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Engels und das Herannahen der historischen Krise des Kapitalismus
Laut einer bestimmten Denkschule gewisser akademischer Marxologen, Rätisten und Anarchisten trat nach dem Tode von Marx 1883 eine Periode der Sterilität der marxistischen Theorie ein. Die sozialdemokratischen Parteien und die Zweite Internationale waren in dieser Sichtweise im Grunde vom „Engelsianismus“ beherrscht, einem Versuch der zweiten Geige von Marx und dessen Schlachtenbummlers, die Untersuchungsmethode von Marx in ein halb-mechanistisches System zu verwandeln, das die radikale Sozialkritik fälschlicherweise mit der Vorgehensweise der Naturwissenschaften gleichsetze. Auch wurde der „Engelsianismus“ angegriffen, ein Rückschritt gegenüber quasi-mystischen hegelianischen Dogmen zu sein, insbesondere im Zusammenhang mit Engels‘ Bemühungen, eine „Dialektik der Natur“ zu entwickeln. In dieser Sichtweise ist das Natürliche nicht sozial und das Soziale nicht natürlich. Die Dialektik könne, sofern sie existiert, nur auf die soziale Sphäre angewendet werden.
Dieser Bruch in der Kontinuität zwischen Marx und Engels – der in seiner extremsten Form nahezu die gesamte Zweite Internationale als ein Vehikel abtut, das die proletarische Bewegung den Bedürfnissen des Kapitals angepasst habe – wird häufig benutzt, um jeglichen Gedanken an eine Kontinuität in der politischen Geschichte der Arbeiterklasse zu verwerfen. Wir werden dazu ermuntert, nach Marx, dessen Werk freilich einige unserer Anti-Engelsianer verleugnen (was sie allerdings nicht daran hindert, gelegentlich den Experten in Detailfragen der Wert-Preis-Umwandlung oder in anderen Teilaspekten der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu mimen), Engels, Kautsky, Lenin, die Zweite und Dritte Internationale zu überspringen. Und obgleich Teilen der Kommunistischen Linken - ungeachtet dessen, dass sie Sprösslinge dieser zweifelhaften Sippschaft sind - widerwillig eingeräumt wird, dass sie zu einigen Einsichten gelangt waren, werde die wirkliche Kontinuität der Theorie Marx‘ allein von jenem losen Haufen brillanter Individuen fortgesetzt, die ihn als einzige in den letzten Jahrzehnten wirklich verstanden hätten – niemand anders also als den Befürwortern der „anti-engelsistischen“ Thesen.
Wir können hier auf diese Ideologie nicht in aller Ausführlichkeit eingehen. Wie alle Mythen stützt sie sich auf ein gewisses Körnchen Wahrheit, die allerdings verzerrt und über alle Maßen überhöht wird. Zur Zeit der Zweiten Internationale, eine Zeit, in der sich die Arbeiterbewegung als gesellschaftliche Kraft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft organisierte, gab es tatsächlich eine Neigung, den Marxismus zu schematisieren und ihn in eine Form des Determinismus zu verwandeln. Gleichzeitig sah sich die Arbeiterbewegung einem starken Druck reformistischer Ideen ausgesetzt. Selbst die besten Marxisten, einschließlich Engels selbst, waren nicht völlig gefeit dagegen. [1]Doch auch wenn Engels in jener Zeit einige gewichtige Irrtümer beging, ist es angesichts der äußerst engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Männern vom Anfang bis zum Ende ihrer Beziehungen eine Absurdität, Engels‘ Werk nach dem Tod Marx‘ rundweg als eine Negation und Perversion der wirklichen Ideen von Marx abzulehnen. Es war Engels, der die immense Arbeit auf sich nahm, das Kapital von Marx zu redigieren und zu veröffentlichen; und ironischer weise sind viele von jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels treiben wollen, überglücklich, wenn sie aus dem zweiten und dritten Band vom Kapital zitieren können, ungeachtet der Tatsache, dass diese erst durch den angeblich verständnislosen Engels der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
