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Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe.
Révolution Internationale, Zeitung der IKS in Frankreich
Wie die Kämpfe in die eigene Hand nehmen?
Die Bewegung gegen die Rentenreform dauert nun schon sieben Monate. Der erste Aktionstag fand am 23. März statt, damals beteiligten sich 800.000 Menschen, die Atmosphäre war eher schlaff und ein wenig hoffnungslos. Aber seitdem hat der Kampf an Stärke gewonnen. Mehr und mehr Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre, ganze Arbeiterfamilien, Gymnasiasten und Studenten haben sich schrittweise der Bewegung angeschlossen. Gegenwärtig kommen regelmäßig mehr als drei Millionen auf der Straße zusammen!
In Wirklichkeit ist diese Reform zum Symbol der allgemeinen und brutalen Verschlechterung unserer Lebensbedingungen geworden. Die Jugendlichen stehen wie vor einer Mauer: im öffentlichen Dienst werden fast keine Leute mehr eingestellt; in der Privatindustrie gibt es kaum Stellen, und wenn dann nur zu sehr prekären, unhaltbaren Bedingungen. Eingefrorene Löhne, Preissteigerungen, insbesondere Mieterhöhungen, drastische Kürzungen bei der Erstattung von medizinischen Leistungen und der Sozialhilfe, Kürzungen bei Beschäftigungsgesellschaften usw… all diese unzähligen Angriffe treiben uns alle langsam aber sicher in die Armut.
In dieser Lage war es lange bei vielen die Vorstellung, nach Jahren Plackerei und Lohnsklaverei bald eine „wohlverdiente Rente“ zu bekommen, die einen hoffen und durchhalten ließ. Es war das Licht am Ende des Tunnels. In den 1950er und 1960er Jahren konnten noch viele Beschäftigte von diesem relativen „Eldorado“ profitieren. Aber seit 20 Jahren sinken die Renten unaufhörlich. Mittlerweile sind sie auf ein miserables Niveau gefallen; viele Rentner sind gezwungen, noch irgendwelche kleine Jobs anzunehmen. Und jeder weiß, dass diese Reform diese dramatische Lage noch weiter zuspitzen wird. Wie viele Demonstranten rufen, ist die einzige Zukunft, die uns das Kapital bieten kann: „Métro, boulot, caveau“ („Zur Arbeit pendeln, schuften, verrecken“).
Die Weltwirtschaftskrise treibt heute die ganze Menschheit in eine Spirale der Verarmung. Die Lage spitzt sich immer weiter zu. Sieben Monate Kämpfe … immer wieder Aktionstage, ganze Wirtschaftsbereiche haben wiederholt gestreikt, ganze Standorte wurden von entschlossenen und kämpferischen Beschäftigten lahmgelegt, die zudem noch mit der staatlichen Repression konfrontiert wurden. „Die Jugend steckt in einer Galeere, die Alten in der Misere“. Kein Zweifel, die Wut ist riesig und in der ganzen Arbeiterklasse zu spüren!
Und dennoch die Regierung zieht ihre Rentenreform nicht zurück. Selbst zu Millionen auf die Straße zu ziehen, reicht nicht. Jeder spürt, dass irgendetwas dieser Bewegung fehlt. Was fehlt ist, dass die Arbeiter die Bewegung in die eigenen Hände nehmen. Wenn wir nur wie Schafe den gewerkschaftlichen Anordnung folgen, werden wir wie 2003 und 2007 eine Niederlage einstecken. Das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften wird unter den Arbeitern immer größer. Aber bislang hat nur eine Minderheit gewagt, diesen Schritt zu vollziehen, hat es gewagt, sich selbst in unabhängigen Vollversammlungen zu organisieren, die nicht von den Gewerkschaften kontrolliert werden. So weit wir wissen, gibt es heute ein gutes Dutzend branchenübergreifende Vollversammlungen dieser Art in Frankreich. Zum Beispiel kommen regelmäßig Eisenbahner, Lehrer, Arbeitslose und prekär Beschäftigte in der Bahnhofshalle des Pariser Ostbahnhofs zusammen. Straßenversammlungen werden regelmäßig in Toulouse vor den Arbeitsbörsen abgehalten und am Ende von Demonstrationen. Aber sie werden bislang nur von Minderheiten getragen.
Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe. IKS 22.10.2010
Raffinerien blockieren – ein zweischneidiges Schwert
20% der Tankstellen ohne Benzin. Endlos lange Schlagen. Überall Schlagzeilen in den Medien wegen der wirtschaftlichen Lähmung des Landes. Kämpferische und entschlossene Arbeiter. Und ein Präsident der Republik, der mit der Faust auf den Tisch schlägt, die „Diebe“ mit den schlimmsten Repressalien bedroht. Diese Szenen sind überall in den Medien zu sehen und werden weltweit verbreitet.
Die Beschäftigten, die vor den Raffinerien ausharren, tun dies im Namen der Arbeitersolidarität. Wenn sie den Mut haben, sich der wütenden Polizeirepression und den Strafen ihrer Arbeitgeber auszusetzen (z.B. Grandpuits, in der Pariser Region, der gedroht hat, den Standort dicht zu machen und alle zu entlassen), tun sie dies, weil sie sich dessen bewusst, sind, dass sie für eine gerechte Sache kämpfen, die weit über ihr sie hinausgeht: Die Rentenreform, die uns alle betrifft, und die miserablen Renten, die sich daraus ergeben. Sie kämpfen für die Interessen der gesamten Klasse.
Die Lähmung des Verkehrs, welche durch die Blockade entstanden ist, offenbart auch, dass die Arbeiterklasse die Kraft ist, von der alle Räder in dieser Welt abhängen. Die Arbeiter produzieren alle Reichtümer. Die Kapitalisten sind letzten Endes nur Parasiten, die auf unsere Kosten leben und sich die Erzeugnisse unserer Arbeit aneignen. Es reicht aus, dass ein strategischer Bereich wie die Raffinerien nicht mehr normal funktioniert, und schon gerät die ganze Wirtschaft aus den Fugen.
Aber diese Waffe ist ein zweischneidiges Schwert.
Wer leidet am meisten unter den Blockaden?
Die Blockade der Raffinerien verfolgt das erklärte Ziel der Lähmung der Wirtschaft, um Druck auf das Kapital auszuüben. Es stimmt, dass den Kapitalisten nichts wichtiger ist als der Profit. Aber wer wird am meisten durch die Benzinknappheit getroffen? Wer ist wirtschaftlich am härtesten getroffen? Das Kapital oder die Arbeiter? Konkret sind die größten Betriebe des Landes (Carrefour, L’Oréal, BNP Paribas, Société Générale, Danone usw.) nicht in Gefahr. Sie sitzen relativ fest im Sattel und können auf die Unterstützung des Staates bauen (auch auf finanzielle Hilfe). Aber die Arbeiter leiden tag- täglich unter den Schwierigkeiten, Benzin zu tanken und zur Arbeit zu fahren. Sie leiden unter den Strafen der Arbeitgeber oder den Sanktionen durch ihre Vorgesetzten, weil man zu spät zur Arbeit kommt. Und die Beschäftigten, die seit Wochen immer wieder gestreikt haben, müssen sich jetzt den Gürtel enger schnallen wegen der dadurch entstandenen Lohnverluste.
„Die Wirtschaft lahmzulegen, um Druck auf das Kapital auszuüben“, ist übrigens ein Mythos, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vor mehr als einem Jahrhundert konnten die Beschäftigten ihre Betriebe lahmlegen und somit ihre Arbeitgeber zum Nachgeben zwingen. Einerseits ermöglichten die Solidaritätskassen, den Arbeitern „durchzuhalten“, andererseits musste der bestreikte Unternehmer mit ansehen, wie seine Konkurrenten die Lage auszunutzen und ihm Kunden webschnappten. Es gab ernste Gefahren, bankrott zu gehen, und oft konnten die Arbeiter einen Sieg davontragen. Heute sind die Verhältnisse aber ganz anders. Es mag zwar noch Solidaritätskassen geben; so gibt es welche für die „Blockierer“ der Raffinerien. Aber die Arbeitgeber fallen sich in einem Arbeitskampf nicht mehr gegenseitig in den Rücken; im Gegenteil sie unterstützen sich gegenseitig. Sie verfügen gar über schwarze Kassen, um mit solch einer Lage umzugehen. Somit treten die Beschäftigten der Raffinerien nicht nur „ihrem“ Arbeitgeber gegenüber, sondern dem Kapital insgesamt, und vor allem der geballten Staatsmacht. Das Kräfteverhältnis auf rein ökonomischer Ebene besteht nicht mehr zugunsten der Streikenden. Aber das ist nicht die einzige Falle.
