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Nur eine andere Welt ist möglich: Der Kommunismus!
Zwischen dem 12. und 15. November 2003 wurde in Paris das „Europäische Sozialforum“ (ESF) abgehalten, eine Art europäischer Ableger des Weltsozialforums, das mehrere Jahre hintereinander im brasilianischen Porto Allegre stattgefunden hatte (2002 wurde das ESF in Florenz, Italien, abgehalten, und für 2004 ist es in London geplant). Das ESF hat mittlerweile beträchtliche Dimensionen angenommen: Laut den Organisatoren nahmen rund 40.000 Menschen aus allen möglichen europäischen Ländern (von Portugal bis Osteuropa) teil, ein Programm von 600 Seminaren und Workshops in den verschiedensten Tagungsorten (Theatergebäude, Rathäuser, prestigeträchtige öffentliche Gebäude) erstreckte sich über ganz Paris, und zum Abschluss fand eine Grossdemonstration von 60–100.000 Menschen mit den unverbesserlichen italienischen Stalinisten von Rifondazione Comunista an der Spitze und den Anarchisten der CNT als Nachhut statt. Auch wenn sie wenig öffentliche Aufmerksamkeit ernteten, fanden neben dem ESF zeitgleich zwei weitere „europäische Sozialforen“ statt, eines für die Mitglieder des Europäischen Parlaments, das andere für Gewerkschafter. Und als seien drei „Foren“ nicht genug, organisierten die Anarchisten ein „Libertäres Sozialforum“ (LSF) in der Pariser Metro, zur gleichen Zeit wie das ESF und bewusst als Alternative zu ihm dargestellt.
„Eine andere Welt ist möglich!“ Dies war einer der grossen Slogans des ESF. Und es besteht kein Zweifel daran, dass für viele der Demonstranten am 15. November, vielleicht gerade unter den jungen Leuten, die erst politisch aktiv werden, ein wahrhaftes und drückendes Bedürfnis bestand, gegen den Kapitalismus und für eine „andere Welt“ im Gegensatz zur heutigen mit ihrer grenzenlosen Armut und ihren endlosen und abscheulichen Kriegen zu kämpfen. Zweifellos wurden einige von ihnen durch das Gemeinschaftsgefühl auf diesem Zusammentreffen inspiriert. Doch das Problem ist nicht nur zu wissen, dass „eine andere Welt möglich“ – und notwendig – ist, sondern auch und vor allem zu wissen, welche Art von Welt sie sein soll und wie man sie errichtet.
Eine Antwort auf diese Frage kann das ESF schwerlich anbieten. Angesichts der Unmenge und Unterschiedlichkeit der teilnehmenden Organisationen (von Organisationen der „Jungen Manager“ und „Jungen Unternehmer“ über christliche Vereinigungen bis hin zu Trotzkisten wie LCR und SWP, Stalinisten der KPF und von Rifondazione und selbst Anarchisten wie Alternative Libertaire) fällt es schwer zu glauben, dass das ESF auch nur eine kohärente Antwort oder überhaupt eine Antwort geben kann. Jedermann ist darum bemüht, seine eigenen Ideen zur Geltung zu bringen, daher die enorme Mannigfaltigkeit der Themen, die in Flugblättern, Debatten und Slogans zum Ausdruck kamen. Jedoch stellt sich bei näherem Hinschauen heraus, dass die Ideen, die aus dem ESF kommen, erstens nichts Neues enthalten und zweitens auch absolut nichts „Antikapitalistisches“ in sich bergen.
Die breite Mobilisierung rund um das ESF plus die Öffentlichkeit, die diese Masse an Themen der „Antiglobalisierungs“-Tendenz in so vielen linken und linksextremen Gruppen erfuhr, veranlasste die IKS dazu, mit aller Entschlossenheit, die in unseren Kräften steht, bei diesem Ereignis zu intervenieren. Da wir vermuteten, dass die „Debatten“ des ESF im Voraus inszeniert wurden (ein Verdacht, der von etlichen Teilnehmern dieser Debatten uns gegenüber bestätigt wurde), konzentrierten sich unsere Militanten, die von überall aus Europa herkamen, auf den Verkauf unserer Presse und auf die Teilnahme an den informellen Diskussionen rund um das ESF und während der Abschlussdemonstration. Ausserdem waren wir auf dem LSF anwesend, um in den Debatten zu intervenieren und die Perspektive des Kommunismus gegen den Anarchismus in den Vordergrund zu rücken.
