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Die Entwicklung des Klassenkampfs im Kontext der allgemeinen Angriffe und des fortgeschrittenen Zerfalls des Kapitalismus
Wir veröffentlichen nachstehend den im Herbst 2003 anlässlich der Zusammenkunft des Zentralorgans der IKS präsentierten und angenommenen Klassenkampfbericht.1 Dieser Bericht bestätigt die Analysen der Organisation über die Beständigkeit des Kurses hin zu Klassenkonfrontationen (der durch den internationalen Aufschwung des Klassenkampfs 1968 einsetzte) trotz dem schwerwiegenden Rückschlag, den das Proletariat auf der Bewusstseinsebene seit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat einstecken müssen. Der Bericht stellte sich die besondere Aufgabe, eine Einschätzung des unmittelbaren und langfristigen Einflusses der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der kapitalistischen Angriffe auf die Arbeiterklasse vorzunehmen. So stellt er fest, dass die „breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich einen Wendepunkt im Klassenkampf seit 1989 darstellen. Sie sind ein erster bedeutender Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse nach der längsten Rückflussperiode seit 1968.”
Wir sind noch weit von einer internationalen Welle massiver Kämpfe entfernt, da sich die Kampfbereitschaft auf internationaler Ebene noch in embryonalem und heterogenem Zustand befindet. Man muss jedoch die beträchtliche Verschlimmerung der Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus sowohl bezüglich des Abbaus des Wohlfahrtsstaates als auch die Zuspitzung der Ausbeutung in allen Formen und schliesslich die Entwicklung der Arbeitslosigkeit einbeziehen, die zusammen als Hefe in der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse wirken. Der Bericht betont insbesondere die Tiefe, aber auch die Langsamkeit der Wiederaufnahme des Klassenkampfs.
Seit der Niederschrift dieses Berichts haben sich die Merkmale des Wechsels in der Dynamik in der Arbeiterklasse nicht verändert. Die seitherige Entwicklung illustriert eine im Bericht angesprochene Tendenz, dass erst isolierte Manifestationen des Klassenkampfs den gewerkschaftlich vorgegebenen Rahmen verlassen. Die territoriale Presse der IKS hat über solche Kämpfe vom Ende des Jahres 2003 im Transportwesen in Italien und bei der Post in Grossbritannien berichtet. Diese Kämpfe haben die Basisgewerkschaften auf den Plan gerufen, um Sabotagearbeit zu verrichten. Auch besteht die bereits vor diesem Bericht von der IKS aufgezeigte Tendenz zum Auftauchen von nach revolutionärer Kohärenz suchenden Elementen fort.
Das ist ein sehr langer Weg, den die Arbeiterklasse wird zurück legen müssen. Die Kämpfe, zu denen sie gezwungen sein wird, werden den Schmelztiegel der Reflexion darstellen, die durch die Verschärfung der Krise verstärkt und durch die Intervention der Revolutionäre befruchtet wird. Durch sie kann die Klasse ihre Identität und ihr Selbstvertrauen wieder gewinnen, an den historischen Erfahrungen anknüpfen und die Klassensolidarität entwickeln.
Der Klassenkampfbericht für den 15. Kongress der IKS2 unterstrich den unausweichlichen Charakter einer Antwort der Arbeiterklasse auf die qualitative Entwicklung der Krise und auf die scharfen Angriffe auf eine neue Generation ungeschlagener Arbeiter. Die Antwort besteht aus einer langsamen, aber bedeutsamen Wiederaneignung der Kampfbereitschaft. Der Bericht identifizierte eine Verbreitung und eine zwar noch embryonale aber doch wahrnehmbare Vertiefung der unterirdischen Reifung des Bewusstseins. Er betonte die Bedeutung der Tendenz zu massiveren Kämpfen für die Wiederaneignung der Klassenidentität und des Selbstvertrauens durch die Arbeiterklasse. Er zeigte auf, dass mit der objektiven Entwicklung der Widersprüche des Systems die Herausbildung eines ausreichenden Klassenbewusstseins – insbesondere bezüglich der Zurückgewinnung der kommunistischen Perspektive – die entscheidende Frage für die Zukunft der Menschheit wird. Er setzte den Akzent auf die historische Bedeutung des Auftauchens einer neuen Generation von Revolutionären und betonte, dass dieser Prozess trotz des Rückgangs der Kampfbereitschaft und des Klassenbewusstsein in der Gesamtheit der Arbeiterklasse schon seit 1989 in Gang ist. Der Bericht zeigte also die Grenzen des Rückflusses auf und betonte, dass der historische Kurs in Richtung massiver Klassenkonfrontationen bestehen bleibt und dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, den erlittenen Rückschlag zu überwinden. Gleichzeitig ging der Bericht auf die Fähigkeit der herrschenden Klasse ein, all die Implikationen dieser Entwicklung zu erfassen und ihnen entgegen zu treten. Er stellte diese Entwicklung in den Kontext der negativen Auswirkungen des Zerfalls des Kapitalismus. Er wies auf die enorme Verantwortung der revolutionären Organisationen angesichts der voranschreitenden Bemühungen der Arbeiterklasse und der neuen Generationen von kämpfenden Arbeitern und Revolutionären hin.