Einer der Hauptexponenten dieser „anti-engelsianistischen“ Denkschule ist die Gruppe Aufheben in Großbritannien, deren Serie „Die Dekadenz: Theorie des Niedergangs oder Niedergang der Theorie“[2] von einigen als letzter Sargnagel für den Begriff der kapitalistischen Dekadenz betrachtet wird, wenn man sieht, wie häufig diese Serie von jenen zitiert wird, die diesem Begriff ablehnend gegenüberstehen. Nach ihrer Auffassung ist die Dekadenz des Kapitalismus im Wesentlichen eine Erfindung der Zweiten Internationale: „Die Theorie der kapitalistischen Dekadenz tauchte zuerst in der Zweiten Internationale auf. Das Erfurter Programm etablierte, unterstützt von Engels, die Theorie des Niedergangs und Zusammenbruchs des Kapitalismus als Kernbestandteil des Parteiprogramms.“.[3]
Und sie zitieren folgenden Passagen: „So verwandelt das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht bloß für die Produzenten der Kleinbetriebe, sondern für die ganze Gesellschaft sein ursprüngliches Wesen in sein Gegenteil. Aus einer Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung wird es zu einer Ursache der gesellschaftlichen Versumpfung, des gesellschaftlichen Bankerotts.
Heute fragt sich’s nicht mehr, ob man das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufrechterhalten will oder nicht. Sein Untergang ist gewiss. Es fragt sich nur: Soll es die Gesellschaft mit sich in den Abgrund reißen, oder soll diese sich der verderblichen Bürde entledigen, um frei und neugestärkt den Weg weiterwandeln zu können, den die Gesetze der Entwicklung ihr vorschreiben?“
„Die Produktivkräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt haben, sind unvereinbar geworden mit der Eigentumsordnung, auf der dieselbe beruht. Diese Eigentumsordnung aufrechterhalten wollen, heißt jeden weiteren gesellschaftlichen Fortschritt unmöglich machen, heißt die Gesellschaft zum Stillstand, zur Verwesung verurteilen…“
„Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankerott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform anstelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.“
„Ein Beharren in der kapitalistischen Zivilisation ist unmöglich; es heißt entweder vorwärts zum Sozialismus oder rückwärts in die Barbarei.“
In der Zusammenfassung, mit welcher der nächste Artikel aus der Reihe (Aufheben, Nr. 3) beginnt, ist das Argument, dass das Konzept der Dekadenz im „Marxismus der Zweiten Internationale“ verwurzelt sei, gar noch ausdrücklicher: „In Teil 1 schauten wir uns an, inwieweit diese Idee des Niedergangs oder der Dekadenz ihre Wurzeln im Marxismus der Zweiten Internationale hat und von beiden Anklägern gegen die Kulisse der reinen Fortführer der ‚klassischen marxistischen Tradition‘ aufrechtgehalten wurde – dem trotzkistischen Leninismus und dem Links- oder Rätekommunismus.“
Obwohl die Zitate, von denen Aufheben sagt, sie stammten aus dem Erfurter Programm, offensichtlich aus Kautskys Kommentaren zum Programm stammen statt aus dem Dokument selbst, enthält die Präambel des eigentlichen Programms einen Bezug auf den Begriff des kapitalistischen Niedergangs, in dem in der Tat behauptet wird, dass diese Epoche bereits angebrochen sei: „Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.“ Fakt ist jedoch, dass trotz der Ansicht von Aufheben, wonach das Erfurter Programm sich so sehr auf die Dekadenztheorie stütze, schon ein flüchtiges Durchlesen des Programms den Eindruck erweckt, dass es so gut wie keine Verbindung zwischen der oben genannten allgemeinen Diagnose und den Forderungen gibt, die im Programm aufgestellt werden und die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erkämpft werden sollen. Und selbst die vielen detaillierten Kritiken von Engels an diesen Forderungen nehmen nahezu keinen Bezug auf den historischen Kontext, in welchem diese Forderungen gestellt werden.[4]
Dies einmal festgestellt, ist es sicherlich zutreffend, dass im Werk von Engels und anderer Marxisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend Bezugnahmen auf den Begriff eines Kapitalismus anzutreffen sind, der in eine Alterskrise, in eine Epoche des Niedergangs eingetreten ist.
