man eine gewisse Gesetzmäßigkeit ableiten, die sich in der folgenden Formel zusammenfassen lässt.
Wenn man Abteilung I mit
c1 + v1 + r1 + ac1 + av1 und
Abteilung II mit
c2 + v2 + r2 + ac2 + av2 hat, so erfordert die erweiterte Reproduktion, dass
c2 + ac2 = v1 + r1 + av1.[16]
Das heißt: Der Wert des konstanten Kapitals in der Abteilung II (c2) zusammen mit dem Anteil des Mehrwerts im gleichen Sektor, der zur Erweiterung des konstanten Kapitals bestimmt ist[17], muss sich austauschen mit der Summe des Wertes des variablen Kapitals in der Abteilung I (der Lohnmasse v1) und der Rente der Kapitalisten in der gleichen Abteilung (r1) und dem Teil des Mehrwerts in dieser Abteilung, der für die Bezahlung der neu einzustellenden Arbeiter verwendet wird (av1)[18].
Diese Schemata sehen von gewissen Umständen ab, zum Beispiel:
1. Von der Tatsache, dass diese Wirtschaft Bedingungen für ihre „dauernde" Ausweitung braucht; es braucht ständig mehr Arbeiter und Rohstoffe.
2. Von der Tatsache, dass es keinen direkten Tausch zwischen den verschiedenen Einheiten gibt, sondern Käufe/Verkäufe durch die Vermittlung des Geldes, die universelle Ware. So muss sich beispielsweise die Einheit der Waren, die sich im Wert ac1 darstellen, mit sich selbst austauschen: Es sind Produktionsmittel, die in der gleichen Abteilung gebraucht werden; sie müssen aber verkauft bzw. gekauft werden, bevor sie verwendet werden können.
Gleichzeitig haben die Schemata bestimmte Konsequenzen, die ziemlich störend wirken, beispielsweise die Tatsache, dass die Abteilung II gegenüber der Abteilung I völlig abhängig ist. Der Rhythmus der Produktionserweiterung der Abteilung II und ihre organische Zusammensetzung sind bestimmt von den Proportionen der Akkumulation in der Abteilung I[19].
Wir können die Verteidiger der These von der Notwendigkeit außerkapitalistischer Märkte nicht dazu zwingen, ihre Aufmerksamkeit einem gewissen Problem zu widmen, nämlich demjenigen, das Marx mit den Schemata der kapitalistischen Akkumulation untersuchte. Statt die verschiedenen Probleme je auf ihrer spezifischen Ebene zu betrachten, ziehen sie es vor, die verschiedenen Widersprüche miteinander zu vermischen und dauernd auf einem Aspekt des Problems zu beharren: Wer wird schließlich die Ware kaufen, deren Wert für die Erweiterung der Produktion verwendet werden soll? Diese Fixierung blendet sie. Doch wenn jemand bereit ist, der Logik der Schemata, wie sie Marx aufstellte, zu folgen, so kann man sich gegenüber der nachstehenden Schlussfolgerung nicht verschließen:
Wenn die Bedingungen, die die Schemata voraussetzen, erfüllt sind und wenn wir die Konsequenzen daraus akzeptieren (Bedingungen und Konsequenzen, die separat untersucht werden können), kann zum Beispiel eine Regierung, die die gesamte Wirtschaft kontrolliert, diese so organisieren, dass die Akkumulation gemäß dem Schema funktioniert: c2 + ac2 = v1 + r1 + av1. So gesehen braucht es keine außerkapitalistischen Märkte. Wenn wir diese Schlussfolgerung akzeptieren, so können wir davon getrennt die anderen Probleme untersuchen (d.h. unterscheiden), zum Beispiel:
1. Wie kann eine Wirtschaft ständig wachsen in einer Welt, die nicht unbegrenzt ist?
2. Was sind die Folgen einer Geldwirtschaft? Wie kann Geld wirksam die verschiedenen Transformationsakte einer Einheit des Gesamtkapitals in eine andere vermitteln?
3. Welche Auswirkungen hat eine steigende organische Zusammensetzung (d.h. wenn das konstante Kapital schneller wächst als das variable)?