Beinahe unmittelbar nach dem 15. Kongress und in der auf den Irakkrieg folgenden Periode hat die Mobilisierung der Arbeiter in Frankreich (sie gehört zu den bedeutendsten Mobilisierungen seit dem Zweiten Weltkrieg) diese Perspektiven schnell bestätigt. In der Revue Internationale 114 haben wir eine erste Bilanz dieser Bewegung gezogen und festgestellt, dass diese Kämpfe die These eines angeblichen Verschwindens der Arbeiterklasse widerlegen. Der Artikel bekräftigt, dass die gegenwärtigen Angriffe „die Hefe im langsamen Reifungsprozess der Bedingungen für das Auftauchen von massiven Kämpfen bilden, die notwendig für die Wiederaneignung der proletarischen Klassenidentität und für die schrittweise Auflösung der Illusionen hauptsächlich in die mögliche Reformierbarkeit des Systems sind. Die Massenaktionen werden die Wiedererrichtung des Bewusstseins über die eigene Ausbeutung sowie über die Bedeutung als Trägerin einer anderen historischen Perspektive für die Gesellschaft sein. Deshalb ist die Krise der Verbündete des Proletariats. Der Weg, den sich die Arbeiterklasse für diese eigene revolutionäre Perspektive bahnen muss, ist jedoch keine Autobahn. Er wird schrecklich lang, von Fallen besetzt sein, die der Feind ihr stellen wird.“ Die im Klassenkampfbericht vom 15. Kongress herausgearbeiteten Perspektiven haben sich somit nicht nur durch die Entwicklung einer neuen Generation von suchenden Elementen auf internationaler Ebene bestätigt, sondern auch durch die Arbeiterkämpfe.
Der vorliegende Klassenkampfbericht beschränkt sich also auf eine Aktualisierung und eine genauere Überprüfung der langfristigen Bedeutung gewisser Aspekte der letzten Arbeiterkämpfe.
2003: Ein Wendepunkt
Die breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich stellen in den Klassenkämpfen seit 1989 einen Wendepunkt dar. Sie sind ein erster wichtiger Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach der längsten Rückflussperiode seit 1968. Die 90er-Jahre haben sicher schon sporadische, aber doch wichtige Ausdrücke dieser Kampfbereitschaft gesehen. Die Gleichzeitigkeit der Bewegungen in Frankreich und Österreich indessen sowie weiter die Tatsache, dass die deutschen Gewerkschaften gleich unmittelbar danach die Niederlage der ostdeutschen Metallarbeiter3 organisierten, um präventiv gegen den proletarischen Widerstand vorzugehen, beleuchten die Entwicklung seit Beginn des neuen Jahrtausends. Diese Ereignisse bestätigen die Tatsache, dass die Arbeiterklasse angesichts der dramatischen Verschärfung der Krise und den stets massiveren und allgemeineren Angriffen zunehmend zum Kampf gezwungen ist, und dies trotz dem noch immer fehlenden Selbstvertrauen.
Diese Änderung betrifft nicht nur die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, sondern auch ihren Geisteszustand, die Perspektive, in deren Rahmen sich ihre Aktivitäten abspielen. Es gibt derzeit Anzeichen eines Verlusts von Illusionen nicht nur über die typischen Mystifikationen der 90er-Jahre (die IT-Revolution, die individuelle Bereicherung an der Börse usw.), sondern auch über diejenigen, die durch die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgerufen worden sind, so die Hoffnung auf ein besseres Leben für die nachfolgende Generation und einen geruhsamen Lebensabend für diejenigen, die die Lohnarbeit überlebt haben.
Der Artikel in der Revue Internationale 114 erinnert an die massive Rückkehr des Proletariats auf der historischen Szene 1968 und an das Wiederauftauchen einer revolutionären Perspektive, die nicht nur eine Antwort auf die Angriffe auf unmittelbarer Ebene darstellten, sondern vor allem auch auf die Auflösung von Illusionen über eine bessere Zukunft, die der Kapitalismus in der Nachkriegszeit scheinbar verhiess. Im Gegensatz dazu, was uns eine vulgäre und mechanistische Deformation des historischen Materialismus glauben machen wollte, sind solche Wendungen im Klassenkampf, selbst wenn sie durch unmittelbare Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen verursacht werden, immer das Resultat einer veränderten Wahrnehmung der Zukunft. Die bürgerliche Revolution in Frankreich ist nicht mit dem Ausbruch der Krise des Feudalismus (die bereits seit längerem schwelte) explodiert, sondern als es offensichtlich wurde, dass der Absolutismus dieser Krise nicht mehr die Stirn bieten konnte. In der gleichen Weise begann die Bewegung, die zur ersten weltweiten revolutionären Welle führen sollte, nicht im August 1914, sondern erst, als die Illusionen über eine schnelle militärische Lösung des Weltkrieges zerstört waren.
Deshalb auferlegen uns die kürzlich stattgefunden Kämpfe die Hauptaufgabe, ihre historische Bedeutung zu verstehen.