Doch während dies für Aufheben eine Abkehr von Marx war – der, wie sie verfechten, den Kapitalismus lediglich als ein „Übergangssystem“ betrachtet und keinen Gedanken an einem objektiven Prozess des Niedergangs oder Zusammenbruchs als Fundament für den revolutionären Kampf gegen das System verschwendet habe -, haben wir versucht, in den vorherigen Artikeln dieser Reihe aufzuzeigen, dass die Konzeption der kapitalistischen Dekadenz (wie der Dekadenz früherer Klassengesellschaften) völlig in Einklang stand mit den Ansichten von Marx.
Außerdem verhält es sich so, dass Marx seine Schriften über die politische Ökonomie in einer Epoche verfasste, als der Kapitalismus sich noch auf seinem triumphalen Aufstieg befand. Seine periodischen Krisen waren Jugendkrisen, die dazu dienten, den unaufhaltsamen Vormarsch dieser dynamischen Produktionsweise auf dem gesamten Globus anzutreiben. Dennoch war Marx in der Lage gewesen, in diesen Zuckungen auch die Vorboten des letztendlichen Untergangs des Systems zu erkennen, und hatte bereits die ersten Anzeichen dafür erblickt, dass das Kapital seine historische Mission erfüllt hat, als es immer entferntere Gebiete erschloss, während im „alten Europa“ nach an den Ereignissen rund um die Pariser Kommune die Phase der heroischen Nationalkriege, wie er behauptete, zu einem Ende gekommen waren.
Darüber hinaus wurden in der Zeit nach dem Tod von Marx die nahenden Anzeichen einer Krise von historischen Proportionen, und nicht nur einer Wiederholung der alten zyklischen Krisen, immer deutlicher.
So sinnierte zum Beispiel Engels über die Bedeutung des offenkundigen Endes der Zehn-Jahres-Krisenzyklen und über den Beginn dessen, was er als chronische Depression bezeichnete, von der die kapitalistische Herkunftsnation, Großbritannien, bereits erfasst war. Und während sich neue mächtige kapitalistische Nationen ihren Weg zum Weltmarkt bahnten, vor allem Deutschland und die USA, sah Engels bereits, dass dies unvermeidlich in eine weitaus tiefere Überproduktionskrise münden wird: „Amerika wird Englands Industriemonopol brechen – was noch davon übriggeblieben ist – aber Amerika allein kann das Erbe dieses Monopols nicht antreten. Und wenn ein Land nicht allein das Monopol auf den Weltmärkten besitzt, zumindest in den entscheidenden Handelszweigen, können die verhältnismäßig günstigen Bedingungen, die in England von 1848 bis 1870 bestanden, nirgends reproduziert werden, und selbst in Amerika muss Lage der Arbeiterklasse nach und nach immer schlechter werden. Denn wenn drei Länder (sagen wir England, Amerika und Deutschland) unter verhältnismäßig gleichen Bedingungen um den Besitz des Weltmarkts konkurrieren, dann gibt es keinen Ausweg als chronische Überproduktion, da jedes der drei Länder imstande ist, den gesamten Bedarf zu decken.“[5] Gleichzeitig erkannte Engels die Tendenz des Kapitalismus, seinen eigenen Ruin durch die beschleunigte Eroberung des nicht-kapitalistischen Hinterlandes, das die kapitalistischen Metropolen umgab, in die Wege zu leiten: „Denn es ist eine der notwendigen Folgeerscheinungen der grande industrie, dass sie ihren eigenen inneren Markt durch denselben Prozess zerstört, durch den sie ihn schafft. Sie schafft ihn, indem sie die Basis der bäuerlichen Hausindustrie vernichtet. Aber ohne Hausindustrie kann die Bauernschaft nicht leben. Die Bauern werden als Bauern ruiniert; ihre Kaufkraft wird auf ein Minimum reduziert; und bis sie sich als Proletarier in die neuen Existenzbedingungen hineingefunden haben, geben sie für die neuentstandenen Fabriken einen sehr schlechten Markt ab.
Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der ausweglosen Lage, zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Russland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einer Sackgasse. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen unmöglich sein, ihr Dasein zu fristen. Die Folge wird eine Massenauswanderung sein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhassten Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage des chinesischen Lebensstandards, des niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird – und wenn die Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann notwendig werden. Die kapitalistische Produktion erzeugt ihren eigenen Untergang, und Sie können sicher sein, sie wird das auch in Russland tun…“[6]
Die Zunahme des Militarismus und Imperialismus, die vor allem darauf abzielten, die Eroberung der nicht-kapitalistischen Gebiete des Planeten zu vervollständigen, versetzte ihn auch in die Lage, mit bemerkenswerter Klarheit die Gefahren dieser Entwicklungen zu sehen, die auf das Zentrum des Systems – auf Europa – zurückzufallen und die Zivilisation in die Barbarei zu stürzen drohen, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Reifungsprozesses der Revolution.
„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie erahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“[7]
Als dies jedoch eintrat, meinte Engels nicht, dass solch ein Krieg unvermeidlich den Sozialismus bringen werde: Er hatte die wohlbegründete Sorge, dass der allgemeine Erschöpfungszustand auch das Proletariat betreffen und es unfähig machen könnte, seine Revolution zu vollziehen (somit, würden wir hinzufügen, eine gewisse Attraktion für etwas utopische Entwürfe, die den Krieg hinauszögern oder auf Eis legen wollen, wie die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Volksmiliz). Doch Engels hatte Anlass zu hoffen, dass die Revolution vor einem paneuropäischen Krieg ausbricht. Ein Brief an Bebel (24.-26. Oktober 1891) verleiht dieser „optimistischen“ Sichtweise Ausdruck: „Die Berichte lassen Dich sagen, ich hätte den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft auf 1898 geweissagt. Da ist ein kleiner Irrtum irgendwo. Ich habe nur gesagt, bis 98 könnten wir möglicherweise ans Ruder kommen. Die alte bürgerliche Gesellschaft könnte, falls dies nicht geschähe, noch einige Zeit fortvegetieren, solange nicht ein äußerer Anstoß den morschen Kasten zusammenkrachen lässt. So eine faule Kiste kann ein paar Jahrzehnte vorhalten nach ihrem wesentlichen inneren Tod, wenn die Luft ruhig bleibt.“
In dieser Passage findet man sowohl die Illusionen der damaligen Bewegung als auch ihre grundlegende theoretische Stärke. Die dauerhaften Errungenschaften der sozialdemokratischen Partei vor allem an der Wahlfront und in Deutschland führten zu der übertriebenen Hoffnung, dass es eine Art von unaufhaltsamem Prozess zur Revolution geben könnte (und sogar die Revolution selbst in halb-parlamentarischen Begriffen betrachtet werden könnte, trotz der so häufig wiederholten Warnungen vor dem parlamentarischen Kretinismus, der ein zentraler Gesichtspunkt der schnell aufkeimenden Ideologie des Reformismus war). Gleichzeitig waren die Konsequenzen eines Scheiterns des Proletariats bei der Machtergreifung klar: ein Kapitalismus, der einige Jahrzehnte als „faule Kiste“ überlebt – wenngleich Engels, wie die meisten damaligen Revolutionäre, wahrscheinlich nicht angenommen hätte, dass dieser Kapitalismus mehr als ein Jahrhundert in seiner Niedergangskrise ausharren kann. Doch die theoretische Untermauerung, um solch einen Zustand zu antizipieren, kommt in diesen Zeilen deutlich zum Ausdruck.
Luxemburg führt den Kampf gegen den Revisionismus an
Und dennoch ist diese Phase, eben weil die große imperialistische Expansion in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts es dem Kapitalismus ermöglicht hatte, exorbitante Wachstumsraten zu erzielen, in der Erinnerung vor allem eine Zeit beispiellosen Wohlstands und Fortschritts, eines sich stetig verbessernden Lebensstandards für die Arbeiterklasse nicht nur dank der günstigen objektiven Bedingungen, sondern auch aufgrund des wachsenden Einflusses der in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien organisierten Arbeiterbewegung. Dies war besonders in Deutschland der Fall, und hier war die Arbeiterbewegung auch mit der Hauptherausforderung konfrontiert: dem Aufstieg des Revisionismus.
Mit den Schriften Eduard Bernsteins Ende der 1890er Jahre vorneweg, stritten die Revisionisten dafür, dass die Sozialdemokratie anerkennen sollte, dass die Entwicklung des Kapitalismus einige fundamentale Elemente in der Analyse von Marx außer Kraft gesetzt habe – vor allem die Voraussage ständig wachsender Krisen und folgerichtig der Verarmung des Proletariats. Der Kapitalismus habe gezeigt, dass er mittels der Mechanismen des Kredits und der Bildung riesiger Trusts und Kartelle und durch den Anstoß einer gut organisierten Arbeiterbewegung seine Tendenzen zu Anarchie und Krise überwinden und der Arbeiterklasse wachsende Zugeständnisse machen könne. Das „Maximalziel“ der Revolution, das im Programm der sozialdemokratischen Partei wie in einem Schrein eingeschlossen war, sei daher überflüssig geworden; und die Partei sollte sich selbst als das anerkennen, was sie in Wahrheit sei: eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei“, die eine allmähliche und friedliche Umwandlung des Kapitalismus zum Sozialismus anstrebe.
Eine Reihe von Leuten aus dem linken Flügel der Sozialdemokratie antwortete auf diese Argumente. In Russland polemisierte Lenin gegen die Ökonomisten, die die Arbeiterbewegung auf den „Brot-und-Butter“-Kampf reduzieren wollten; in Holland führten Gorter und Pannekoek die Polemik gegen den wachsenden Einfluss des Reformismus in den Gewerkschaften und in der parlamentarischen Arena an. In den USA schieb Louis Boudin ein wichtiges Buch, The Theoretical System of Karl Marx (1907) als Antwort auf die revisionistischen Argumente – wir werden später darauf zurückkommen. Doch es war vor allem Rosa Luxemburg in Deutschland, die mit dem Kampf gegen den Revisionismus assoziiert wird und die im Kern den marxistischen Begriff des Niedergangs und katastrophalen Zusammenbruchs des Kapitalismus bekräftigte.
Beim Studium der Polemik Rosa Luxemburgs gegen Bernstein, Sozialreform oder Revolution (1900), fällt auf, wie oft die vom Letztgenannten vorgebrachten Argumente jedes Mal, wenn sich der Kapitalismus den Anschein gab, die Krise – wenn auch nur oberflächlich – überwunden zu haben, wiedergekäut wurden: „Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer mehr Anpassungsfähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr differenziert. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus äußert sich nach Bernstein erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des Nachrichtendienstes, zweitens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigen Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großer Schichten des Proletariats in den Mittelstand, drittens endlich in der ökonomischen und politischen Hebung der Lage des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes.“[8]
Wie oft ist uns nicht nur von den offiziellen Ideologen der Bourgeoisie, sondern auch von jenen, die eine weitaus radikalere Ideologie parat zu haben meinen, erzählt worden, dass Krisen eine Sache der Vergangenheit seien, weil der Kapitalismus heute auf nationaler oder gar internationaler Ebene vernetzt sei, weil er unbegrenzten Zugriff zum Kredit und zu anderen finanziellen Manipulationen habe. Wie oft ist uns erzählt worden, dass die Arbeiterklasse aufgehört habe, eine revolutionäre Kraft zu sein, weil sie nicht mehr mit der absoluten Verelendung konfrontiert sei, die Engels in seinem Buch über die Bedingungen der Arbeiterklasse in Manchester 1844 geschildert hatte, oder weil sie immer weniger unterscheidbar gegenüber den Mittelschichten sei. So hörten sich die lautstarken soziologischen Refrains der 1950er und 1960er Jahre an vom Schlage eines Herbert Marcuse und Cornelius Castoriadis. Und sie waren erneut zu vernehmen in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit dem kreditfinanzierten Boom, der sich erst kürzlich als Mogelpackung entlarvt hatte.
Entgegen dieser Argumente bestand Luxemburg darauf, dass die „Organisation“ des Kapitals durch Kartelle und Kredite, weit entfernt davon, die Krisen zu überwinden, eine Antwort auf die Widersprüche des Systems war und dazu neigte, diese Widersprüche auf eine höhere und verheerendere Stufe zu heben.
Der Kredit wurde von Luxemburg im Kern als ein Mittel zur Erleichterung der Ausweitung des Marktes verstanden, während das Kapital sich in immer weniger Händen konzentrierte. Zu diesem historischen Zeitpunkt war dies sicherlich der Fall – es gab eine reale Möglichkeit für den Kapitalismus, außerhalb seiner Sphäre zu expandieren, und der Kredit beschleunigte größtenteils diese Expansion. Doch Luxemburg begriff gleichzeitig auch die zerstörerische Seite des Kredits, da diese Expansion des Marktes auch die Grundlage für den zukünftigen Konflikt mit den Massen von in Bewegung gesetzten Produktivkräften legte: „So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonders mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und dies ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist – ganz allgemein ausgedrückt – doch nichts anderes, als den Rest von Stabilität aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Potenzen in höchsten Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit die Krisen, die nichts anderes als der periodische Anprall der einander widerstrebenden Potenzen der kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf der Hand.“[9]
Damals war der Kredit noch nicht das, was er heute zum größten Teil geworden ist – nicht so sehr ein Mittel zur Beschleunigung der Expansion in einen realen Markt, sondern ein künstlicher Markt an sich, von dem der Kapitalismus in zunehmendem Maße abhängig geworden ist. Doch die Funktion des Kredits als eine Medizin, die die Krankheit noch verschlimmert, ist dabei in dieser Epoche und vor allem seit dem Ausbruch des so genannten „credit crunch“ von 2008 noch evidenter geworden.
Auch in der Tendenz der Kapitalisten, sich selbst auf nationaler und gar internationaler Ebene zu organisieren, erkannte Luxemburg nicht eine Lösung der Antagonismen des Systems, sondern eine wirksame Kraft, diese Antagonismen noch schroffer und zerstörerischer zu gestalten: „… (Kartelle) verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so den Antagonismus zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten aufs höchste steigern. Dazu kommt die direkte revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion, technische Vervollkommnung etc. So erscheinen die Kartelle in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als kein ‚Anpassungsmittel‘, das ihre Widersprüche verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Unterganges geschaffen hat.“[10]
Diese Vorhersagen sollten sich – vor allem als die Organisation des Kapitals von der Ebene der Kartelle zu den nationalen „staatskapitalistischen Trusts“ wechselte, die sich 1914 gegenseitig die Kontrolle über den Weltmarkt streitig machten – angesichts der gesamten Geschichte des 20. Jahrhunderts zutiefst bewahrheiten.
Luxemburg antwortete ebenfalls auf Bernsteins Argument, dass das Proletariat keine Revolution zu machen braucht, weil es einen immer höheren Lebensstandard infolge seiner effektiven Organisierung in Gewerkschaften und durch die Aktivitäten seiner Repräsentanten im Parlament genieße. Sie warnte, dass die gewerkschaftlichen Aktivitäten enge Grenzen haben; sie beschreibt diese Aktivitäten als „Sisyphusarbeit“, notwendig, aber ständig frustriert in ihren Bemühungen, den Anteil des Arbeiters an dem Produkt seiner Arbeit zu erhöhen, dies wegen der unvermeidlichen Steigerung der Ausbeutungsrate, die von der Entwicklung der Produktivität bewirkt wird. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus sollte die historischen Grenzen der Gewerkschaften gar noch deutlicher aufzeigen. Selbst wenn die Aktivitäten in den Gewerkschaften (wie auch parallel auf dem Tätigkeitsfeld des Parlaments und der Kooperativen) noch ihre Gültigkeit für die Arbeiterklasse hatten, so waren die Revisionisten jedoch bereits dabei, die Realität zu verfälschen, indem sie argumentierten, dass solche Tätigkeiten der Arbeiterklasse ständige und unbegrenzte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen sichern könnten.
Und während Bernstein eine Tendenz zur Abmilderung der Klassenverhältnisse durch die starke Zunahme kleiner Unternehmen und somit zum Wachstum der Mittelschichten erblickte, bekräftigte Luxemburg die Existenz jener Tendenz, die allerdings erst im folgenden Jahrhundert vorherrschend wurde: die Entwicklung des Kapitalismus zu immer gigantischeren Formen der Konzentration und Zentralisierung sowohl auf der Ebene der „Privat“-Unternehmen als auch auf der Ebene des Staates und der imperialistischen Bündnisse. Andere Linksrevolutionäre wie Boudin antworteten auf die Behauptung, dass das Proletariat selbst zur Mittelschichte werde, mit dem Argument, dass viele Angestellte und technische Berufe, die angeblich die Arbeiterklasse schlucken werden, in Wahrheit selbst ein Produkt des Proletarisierungsprozesses sind – auch diese Tendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher abgezeichnet. Boudins Worte aus dem Jahr 1907 klingen vertraut, wie auch die fadenscheinigen Argumente, die gegen sie gerichtet werden: „Ein großer Teil dessen, was als neue Mittelklasse bezeichnet wird und als solche in den Einkommensstatistiken erscheint, ist in Wirklichkeit Teil des regulären Proletariats. Die neue Mittelklasse ist, wie immer sie aussehen mag, ein gehöriges Stück kleiner, als man aus den Einkommenstabellen entnehmen könnte. Diese Konfusion ist einerseits dem alten und fest verwurzelten Vorurteil geschuldet, dem zufolge Marx angeblich allein der Handarbeit Wert schaffende Eigenschaften zuschrieb, und andererseits auf die Trennung der Aufsicht vom Eigentumsbesitz zurückzuführen – praktiziert in den Aktiengesellschaften, wie oben angeführt. Aufgrund dieser Umstände werden große Teile des Proletariats als Angehörige der Mittelklasse, d.h. der niederen Schichten der kapitalistischen Klasse, gezählt. Dies ist bei nahezu all jenen zahllosen und an Zahl zunehmenden Berufen der Fall, in denen das Arbeitsentgelt als ‚Gehalt‘ statt als ‚Lohn‘ bezeichnet wird. All diese Gehaltsempfänger, die möglicherweise das Gros, aber mit Sicherheit einen großen Anteil an der ‚neuen‘ Mittelklasse stellen, sind, gleich, wie hoch ihr Gehalt ist, in Wirklichkeit genauso Teil des Proletariats wie die untersten Tagelöhner.“[11](eigene Übersetzung)
Kurs auf das Debakel der bürgerlichen Zivilisation
Die heutige offene Wirtschaftskrise findet in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Fäulnis des Kapitalismus statt. Luxemburg antwortete auf Bernstein in einer Zeit, die sie, auch hier mit bemerkenswerter Klarheit, als eine Periode charakterisierte, die noch nicht die Niedergangsepoche war, aber eine, in der das Nahen dieser Epoche immer offensichtlicher wurde. Diese Passage taucht in Luxemburgs Entgegnung auf Bernsteins empirische (und empirizistische) Frage auf: Warum haben wir seit den frühen 1870er Jahren keinerlei Manifestationen des alten Zehn-Jahres-Krisenzyklus mehr erlebt? Luxemburgs Antwort bestand darin, darauf zu bestehen, dass dieser Zyklus das Produkt der Jugendphase des Kapitalismus war; der Weltmarkt befand sich damals in einer „Übergangsperiode“ zwischen der Periode seines maximalen Wachstums und dem Anbruch der Niedergangsepoche: „Der Weltmarkt ist immer noch in der Ausbildung begriffen. Deutschland und Österreich traten erst in den 70er Jahren in die Phase der eigentlichen großindustriellen Produktion, Russland erst in den 80er Jahren, Frankreich ist bis jetzt noch zum großen Teil kleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum beträchtlichen Teil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erst in den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einen regen und regelmäßigen Warenverkehr mit Europa getreten. Wenn wir deshalb einerseits die plötzlichen sprungweisen Erschließungen neuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu den 70er Jahren periodisch auftraten und die bisherigen Krisen, sozusagen die Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarkts vorgeschritten, der einen fatalen periodischen Anprall der Produktivkräfte an die Marktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen, erzeugen würde. Wir befinden uns in einer Phase, wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und noch nicht seinen Untergang begleiten.“[12]
Interessanterweise ließ Luxemburg in der zweiten Ausgabe, die 1908 veröffentlicht wurde, diese Passage und das folgende Kapitel aus und erwähnte stattdessen die Krise von 1907-08, die sich gerade auf die mächtigsten Industrienationen konzentrierte: Für Luxemburg neigte sich die „Übergangsperiode“ offenbar ihrem Ende zu.
Ferner ließ sie anklingen, dass die frühere Erwartung, wonach die neue Epoche von einer „großen kommerziellen Krise“ eingeleitet werde, sich als falsch erweisen könnte – bereits in Sozialreform oder Revolution wies sie auf das Wachstum des Militarismus hin, eine Entwicklung, die sie immer mehr beschäftigen sollte. Hinter folgender Beobachtung lag sicherlich das Kalkül, dass die neue Epoche möglicherweise von einem Krieg statt von einer offenen Wirtschaftskrise eingeleitet werden könnte: „Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, der Ausgangspunkt der sozialistischen Umwälzung würde eine allgemeine und vernichtende Krise sein, so muss man unseres Erachtens dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Gedanken und dessen äußere Form. Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche, den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach unmöglich wird. Dass man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und erschütternden Handelskrise dachte, hatte unseres Erachtens seine guten Gründe, bleibt aber nichtsdestoweniger für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich.“[13]
Doch welche Form diese „Senilitätskrise“ auch immer annehmen sollte, Luxemburg bestand darauf, dass ohne diese Vision des katastrophalen Niedergangs des Kapitalismus der Sozialismus zu einer bloßen Theorie wird: „Vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus äußert sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die ihn auch in eine ausweglose Sackgasse drängt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein.“
„Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder – Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel‘ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel‘ wirklich solche, die einen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht das Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: Entweder hat Bernstein in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muss aber die Theorie der ‚Anpassungsmittel‘ nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die Frage.“[14]
In diesem Passus schildert Luxemburg mit völliger Klarheit die innige Beziehung zwischen der revisionistischen Anschauung und der Ablehnung der Marxschen Theorie des kapitalistischen Niedergangs – und umgekehrt die Notwendigkeit einer solchen Theorie als Grundstein einer zusammenhängenden Revolutionskonzeption.
Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir uns anschauen, wie Luxemburg und andere danach strebten, die Ursprünge der nahenden Krise im grundlegenden Prozess der kapitalistischen Akkumulation zu lokalisieren.
Gerrard, 2009
[1] Siehe zum Beispiel den Artikel „1895 – 1905: Parlamentarische Illusionen verhüllen die Perspektive der Revolution“ (Internationale Revue, Nr. 88, engl., franz., span. Ausgabe), oder das Schlusskapitel unseres Buches Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit.
[2] Aufheben Nr. 2/3: https://libcom.org/aufheben
[3] Aufheben Nr. 2
[5] Engels an Florence Kelley-Wischnewetzky, 3. Februar 1886, MEW Bd. 36
[6] Brief an Nikolai Danielson, 22. September 1892, MEW Bd. 38
[7] Engels, Einleitung (zu Sigismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten, 15. Dezember 1887, MEW Bd. 21
[8] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 1, „Die Bernsteinsche Methode“.
[9] ebenda. Kapitel 2, „Anpassung des Kapitalismus“
[10] ebenda
[11] Das theoretische System von Karl Marx, 1907
[12] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 2
[13] ebenda, Kapitel 1
[14] ebenda