Eine Welt ohne Handel und Austausch?
„Die Welt steht nicht zum Verkauf“ ist ein beliebter Slogan, der in vielen Versionen konkretisiert wurde: „Die Kultur steht nicht zum Verkauf“ für die Künstler und Theaterangestellten1, „Die Gesundheit steht nicht zum Verkauf“ für die Krankenschwestern und das Krankenhauspersonal oder „Die Erziehung steht nicht zum Verkauf“ für die Lehrer.
Wer wäre nicht berührt von solchen Slogans? Wer möchte schon gern seine Gesundheit oder die Erziehung seiner Kinder verkaufen?
Doch wenn wir die Realität hinter diesen Slogans betrachten, beginnen wir, den Braten zu riechen. Tatsächlich bereitet das, was vorgeschlagen wird, dem „Ausverkauf der Erde“ kein Ende, sondern begrenzt ihn allenfalls: „Befreiung der sozialen Dienste von der Logik des Marktes“. Was bedeutet dies konkret? Wir alle wissen, dass, seitdem der Kapitalismus existiert, alles bezahlt werden Muss, selbst der Gesundheitsdienst oder das Erziehungswesen. All jene Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, die die „Antiglobalisierer“ angeblich „von der Logik des Marktes befreien“ wollen, sind tatsächlich Teil des Gesamtlohns der Arbeiter, ein Teil, der üblicherweise vom Staat verwaltet wird. Weit entfernt davon, „von der Logik des Marktes befreit“ zu sein, ist das Lohnniveau, jenes Äquivalent an Produktion, das an die Arbeiterklasse zurückgeht, eine Frage des Marktes und betrifft den Kern der kapitalistischen Ausbeutung. Das Kapital bezahlt seine Arbeitskraft stets so gering wie möglich, mit anderen Worten: mit einem Minimum dessen, was für die Reproduktion der nächsten Arbeitergeneration notwendig ist. Heute, wo die Welt in eine immer tiefere Krise stürzt, benötigt jedes nationale Kapital immer weniger Hände und Muss jene Hände, die es noch benötigt, immer geringer entlohnen, wenn es nicht von seinen Konkurrenten auf dem Weltmarkt eliminiert werden will. In dieser Situation kann die Arbeiterklasse die Reduzierung ihrer Löhne – wie „sozial“ sie auch sein mag - nur durch ihren eigenen Kampf abwehren, und nicht, indem man den kapitalistischen Staat dazu auffordert, seine Löhne von den Marktgesetzen zu „befreien“, etwas, wozu der Staat vollkommen unfähig wäre, selbst wenn er wollte.
In der kapitalistischen Gesellschaft kann das Proletariat kraft seines eigenen Kampfes bestenfalls eine günstigere Aufteilung des Sozialprodukts erzwingen: Es kann die Mehrwertrate, die die kapitalistische Klasse extrahiert, zu Gunsten des variablen Kapitals – d.h. der Löhne – reduzieren. Aber dies in heutigem Zusammenhang zu tun, erfordert zunächst ein hohes Kampfniveau (wie wir nach der Niederlage der Kämpfe in Frankreich im Mai 2003 sahen, die stürmischen Angriffen gegen den Soziallohn folgten) und kann zweitens nur von vorübergehender Natur sein (wie wir nach der Bewegung von 1968 gesehen haben).
Nein, die Idee, dass „die Welt“ nicht zum Verkauf steht, ist nichts anderes als ein erbärmlicher Schwindel. Die eigentliche Natur des Kapitalismus besteht genau darin, dass alles zum Verkauf steht, und die Arbeiterbewegung weiss dies seit 1848: „Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt (...) Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ So formulierten es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest: Es zeigt nur, wie gültig ihre Prinzipien heute bleiben!
Fairer Handel statt freier Handel?
„Fairer Handel, nicht freier Handel!“ war ein anderes Hauptthema auf dem ESF, das durch die Anwesenheit französischer Kleineigentümer mit ihrem „Bio“-Käse und anderen Produkten grossen Auftrieb erhielt. Wer sehe denn nicht auch gern die Bauern und kleinen Handwerker in der Dritten Welt anständig von den Früchten ihrer Arbeit leben? Wer möchte denn nicht die Dampfwalze der Agrarindustrie dabei aufhalten, die Bauern von ihrem Land zu werfen und zu Millionen in die Slums von Mexiko City und Kalkutta zu pferchen?
Doch wie in der Frage des Marktes sind auch hier schöne Gefühle ein schlechter Ratgeber.
Zunächst einmal ist an der „Freihandels“-Bewegung überhaupt nichts Neues. Das Geschäft mit der Wohltätigkeit (mit Gesellschaften wie Oxfam, die selbstverständlich auf dem ESF anwesend waren) hat „Freihandel“ für Handwerke praktiziert und seit über 40 Jahren deren Produkte in ihren Geschäften verkauft, ohne auch nur im Mindesten verhindert zu haben, dass Millionen von Menschen in Afrika, Asien oder Lateinamerika in die Armut gestürzt wurden.
Darüber hinaus ist dieser Slogan aus den Mündern der „Antikapitalisten“ gleich zweifach heuchlerisch. Jemand wie José Bové, Präsident der französischen Bauernunion, kann ausgiebig den antikapitalistischen Superstar spielen, indem er die Lebensmittelindustrie und den Teufel McDonalds denunziert. Dies hindert jedoch die Mitglieder derselben Bauernunion nicht daran, für die Forderung zu demonstrieren, die Subventionen, die sie im Rahmen der europäischen Agrarpolitik2 bekommen, aufrechtzuerhalten. Indem sie die Preise der französischen Agrarprodukte mit ihren Subventionen niedrig hält, ist gerade die EU-Agrarpolitik eines der Hauptinstrumente für die Aufrechterhaltung des unfairen Handels zum Vorteil des einen und unvermeidlich zum Nachteil des anderen. Ähnlich bedeutet „fairer Handel“ für die amerikanische Stahlindustrie, für die die Gewerkschafter in Seattle demonstriert hatten und wofür sie seither berühmt geworden sind, Zolltarife auf den Import „ausländischer“ Stahlprodukte, die billiger produziert werden, zu erheben. Letztendlich ist „fairer Handel“ lediglich ein anderer Name für Handelskriege.
Im Kapitalismus ist der Begriff der „Fairness“ ohnehin eine Illusion. Wie Engels es bereits 1881 in einem Artikel sagte, als er den Begriff des „gerechten Lohns“ kritisierte: „Die Gerechtigkeit der politischen Ökonomie, wie sie in Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die bestehende Gesellschaft beherrschen, diese Gerechtigkeit ist ganz anders auf der einen Seite – auf der des Kapitals.“ (Engels, Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk, 7. Mai 1881, Werke Bd. 19, S. 249/250)
Der dreisteste Schwindel in diesem ganzen Geschäft mit dem „fairen Handel“ ist die Idee, dass die Anwesenheit von „antiglobalistischen“ Demonstranten in Seattle oder Cancun die Verhandlungsführer aus den Drittweltländern ermutigt habe, gegen die Forderungen der „reichen Länder“ aufzubegehren. Wir wollen hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, dass der Gipfel von Cancun in einer bitteren Niederlage für die schwächeren Länder endete, da die Europäer nicht ihre Agrarpolitik ändern und die Amerikaner damit fortfahren, die amerikanischer Farmer massiv gegen die Billigimporte aus den armen Ländern zu subventionieren. Nein, was wirklich widerwärtig ist, ist, darauf zu vertrauen, dass die Regierungsmitglieder und die Bürokraten der Drittweltländer an diesen Verhandlungen teilnahmen, um die Bauern und Armen zu vertreten. Das Gegenteil ist der Fall! Um nur ein Beispiel zu nehmen: Als Brasiliens Lula die US-Zolltarife denunzierte, die auf importierten Orangensaft erhoben wurden, um die amerikanische Orangenindustrie zu schützen, da hatte er nicht die armen Bauern im Sinn, sondern die enormen kapitalistischen Orangenplantagen Brasiliens, wo die Arbeiter ähnlich schuften wie auf den Orangenplantagen Floridas.
Keine Unterstützung des bürgerlichen Staates!
Der gemeinsame Faden, der sich durch all diese Themen zieht, ist folgender: Gegen die „Neoliberalen“ und die „transnationalen“ Gesellschaften (jene üblen „Multis“, gegen die die antiglobalistischen Vorgänger bereits in den 70er-Jahren gewettert hatten) werden wir dazu angehalten, unser Vertrauen in den Staat zu setzen oder, noch besser, den Staat zu stärken. Die „Antiglobalisten“ behaupten, dass das Business die Macht vom „demokratischen“ Staat konfisziert habe, um seine eigenen „kommerziellen“ Gesetze durchzusetzen, und dass daher der „Widerstand der Bürger“ notwendig sei, um die Staatsmacht und den „öffentlichen Dienst“ wiederzubeleben.
Welch ein Gaunerstück! Nirgendwo ist heute der Staat präsenter als in der Wirtschaft, auch in den Vereinigten Staaten. Es ist der Staat, der den Weltmarkt reguliert, indem er die Leitzinsen, Zolltarife usw. festlegt. Der Staat ist der Hauptakteur in der nationalen Binnenwirtschaft, mit öffentlichen Ausgaben von – abhängig von Land zu Land – 30 bis 50 % des BSP und mit ständig wachsenden Staatsdefiziten. Noch wichtiger als dies ist Folgendes: Wann immer die Arbeiter kapieren, dass sie ihre Lebensbedingungen gegen die Angriffe der Kapitalisten verteidigen müssen – wer, wenn nicht die Polizeikräfte des Staates, stellt sich ihnen gleich von Anbeginn in den Weg? Zu fordern – wie es die „Antiglobalisten“ tun“ – dass der Staat gestärkt werden soll, damit er uns gegen die Kapitalisten verteidigt, ist wirklich ein gigantischer Schwindel: Der bürgerliche Staat ist dafür da, die Bourgeoisie gegen die Arbeiter zu beschützen, und nicht umgekehrt. 3
Es kommt nicht von ungefähr, dass das ESF diesen Aufruf fabriziert, den Staat und besonders seine linken Fraktionen zu unterstützen, die als die besten Vertreter der „Zivilgesellschaft“ gegen den „Neoliberalismus“ vorgestellt werden. Wie das Sprichwort sagt, bestimmt der die Melodie, der auch zahlt, und es ist äusserst aufschlussreich, einen Blick auf die Finanziers der 3,7 Millionen Euro Kosten für das ESF zu werfen:
– Zunächst einmal trugen die lokalen Behörden von Seine-St.Denis, Val de Marne und Essonne mehr als 600.000 Euros dazu bei, während die Stadt von St.Denis allein 570.000 Euros abzweigte.4 In der Tat ist es die französische „Kommunistische“ Partei – jene stalinistische Schurkenbande – die nach Jahren der Komplizenschaft an den vom stalinistischen Staat in Russland begangenen Verbrechen und nach Jahrzehnten der Sabotage des Arbeiterkampfes ihre politische Unschuld käuflich wiedererwerben möchte.
– Die französische Sozialistische Partei ist durch die Angriffe, die sie in ihrer Regierungszeit gegen die Arbeiter unternommen hatten, am meisten diskreditiert, und es ist wahr, dass die Zuhörer auf dem ESF nicht die Gelegenheit versäumten, sich über Laurent Fabius (einen bekannten sozialistischen Führer) lustig zu machen, als er es wagte, sich in den Debatten einzumischen. Man könnte meinen, dass die PS nicht versessen auf das ESF ist, doch ganz im Gegenteil! Die Stadt Paris (kontrolliert von der PS) trug eine Million Euro zur Begleichung der Kosten des ESF bei.
– Und die französische Regierung? Eine rechte, durch und durch neoliberale französische Regierung, in Artikeln, Flugblättern und Plakaten von der gesamten Linken, von den Anarchisten bis zu den Stalinisten, denunziert – wird sie nicht wenigstens beunruhigt sein, wenn sie sieht, dass das Forum so viele Menschen anzieht? Nein, überhaupt nicht! Durch die persönliche Anordnung des Präsidenten Jacques Chirac trug das Aussenministerium 500.000 Euros für das ESF bei.
Wer zahlt, möchte sicherlich einen Profit erzielen! Das ESF wurde von der gesamten französischen Bourgeoisie, von der Linken bis zur Rechten, grosszügig finanziert und ausgehalten. Und nun beabsichtigt die gesamte französische Bourgeoisie, von links bis rechts, vom unbestreitbaren Erfolg des ESF zu nutzniessen, und zwar besonders auf zwei Ebenen:
– Erstens ist das ESF ein Mittel für den linken Flügel des Staatsapparates, sich selbst zu erneuern (nachdem er durch die Jahre an der Regierung diskreditiert wurde, wo er den Lebensbedingungen der Arbeiter einen Schlag nach dem anderen versetzt und die Verantwortung für die imperialistische Politik des französischen Imperialismus übernommen hatte). Da politische Parteien nicht mehr in Mode sind, verkleiden sie sich als „Vereine“, um sich selbst einen Hauch von „Bürger“, „Demokratie“, „Netzwerk“ zu verleihen: Die KPF trat in der Form ihrer „Espace Karl Marx“ auf, die PS mit ihrer „Fondation Léo Lagrange“ und „Jean Jaurès“.5 Wir sollten betonen, dass nicht nur die Linke ein Interesse daran hat, uns ihre vergangenen Untaten vergessen zu machen – was eh jedem klar ist. Die gesamte herrschende Klasse hat ein Interesse daran, die gesellschaftlichen Fronten zu kaschieren, sicherzustellen, dass die Arbeiterkämpfe – ja, viel allgemeiner, der Abscheu und das Hinterfragen, die durch die kapitalistische Gesellschaft provoziert werden – in die Richtung der alten reformistischen Rezepte gelenkt werden, und zu verhindern, dass es zu einer Bewusstseinsbildung kommt, die notwendig ist, um die kapitalistische Ordnung zu stürzen und all ihren Krankheiten ein Ende zu bereiten.
– Zweitens hat die gesamte französische Bourgeoisie ein Interesse an der Ausweitung und Stärkung der deutlich antiamerikanischen Atmosphäre auf dem ESF. Die enorme Zerstörung und der fürchterliche Menschenverlust in den beiden Weltkriegen und vor allem die Wiederbelebung des Klassenkampfes sowie das Ende der Konterrevolution 1968 haben dazu beigetragen, den Nationalismus zu diskreditieren, den die Bourgeoisie dazu benutzt, um die Völker wie 1914 oder 1939 in das Gemetzel zu schicken. Konsequenterweise haben, auch wenn es nicht so etwas wie einen „europäischen Block“ und noch weniger eine „europäische Nation“ gibt, die Bourgeoisien der verschiedenen europäischen Länder, besonders in Frankreich und Deutschland, ein Interesse daran, das Entstehen eines antiamerikanischen und eines vagen „pro-europäischen“ Gefühls zu ermutigen, mit der Absicht, die Verteidigung ihrer eigenen imperialistischen Interessen gegen den US-Imperialismus als die Verteidigung einer „anderen“ oder gar „antikapitalistischen“ Weltsicht zu präsentieren. Zum Beispiel ist die „antiglobalistische“ Unterstützung für einen Bann gegen den Import von amerikanischen GMOs nach Frankreich im Namen der „Ökologie“ und der „Verteidigung der öffentlichen Gesundheit“ in Wahrheit nichts anderes als eine Episode im Wirtschaftskrieg, dazu bestimmt, der französischen Forschung Zeit zu geben, mit ihren amerikanischen Rivalen auf diesem Gebiet gleichzuziehen.6
Moderne Marketingtechniken verkaufen Produkte nicht mehr direkt, sie benutzen ein ganzes System, das sowohl subtil als auch effektiver ist: Sie verkaufen eine „Weltsicht“, einen „Life Style“, dem sie Produkte beifügen, die angeblich jenen Stil verkörpern. Die Organisatoren des ESF nutzen exakt dieselbe Methode: Sie offerieren uns eine unwahre „Weltsicht“, in der Kapitalismus nicht mehr kapitalistisch ist, die Nationen nicht mehr imperialistisch sind und eine „andere Welt“ ohne kommunistische Revolution möglich ist. Sodann versuchen sie im Namen dieser „Vision“, uns alte Produkte mit längst überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum unterzujubeln: die so genannten „kommunistischen“ und „sozialistischen“ Parteien, bei dieser Gelegenheit als „Bürgerinitiativen“ verkleidet.
Da die französische Bourgeoisie die Gelder für dieses Ereignis herausgerückt hat, ist es nur normal, dass ihre politischen Parteien die ersten sein wollen, die vom ESF profitieren. Doch sollten wir uns nicht einbilden, dass diese Angelegenheit allein von der französischen herrschenden Klasse inszeniert worden war – bei weitem nicht. Die Kampagne zur Erneuerung der Glaubwürdigkeit des linken Flügels der Bourgeoisie, in mannigfaltigen europäischen und weltweiten „Sozialforen“ praktiziert, dient der gesamten kapitalistischen Klasse weltweit.