Eine langsame Entwicklung der sozialen Situation
Nicht jeder Wendepunkt im Klassenkampf hat dieselbe Bedeutung und Tragweite wie 1917 oder 1968. Diese Daten bezeichnen einen Wechsel des historischen Kurses, während 2003 lediglich den Anfang des Endes einer Rückflussphase innerhalb des allgemeinen Kurses hin zu massiven Klassenkonfrontationen darstellt. Von 1968 bis 1989 war der Klassenkampf bereits von mehreren Rückfluss- und Aufschwungphasen gekennzeichnet. Insbesondere führte die Ende der 70er-Jahre entfesselte Dynamik schnell zum Höhepunkt der Massenstreiks im Sommer 1980 in Polen. Das Ausmass der veränderten Bedingungen zwang die Bourgeoisie damals zu einer unverzüglichen Änderung der politischen Orientierung: Die Linke wurde in die Opposition versetzt, um die Kämpfe besser von innen her zu sabotieren.4 Es ist auch notwendig, zwischen der gegenwärtigen Änderung bei der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft durch die Arbeiterklasse und dem Aufschwung in den 70er- und 80er-Jahren zu unterscheiden.
Auf viel allgemeinerer Ebene muss man in der Lage sein, zwischen einer Situation zu unterscheiden, in der man eines Morgens aufwacht und die Welt ist nicht mehr dieselbe wie am Vortag, und Änderungen, die beinahe von der Allgemeinheit beinahe unbemerkt vor sich gehen wie beispielsweise der Gezeitenwechsel. Die gegenwärtige Entwicklung gehört unbestreitbar letzterer an. In diesem Sinn bedeuten die Mobilisierungen vor Kurzem gegen die Angriffe auf das Rentenwesen in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation, die eine sofortige und grundlegende Entfaltung der politischen Kräfte der Bourgeoisie zur Gegenwehr verlangen würde.
Wir sind noch weit von einer internationalen Welle massiver Kämpfe entfernt. In Frankreich war der massive Charakter der Mobilisierungen vom Frühling 2003 hauptsächlich auf das Erziehungswesen beschränkt. In Österreich war die Mobilisierung zwar breiter, dafür aber zeitlich auf einige Aktionstage im öffentlichen Sektor beschränkt. Der Metallarbeiterstreik in Ostdeutschland war in keiner Art und Weise ein Ausdruck einer unmittelbaren Kampfbereitschaft der Arbeiter, sondern eher eine für die noch am wenigsten kämpferischen Teile der Klasse (die noch von der kurz nach der deutschen Wiedervereinigung aufgetretenen Massenarbeitslosigkeit traumatisiert sind) aufgestellte Falle, um allgemein den Eindruck zu erwecken, dass sich ein Kampf nicht lohne. Weiter sind die Nachrichten über die Bewegungen in Frankreich und Österreich teilweise einem vollständigen Black Out unterlegen, ausser ganz am Ende der Bewegung, wo sie zur Verbreitung eines entmutigenden Bildes benutzt wurden. In anderen für den Klassenkampf zentralen Ländern wie Italien, Grossbritannien, Spanien oder die Beneluxländer gab es bis kürzlich keine Massenmobilisierungen. Ausrücke einer der grossen Gewerkschaftszentralen entgleitenden Kampfbereitschaft wie der wilde Streik des Personals von British Airways in Heathrow, bei Alcatel in Toulouse oder in Puertollano in Spanien im vergangenen Sommer (siehe dazu die Révolution internationale 339) blieben punktuell und isoliert.
Selbst in Frankreich verunmöglichten die ungenügende Entwicklung der Kampfbereitschaft und vor allem deren verbreitete Abwesenheit die Ausdehnung dieser Bewegung über den Erziehungssektor hinaus.
Sowohl auf internationaler also auch auf nationaler Ebene befindet sich die Kampfbereitschaft also noch im embryonalen Stadium und ist noch sehr heterogen. Der bisher wichtigste Ausdruck ist der Kampf der Lehrer in Frankreich im letzten Frühling und er ist in erster Linie das Resultat einer Provokation der Bourgeoisie, die darin bestand, diesen bestimmten Sektor schwerer anzugreifen, um die Antwort auf die Rentenreform, die die ganze Arbeiterklasse betrifft, auf diesen Sektor zu polarisieren.5 Angesichts der grossangelegten Manöver der Bourgeoisie muss man auch die grosse Naivität, ja Blindheit der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit inklusive die suchenden Gruppen und Teile des politisch-proletarischen Milieus (hauptsächlich die Gruppen der kommunistischen Linken) und selbst vieler unserer Sympathisanten feststellen. Im Augenblick ist die Bourgeoisie nicht nur in der Lage, die ersten Ausdrücke der Unzufriedenheit bei den Arbeitern in Schach zu halten und zu isolieren, sondern sie kann sogar mit mehr oder weniger Erfolg (mehr in Deutschland als in Frankreich) diese noch relativ schwache Kampfbereitschaft gegen die langfristige Entwicklung der allgemeinen Kampfbereitschaft wenden.
