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Ende 2009 begann in der Türkei ein Arbeitskampf, der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist - nicht zuletzt deshalb, weil eine Delegation der Streikenden sich im Juni und Juli 2010 auf eine Reise nach Westeuropa begeben hat, um hier über die Erfahrungen zu berichten und mit anderen Interessierten gemeinsam Lehren daraus zu ziehen.
Kurze Rückblende: Mehrere Tausend Arbeiter und Arbeiterinnen des ehemals staatlichen Tabak- und Spirituosenunternehmens TEKEL protestierten gegen dessen Privatisierung und die damit verbundenen Angriffe, namentlich gegen Lohnkürzungen und Entlassungen. Die betroffenen ArbeiterInnen versammelten sich zum Protest in der Hauptstadt Ankara, erhielten viel Sympathie und Solidarität von der dort lebenden Bevölkerung und suchten Unterstützung bei weiteren Teilen der Arbeiterklasse, insbesondere in anderen Betrieben im ganzen Land, in denen ebenfalls gekämpft wurde. Die TEKEL-ArbeiterInnen stießen bei ihrem Protest und den Versuchen, den Kampf auszuweiten, auf den Widerstand der Gewerkschaften, die sich als Teil des staatlichen Apparates entlarvten. Sie gründeten zusammen mit streikenden ArbeiterInnen anderer Staatsbetriebe (u.a. Hafen- und Bauarbeiter, Feuerwehrleute) in Istanbul eine Plattform der kämpfenden Arbeiter. Am 1. Mai besetzten sie bei der Maikundgebung von 350.000 Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Bühne und verlasen eine Erklärung gegen die Komplizenschaft der Gewerkschaften mit dem Staat. Die Gewerkschaftsführer flüchteten von der Bühne und hetzten die Polizei auf die ArbeiterInnen. Trotz dieser Unterstützung, die der TEKEL-Kampf erfuhr, war er insofern erfolglos, als die Privatisierung und die Angriffe nicht rückgängig gemacht werden konnten.
Aber die Kämpfenden beschlossen, dass sie ihre Erfahrung den ArbeiterInnen nicht nur in der Türkei, sondern über die Landesgrenzen hinaus vermitteln sollten. Schon während des Kampfes waren Verbindungen zu politisierten Leuten in anderen Ländern geknüpft worden. Insbesondere in Deutschland, wo die Zahl emigrierter ArbeiterInnen aus der Türkei am größten ist, war der Kampf mit viel Anteilnahme verfolgt worden. So kam mit der Unterstützung von verschiedenen Gruppen aus dem anarchistischen und linkskommunistischen Umfeld eine Tournee durch Deutschland und die Schweiz zustande. Eine Delegation der TEKEL-Arbeiter besuchte insgesamt 10 Städte in Deutschland und der Schweiz, in denen vor unterschiedlichem Publikum Informations- und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wurden, über die wir hier berichten möchten.
Die Rundreise
Die Stationen der Rundreise zwischen Mitte Juni und Anfang Juli 2010 waren Hannover, Berlin, Braunschweig, Hamburg, Duisburg, Köln, Dortmund, Frankfurt, Nürnberg und Zürich. Vor allem die IKS hat die Reise nach Europa ermöglicht. Organisiert waren die meisten Treffen von der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), in Berlin vom Sozialrevolutionären Diskussionszirkel und die Versammlung in Zürich von der Gruppe Karakök Autonome. Mit gemeinsamen Kräften riefen diese und auch noch weitere Gruppen zu den Veranstaltungen auf. Die Zahl der TeilnehmerInnen bewegte sich zwischen 10 und etwa 40, wobei berücksichtigt werden muss, dass gleichzeitig die Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika stattfand und die Spiele oft zu der Zeit übertragen wurden, wo die Veranstaltungen stattfanden. Das Publikum war überwiegend jung, aber keineswegs ausschließlich; gerade in den Städten, wo viele türkische und kurdische ArbeiterInnen teilnahmen, war auch die Generation der Eltern der 20- bis 30-jährigen anwesend.