Die Gefahr der Isolierung und „unpopulär“ zu werden
Streiks, über deren jeweilige Fortsetzung immer von neuem entschieden wird, sind heute noch nicht sehr verbreitet. Nur in einigen Bereichen wird zurzeit ununterbrochen gekämpft: im Verkehrswesen (vor allem bei der SNCF), den Häfen und der Müllabfuhr in Marseille und den Raffinerien. Weil sie isoliert sind, laufen diese Beschäftigen Gefahr, sich zu erschöpfen, im Falle einer Niederlage entmutigt und gewaltsam bestraft zu werden. Deshalb sind ja auch so viele Arbeiter zu den blockierten Raffinerien gekommen, um vor Ort ihre Solidarität durch ihre Anwesenheit zu bekunden.
Aber es gibt ein noch größeres Risiko, nämlich dass diese Bewegung „unpopulär“ wird. Im Augenblick unterstützt noch der größte Teil der Arbeiterklasse und der Bevölkerung insgesamt diesen Kampf gegen die Rentenreform. Seit dem ersten Aktionstag am 23. März haben sich immer mehr Lohnabhängige der Bewegung angeschlossen (selbst kleine Händler, Freiberufler, Handwerker und Bauern). Ihre Stärke besteht gerade darin, dass immer mehr Bereiche sich dem Kampf anschließen. Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich Schritt für Schritt die der Privatindustrie, ganze Arbeiterfamilien (insbesondere während der Samstagsdemos), prekär Beschäftigte, Arbeitslose, dann Gymnasiasten und Studenten angeschlossen… Der Kampf gegen die Rentenreform ist für alle eine Kampf gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen und gegen die Verarmung geworden.
Aber weil die Blockade des Verkehrswesens schlussendlich in erster Linie diejenigen trifft, die sich am Kampf beteiligen, besteht die Gefahr der Spaltung und dass diese Dynamik gebrochen und ein Hindernis wird für die notwendige massive Ausdehnung der Kämpfe. Bislang unterstützen viele Arbeiter diese Blockadeaktionen, aber im Laufe der Zeit kann sich das Blatt wenden.
Übrigens würde die vollständige Lähmung des Transportwesens ein Zusammenkommen bei den Demonstrationen unmöglich machen. Eine große Erleichterung für das Zusammenkommen wäre es vielmehr, wenn man kostenlos mit der Bahn reisen könnte, wäre das keine wirksamere Vorgehensweise zur Stärkung der Bewegung?
Ein politisches Kräfteverhältnis aufbauen
Soll das damit heißen, wir würden sagen, Blockaden und Besetzungen wären keine nützlichen Kampfmittel? Natürlich nicht! Es geht nur darum, dass diese Aktionen nicht als vorrangiges Ziel haben können, ökonomisch zu punkten, sondern sie müssen ein politisches Kräfteverhältnis aufzubauen.
Jegliches Handeln sollte bestimmt sein durch das Bemühen, den Kampf auszudehnen. Unsere Stärke ist unsere massive Einheit und unsere Solidarität im Kampf.
Zum Beispiel fingen die Streiks an den Unis während der Bewegung gegen den CPE im Frühjahr 2006 durch Blockaden an. Mit Hilfe der Blockaden gelang es den bewusstesten und kämpferischsten Studenten, eine große Zahl von Kommilitonen/Innen für die Vollversammlungen zu mobilisieren, wo ein beträchtlicher Teil der Studenten, die nicht die Bedeutung der Angriffe der Regierung oder die Notwendigkeit eines Abwehrkampfes dagegen verstanden hatte, von der Debatte und den darin vorgebrachten Argumenten überzeugt wurde.
Die Blockade und die Besetzung eines Industriestandortes, einer schulischen Einrichtung oder einer Verwaltung kann auch dieses massive Zusammenkommen in Vollversammlungen, diese Debatten ermöglichen, wo die am meisten Zögernden überzeugt werden und sich dem Kampf anschließen. Einzig diese Dynamik der Ausdehnung jagt den Herrschenden wirklich Angst ein. Und schlussendlich, welche Rolle auch immer eine Fabrikbesetzung oder eine Blockade zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Streik spielen mag, auf den Straßen können die Beschäftigten, Rentner, Arbeitslosen, Arbeiterfamilien usw. am leichtesten massiv zusammenkommen. IKS, 22.10.2010
Die Gewerkschaftsbündnisse führen uns in die Niederlage
„Wir sind zu Millionen auf die Straße gezogen und haben an den vergangenen Aktionstagen gestreikt. Die Regierung gibt immer noch nicht nach. Nur eine Massenbewegung wird sie dazu zwingen. Diese Idee kommt immer mehr in Diskussionen um einen unbegrenzten, jeweils erneuerbaren Generalstreik und der Blockierung der Wirtschaft auf. (…) Die Gestalt, die diese Bewegung annehmen wird, hängt von uns ab. (…) Wir müssen über die Aktionsformen, Forderungen usw. selbst entscheiden. Niemand anders darf uns dies abnehmen.
Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, stehen nur neue Niederlagen bevor. Chérèque ist für die Regelung, dass 42 Beitragsjahre gezahlt werden müssen [was dem Vorhaben der Regierung entspricht]. Thibault verlangt nicht die Rücknahme des Gesetzentwurfes. Wir haben auch nicht vergessen, dass er 2009 mit Sarkozy Champagner trank, während Tausende von uns entlassen wurden und wir alleine, isoliert voneinander kämpfen mussten. Wir haben auch kein Vertrauen mehr in die angeblich „Radikalen“. Die Radikalität Mailly (FO/Gewerkschaft) besteht darin, der PS-Vorsitzenden Aubry die Hand zu schütteln, während die PS selbst für die 42-Beitragsjahre stimmt. (…)
Wenn sie heute die Idee eines erneuerbaren Streiks propagieren, dann wollen sie vor allem vermeiden, dass sie von der Bewegung überrollt werden. Deren Kontrolle über unsere Kämpfe gilt für sie als Faustpfand, um zum Verhandlungstisch zugelassen zu werden. Warum? In einem Brief von sieben Gewerkschaftsorganisationen der CFTC an Sud-Solidaires, schrieben diese: „Um den Standpunkt der Gewerkschaftsorganisationen bekannt zu machen mit dem Ziel, eine Gesamtheit von gerechten und wirksamen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des bisherigen Rentensystems sicherzustellen“. Soll man wirklich glauben, dass es eine gemeinsame Basis mit den Leuten geben kann, die seit 1993 unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen systematisch untergraben haben?
Die einzige wirkliche Einheit, die diese Regierung und die herrschende Klasse zurückdrängen kann, besteht in dem Zusammenschluss der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatindustrie, von Beschäftigten und Arbeitslosen, Rentnern und Jugendlichen, legal und illegal Beschäftigten, Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern, an der Basis in den Betrieben in den gemeinsamen Vollversammlungen und indem wir den Kampf in die eigene Hand nehmen.“
Dies ist ein Auszug aus einem Flugblatt, das bei den Demonstrationen in Paris massenhaft verbreitet und unterzeichnet wurde von „Arbeitern und prekär Beschäftigten der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs“.
Zahlreiche andere Texte mit der gleichen Stoßrichtung und einem ähnlichen Ton sind von anderen branchenübergreifenden Zusammenschlüssen, Kampfkomitees, Diskussionsgruppen oder kleinen politischen Organisationen verfasst worden, die ihr wachsendes Misstrauen gegenüber dem Gewerkschaftsbündnis geäußert haben und dieses beschuldigen, uns absichtlich in die Niederlage zu führen. Alle ermuntern die Arbeiter, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen.
Hinter dem Gewerkschaftsbündnis – Infragestellung des gewerkschaftlichen Kampfes
Die Sabotage der Kämpfe durch das Gewerkschaftsbündnis 2003, 2007 und heute 2010 wirft die breitere Frage des wahren Wesens der Gewerkschaften auf. Stehen sie heute immer noch auf Seiten der Arbeiterklasse? Ein kurzer Rückblick auf die letzten Jahrzehnte belegt, dass sie ins Lager der Herrschenden übergewechselt sind.
Seit mehr als 100 Jahren waren die großen Kämpfe jeweils wilde, spontane und massive Streiks. Und all diese Kämpfe stützten sich bei ihrer Organisierung nicht auf die Gewerkschaften sondern auf Vollversammlungen, in denen alle Arbeiter über den Kampf und die Probleme diskutieren, mit gewählten und abwählbaren Komitees, die für die Zentralisierung des Kampfes sorgen. Die großen Streiks im Mai 1968 in Frankreich wurden gegen den Widerstand der Gewerkschaften ausgelöst. Während der Streiks des „Heißen Herbst“ 1969 in Italien verjagten die Arbeiter die Gewerkschaftsvertreter aus den Streikversammlungen. 1973 griffen die streikenden Hafenarbeiter von Antwerpen das Gewerkschaftsbüro an. In den 1970er Jahren setzen die Arbeiter den Gewerkschaften in England hart zu, genau wie in Longwy, Denain, Dünkirchen in Frankreich während der Streiks 1979. Im August 1980 lehnten die Arbeiter in Polen die Gewerkschaften ab (die zum Räderwerk des Staates gehörten); sie organisierten den Massenstreik auf der Grundlage von Vollversammlungen und gewählten und abwählbaren Streikkomitees (MKS). Die Arbeiter konnten sich per Mikrofon in die Verhandlungen einschalten, so dass alle diese verfolgen, das Wort ergreifen und die Delegierten kontrollieren konnten. Man muss sich vor allem daran erinnern, wie dieser Kampf zu Ende ging: Durch die Illusion über die Möglichkeit einer neuen, freien, unabhängigen und kämpferischen Gewerkschaft, der die Arbeiterklasse vertrauen und der man die Leitung der Kämpfe übertragen könnte. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Die neue Gewerkschaft, Solidarnosc, stellte die Mikrofone ab, um geheime Verhandlungen mit dem polnischen Staat zu führen, und um in Abstimmung mit diesem die Zerstreuung und Spaltung der Arbeiter zu organisieren. Es folgte die gewaltsame Niederlage der Arbeiter.
Den Gewerkschaften zu folgen, heißt immer auf eine Niederlage zuzusteuern. Um einen massiven Kampf zu entfalten, der von der Arbeitersolidarität getragen wird, muss man den Kampf in die eigenen Hände nehmen.
»Die Emanzipation der Arbeiter [muss] das Werk der Arbeiterklasse selbst sein«
Wie sich im Kampf organisieren?
Eine Kampfbewegung lebt und entfaltet sich wie ein Mäander. Fliegende Streikposten, Blockaden, Besetzungen, Flugblattverteilungen, spontane Demonstrationen usw. all das sind mögliche Aktionsformen. Und die Arbeiterklasse wird sicherlich noch andere in zukünftigen Kämpfen erfinden.
Aber im Mittelpunkt jeden Kampfes steht notwendigerweise die Vollversammlung. In den Vollversammlungen können wir diskutieren, debattieren, kollektiv entscheiden. Die Vollversammlungen sind DER Ort offener Diskussionen und eventueller gemeinsamer Entscheidungen im Kampf. Deshalb werden sie auch immer zur Zielscheibe aller Sabotageversuche.
Die Vollversammlungen - Die Lunge der Arbeiterkämpfe
Solange nicht gekämpft wird, gibt es meist nur harmlose gewerkschaftlich organisierte Vollversammlungen. In allen Betrieben gibt es gewerkschaftlich organisierte „Aktionen“, bei denen meist Gewerkschaftsfunktionäre unter sich zusammenkommen und die meisten Leute der Basis, Gewerkschaftsmitglieder und solche, die keiner Gewerkschaft angehören, eine reine Beobachterrolle übernehmen, und die man nur von Zeit zu Zeit um ein Votum bittet. Zu allen diesen Treffen erscheinen meist nur wenige Leute. Die meisten Arbeiter wissen, dass sie völlig irrelevant sind.
Aber wenn – wie jetzt - Kämpfe ausbrechen, passen die Gewerkschaften sich an und spielen verschiedene Karten:
- Solange sie können, unternehmen sie alles, damit so wenige Leute wie möglich sich an den Treffen beteiligen. Entweder halten sie gar keine ab, oder nur heimlich, mit möglichst wenig Werbung für sie.
- Manchmal ist die Wut unter den Arbeitern zu groß. Um spontane Diskussionen auf Treffen zu verhindern, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen, halten sie dann eine Reihe von Versammlungen ab. Aber diese Versammlungen sind nach Branchen, Standorten, Geschäftsbereichen usw. organisiert. Die Gewerkschaften säen somit die Spaltung, zerstreuen unsere Kräfte nach altbekannter Salamitaktik, anstatt sie zu bündeln und zu vereinigen. Im Augenblick hält man bei den Eisenbahnen der SNCF gewerkschaftliche Versammlungen ab für Lokführer, für Schaffner, Verwaltungsangestellte usw. In einigen Krankenhäusern in der Region Toulouse wird das völlig lächerlich: man hält Versammlungen auf jeder Station ab!
- Um auf jeden Fall die Kontrolle dieser Vollversammlungen zu bewahren, sind die Gewerkschaften zu allen Tricks bereit. Im Pariser Ostbahnhof war für den 14. Oktober eine Vollversammlung am Morgen anberaumt worden. Die Eisenbahner sollten gemeinsam über die Fortführung des Streiks entscheiden. Aber schließlich haben die Gewerkschaftsfunktionäre es vorgezogen, die Fortführung des Streiks selbst am Vorabend, am 13. Oktober, zu entscheiden. Es gab also keinen Grund mehr, auf der Vollversammlung am Donnerstag überhaupt zu erscheinen, weil alles ohnehin schon im Voraus entschieden war. Und in der Tat erschien fast niemand an dem Tag. So wurde das kollektive Leben der kämpfenden Arbeiterkasse abgewürgt. Eine gewerkschaftliche Sabotage wie aus dem Bilderbuch!
In ihrem Artikel „Was ist eine Vollversammlung“ beschreibt die CNT-AIT des Departement Gers sehr genau andere „Bedrohungen“, die über einer Vollversammlung schweben können:
- „Monopolisierung der Debatte. Die Vollversammlung ist nicht demokratisch. Die klassische Rolle ist die des Gewerkschaftsdelegierten, welcher die Rolle des Moderators beansprucht, sich an Debatten beteiligt, dabei aber systematisch seine Meinung aufzwingt (…)
- Undemokratisches Verhalten der Vollversammlung: Abstimmungen werden nicht respektiert. Die Tagesordnungen werden nicht eingehalten; man stellt mehrfach eine schon getroffene Entscheidung zur Abstimmung, bis die Abstimmenden erschöpft sind. Oft werden die Treffen am Ende einer Versammlung manipuliert, um sie schadlos zu machen.
- Neutralisierung einer Vollversammlung. Egal wie fruchtbar eine Vollversammlung war, sie werden nicht fortgesetzt. Oft werden Vollversammlungen für Streikende abgehalten, damit diese Luft ablassen können.“ Aber richtige Vollversammlungen müssen genau das Gegenteil sein. Sie müssen von vornerein alle Branchen- oder Berufsspaltungen überwinden. Sie müssen nicht nur allen Belegschaften offenstehen, egal welcher Branche sie angehören, und vor allem den Beschäftigten anderer Betriebe, den prekär Beschäftigten, den Rentnern, Arbeitslosen, Studenten, Gymnasiasten …., all denjenigen, die sich an der Ausdehnung der Bewegung beteiligen und die Frage klären wollen: „Wie kämpfen“?
- Wie die anarcho-syndikalistische Organisation des Departement Gers schreibt: „Die Vollversammlung ist demokratisch; sie garantiert das Rederecht, mit gleicher Redezeit und keiner Themenzensur. Dieses Rederecht wird durch ein Mandat garantiert, durch den Moderator. (…)
- Die Vollversammlungen treffen Entscheidungen, die Abstimmung finden durch Handheben statt (…)
- Die Vollversammlung ist von unbeschränkter Dauer, es wird ein Bericht erstattet, der von einem dafür eigens bei Beginn der Versammlung Benannten angefertigt wird, der zur Aufgabe hat, die Debatten und Entscheidungen der Vollversammlung zu protokollieren und zu verbreiten. Auf der Vollversammlung wird das Datum und der Ort der nächsten VV geplant.“
- Diese letzten Punkte sind wesentlich. Eine VV ist kein Ort zum einfachen Luftablassen der Wut der Beschäftigten. Sie ist viel mehr als das. Man kann sich hier zu Wort melden; und sie ist oft der einzige Ort, wo die Arbeiter wirklich das Wort ergreifen können. Aber in einer Vollversammlung wird auch die Einheit der Arbeiterklasse geschmiedet.
- Unsere Klasse kann in solchen VV kollektiv Entscheidungen treffen. Deshalb ist es wichtig, dass eine VV durch die Verabschiedung von Texten und gegebenenfalls Aktionen konkretisiert wird.
- Hier kann die Ausdehnung eines Kampfes beschlossen und organisiert werden, indem massive Delegationen zu anderen Arbeitern geschickt werden (Fabriken, Verwaltungen, Krankenhäuser…), die geographisch am nächsten liegen, und wo die Belegschaften am kämpferischsten sind, und sie dazu aufzurufen, sich ihrem Kampf anzuschließen.
- In den VV können sich die Beschäftigten verschiedener Standorte und Branchen absprechen. Die VV müssen untereinander durch Komitees koordiniert werden, die auch aus gewählten Delegierten zusammengesetzt sind, und ständig ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen und immer abwählbar sein müssen.
Die gegenwärtige Bewegung gegen die Rentenreform hat das Ausmaß der Wut der Arbeiter deutlich werden lassen, die Macht ihrer Entschlossenheit und ihrer Fähigkeit, sich massiv zu mobilisieren. Aber unserer Klasse ist es bislang noch nicht gelungen, sich gemeinsam im Kampf in souveränen und autonomen Vollversammlungen zu organisieren. Das ist die Hauptschwäche dieses Kampfes. Diese Stufe muss die Arbeiterklasse notwendigerweise hinter sich lassen, wenn sie ihre Kämpfe in die Hand nehmen und geeint und solidarisch dem Kapital entgegentreten will. IKS, 22.10.2010
Staatliche Provokationen, Einschüchterungen und Repression
In Lyon zog am 21. Oktober ein Demonstrationszug zum Bellecour-Platz. Der Zug traf auf einige Dutzend Jugendliche, die mit der Polizei zusammenprallten und alles zerschlugen, was ihnen vor die Füße kam. Sofort verhinderte eine polizeiliche Absperrung sie daran weiterzuziehen und drängte sie aufgrund einer „Anweisung von Oben“ ruppig zurück.
Die Herrschenden wollen vor allem nicht, dass die Demonstranten mit den „Randalierern“ diskutieren und sie davon überzeugen, ihre Wut anders zum Ausdruck zu bringen, indem sie sich nämlich dem Kampf gegen die Rentenreform anschließen. Sie wünschen genau das Gegenteil: dass die Demonstrationen entarten und in einer blinden Gewalt enden.
Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie voll zugeschlagen. Die Bullen hatten Order, auf alles zu prügeln, was sich bewegte und weniger als 20 Jahre alt war. Überall in Frankreich wurden die Gymnasiasten provoziert und geschlagen. Das Ziel dieses Vorgehens ist klar: den Jugendlichen, ihren Eltern und der ganzen Arbeiterklasse Angst einjagen und zu versuchen, die Bewegung unpopulär zu machen, indem dieser Kampf fälschlicherweise mit Zerstörung und Gewalt identifiziert wird.
Aus unserer Sicht haben diese Ereignisse erneut den wahren Charakter der Herrschenden und der Arbeiterklasse zutage treten lassen.
Auf der einen Seite eine Klasse, die Hass und Spaltung schürt; mit ihrem gewaltsamen Vorgehen, dem Einsatz von Flash-balls, Schlagstöcken und Tränengas die Jugendlichen terrorisieren und ihnen Angst einjagen will.
Ihr gegenüber steht die Arbeiterklasse, die sich für Solidarität einsetzt. Jugendliche kämpfen dafür, dass ihre Eltern und Großeltern nicht in Armut leben, und die ältere Generation, die sich weigert, die Galeere hinzunehmen, in die die junge Generation gesteckt werden soll.
Nieder mit dem staatlichen Terror, Es lebe der Klassenkampf. IKS 22.10.2010