Noch viel wichtiger als das Vorangegangene ist die Tatsache, dass die Bourgeoisie noch nicht zur Strategie der Linken in der Opposition zurückkehren muss. In Deutschland hat die Bourgeoisie die grösste Wahlfreiheit zwischen einer linken oder einer rechten Regierung. Anlässlich der Offensive Agenda 2010 gegen die Arbeiter haben sich 95% der Delegierten sowohl der SPD als auch der Grünen zugunsten eines Verbleibs in der Regierung ausgesprochen. Grossbritannien und Deutschland bildeten in den 70er und 80er-Jahren die Avantgarde der Weltbourgeoisie bei der Umsetzung der Politik der Linken in der Opposition als geeignetstem Mittel gegen die Arbeiterklasse. Und selbst Grossbritannien ist in der Lage, mit der linken Regierung die soziale Front unter Kontrolle zu halten.
Im Unterschied zur Situation, die Ende der 90er-Jahre vorherrschte, können wir heute nicht mehr von einer Politik der Linken an der Regierung als vorherrschende Orientierung der europäischen Bourgeoisie sprechen. Vor fünf Jahren war die Welle der linken Wahlsiege auch an die Illusionen über die ökonomische Lage gebunden. Heute muss sich die Bourgeoisie angesichts der Tiefe der gegenwärtigen Krise darum kümmern, dass die Regierungen ab und zu wechseln, um die demokratischen Illusionen zu stärken.6 Wir müssen uns in diesem Kontext daran erinnern, dass die deutsche Bourgeoisie schon im letzten Jahr zwar die Wiederwahl Schröders begrüsst hat, aber auch zum Ausdruck gebracht hat, dass sie mit einer konservativen Regierung Stoiber durchaus auch zufrieden gewesen wäre.
Der Bankrott des Systems
Die Tatsache, dass die ersten Scharmützel des Klassenkampfs in einem langen und schwierigen Prozess von Klassenkämpfen hin zu massiveren Kämpfen in Frankreich und Österreich stattfinden, ist vielleicht gar nicht so zufällig, wie es scheint. Wenn zwar das französische Proletariat für seinen explosiven Charakter bekannt ist, was teilweise auch erklärt, dass es 1968 an der Spitze des internationalen Wiederaufschwungs des Klassenkampfs stand, so kann man das schwerlich von der österreichischen Arbeiterklasse der Nachkriegszeit behaupten. Was diese beiden Länder jedoch gemeinsam haben, das ist die Tatsache, dass die massiven Angriffe das Rentenwesen zum zentralen Inhalt hatten. Man muss auch bemerken, dass die deutsche Regierung, die gegenwärtig dabei ist, die weitreichendste Attacke in Westeuropa auszulösen, noch sehr vorsichtig bezüglich der Frage der Renten zu Werke geht. Frankreich und Österreich hingegen befinden sich unter denjenigen Ländern, in denen hauptsächlich wegen der politischen Schwäche insbesondere der rechten Bourgeoisie die Renten bisher viel weniger unter Beschuss geraten waren. Deshalb werden in diesen Ländern die Erhöhung der Anzahl der bis zur Rente zu arbeitenden Jahre sowie die Rentenkürzungen viel bitterer wahrgenommen.
Die Verschärfung der Krise zwingt also die Bourgeoisie dazu, mit der Verzögerung des Rückzugs in den Ruhestand ein soziales Zückerchen zu streichen. Bisher liess gerade dieses Zückerchen die Arbeiter die bittere Pille der unerträglichen Ausbeutungsbedingungen der letzten Jahrzehnte schlucken und es maskierte auch das tatsächliche Ausmass der Arbeitslosigkeit.
Angesichts der in erschreckendem Ausmass zu Beginn der 70er-Jahre wieder auftauchenden Geissel reagierte die Bourgeoisie mit wohlfahrtsstaatlichen Massnahmen. Diese Massnahmen sind vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet ein Nonsens und bilden heute einen der Hauptgründe für die unermessliche öffentliche Verschuldung. Der gegenwärtige Abbau des Wohlfahrtsstaats öffnet der tiefgreifenden Frage nach der Zukunftsperspektive des Kapitalismus die Tür.
