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Vor dem neuen Regionalparlament in Valencia war eine friedliche Kundgebung einberufen worden. Ihre Forderungen lauteten: „Ende der Korruption, die Politiker sollen auf die Bürger hören“, d.h. diese Forderungen gossen Wasser auf die Mühlen der Illusion, dass der Staat „ein Ausdruck des Volkswillen“ sei.
Der Staat reagierte sehr pädagogisch: mehrere Demonstranten wurden niedergeknüppelt, über den Boden geschleppt, von der Polizei brutal und arrogant behandelt. 18 Demonstranten wurden verletzt, 5 verhaftet. Sie wurden nicht wie „Bürger“ sondern wie Kriminelle behandelt. Diese Nachricht löste eine sehr starke Empörung aus.
Als Reaktion darauf wurde für 20.15 h vor der U-Bahn-Station Colon zu einer Kundgebung vor einem Regierungsgebäude aufgerufen. Langsam strömten die Demonstranten zusammen. Ein Demonstrationszug, der von dem Jungfrauenplatz losgezogen war, auf dem eine Versammlung zur valencianischen Sprache stattfand, schloss sich der Demonstration an, was mit großem Applaus bedacht wurde. Spontan entschied man, zur Polizeiwache Zapadores zu ziehen, wo man die Verhafteten vermutete. Von Minute zu Minute schwoll die Teilnehmerzahl weiter an. Die Bewohner des Stadtviertels Ruzafa schlossen sich dem Zug an oder klatschten von ihren Balkonen Beifall. Den Polizisten wurde zugerufen: “Lasst die Verhafteten frei. Hört auf uns zu beobachten. Ihr werdet auch bestohlen“.
Sobald die Demonstranten vor der Polizeiwache Zapadores eingetroffen waren, ließ man sich zu einem sit-in nieder. Es wurde gerufen: „Ohne die Verhafteten ziehen wir nicht ab. Wenn sie nicht rauskommen, kommen wir rein!“ Unterdessen traf die Nachricht von der Solidarisierung der Versammlung Barcelonas ein 1 oder der Entscheidung des Madrider Zeltlagers, die Verhafteten durch eine neue Kundgebung vor dem spanischen Parlament Cortes zu unterstützen. Zur gleichen Zeit wurde in Barcelona gerufen: „Nein zur Gewalt in Santiago de Compostela und in Valencia“ (in Santiago de Compostela war die Polizei auch gewaltsam gegen Protestierende vorgegangen).
Eine Stunde später, nachdem man erfahren hatte, dass die Verhafteten – welche in den Justizpalast gebracht worden waren – freigelassen werden würden, löste die Kundgebung sich auf, aber einige Hundert Demonstranten zogen vor den Justizpalast und warteten auf deren Freilassung (nach Mitternacht wurden sie tatsächlich freigelassen).
Aus dieser kurzen Schilderung der Ereignisse können wir einige Schlussfolgerungen ziehen.
Die erste Schlussfolgerung ist, dass unsere Stärke in der Solidarität, dem Zusammenschluss liegt, die Verhafteten nicht alleine zu lassen, dem „Urteilsvermögen der Justiz“ nicht zu vertrauen, sich hinter die Verhafteten zu stellen, sie als unsere Leute anzusehen, deren Leben als unser eigenes Leben zu betrachten.
In der Geschichte hat sich die Solidarität immer als die Hauptkraft der ausgebeuteten Klassen herausgestellt, und mit dem historischen Kampf des Proletariats ist diese in den Mittelpunkt ihres Kampfes gerückt und zu einem Stützpfeiler einer zukünftigen Gesellschaft geworden, der weltweiten menschlichen Gemeinschaft, dem Kommunismus. Die Solidarität ist durch die kapitalistische Gesellschaft zerstört worden, welche sich auf ihr Gegenteil stützt: die Konkurrenz, die Politik des jeder gegen jeden, jeder für sich.
Aber während eine Solidarisierung zustande kam, hat auch die Empörung über den “demokratischen” Staat zugenommen. Die Polizeiüberfälle auf die Demonstranten in Madrid und Granada sowie die unmenschliche Behandlung der Verhafteten von Madrid haben die Bewegung des 15-M (15. Mai) angespornt. Der brutale und zynische Polizeiangriff auf die Demonstranten in Barcelona hat das wahre Gesicht des demokratischen Staates hervortreten lassen, das jeden Tag durch „freie Wahlen“ und die „Bürgerbeteiligung“ vertuscht wird. Die Repression in Valencia und in Santiago de Compostela am Freitag und die in Salamanca am heutigen Samstag zeigen das erneut.
Es ist notwendig mehr nachzudenken und zu diskutieren, ob die Ereignisse von Madrid, Granada, Barcelona, Valenica, Salamanca und Santiago de Compostela als “Ausnahmen” angesehen werden können, die auf “Exzesse” oder Fehler zurückzuführen sind?