4. Welche Auswirkungen haben Löhne, die „über das Erforderliche hinaus" wachsen?
Es ist klar, dass die mathematischen Schemata, wie R. Luxemburg sagte, für sich allein nichts beweisen - weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit der Akkumulation. Aber wenn wir genau verstehen, was sie aussagen (und wovon sie abstrahieren), können wir die verschiedenen Probleme voneinander unterscheiden. Luxemburg untersuchte auch die drei ersten der hier aufgezählten Fragen. Ihre Beiträge zu den Fragen 1 und 3 sind wichtig. Doch hinsichtlich des Problems Nr. 2 brachte sie verschiedene Widersprüche durcheinander und fasste sie in einer einzigen Schwierigkeit zusammen, in derjenigen der Realisierung des Teils des Mehrwerts, der für die Erweiterung der Reproduktion bestimmt ist: Die Transformation in Geld ist aber nicht nur für diesen Teil des Gesamtprodukts (ac1, av1, ac2 und av2) ein Problem, sondern für alle Elemente der Produktion (auch für c1, v1, c2, v2 und selbst für die Rente: der Eigentümer der Schokoladefabrik kann nicht bloß Schokolade essen). Diese Transformationen der Waren in Geld und danach von Geld in neue materielle Elemente der Produktion können scheitern. Jeder Verkäufer muss einen Käufer finden, jeder Verkauf ist eine Herausforderung - dies ist ein Problem für sich, das man theoretisch trennen kann von demjenigen (Nr. 1), das in der Notwendigkeit des Wachstums der Feldes der kapitalistischen Produktion besteht, d.h. auch der Notwendigkeit des Wachstums des Marktes. Ein solches Wachstum geschieht notwendigerweise auf Kosten von außerkapitalistischen Sphären[20]. Doch setzt dieses Wachstum nur voraus, dass der Kapitalismus alle materiellen Elemente für die Produktion auf erweiterter Stufenleiter vorfindet (Arbeitskräfte, Rohstoffe etc.); dieses Problem hat nichts mit der Verkauf eines Teils der kapitalistischen Produktion an nichtkapitalistische Warenproduzenten zu tun. Wie wir zuvor schon gesagt haben: Der Verkauf auf außerkapitalistischen Märkten kann zwar Probleme der Überproduktion abschwächen, aber er ist nicht unabdingbar für die Akkumulation.
Welche Haltung zur Plattform der IKS?
In der Einführung zur Fortsetzung der Diskussion in der Internationalen Revue Nr. 44 hat die Redaktion versucht, einige Positionen der These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" den Positionen der IKS gegenüber zu stellen, insbesondere unserer Plattform. Es mag sein, dass dieser Versuch durch einige Fußnoten von C.Mcl in der vollständigen Version seines Artikels für die Internationale Revue Nr. 43 veranlasst wurde, einer Version, die nur auf unserer französischsprachigen Webseite zu finden ist[21]. In der Tat kritisierte da C.Mcl gewisse Formulierungen im Punkt 3 unserer Plattform. Es handelt sich dabei um eine Kritik auf theoretischer Ebene ohne Vorschläge für eine alternative Formulierung. Wir kennen die gegenwärtige Haltung von C.Mcl zur Plattform nicht, da er die Diskussion aufgegeben hat. Wir können also nicht für ihn sprechen. Aber was uns selber betrifft, so sind wir mit unserer Plattform nach wie vor einverstanden, die von Anfang an all diejenigen vereinen wollte, die mit der Analyse einverstanden sind, dass der Kapitalismus mit dem Ersten Weltkrieg in seine Niedergangsphase eintrat. Der Punkt 3 der Plattform beanspruchte nie, die Revolutionäre auszuschließen, die sich die Dekadenz mit dem tendenziellen Fall der Profitrate erklären, auch wenn die Formulierung dieses Punktes „luxemburgistisch" geprägt ist. Wenn der 3. Punkt der Plattform so etwas wie der gemeinsame Nenner der revolutionären Marxisten darstellt, die die Dekadenz entweder mit dem Mangel an außerkapitalistischen Märkte oder mit dem tendenziellen Fall der Profitrate erklären, so sehen wir keinen Grund, diesen Rahmen aufzugeben, nur weil wir nicht ausschließlich eine der beiden Ideen verteidigen, sondern beide zusammen je in ihrer eigenen Dynamik. Insofern haben wir überhaupt kein Interesse daran, die Plattform in einer Weise zu präzisieren, dass sich die eine oder andere Position ausgeschlossen fühlen würde. Eine Formulierung wie die gegenwärtige ist vorzuziehen, auch wenn der Fortschritt der Diskussion über das „Wirtschaftswunder" vielleicht eine Neuformulierung bringen wird, die bewusster die verschiedenen Analysen über den Niedergang des Kapitalismus widerspiegelt.