Nicht alle kapitalistischen Angriffe rufen dieselben Verteidigungsreaktionen der Arbeiterklasse hervor. Es ist viel leichter, gegen Lohnsenkungen oder die Verlängerung des Arbeitstags zu kämpfen als gegen die Verminderung des relativen Lohns, die das Resultat einer Zunahme der Arbeitsproduktivität (aufgrund der Technologieentwicklung) und also des Akkumulationsprozesses des Kapitals selbst ist. Diese Realität beschreibt Rosa Luxemburg in folgenden Worten: „Eine Lohnverringerung, die eine Herabsetzung der reellen Lebenshaltung der Arbeiter herbeiführt, ist ein sichtbares Attentat der Kapitalisten gegen die Arbeiter und wird von diesen (...) in der Regel mit sofortigem Kampf beantwortet, in günstigen Fällen auch abgewehrt. Hingegen das Sinken des relativen Lohns wird anscheinend ohne die geringste persönliche Teilnahme des Kapitalisten bewirkt, und dagegen haben die Arbeiter innerhalb des Lohnsystems, das heisst auf dem Boden der Warenproduktion, gar keine Möglichkeit des Kampfes und der Abwehr.“7
Der Anstieg der Arbeitslosigkeit stellt die Arbeiterklasse vor dieselben Schwierigkeiten wie die Intensivierung der Ausbeutung (Angriff auf den relativen Lohn). Wenn der kapitalistische Angriff der Arbeitslosigkeit die Jungen betrifft, die noch nie gearbeitet haben, enthält sie nicht die explosive Dimension wie bei Entlassungen, schlicht da gar niemand entlassen werden muss. Die Existenz einer höheren Arbeitslosigkeit jedoch stellt einen antreibenden Faktor der unmittelbaren Arbeiterkämpfe dar, weil sie für eine wachsende Anzahl von noch beschäftigen Arbeitern eine ständige Gefahr repräsentiert, aber auch weil dieses gesellschaftliche Phänomen Fragen hervorruft, deren Antwort nicht um die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels umhin kommt. Rosa Luxemburg fügt bezüglich des Kampfs gegen die relative Lohnsenkung hinzu: „Der Kampf gegen das Sinken des relativen Lohns bedeutet deshalb auch den Kampf gegen den Warencharakter der Arbeitskraft, das heisst gegen die kapitalistische Produktion im ganzen. Der Kampf gegen den Fall des relativen Lohns ist also nicht mehr ein Kampf auf dem Boden der Warenwirtschaft, sondern ein revolutionärer, umstürzlerischer Anlauf gegen den Bestand dieser Wirtschaft, er ist die sozialistische Bewegung des Proletariats.“
Die 1930er-Jahre zeigten, wie mit der Massenarbeitslosigkeit die absolute Verarmung explodiert. Wäre der Arbeiterklasse nicht im voraus eine Niederlage zugefügt worden, wäre das allgemeine, absolute Gesetz der Kapitalakkumulation Gefahr gelaufen, sich ins Gegenteil zu kehren: das Gesetz der Revolution. Die Arbeiterklasse hat ein historisches Gedächtnis, das mit der Vertiefung der Krise langsam aktiviert wird. Die Massenarbeitslosigkeit und die Lohnsenkungen wecken heute mit der allgemeinen Verunsicherung und der generalisierten Verarmung wieder die Erinnerung an die 30er-Jahre. Der Abbau des Wohlfahrtsstaates wird die marxistische Sichtweise bestätigen.
Wenn Rosa Luxemburg darauf hinweist, dass die Arbeiter auf dem Terrain der Produktion von Konsumgütern nicht die geringste Möglichkeit haben, sich gegen die relative Lohnsenkung zur Wehr zu setzen, so ist das weder Fatalismus noch Pseudoradikalismus, wie ihn die letzte Essener Tendenz der KAPD mit der Parole „die Revolution oder nichts“ vertreten hat, sondern die Erkenntnis, dass der Kampf nicht in den Grenzen der unmittelbaren Verteidigungskämpfe bleiben kann und mit einer weitest möglichen politischen Vision geführt werden muss. In den 80er-Jahren sind die Fragen der Arbeitslosigkeit und der Intensivierung der Ausbeutung bereits gestellt worden, jedoch oft auf eine eingeschränkte und lokale Weise. Die englischen Minenarbeiter achteten nur auf die Rettung ihrer Arbeitsplätze. Die heutige qualitative Vertiefung der Krise erlaubt, dass Fragen über die Arbeitslosigkeit, die Armut, die Ausbeutung in umfassender und auf politische Art gestellt werden. Das ist auch bei der Rente, der Gesundheit, der Versorgung von Arbeitslosen, den Lebensbedingungen, der Länge des Arbeitslebens und bei der Zukunft der kommenden Generationen der Fall. In noch sehr embryonaler Form ist das in den letzten Kämpfen gegen die Angriffe auf das Rentenwesen identifizierte Potential vorhanden. Diese langfristige Lehre ist am wichtigsten. Sie ist von grösserer Tragweite als der Rhythmus, mit dem die unmittelbare Kampfbereitschaft nun wieder hergestellt wird. Rosa Luxemburg erläutert, dass die direkte Konfrontation mit den zerstörerischen Auswirkungen der objektiven Mechanismen des Kapitalismus (Massenarbeitslosigkeit, Intensivierung der relativen Ausbeutung) die Auslösung von Kämpfen zunehmend erschwert. Deshalb werden sie auf der Ebene der Politisierung auch bedeutsamer, selbst bei einem langsameren Rhythmus und mühsameren Verlauf.
