Zu den TEKEL-Veranstaltungen in Deutschland und der Schweiz - Grenzüberschreitende Suche nach Solidarität

Printer-friendly version


Im Juni 2010 riefen die FAU[1], die IKS, die Karakök Autonomen[2] und andere politische Gruppen aus dem anarchistischen/linkskommunistischen Umfeld zu einer Reihe von Diskussionsveranstaltungen mit einer Delegation der kämpfenden TEKEL-Arbeiter und -Arbeiterinnen aus der Türkei auf. In neun deutschen Städten und in Zürich fanden darauf Treffen statt, an denen die Delegation die Erfahrung ihrer Kämpfe weiter vermittelte und zur Diskussion stellte.

„Seit Mitte Dezember protestieren die Beschäftigten des ehemals staatlichen Unternehmen „TEKEL“ ge­gen die Folgen der Privatisierung. Das staatliche Unternehmen war für die gesamte Tabak- und Alko­holproduktion in der Türkei allein verantwortlich. Das Unternehmen wurde 2008 an BAT (British Ameri­can Tobacco) veräußert. Landesweit sollen nun 40 Produktionsstätten geschlossen werden, die rund 12.000 TEKEL-ArbeiterInnen sollen dann in anderen Betrieben arbeiten. Der Belegschaft drohen da­durch massive Gehaltskürzungen, der Verlust von tariflichen und sozialen Rechten oder die Arbeitslo­sigkeit.“ (aus dem Aufruf der FAU)

In Zürich organisierte die Gruppe Karakök Autonome die Veranstaltung, die von einem recht breiten Publikum besucht wurde. Wie bei den Veranstaltungen in Deutschland berichtete O., ein Arbeiter bei TEKEL, über den Kampf der Belegschaft gegen die Privatisierung und die massive Verschlechterung der Situation der Beschäftigen, die u.a. Lohnreduktionen von 600 auf 325 Euro beinhalteten. „Gegen diese Aussicht auf die permanente Misere durch Arbeit, richtet sich der aktuelle Kampf der entlassenen TEKEL-ArbeiterInnen. Mit öffentlichkeitswirksamen Protesten versuchen sie seit Monaten, die Gewerkschaften - allen voran Türk-Is - dazu zu bewegen, einen Generalstreik der staatlichen Beschäftigten, gegen diese Neuregelungen auszurufen. Doch die Gewerkschaften verhalten sich faktisch als Komplizen und Erfüllungsgehilfen der staatlich organisierten Verarmung. „Wir mußten zehn mal mehr gegen die Gewerkschaft kämpfen, als gegen die Polizei und den Staat“ sagte O. So wurde in Ankara die Gewerkschaftszentrale von bis zu 15.000 Polizisten geschützt, als Tausende von TEKEL-Beschäftigten in die Stadt kamen, um die Gewerkschaften dazu zu bewegen, sich für ihre Sache einzusetzen. „Wir standen vor den Polizeieinheiten, die uns mit Tränengas, Nebelbomben und Knüppeln angegriffen haben“ - berichtete O. - „und die Gewerkschaftsfunktionäre standen nicht solidarisch bei uns sondern hinter den Polizeiketten“. Trotzdem gelang es in Ankara die Gewerkschaftszentrale kurzfristig zu besetzen.“ (aus dem Bericht der FAU von der Veranstaltung in Duisburg)

Auf einem Platz in der Nähe der besetzten Gewerkschaftszentrale richteten die Arbeiter und Arbeiterinnen ein Zeltlager auf.

Eindrücklich war vor allem die Solidarität, die den Kämpfenden in Ankara aus der Bevölkerung entgegen gebracht wurde. Es gab nicht nur Demonstrationen mit bis zu mehreren Zehntausend Teilnehmern, sondern von der lokalen Bevölkerung Unterstützung für die TEKEL-Arbeiter und -Arbeiterinnen in der Form von Decken, Nahrungsmitteln, sanitären Anlagen, aufmunternden Worten und Spenden. „So etwas hat es in Ankara noch nie gegeben, auch in der ganzen Türkei noch nie. Wir waren alle zu Tränen gerührt von der Solidarität, die entsteht, wenn ArbeiterInnen sich gegenseitig helfen. Niemand von uns wird das jemals vergessen“, erzählte O.