Im gleichen Sinn möchten wir unsere Haltung zur Einleitung in der Internationalen Revue Nr. 44 darlegen, nach der die These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" „nun offen verschiedene Positionen der IKS in Frage stellt". Unter dem Titel „Die Entwicklung der diskutierten Positionen" werden da drei angebliche Widersprüche zwischen den Argumenten der Plattform und der These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" genannt, die wir klären möchten. Wir zitieren nachfolgend die fraglichen Abschnitte aus der Einleitung:
1. „So gilt, für diese These (keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus):
- „der Kapitalismus generiert dauernd die gesellschaftliche Nachfrage, die der Entwicklung seines Marktes zu Grunde liegt", während für die IKS „im Gegenteil zu dem, was die Verehrer des Kapitals suggerieren, (...) die kapitalistische Produktion jedoch nicht automatisch und wunschgemäß die für ihr Wachstum notwendigen Märkte" schafft (Plattform der IKS)".
Auch wenn sich das Zitat „der Kapitalismus generiert dauernd die gesellschaftliche Nachfrage, die der Entwicklung seines Marktes zu Grunde liegt" in der Internationalen Revue Nr. 44 finden lässt, so kann man diese Idee nicht aus dem Kontext des ganzen Artikels herausreißen. Wie wir im vorangehenden Kapitel des vorliegenden Textes ausgeführt haben, hat der Kapitalismus (für uns, aber auch für all diejenigen, die sich die Dekadenz allein mit dem tendenziellen Fall der Profitrate erklären) eine eigene Dynamik der Erweiterung der Märkte. Aber niemand derjenigen, die die These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" vertreten, hat bisher behauptet, diese Märkte würden genügen. Sie können zwar für eine gewisse Zeit den Absatz gewährleisten, doch stellen sie nicht die Lösung des Grundwiderspruchs dar: Der Markt wächst langsamer als die Produktion.
2. „Den Kulminationspunkt des Kapitalismus würden auf einer bestimmten Stufe „die Ausweitung der Lohnarbeit und ihre durch die Herstellung des Weltmarktes erreichte allgemeine Herrschaft" bilden. Für die IKS dagegen trat dieser Kulminationspunkt dann ein, als die wichtigsten wirtschaftlichen Mächte sich die Welt aufteilt hatten und der Markt „die Schwelle zur Sättigung derselben Märkte (erreichte), die im 19. Jahrhundert noch seine ungeheure Ausdehnung ermöglicht hatten" (Plattform der IKS)."
Die zweite angebliche Divergenz unserer Position mit derjenigen der IKS betrifft den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase. Die These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" ist absolut damit einverstanden, dass der Kulminationspunkt dann eintrat, als die wichtigsten Wirtschaftsmächte sich die Welt aufgeteilt hatten. Der einzige Unterschied zwischen dem „Luxemburgismus" der Plattform und uns liegt bei der Bewertung der Rolle der außerkapitalistischen Märkte. Aber diese Divergenz ist offensichtlich wesentlich geringer als diejenige, die uns in dieser Hinsicht von den Verteidigern der Analyse, wonach der tendenzielle Fall der einzige Faktor sei (Grossmann, Mattick), unterscheidet.
3. „Die Entwicklung der Profitrate und die Größe der Märkte seien vollkommen unabhängig, während für die IKS „durch die wachsende Schwierigkeit des Kapitals, Märkte zu finden, wo sein Mehrwert realisiert werden kann, der Druck auf die Profitrate verstärkt und ihr tendenzieller Fall bewirkt (wurde). Dieser Druck wird durch den ständigen Anstieg des konstanten, „toten" Kapitals (Produktionsmittel) zu Lasten des variablen, lebendigen Kapitals, die menschliche Arbeitskraft, ausgedrückt." (ebenda)".
In diesem letzten Punkt sind wir grundsätzlich einverstanden mit der Darstellung in der Einleitung, auch wenn wir nicht von „vollkommener" Unabhängigkeit sprechen, sondern von „begrifflicher". Wir haben immer gesagt, dass die Profitrate einen Einfluss auf die Märkte hat und umgekehrt, aber es handelt sich um zwei Faktoren, die „begrifflich auseinander fallen".
Die Folgen der Divergenzen
Welche Folgen haben diese Divergenzen? Auf den ersten Blick keine.
Natürlich gibt es Unterschiede bei der Interpretation gewisser Dynamiken in der kapitalistischen Wirtschaft. Diese Unterschiede können auch zu Divergenzen bei anderen Aspekten führen, zum Beispiel bei der Analyse der gegenwärtigen Krise oder der unmittelbaren Perspektiven des Kapitalismus. Die Einschätzung der Rolle des Kredits in der gegenwärtigen Krise, die Erklärung der Inflation und die Rolle des Klassenkampfes scheinen uns Themen zu sein, die je nach Position in dieser Debatte über das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedlich analysiert werden können.
Trotz der Divergenzen, die in dieser Debatte zum Ausdruck kommen, haben wir alle zusammen sowohl am 17. wie auch am 18. Kongress der IKS über die gegenwärtige Wirtschaftskrise diskutiert und für die gleichen Resolutionen über die internationale Lage gestimmt. Auch wenn es in der Organisation verschiedene Analysen über grundlegende Mechanismen in der kapitalistischen Wirtschaft gibt, können wir zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen über die unmittelbaren Perspektiven und die Aufgaben der Revolutionäre gelangen. Das heißt nicht, dass die Debatte nicht nötig wäre - im Gegenteil, wir sollen sie mit Geduld und der Fähigkeit, den anderen mit offenem Geist zuzuhören, weiter führen.
Salome & Ferdinand, 4. Juni 2009
[1] Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation
[2] Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus
[3] Der hier veröffentlichte Artikel (Antwort auf Silvio und Jens, unterschrieben von Salome und Ferdinand) weist darauf hin, dass einige Fußnoten im Artikel von C.Mcl Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus zwar in der französischen, nicht aber in der englischen und spanischen Version vorkommen. Wir werden diesen Mangel auf den Webseiten der beiden Sprachen korrigieren, damit die Debatte möglichst klar ist und weil - sie Salome und Ferdinand hervorheben - C.Mcl „gewisse Formulierungen des 3. Punktes der Plattform kritisiert", und zwar „mit theoretischen Überlegungen, ohne eine alternative Formulierung vorzuschlagen".
[4] Internationale Revue Nr. 42, Interne Debatte in der IKS, vgl. Fußnote 1
[5] Internationale Revue Nr. 44, Interne Debatte in der IKS (III): Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg, Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation (von Silvio), Bezug nehmend auf ein Zitat von P. Mattick.
[6] Internationale Revue Nr. 42, Debatte, Kapitel Außerkapitalistische Märkte und Verschuldung.
[7] Internationale Revue Nr. 37, Wirtschaftskrise: Der Abstieg in die Hölle.
[8] Für mehr Informationen über die Bretton-Woods-Verträge vgl. z.B. den Beitrag von „papamarx" unter https://fr.internationalism.org/icconline/2009/papa-marx
[9] Silvio in der Internationalen Revue Nr. 44
[10] International Review Nr. 127 (engl./franz./span. Ausgabe), Antwort an die CWO: Der Krieg in der Phase der Dekadenz des Kapitalismus. Die Grundwidersprüche des Kapitalismus.
[11] Internationale Revue Nr. 43, Interne Debatte in der IKS (II), Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg
[12] Fritz Sternberg, Der Imperialismus, Berlin 1926, S. 106
[13] Internationale Revue Nr. 44
[14] F. Sternberg meint, dass dies der stärkste Punkt der Position Luxemburgs sei, auf den einzugehen sich „alle diejenigen, die Rosa Luxemburg kritisiert haben, (...) eifrigst gehütet" hätten (Der Imperialismus, S. 99).
[15] Internationale Revue Nr. 44
[16] Vgl. z.B. N. Bucharin, Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Viertes Kapitel
[17] Diese beiden Einheiten wurden in der Abteilung II produziert und stellen somit Konsumtionsmittel dar.
[18] Diese drei Einheiten stellen Produktionsmittel dar und müssen irgendwie von den Kapitalisten der Abteilung II gekauft werden („getauscht" gegen c2 + ac2).
[19] Wir denken, dass darin die wirtschaftliche Ursache für das Leiden der Arbeiter, die durch den Stalinismus (einschließlich Maoismus) ausgebeutet wurden, liegt: Dieser rigide Staatskapitalismus setzte ganz auf die Industrialisierung mit einer entsprechenden Forcierung der Abteilung I, was dazu führte, dass die Abteilung der Konsumgüterproduktion auf ein absolutes Minimum reduziert wurde.
[20] Eine Sphäre ist nicht notwendigerweise ein Markt: Die Wäsche zuhause selber waschen und bügeln sind Tätigkeiten in einer außerkapitalistischen Sphäre. Diese Sphäre kann durch den Kapitalismus erobert werden, wenn der Lohn des Arbeiters so weit steigt, dass er die Wäsche in die Kleiderreinigung bringen kann. Doch gibt es bei diesem Beispiel keinen außerkapitalistischen Markt.
[21] ttp://fr.internationalism.org/rint133/debat_interne_causes_prosperite_consecutive_seconde_guerre_mondiale_2.html; Fußnoten 16, 22, 39 und 41