Ein Arbeiter von TEKEL hielt ein Einführungsreferat, das auf die Geschichte des Kampfes zwischen Dezember 2009 und Mai 2010 einging. Lebendig vermittelte er die Erfahrung der Kämpfenden, wie sie vergeblich versuchten, die Gewerkschaften dazu zu bewegen, einen Generalstreik der staatlich Beschäftigten auszurufen, von der kurzfristigen Besetzung der Gewerkschaftszentrale Türk-Is in Ankara, wie die Polizei die Gewerkschaft schützte, vom Zeltlager in Ankara und der Solidarität der lokalen Bevölkerung. Er berichtete, wie im Kampf der TEKEL-ArbeiterInnen die Spaltungen zwischen KurdInnen und TürkInnen oder Männern und Frauen oder WählerInnen dieser oder jener Partei überwunden wurden. So hatte zwar die Polizei die Busse der 8'000 ArbeiterInnen vor den Toren Ankaras gestoppt und erklärt, dass sie nur diejenigen in die Stadt lassen würde, die nicht aus kurdischen TEKEL-Werken stammen würden; darauf stiegen aber alle Streikenden gemeinsam aus den Bussen und marschierten zu Fuß an der verdutzten Polizei vorbei den weiten Weg ins Stadtzentrum. Eine Aufspaltung in kurdische und türkische ArbeiterInnen kam für sie nicht in Frage.
Die Diskussionen
Die Diskussionen nach dem Referat drückten ein lebhaftes Interesse der Anwesenden am Kampf in der Türkei aus. Die Stimmung war brüderlich, solidarisch, mitfühlend - auch Tränen flossen. Die meisten der Teilnehmenden identifizierten sich mit den Zielen der TEKEL-ArbeiterInnen. Diejenigen, die noch nicht viel über den Kampf wussten, stellten konkrete Fragen, die erkennen ließen, dass man auch hier in Deutschland oder der Schweiz sich mit Kämpfen beschäftigt.
Gerade die Einheit der Arbeiter und Arbeiterinnen über die verschiedenen sichtbaren oder unsichtbaren Grenzen hinaus wurde in fast allen Diskussionen als wichtiges Anliegen unterstrichen. Der türkische Staat versuchte, die Kämpfenden zu spalten; diese aber ließen solche Pläne ins Leere laufen und suchten die größtmögliche Solidarität in anderen Teilen der Klasse. Nur so kann ein Gefühl der Stärke entstehen, aber auch ein reales Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten geschaffen werden. Der Kampf in der Türkei hat zwar die gesteckten Ziele nicht erreicht, doch der eingeschlagene Weg war der richtige. Gerade in einem Land, in dem seit Jahrzehnten von allen möglichen Gruppierungen und dem Staat der türkische und kurdische (oder auch der armenische) Nationalismus geschürt werden, ist eine solche Entwicklung hin zur Einheit bemerkenswert.
Für viele stand die Gewerkschaftsfrage im Zentrum des Interesses. Auf der Ebene der unmittelbar gemachten Erfahrungen war man sich einig: Die Türk-Is verrichtete in diesem Kampf eine ähnliche Aufgabe, wie sie von den bestehenden Gewerkschaften auch in anderen Ländern sattsam bekannt ist. Sie versuchen die Arbeiter passiv zu halten, mobilisieren höchstens unter dem Druck der kämpfenden ArbeiterInnen und auch dies möglichst so, dass die Energie der Kämpfenden ohne Resultate verpufft. Gleichzeitig im Frühjahr fanden ja die Kämpfe in Griechenland statt, wo die großen Gewerkschaftsverbände eine ähnliche Rolle spielten und sich im Zweifelsfall immer als Verteidiger der herrschenden Ordnung und des Staates herausstellten. Auch in Deutschland und der Schweiz kennt man die Gewerkschaften in dieser Rolle. Das Publikum war beeindruckt davon, wie sich die TEKEL-ArbeiterInnen und diejenigen, die sich ihrem Kampf anschlossen, den Gewerkschaften entgegen stellten und sie offen bekämpften.