Türkische und kurdische Arbeiter kämpften Seite an Seite, das Geschlechterverhältnis veränderte sich im Camp in Ankara. Im Kampfkomitee, das sich aus VertreterInnen der verschiedenen Betriebsstandorte zusammensetzt, spielen Frauen eine wichtige Rolle.

Die TEKEL-ArbeiterInnen suchten weiter aktiv die Solidarität anderer Teile der Klasse. Delegationen der Kämpfenden reisten in andere Städte zu Betrieben, in denen auch Kämpfe stattfanden - nach Antep, Izmir, Istanbul.

So gründeten sie zusammen mit streikenden ArbeiterInnen anderer Staatsbetriebe (u.a. Hafen- und Bauarbeiter, Feuerwehrleute) in Istanbul eine Plattform der kämpfenden Arbeiter[3]. Am 1. Mai besetzten sie bei der Maikundgebung von 350.000 Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Bühne und verlasen eine Erklärung gegen die Komplizenschaft der Gewerkschaften mit dem Staat. Die Gewerkschaftsführer flüchteten von der Bühne und hetzten die Polizei auf die ArbeiterInnen.

Und schließlich entstand die Idee, dass man auch in anderen Ländern von den Erfahrungen des Kampfes berichten und die Diskussion über die Grenzen des türkischen Staates hinaus tragen sollte. So kam es zu den Diskussionsveranstaltungen in Deutschland und der Schweiz.

In Zürich wurde u.a. über folgende Fragen diskutiert:

- Wie haben die ArbeiterInnen im Streik Entscheide gefällt? Wie wurde diskutiert?

- Nach welchen Kriterien haben sie entschieden, wo nach Solidarität gesucht werden soll?

- Soll man einen Betrieb in einer solchen Situation besetzen? Macht eine Besetzung Sinn, wenn der Betrieb ohnehin geschlossen wird?

- Sind die Gewerkschaften nur in der Türkei auf der Seite des Staates?

- Welches sind die Schlussfolgerungen nach dem Kampf?

Wir ziehen nach dem Erlebten und Gesagten folgende Zwischenbilanz:

Ohne Zweifel sind die Angriffe auf die Arbeiterklasse weltweit gegenwärtig stärker als unsere Gegenwehr. Es gibt zwar in vielen Ländern und jeden Tag irgendwo Streiks und Demonstrationen, die aber bis jetzt höchstens ausnahmsweise einen massenhaften Charakter angenommen haben. Woran liegt das? Was fehlt für das Entstehen einer Massenbewegung? Was braucht es, damit die isolierten Kämpfe wirklich eine Ausstrahlung und eine Ausdehnung erfahren?

Angesichts einer wirtschaftlich ausweglosen Situation im Kapitalismus führt ein normaler Verteidigungskampf nicht mehr weiter. Wenn ein Betrieb ohnehin dicht macht und die Produktion in ein Gebiet ausgelagert wird, wo die Lohnkosten geringer sind, kann der Kampf lokal nicht gewonnen werden. Es geht ums Ganze: Die Arbeiterklasse muss sich über die Grenzen hinweg für den gleichen Kampf zusammenschließen - es geht letztlich um einen Infragestellung des kapitalistischen Produktions- und Verteilungssystems insgesamt. Wie kann ein solcher Kampf zustande kommen? - Offensichtlich schreckt unsere Klasse vor der Gewaltigkeit dieser Aufgabe zurück.

In und um den Kampf der TEKEL-ArbeiterInnen hat es einige Aspekte gegeben, die zwar nicht für sich allein ein großes Gewicht haben, aber von der politischen Stoßrichtung her bedeutsam sind.

Einerseits suchen kämpfende Arbeiter und Arbeiterinnen die Solidarität anderer Teile der Klasse. Nicht nur innerhalb der Türkei sind Delegationen in andere Städte geschickt worden, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus. Diese Initiative der Kämpfenden lief bezeichnenderweise nicht über die Gewerkschaften. Vielmehr stießen die Streikenden auf den Widerstand der Gewerkschaften, nahmen sie wahr als Teil des staatlichen Abwehrdispositivs. Die TEKEL-Leute organisierten sich selbständig und kontrollierten auch selber die Suche nach der Solidarität, ohne Gewerkschaften. Diese Erfahrung, von der O. berichtete, war für viele GenossInnen, die an den Veranstaltungen teilnahmen, nicht etwas Erstaunliches. Vielmehr machen auch wir hier die gleichen Erfahrungen, in der Schweiz beispielsweise bei den Kämpfen in Reconvilier oder Deisswil.