Könnten die Reform des Wahlgesetzes, die ILP (Initiative Volksabstimmung) und andere Vorschläge des „demokratischen Konsensus“ diese Übergriffe vereiteln oder gar den Staat in den Dienst des Volkes stellen?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir begreifen, wer der Staat ist und wem er dient.
In allen Ländern ist der Staat das Organ der privilegierten und ausbeutenden Minderheit, das Organ des Kapitals. Diese allgemeine Regel trifft auch auf die Staaten zu, welche sich auf die desodorierenden Ausdünstungen der Demokratie stützen wie auch jene, die den übel riechenden Geruch der Diktatur von sich geben.
Die Grundlage für den Zusammenhalt des Staates ist nicht die „Bürgerbeteiligung“ sondern die Armee, Polizei, Gerichte, Gefängnisse, Kirche, Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände usw., d.h. ein gewaltiges bürokratisches Spinnennetz im Dienste des Kapitals, das die Unterdrückung ausübt und vom Blut und Schweiß der Mehrheit der Bevölkerung lebt und sich turnusmäßig durch die Fassade der Wahlen, Volksabstimmungen, Referenden usw. legitimieren lässt.
Diese dunkle Seite des Staates, die von dem bunten Gesicht der Demokratie im Alltag verwischt wird, wird anhand von Gesetzen deutlich wie dem Gesetz zur Rentenreform, der Reform des Arbeitsrechts, den jüngst von der Regierung verabschiedeten Maßnahmen, die den Unternehmern die Entlassung von Arbeitskräften erleichtern oder auch anhand der Einschnitte bei Ausgleichszahlungen für Beschäftigte, die nunmehr auf 20 Tage pro Beitragsjahr reduziert werden (vormals erhielt man 45 Tage pro Beitragsjahr). Oder wenn die Polizei mit Schlagstöcken vorgeht, um „Probleme zu vermeiden“, wie Rubalcaba es formulierte. Die Repression ist kein Merkmal einer bestimmten Partei oder Ideologie, sie ist die notwendige und bewusste Antwort des Staates immer dann, wenn die Interessen der Kapitalistenklasse bedroht werden.
Die Suche nach unmittelbaren Erfolgen oder das Bestreben, unbedingt “konkrete Forderungen” zu erheben, hat dazu geführt, dass ein Großteil der Teilnehmer an den Versammlungen – die von Gruppen wie “Democracia Real Ya!” beeinflusst worden sind -, der Illusion einer „Reform der Demokratie“ anheimgefallen sind: Änderung der Wahlgesetze, offene Listen, Initiative Volksabstimmung… Während diese Vorschläge als ein einfach nachzuvollziehender, konkreter Schritt erscheinen, führt dies in Wirklichkeit nur dazu, die Illusion zu verstärken, der Staat könne „reformiert“, in „den Dienst aller Menschen gestellt“ werden. Dadurch läuft man letzten Endes nur hilflos gegen den kapitalistischen Staat an und macht es diesem leichter, seine Arbeit zu verrichten.
In den Versammlungen war oft die Rede davon, “diese Gesellschaft zu ändern”, dieses ungerechte Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu überwinden. Deutlich wurde das Bestreben nach einer Welt ohne Ausbeutung, in der „wir keine Waren“ sind, in der für die Bedürfnisse des Lebens und nicht die Bedürfnisse der Produktion produziert würde, in der es eine menschliche Gemeinschaft ohne Staaten und Grenzen geben würde.
Wie aber kann man solch ein Ziel erreichen? Stimmt das Motto der Jesuiten, demzufolge „das Ziel die Mittel rechtfertigt“? Kann man dieses System ändern, indem man auf Mittel wie Bürgerbeteiligung usw. zurückgreift, die dieses System uns anbietet?
Die einzusetzenden Mittel müssen mit dem verfolgten Ziel übereinstimmen. Nicht alle Mittel sind gültig. Die Atomisierung und die Isolierung durch die Wahlkabinen, die Delegierung der Macht in die Hände der Politiker, die üblichen Schiebereien und Machtmanöver der Politiker, d.h. all diese üblichen Mittel des Spiels der Demokratie verfolgen nicht unser Ziel, sondern dienen der Befestigung dieses Systems.
Diese “Mittel” führen uns völlig von unserem Ziel weg. Die Mittel, die uns zu unserem Ziel führen – auch wenn dieses noch weit entfernt ist - sind die Versammlungen, das direkte, kollektive Handeln auf der Straße, die Solidarität, der international Kampf der Arbeiterklasse. IKS, 11.6.2011
1 In Barcelona haben mehrere Hundert Demonstranten die „Diagonale“ (eine die ganze Stadt kreuzende Magistrale) besetzt; die PKW-Fahrer unterstützten sie mit Hupkonzerten.