Aber hätte man nicht eine "eigene" Gewerkschaft haben sollen? Ist der Kampf bei TEKEL nicht daran gescheitert? Bei fast allen Diskussionen, die von der FAU organisiert worden waren, wurde die Frage aufgeworfen, ob man nicht neue, "revolutionäre" oder "anarchistische" Gewerkschaften gründen sollte. In einigen Städten wie z.B. in Duisburg wurde von Genoss/Innen aus dem Umkreis der FAU die Tatsache thematisiert, dass es sich bei TEKEL weniger um eine Streikbewegung als um einen Demonstrations- und Protestkampf handelte. Läge dieser Tatbestand nicht daran, dass es an einer proletarischen Gewerkschaft fehlte? Der TEKEL-Arbeiter, der das Einführungsreferat hielt, teilte diese Auffassung nicht. Er argumentierte anhand seiner Erfahrung, dass die Gewerkschaften aufgrund ihrer Rolle sich letztlich immer auf die Seite des Staates stellen werden, selbst wenn kämpfende Arbeiter oder Revolutionäre sie gründen und zunächst für die unmittelbaren Zwecke des Kampfes benützen können. Was haben wir für andere Möglichkeiten? Wie sollen wir uns im Kampf organisieren? - Die Antwort des TEKEL-Arbeiters war: in Kampf- oder Streikkomitees. Solange ein Kampf anhält, sollen sich die ArbeiterInnen selbständig mit jederzeit abwählbaren Delegierten organisieren. Die Vollversammlung wählt ein Kampfkomitee, das gegenüber der Vollversammlung rechenschaftspflichtig ist. Jede ständige Repräsentation umgekehrt, die unabhängig ist von der Mobilisierung der Kämpfenden, ist dazu verurteilt, zu einer "normalen", bürokratischen Gewerkschaft zu werden. Diese Diskussion wurde nicht überall in der gleichen Deutlichkeit und Tiefe geführt, aber beispielsweise in Braunschweig stellten sich die Alternativen auf diese Weise, und ein Großteil der Anwesenden schien recht überzeugt von der Auffassung der Genossen aus der Türkei, d.h. eine Mehrheit neigte dazu, die Möglichkeit der Gründung "revolutionärer" Gewerkschaften abzulehnen. Diese Diskussion über die Gewerkschaftsfrage, von der konkreten Erfahrung des TEKEL-Kampfes ausgehend, scheint uns umso wichtiger und aktueller zu sein, da wir wissen, dass innerhalb des anarcho-syndikalistischen Milieus in Deutschland derzeit teilweise kontrovers darüber diskutiert wird, ob man wie zuletzt von Seiten des Berliner Syndikats der FAU geschehen, um die Anerkennung des Staates als offizielle Gewerkschaft ringen darf (in Berlin geschah dies sogar vor dem bürgerlichen Gericht)? Nicht nur aus marxistisch linkskommunistischer Sicht, sondern auch noch vom Standpunkt des Anarcho-Syndikalismus erscheint dies als Widerspruch in sich.
Eine andere Frage, die an verschiedenen Orten aufgeworfen wurde, war diejenige der Fabrikbesetzung. Weshalb habt ihr nicht die Fabriken besetzt? Warum habt ihr nicht den Betrieb selber übernommen und ohne Chefs weiterproduziert? - Diese Fragen wurden auf dem Hintergrund von gewissen Kämpfen der letzten Jahre in Deutschland, Italien und der Schweiz gestellt, bei denen die Belegschaften vor Betriebsschließungen standen. Bei TEKEL verhielt es sich aber anders, da ja die Fabriken zum Teil nicht geschlossen, sondern privatisiert wurden. Die Produktion wurde in solchen Fällen also unter anderen Chefs weitergeführt. Trotzdem unterstrich der Delegierte der TEKEL-ArbeiterInnen, dass die Stärke des Kampfes gerade darin bestand, dass man sich nicht auf die einzelnen im Land verstreuten TEKEL-Betriebe zurückzog, sondern gemeinsam in Ankara zusammenkam. Nur so mit Tausenden von versammelten ArbeiterInnen konnte das Gefühl der Stärke entstehen, das für diesen Kampf (auch wenn er nicht mit einem materiellen Sieg endete) charakteristisch war.
Was bleibt?
Stehen wir nach dieser Veranstaltungsreihe am gleichen Ort wie vorher? - Wir meinen, in verschiedener Hinsicht Veränderungen festzustellen, die wir hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - benennen möchten.
Zunächst einmal verdient die Tatsache erwähnt zu werden, dass für die Rundreise verschiedene Gruppen zum ersten Mal öffentlich zusammengearbeitet haben, insbesondere die anarchosyndikalistische FAU und die linkskommunistische IKS. In unserer Tradition ist die Zusammenarbeit mit internationalistischen Anarchisten zwar schon lange verwurzelt , aber sie ist hier bei einer Gelegenheit neu konkretisiert worden, die für uns nicht zufällig ist. Die hier gemeinsam geleistete Arbeit ist ein Zeichen dafür, dass das Bedürfnis nach Einheit auf proletarischer Grundlage erwacht, ein Bedürfnis in der Arbeiterklasse nach Überwindung eines gewissen Gruppenegoismus. Wir haben uns zwar schon vorher gegenseitig zur Kenntnis genommen und auch bei gewissen Gelegenheiten zusammen diskutiert. Aber eine Zusammenarbeit, wie sie hier im Frühsommer aus konkretem Anlass entstand, ist etwas Neues.