Andererseits gibt es gleichzeitig Diskussionen unter politisierten Minderheiten in der Türkei, Deutschland und weiteren Ländern, die miteinander die Erfahrungen von TEKEL verarbeiten, für die Zukunft fruchtbar machen wollen. Dabei kommen Leute zusammen, die unterschiedliche politische Wurzeln haben, aber offensichtlich ein gemeinsames Ziel der revolutionären Überwindung dieser Gesellschaft haben.

Insofern weisen die Initiativen um den TEKEL-Streik eine neue Qualität auf, die es zu vertiefen und zu verallgemeinern gilt. Nur über diese Offenheit gegenüber anderen Teilen der Klasse, durch das Hinaustragen der Lehren über den eigenen lokalen Zusammenhang hinaus wird sich die Klasse nach und nach zu einer größeren Kraft zusammenschließen können. Es braucht solche Schritte, die zu Beginn zwar nach nicht viel aussehen, aber in die richtige Richtung gehen. Diese neue Qualität ist für eine Revolution unabdingbar.

Die Klasse hat in ihrem Kampf nur zwei Stärken, auf die sie sich verlassen kann: ihre Einheit und ihr Bewusstsein. Beides hängt zusammen, und beides wird durch solche Bestrebungen, die die TEKEL-ArbeiterInnen entwickelten, vorangetrieben.

Gerade auf der Ebene des Klassenbewusstseins waren die Diskussionen alles andere als banal: Die Gewerkschaften standen dem Kampf im Weg; die Streikenden stellten dies fest und organisierten den Kampf und seine Ausweitung selbständig, ohne Gewerkschaften, ja gegen den Widerstand derselben. Wir müssen dafür sorgen, dass sich breitere Teile der Klasse diese Lehren ebenfalls aneignen. Je kollektiver das Gedächtnis der Klasse wird, desto weniger müssen die gleichen Erfahrungen in jedem Kampf neu gemacht werden.

Und während Revolutionäre in den 1990er Jahren zwar vielleicht diese Lehren aus früheren Kämpfen zu propagieren versuchten (wie beispielsweise die IKS in zahlreichen Zeitungsartikeln jener Zeit), aber einsame Rufer in der Wüste waren, fallen die Erfahrungen der TEKEL-ArbeiterInnen heute auf einen Boden, auf dem es zu sprießen beginnt - nicht üppig zwar, aber immerhin: die Lehren werden diskutiert von Leuten, die konkret mit denselben Problemen konfrontiert sind. In jedem Kampf heute stellen sich genau solche Fragen: Wie wehren wir uns am besten? Wo können wir Solidarität suchen? Wie organisieren wir unseren Kampf?

Und obwohl die Angriffe des türkischen Staats auf die TEKEL-Angestellten nicht gestoppt werden konnten, führten die Kämpfe nicht zu einer Demoralisierung, sondern zu einer Radikalisierung bei einem kleinen Teil der Klasse. Ein Teil, der die Hand ausstreckt zu den Klassenschwestern und -brüdern.

Die Diskussionen, die um den TEKEL-Streik in Gang gekommen sind, ziehen ihre Stärke weniger aus dem Hier und Jetzt, als aus der Perspektive, der Zukunft. Sie schlagen eine neue Richtung ein, sind ein Wegweiser. Die Kampfbereitschaft der Klasse kann von den revolutionären Minderheit nur in geringem Ausmass beeinflusst werden; die Kämpfe brechen spontan aus. Aber für die Richtung der Diskussionen, für die bereits gemachten Lehren, die Perspektive in den Kämpfen sind die heute noch kleinen Minderheiten unabdingbar. Sie können zu einem Faktor werden unter der Bedingung, dass auch sie sich ihrer potentiellen Stärke, ihrer Verbundenheit und gemeinsamen Aufgaben bewusst werden.

Joel, 16.09.10

Aktuelles und Laufendes: