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In Deutschland geht derzeit ein Spuk herum, der in der politischen Landschaft einigen Wirbel ausgelöst hat – die so genannten Bürgerproteste. Überall gehen Menschen auf die Straße, um gegen den Neubau eines Bahnhofs oder gegen die Flugrouten des neuen Flughafens zu demonstrieren, sammeln Unterschriften und bilden „Bürgerinitiativen“, um Schulreformen oder die Privatisierung kommunaler Einrichtungen zu verhindern, oder laufen Sturm gegen die Installierung von Mobilfunkmasten und Windrädern. Die Protagonisten dieser Proteste kommen, wie die bürgerlichen Medien verblüfft konstatieren, „aus der Mitte der Gesellschaft“. Es handelt sich hier neben vorwiegend gebildeteren Teilen der Arbeiterklasse um überraschend viele Angehörige des Mittelstandes – kurzum: „unbescholtene Bürger“, die Demonstrationen bisher nur aus dem Fernsehen kannten, und keine „Chaoten“. Um so aufgeschreckter wirkt die politische Klasse. Sie wittert großes Ungemach für die „Modernisierung“ Deutschlands, sollten sich die „Verweigerer“ in der Bevölkerung durchsetzen. Was sie aber vor allem entrüstet, ist, dass diese Proteste sich einen Teufel um das Prinzip des politischen Mandats scheren, dem Blankoscheck der parlamentarischen Demokratie, den die Wähler mit ihrem Kreuz in der Wahlkabine gewähren und mit dem die politische Klasse bisher nach Belieben schalten und walten konnte.
Doch was verbirgt sich wirklich hinter den „Bürgerprotesten“? Handeln die Protestierenden schlicht nach dem Sankt-Florian-Prinzip: ‚Zünde das Haus meines Nachbarn an, aber verschone meins‘? Oder ist diese Protestform im Gegenteil gar die endlich gefundene neue Form des „zivilen Ungehorsams“, die im Begriff ist, den „alten“ Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital abzulösen?
„Stuttgart 21“: Die Vernachlässigung des sozialen Aspektes
Der Kampf gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofes steht exemplarisch für einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis der Regierten zu ihren politischen Repräsentanten, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Die Wucht der Weltwirtschaftskrise, deren Höhepunkt keine zwei Jahre zurückliegt, und die Dramatik der ökologischen Katastrophe, die sich schon heute in Klimakatastrophen äußert, haben auch in den großen bisher als unpolitisch geltenden Bevölkerungskreisen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit der Herrschenden geweckt, mit den großen und kleinen Krisen dieser Welt fertig zu werden. Immer mehr Menschen – darunter viele, die bisher ihre Stimme den bürgerlichen politischen Parteien anvertraut hatten – dämmert, dass es so, mit den herkömmlichen Mitteln der parlamentarischen Demokratie, nicht mehr weiter geht. Die politische Klasse ist im Begriff, da zu landen, wo sich die Banker und Broker schon seit einiger Zeit befinden – auf dem Tiefpunkt ihres Ansehens in der Bevölkerung.
In diesem Rahmen muss man auch die Mobilisierung der Stuttgarter Bevölkerung gegen den Neubau ihres Hauptbahnhofs betrachten. Die Proteste gegen Stuttgart 21 waren, nachdem sie vor drei Jahren mit nur gering frequentierten „Montagsdemonstrationen“ begonnen hatten, in diesem Sommer zu einer imposanten Bewegung geworden. Auf ihrem Höhepunkt im September und Oktober zogen mehrmals wöchentlich Zehntausende Demonstranten durch Stuttgart, darunter auffällig viele alte Menschen, aber auch ganze Schulklassen, Arbeiter, Angestellte, Hausfrauen, Architekten, Ärzte, Anwälte, Kaufleute und andere Freiberufler. Die meisten dieser Menschen, die so gar nicht dem Bild von „Berufsdemonstranten“ entsprachen, trieb es weniger aus eigennützigen und schon gar nicht aus ideologischen Gründen auf die Straße. Sie einte vielmehr die Empörung über die Informationspolitik des Bahn-Vorstandes und der Landesregierung, aber vor allem über die Megalomanie einer herrschenden Klasse, die einem technisch hochriskanten Projekt bedenkenlos milliardenschwere Nachschläge gewährt (so sind die ursprünglich veranschlagten Kosten von 2,6 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,1 Mrd. gestiegen, und Experten schätzen den tatsächlichen Bedarf auf über 10 Mrd. Euro), aber im sozialen und im Bildungsbereich die Ausgaben drastisch kürzt.
In der Gegenüberstellung der Milliardenausgaben für Stuttgart 21 einerseits und den Sparmaßnahmen im sozialen Bereich andererseits steckte durchaus mehr Potenzial, als es den Anschein hatte. Denn in der Tat hätte eine Verknüpfung von Stuttgart 21 mit der sozialen Frage die sowohl örtlich als inhaltlich stark limitierte Bewegung zu einer breiteren Perspektive verholfen. Die ganze Brisanz dieser Bewegung lässt sich erahnen, wenn man sich vor Augen hält, dass sie in einer Region – dem Großraum Stuttgart – stattfand, die mit ihrer gewaltigen Automobilindustrie und der ihr angeschlossenen Zulieferindustrie sowie eine der Industriehochburgen Deutschlands ist (außerdem bildet es eines der Gravitationszentren des deutschen Maschinenbaus), mit Zehntausenden von größtenteils hoch qualifizierten ArbeiterInnen. Und zunächst trug die baden-württembergische Landesregierung, mit dem Haudrauf Mappus an ihrer Spitze, ihr Scherflein dazu bei, um die Bewegung weiter zu radikalisieren. Am 30. September, an jenem Tag, als die Polizei mit brutaler Gewalt den Schlossplatz vor dem Hauptbahnhof räumte und dabei auch erstmals in der Geschichte Stuttgarts Wasserwerfer einsetzte, drohten mehr als nur ein paar alte Bäume gefällt zu werden; auf dem Spiel stand nichts geringeres als ein Teil der Legitimation der politischen Klasse. Die Tür zu einer weiteren, möglicherweise unkontrollierbaren Eskalation des Konflikts stand an jenem Tag ein Stück weit offen.
Dies war der Moment, wo Berlin die Reißleine zog; Mappus‘ Konfrontationskurs wurde gestoppt. Zwar zeigen die herrschenden Kreise in Stuttgart und Berlin sich im Augenblick (noch?) nicht bereit, auch nur einen Millimeter von ihren Plänen abzurücken, doch gelobten sie dafür eine bessere „Kommunikation“ und Informationspolitik: „Jahr für Jahr muss man die Leute mitnehmen und erklären, warum das Projekt notwendig ist. Es ist offensichtlich nicht hundertprozentig gelungen, sonst hätten wir das Problem nicht“, meinte nun auch ein offenbar über Nacht „geläuterter“ Mappus. Flugs wurde ein „Runder Tisch“ eingerichtet, an dem Gegner und Befürworter von Stuttgart 21 platziert wurden, und so erlebte die sog. öffentliche Schlichtung unter der Leitung des alten Fahrensmannes der deutschen Bourgeoisie, Heiner Geißler, ihre Erstaufführung.
Nichts konnte die Protestbewegung effektiver abwürgen als diese öffentliche Huldigung der „direkten Demokratie“. Von nun an ging die Zahl der Demonstrationen und Demonstranten rapide zurück. Das öffentliche Interesse fokussierte sich fast ausschließlich auf die im Internet und Fernsehen live übertragenen „Schlichtungsgespräche“, deren stundenlanges, dröges Gefeilsche um Fahrpläne, technische Details u.ä. wie ein Narkotikum auf die Stuttgarter Protestbewegung wirkten. Und wenn da und dort dennoch Flammen des Protestes emporzüngelten (wie die vorübergehende Besetzung des Südflügels des Hauptbahnhofs von Stuttgart-21-Gegnern), wurden sie von Kretschmer und Konsorten, den Repräsentanten der Gegner von Stuttgart 21 am „Runden Tisch“, umgehend ausgetreten: „Denn es herrscht ja Friedenspflicht, und diese Aktion könnte die Gespräche beeinträchtigen“ (Kretschmer zur dpa).
„Bürgerproteste“ und Klassenkampf
Mit den „Bürgerprotesten“, die mit dem Kampf gegen Stuttgart 21 und den Demonstrationen und Blockaden gegen den diesjährigen Castor-Transport nach Gorleben ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten, erleben die Klassen übergreifenden Protestbewegungen, die zuletzt in den 70er und 80er Jahren in Deutschland von sich reden gemacht hatten, eine Renaissance. So verdanken die „Bürgerproteste“ ihren Namen der Tatsache, dass die Akteure nicht in ihrer Eigenschaft als Angehöriger einer Klasse auftreten, sondern sozusagen als „Bürger“. Ob in Hamburg, wo unter der ideologischen Führung des Bürgertums per Volksentscheid eine Schulreform der schwarz-grünen Koalition abgeschmettert wurde, oder in Stuttgart, wo gar eine Initiative „Unternehmer gegen Stuttgart 21“ gegründet wurde, oder in Gorleben – die Renitenz von Teilen der Bevölkerung gegen „die da oben“ ist unübersehbar.
Solche Klassen übergreifenden Bewegungen gilt es differenziert zu betrachten. Solche Bewegungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die Ausdifferenzierung der Interessen des Proletariats von denen anderer, nicht ausbeutender Schichten der Bevölkerung bzw. des Kleinbürgertums nicht stattfindet. Findet diese Differenzierung statt, so gelingt es dem Proletariat mittels seiner großen Massenkämpfe – wie in der jüngeren und älteren Geschichte stets geschehen-, große Teile des Mittelstandes mitzureißen, sie für seinen Kampf zu mobilisieren.
Jedoch zeichnen sich die jüngsten „Bürgerproteste“ dadurch aus, dass sie in einem Vakuum stattfinden, in einer Phase, in der die Arbeiterklasse zumindest in Deutschland abwesend zu sein scheint. Diejenigen kleinbürgerlichen Kräfte, die sich zu den Hauptprotagonisten solcher Bewegungen aufschwingen, werden von der Empörung angetrieben, dass „die da“ in Berlin Politik „über die Köpfe der Leute hinweg“ machen. Bei aller Kritik an den Parteien und der Regierung kommt von ihnen aber nicht der Hauch einer grundsätzlichen Kritik, geschweige denn einer Ablehnung des Parlamentarismus über die Lippen. Im Gegenteil, der Grundtenor der Forderungen, die diese „Bürgerproteste“ äußerten, ist das Verlangen nach „mehr Mitspracherecht“, nach „Mitgestaltung der Gesellschaft“, ist der Wunsch, dass „den Bürgern Gehör geschenkt“ wird – kurzum: mehr Demokratie in der bürgerlichen Demokratie. Aufgerieben von den beiden großen historischen Klassen, dem Proletariat und der Bourgeoisie, und bar jeder eigenständigen historischen Perspektive, verbleibt der mittelständische Diskurs treu im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft. In dem Verlangen nach „mehr Demokratie“ kommt (unbewusst) sein Wunsch nach Restaurierung jener Zeiten zum Ausdruck, als die Bourgeoisie noch fortschrittlich war und ihr kleiner Bruder, das Kleinbürgertum, noch eine tragende Rolle in den Parlamenten spielte.
Daher ist es nicht überraschend, dass Protestbewegungen wie die gegen Stuttgart 21 und gegen den Castor-Transport zum Tummelplatz der oppositionellen Parteien geworden sind. Insbesondere die Grünen haben von ihnen profitiert. Sie sind zum Hoffnungsträger des frustrierten Mittelstandes geworden, der trotz seines immer lauter werdenden Lamentierens nicht vom Glauben an die bürgerliche Demokratie abkehren will. Seine ganze Militanz, seine ganze ohnmächtige Wut verpufft in einem Akt der „Abstrafung“ der Regierenden an der Wahlurne. Seine Perspektive erschöpft sich darin, die eine Regierungsmannschaft gegen die andere auszutauschen. Seine Alternative lautet: Pest oder Cholera. Aber diejenigen unter den Teilnehmern an solchen inter-klassistischen Bewegungen, welche von der proletarischen Sorge und Zorn um den Zustand der heutigen Welt angetrieben werden, werden nicht dort die Perspektive finden, die sie suchen, sondern im Kampf der Arbeiterklasse, sobald diese die Bühne der Geschichte erkennbar betritt.
Nein, die „Bürgerproteste“, die derzeit für Furore sorgen, können den Klassenkampf zwischen den Ausgebeuteten und ihren Ausbeutern beileibe nicht ersetzen. Es sind nicht die „Bürgerproteste“, die den Klassenkampf obsolet machen; es ist vielmehr das Fehlen des Klassenkampfes, das diese Mobilisierung von Teilen des Mittelstandes erst ermöglicht hat. Wenn hierzulande Bürger- statt Arbeiterproteste die Szenerie beherrschen, dann liegt das u.a. daran, dass es den Herrschenden in Deutschland bisher gelungen ist, den Kern der Arbeiterklasse mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen ruhig zu halten, angefangen vom ausgiebigen Gebrauch der Kurzarbeit, die die befürchteten Massenentlassungen verhindert hat, bis hin zu Sonderzahlungen, mit denen Großunternehmen ihre Beschäftigten nun, da das Geschäft wieder boomt, bei Laune halten.
Ganz anders dagegen die jetzige Lage in Frankreich, wo die Arbeiterklasse wochenlang die Öffentlichkeit mit Streiks, Blockadeaktionen und Massendemonstrationen in Atem hielt (mehr dazu in dieser Ausgabe). Im Unterschied zu Deutschland richteten sich die Proteste in Frankreich nicht gegen den Neubau von Bahnhöfen, die Installierung von Windrädern bzw. Mobilfunkmasten o.ä., sondern gegen die massiven Angriffe der Sarkozy-Regierung gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen. Anders ausgedrückt: in Frankreich ging es nicht um infrastrukturelle, sondern um existenzielle Fragen – sprich: um die soziale Frage.
Während die Forderungen, die in den „Bürgerprotesten“ erhoben werden, partikularistisch sind, lokal begrenzt bleiben und den Kurs der bürgerlichen Politik (durch das Einziehen zusätzlicher „demokratischer“ Ebenen) allenfalls verzögern, enthalten Kämpfe wie die Protest- und Streikbewegung gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Frankreich gesellschaftliches Dynamit. „Weg mit der Rente mit 67!“: Es sind solche Forderungen, die den Katalysator für proletarische Massenbewegungen bilden; Forderungen, mit denen sich die gesamte Klasse identifizieren kann, weil sie sich auf proletarischem Terrain befinden. Und es sind exakt solcherlei Forderungen, die am Anfang eines Prozesses stehen könnten, an dessen Ende der Albtraum der Bourgeoisie schlechthin wahr werden könnte: dass die Arbeiterklasse sich nicht mehr nur gegen die Bedingungen der Ausbeutung zur Wehr setzt, sondern der Ausbeutung selbst den Kampf ansagt... 19.11.2010