Die Suche nach Einheit in der Arbeiterklasse, nach Überwindung der Spaltungen lag ja von Anfang an der Initiative für die TEKEL-Rundreise zugrunde. Diese Reise hatte den Zweck, die Erfahrungen und Lehren eines Kampfes weit über die lokalen oder nationalen Verhältnisse hinauszutragen. Dabei stand die internationale Dimension im Zentrum. Es ging nicht darum, eine türkische Besonderheit als etwas Exotisches in die Welt hinauszutragen, sondern darum nach Gemeinsamkeiten im internationalen Maßstab zu suchen und darüber zu diskutieren. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Erfahrungen der TEKEL-ArbeiterInnen mit den Gewerkschaften und ihre Reaktionen darauf nicht etwas Isoliertes gewesen sind, sondern eine Tendenz angekündigt haben, die seither immer wieder zum Ausdruck kommt. Während den Kämpfen im Frühjahr in Griechenland stießen die ArbeiterInnen ebenfalls auf die Gewerkschaften und begannen, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. In Frankreich bei den Mobilisierungen gegen die Rentenreform schlossen sich in verschiedenen Städten vor allem Junge zusammen, die zu Vollversammlungen nach den Demos aufriefen, wo gemeinsam darüber diskutiert wurde: Wie können wir unabhängig von den Gewerkschaften kämpfen? Wie können wir die Grenzen in der Arbeiterklasse zwischen den verschiedenen Berufssparten, zwischen Pensionierten und noch Erwerbstätigen, zwischen Arbeitslosen und denjenigen, die noch eine Stelle haben, zwischen fest und prekär Angestellten etc. überwinden? Wofür kämpfen wir? Wie kommen wir dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft näher?
In Italien gab es im Juni und Oktober dieses Jahres zwei Versammlungen von kämpferischen ArbeiterInnen aus ganz Italien in Mailand, so genannte Autoconvocazioni. Daran nahmen gut 100 Leute teil und diskutierten ganz ähnliche Fragen: Wie können die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse überwunden werden? Wie gegen die Sabotage der Gewerkschaften kämpfen? Wie dieses krisengeschüttelte kapitalistische System überwinden?
Türkei, Griechenland, Frankreich, Italien - vier Beispiele, die zeigen, dass die Arbeiterklasse in Europa seit dem Frühjahr 2010 beginnt, die Schockstarre nach der Finanzkrise von 2008 zu überwinden. Die Klasse insgesamt traut sich noch nicht, den Kampf selber in die Hand zu nehmen, aber Minderheiten in der Klasse stellen sich die genannten Fragen und versuchen voranzugehen. Dass solche Diskussionen gleichzeitig an verschiedenen Orten geführt werden, zeigt, dass es sich um ein grenzüberschreitendes Bedürfnis handelt. Die TEKEL-Rundreise war eine Antwort auf dieses Bedürfnis. Die TEKEL-Delegation hatte das Ziel, die internationale Dimension unserer erst lokalen Kämpfe und Diskussionen aufzuzeigen. Die Solidarität ist das Gefühl, das die Einheit der Arbeiterklasse ausdrückt. Verschiedentlich ist an den Veranstaltungen gefragt worden: "Wie kann der Kampf aus dem Ausland unterstützt werden?" Der TEKEL-Arbeite antwortete: "Indem ihr selber den Kampf aufnehmt".
Die politisierten Minderheiten der ArbeiterInnen beginnen zu spüren, dass der Kampf weltweit ist und als solcher bewusst geführt werden muss. Die Berichte über die Solidarität gegenüber dem TEKEL-Kampf waren eine Inspiration für die Teilnehmenden an den Veranstaltungen, und wir werden die Botschaft auf die eine oder andere Art weitertragen. Die politisierten und kämpferischen Minderheiten in der Klasse sind Katalysatoren für die zukünftigen Kämpfe. Der Kampf bei TEKEL war nicht umsonst, auch wenn die Entlassungen nicht aufgehalten werden konnten.