Die Schemata der Vergangenheit überwinden
Mit der Vertiefung der Krise kann es sich das Kapital nicht mehr leisten, bedeutende materielle Zugeständnisse zu machen um damit das Ansehen der Gewerkschaften aufzupolieren, wie dies 1995 in Frankreich noch der Fall war.8 Trotz der gegenwärtigen Illusionen der Arbeiter sind die Möglichkeiten der Bourgeoisie, die keimende Kampfbereitschaft für gross angelegte Manöver zu missbrauchen, eingeschränkt. Diese Grenzen zeigen sich daran, dass die Gewerkschaften gezwungen sind, allmählich wieder ihre Rolle als Saboteure der Kämpfe zu übernehmen: „Heute wird wieder auf das in der Geschichte des Klassenkampfes eher klassische Schema zurückgegriffen: Die Regierung schlägt hart zu, die Gewerkschaften widersetzen sich und predigen zunächst die Gewerkschaftseinheit, um die Arbeiter massenhaft hinter sich zu scharen und unter gewerkschaftlicher Kontrolle einzupacken. Dann eröffnet die Regierung Verhandlungen, und die Gewerkschaften geben die Einheit auf, um besser die Spaltung und Verwirrung in die Reihen der Arbeiter hinein zu tragen. Diese Methode, die auf der gewerkschaftlichen Spaltung gegenüber dem Anstieg des Klassenkampfs aufbaut, ist für die Bourgeoisie die bewährteste, um allgemein den gewerkschaftlichen Rahmen zu halten, wobei der Verlust des Ansehens soweit wie möglich auf den einen oder anderen bereits im voraus bestimmten Gewerkschaftsapparat konzentriert wird, der einige Federn lassen muss. Dies bedeutet aber, dass die Gewerkschaften heute wieder der Feuerprobe unterworfen werden und dass die unweigerliche Entwicklung der kommenden Kämpfe für die Arbeiterklasse erneut das Problem der Auseinandersetzung mit ihren Feinden stellen wird, in der sie ihre Klasseninteressen verteidigen und die Erfordernisse des Kampfes erkennen muss.“9
Auch wenn die Bourgeoisie heute bei der Durchführung von gross angelegten Manövern gegenüber der Arbeiterklasse noch kaum beunruhigt ist, so wird die Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage dazu tendieren, dass immer häufiger spontane, punktuelle, isolierte Konfrontationen zwischen Arbeitern und Gewerkschaften stattfinden.
Die Wiederholung des klassischen Schemas der Konfrontation mit der gewerkschaftlichen Sabotage, die nun wieder auf die Tagesordnung kommt, begünstigt so die Möglichkeit für die Arbeiter, sich auf die Lehren der Vergangenheit zu beziehen.
Das sollte uns aber nicht zu einer schematischen Haltung verleiten, die für das Verständnis der zukünftigen Kämpfe und die Intervention in ihnen einfach auf den Rahmen und die Kriterien der 1980er-Jahre abstellt. Die gegenwärtigen Kämpfe sind diejenigen einer Klasse, die erst wieder zu ihrer ganz elementaren Klassenidentität zurückfinden muss. Die Schwierigkeit zu verstehen, dass man zu einer gesellschaftlichen Klasse gehört, und die fehlende Erkenntnis darüber, dass man einem Klassenfeind gegenübersteht, sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Auch wenn die Arbeiter noch ein Grundgefühl für die Notwendigkeit der Solidarität haben (da dies zu den proletarischen Daseinsbedingungen gehört), müssen sie wieder einen Begriff dafür gewinnen, was die Klassensolidarität wirklich ist.
Um die Rentenreform umzusetzen, musste die Bourgeoisie nicht auf die gewerkschaftliche Sabotage der Ausweitung der Bewegung zurückgreifen. Der Kern ihrer Strategie bestand darin, dass die Lehrer als Hauptziel spezifische Forderungen aufstellten. Zu diesem Zweck sollte dieser Sektor, der bereits durch frühere Angriffe arg betroffen war, nicht nur den allgemeinen Angriff auf die Renten über sich ergehen lassen, sondern darüber hinaus einen zusätzlichen besonderen, nämlich den Plan der Dezentralisierung des nicht unterrichtenden Personals, auf welchen der Sektor in der Tat die Mobilisierung ganz konzentrierte. Zentrale Forderungen für sich zu beanspruchen, die den Kampf zur Niederlage verurteilen, ist immer das Merkmal einer wesentlichen Schwäche der Arbeiterklasse, die sie noch überwinden muss, um bedeutend voranzukommen. Ein Beispiel, das diese Notwendigkeit veranschaulicht, ist dasjenige der Kämpfe von 1980 in Polen, wo die Illusionen bei den Arbeitern über die westliche Demokratie es ermöglichten, dass die Forderung nach „freien Gewerkschaften“ schliesslich zuoberst auf der Forderungsliste stand, die der Regierung vorgelegt wurde, was das Tor zur Niederlage und zur Unterdrückung der Bewegung aufstiess.
In den Kämpfen in Frankreich im Frühjahr 2003 führten der Verlust der Klassenidentität und des Begriffs der Arbeitersolidartität dazu, dass die Lehrer schliesslich akzeptierten, dass ihre besonderen Forderungen vor die allgemeine Frage der Angriffe auf die Renten gestellt wurden. Die Revolutionäre dürfen nicht davor zurückschrecken, diese Schwäche der Klasse einzugestehen und ihre Intervention danach auszurichten.
Der Klassenkampfbericht des 15. Kongresses legt besonderes Gewicht auf das Wiedererstarken der Kampfbereitschaft, das es dem Proletariat erst erlauben wird voran zu kommen. Doch hat dies nichts mit einer operaistischen Anbetung der Kampfbereitschaft als solcher zu tun. In den 30er-Jahren gelang es der Bourgeoisie, die Kampfbereitschaft der Arbeiter auf den Weg der Kriegsvorbereitung zu lenken. Die Wichtigkeit der heutigen Kämpfe besteht darin, dass sie den Ort der Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse darstellen können. Auch wenn es unmittelbar lediglich und bescheiden um die Wiedererlangung der Klassenidentität durch das Proletariat geht, so ist dies doch der Knackpunkt für die Wiederbelebung des kollektiven und historischen Gedächtnisses des Proletariats und für die Entfaltung der Klassensolidarität. Diese ist die einzige Alternative zur wahnsinnigen bürgerlichen Konkurrenzlogik, wo jeder gegen jeden kämpft.
Die Bourgeoisie ihrerseits macht sich keine Illusionen darüber, dass diese Frage nebensächlich wäre. Bis heute hat sie alles daran gesetzt zu verhindern, dass eine Bewegung losbricht, die den Arbeitern ihre Zugehörigkeit zu einer und derselben Klasse in Erinnerung rufen könnte. Die Lehre aus 2003 ist, dass sich mit der Zuspitzung der Krise der Arbeiterkampf unweigerlich entwickeln wird. Es ist nicht so sehr die Kampfbereitschaft als solche, die die herrschende Klasse beunruhigt, sondern vielmehr die Gefahr, dass die Auseinandersetzungen das Bewusstsein der Arbeiterklasse nähren. Die Bourgeoisie ist heute in dieser Frage nicht weniger, sondern mehr in Sorge als in der Vergangenheit, und zwar weil die Krise heute tiefer und globaler ist. Ihre Hauptsorge besteht darin, dass immer dann, wenn die Kämpfe nicht vermieden werden können, wenigstens deren positiven Auswirkungen auf das Selbstvertrauen, auf die Solidarität und das Nachdenken in der Arbeiterklasse in Grenzen gehalten werden, d.h. dafür zu sorgen, dass aus dem Kampf die falschen Lehren gezogen werden. In den 80er-Jahren hat die IKS gelernt, in den damaligen Kämpfen in jedem Einzelfall das Hindernis für den Fortschritt der Bewegung zu erkennen und die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften und den Linken auf den Punkt zu bringen. Oft war es die Frage der Ausweitung der Kämpfe. Konkrete Vorstösse in den Vollversammlungen, mit denen wir dazu aufriefen, zu den anderen Arbeitern zu gehen, stellten den Sprengstoff dar, mit dem wir den Boden für das allgemeine Voranschreiten der Bewegung ebneten. Die wichtigsten Fragen heute – was ist der Klassenkampf, was sind seine Ziele, seine Methoden, wer sind die Gegner, welches sind die zu überwindenden Hindernisse? – scheinen die Antithese der Fragen der 80er-Jahre zu sein. Sie scheinen „abstrakter“ zu sein, da sie unmittelbar weniger umsetzbar sind, eine Rückkehr zum Ausgangspunkt der Ursprünge der Arbeiterbewegung darstellen. Die heutigen Fragen anzugehen erfordert mehr Geduld, eine langfristige Sicht, tiefere politische und theoretische Fähigkeiten für die Intervention. Eigentlich sind die gegenwärtig wesentlichen Fragen nicht abstrakter, sondern schlicht globaler. Es ist weder abstrakt noch rückständig, in einer Vollversammlung zur Frage der Forderungen der Bewegung zu intervenieren oder die Gewerkschaften dabei zu entlarven, wie sie jede wirkliche Perspektive einer Ausweitung verhindern. Der allgemeine Charakter dieser Fragen weist den weiteren Weg. Vor 1989 scheiterte das Proletariat genau deshalb, weil es die Frage des Klassenkampfes zu eng stellte. Und weil das Proletariat in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre in der Gestalt von Minderheiten das Bedürfnis nach einer globaleren Sichtweise zu spüren begonnen hat, hat umgekehrt die Bourgeoisie, die sich der potentiellen Gefahr bewusst ist, die Antiglobalisierungbewegung geschaffen, um den auftauchenden Fragen eine falsche Antwort zu liefern.
Darüber hinaus sind die linken Teile des Kapitals, insbesondere die Linksextremen, zu Meistern in der Kunst geworden, die Auswirkungen des Zerfalls der Gesellschaft gegen die Arbeiterkämpfe einzusetzen. Während die Wirtschaftskrise eine tendenziell allgemeine Infragestellung des Systems begünstigt, hat der Zerfall gerade die gegenteilige Wirkung. Während der Bewegung in Frankreich im Frühjahr 2003 und beim Metallarbeiterstreik in Deutschland sahen wir, wie die Gewerkschaftsaktivisten im Namen der „Ausweitung“ oder der „Solidarität“ die Mentalität kultivierten, die Minderheiten von Arbeitern beseelt, wenn sie anderen Arbeitern den Kampf aufzuzwingen versuchen und ihnen dabei die Verantwortung für eine Niederlage der Bewegung zuschieben, wenn sie sich weigern, in die Aktionen einbezogen zu werden.
Während der Märzaktion 1921 in Deutschland waren die tragischen Szenen, die sich vor den Fabriken abspielten, als die Arbeitslosen versuchten, die Arbeiter davon abzuhalten, die Arbeit wieder aufzunehmen, ein Ausdruck der Verzweiflung angesichts des Abebbens der revolutionären Welle. Die Aufrufe der französischen Linksextremen im letzten Frühjahr, die Schüler von den Abschlussprüfungen abzuhalten, das Theater der westdeutschen Gewerkschafter, die die ostdeutschen Metallarbeiter – die keinen langen Streik für die 35-Stunden-Woche machen wollten – an der Wiederaufnahme der Arbeit hindern wollten, sind gefährliche Angriffe gegen den eigentlichen Begriff der Arbeiterklasse und der Solidarität. Sie sind umso gefährlicher, als sie die Ungeduld, den Unmittelbarkeitswahn und den sinnlosen Aktivismus fördern, welche Erscheinungen ohnehin charakteristisch für den Zerfall sind. Wir sind vorgewarnt: Obwohl die kommenden Kämpfe zwar ein Ort der Bewusstseinsentwicklung sind, unternimmt die Bourgeoisie alles, um sie in einen Friedhof des proletarischen Nachdenkens zu verwandeln.
Hier sehen wir für die kommunistische Intervention wertvolle Aufgaben: „geduldig erklären“ (Lenin), weshalb die Solidarität nicht verordnet werden kann, sondern ein gegenseitiges Vertrauen zwischen den verschiedenen Teilen der Klasse voraussetzt; erklären, warum die Linke, im Namen der Arbeitereinheit, alles unternimmt, um diese Einheit zu zerstören.
Die Grundlage unseres Vertrauens in die Arbeiterklasse
Alle Teile des proletarischen politischen Milieus anerkennen die Bedeutung der Krise bei der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiter. Aber die IKS ist unter den gegenwärtig existierenden Strömungen die einzige, die davon ausgeht, dass die Krise das Klassenbewusstsein der grossen Massen anregt. Die anderen Gruppen beschränken in ihrer Analyse die Rolle der Krise auf den Umstand, dass sie die Arbeiter rein physisch zum Kampf drängt. Für die Rätisten zwingt die Krise die Klasse mehr oder weniger mechanisch zur Revolution. Für die Bordigisten bringt das Erwachen des „Klasseninstinkts“ den Inhaber der Klassenbewusstseins, d.h. die Partei, an die Macht. Für das IBPR kommt das Klassenbewusstsein von aussen, von der Partei. Unter den suchenden Gruppen, meinen die Autonomen (die sich insofern auf den Marxismus berufen, als sie die Notwendigkeit der Autonomie des Proletariats gegenüber den anderen Klassen betonen) und die Operaisten, dass die Revolution das Ergebnis der Arbeiterrevolte und eines individuellen Wunsches nach einem besseren Leben sei. Diese falschen Auffassungen wurden durch die Unfähigkeit der jeweiligen Gruppen verstärkt zu verstehen, dass das Scheitern einer proletarischen Antwort auf die Krise von 1929 eine Folge der vorangegangenen Niederlage der weltweiten revolutionären Welle war. Eine Konsequenz dieses mangelnden Verständnisses ist die immer noch kursierende Idee, wonach der imperialistische Krieg für die Revolution die günstigeren Voraussetzungen schaffe als die Krise (vgl. dazu unseren Artikel „Warum die Alternative Krieg oder Revolution“ in: Revue Internationale, Nr. 30).
Demgegenüber stellt der Marxismus die Frage, wie folgt: „Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermassen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu einem unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Machte und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.“10
Rosa Luxemburg unterstrich das Verhältnis zwischen diesen drei Gesichtspunkten und der Rolle der Krise und schrieb dazu: „Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel ebenso wenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit wie von dem zahlenmässigen Übergewicht der Mehrheit, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit und der Einsicht in diese Notwendigkeit ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse führt und die sich vor allen in der kapitalistischen Anarchie äussert.“11
Während der Reformismus (und heutzutage die Linke des Kapitals) Verbesserungen dank der staatlichen Intervention und Gesetzen, die die Arbeiter schützen würden, verspricht, enthüllt die Krise, „dass das Lohnsystem nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein rein ökonomisches ist“.12
Unter den Angriffen, denen die Klasse ausgesetzt ist, beginnt sie das wahre Wesen des Kapitalismus zu verstehen. Dieser marxistische Standpunkt bestreitet überhaupt nicht die Wichtigkeit der Rolle der Revolutionäre und der Theorie für diesen Prozess. Die Arbeiter werden die Bestätigung und die Erklärung für ihre eigenen Erfahrungen in der marxistischen Theorie finden.
Oktober 2003