Eine andere libertäre Welt?
Das „Libertäre Sozialforum“ war ausdrücklich als eine Alternative zum eher „offiziellen“ Forum angekündigt worden, das von den grossen bürgerlichen Parteien organisiert worden war. Man mag sich die Frage stellen, wie alternativ Ersteres tatsächlich war: Einer der Hauptorganisatoren des LSF (die Alternative Libertaire) nahm auch als aktiver Part am ESF teil und die LSF-Demonstration schloss sich nach einem kurzen „unabhängigen“ Bummel der grossen ESF-Demo an.
Wir beabsichtigen nicht, ausführlich darüber zu berichten, worüber auf dem LSF gesprochen wurde, und wollen nur einige der wichtigen Themen erwähnen.
Wir wollen mit der „Debatte“ über „selbstverwaltete Räume“ (Hausbesetzungen, Wohngemeinschaften, Dienstleistungsnetzwerke, „Alternative Cafés“, etc.) beginnen. Wenn wir das Wort „Debatte“ in Anführungszeichen setzen, dann deshalb, weil die Diskussionsleitung alles Mögliche tat, um die Diskussion auf blosse Beschreibungen der entsprechenden „Freiräume“ durch die Teilnehmer zu beschränken und jede Art der kritischen Einschätzung selbst aus dem anarchistischen Lager zu verhindern. Es wurde schnell offenbar, dass „self-management“ etwas sehr Relatives ist: Ein Teilnehmer aus Grossbritannien erklärte, dass sie ihren „Freiraum“ für die erkleckliche Summe von £ 350.000 (500.000 Euros) erkauft haben; andere zählten die Gründung eines „Freiraums“ .... im Internet auf, eine Kreation der, wie wir alle wissen, US DARPA.7
Noch verräterischer war die Praxis, die diese vielfältigen „Freiräume“ vorschlugen: eine freie und „alternative“ Pharmazie (d.h. Amateur-Kräutermittel), legale Beratungsdienste, Cafés, Austausch von Diensten, etc. Mit anderen Worten, eine Mischung aus kleinen Ladenbesitzern und Sozialdiensten, die gerade von den staatlichen Kürzungen abgeschafft wurden. Mit anderen Worten: Das Äusserste im anarchistischen Radikalismus ist es, staatliche Funktionen zu übernehmen, ohne dafür bezahlt zu werden.
Eine andere Debatte über „unentgeltliche öffentliche Dienste“ enthüllte in aller Vollständigkeit die Leere des offiziellen, ehrbaren Anarchismus. Es wurde behauptet, dass die „öffentlichen Dienste“ irgendwie eine Opposition gegen die Marktwirtschaft in sich trügen, indem sie Bedürfnisse der Bevölkerung umsonst befriedigen – und „selbstverwaltet“ selbstverständlich, mit Kundenkomitees, Produzentenkomitees und Gemeindekomitees. Diese Komitees und die „lokalen Komitees“, die derzeit vom französischen Staat für die Bewohner der Pariser Vorstädte aufgebaut werden, gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Die Frage wurde so gestellt, als sei es möglich, eine institutionelle Opposition innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu installieren, zum Beispiel indem man einen unentgeltlichen öffentlichen Verkehr etabliert.
Ein weiteres Kennzeichen des Anarchismus, das auf dem LSF stark zum Vorschein kam, ist seine tief verwurzelte elitäre und erzieherische Natur. Der Anarchismus will nicht wahrnehmen, dass eine „andere Welt“ aus dem Zentrum der gegenwärtigen Widersprüche in der Welt entstehen kann. In Folge dessen kann er sich einen Übergang von der heutigen zur künftigen Welt lediglich in der Form des „guten Beispiels“ vorstellen, das von den „selbstverwalteten Räumen“ auf erzieherische Weise gegen die Krankheiten des heute vorherrschenden „Produktivismus“ vorexerziert werden soll. Doch wie Marx bereits vor mehr als einem Jahrhundert sagte: Wenn eine neue Gesellschaft dank der Erziehung des Volkes entsteht, wer erzieht dann die Erzieher? Denn diejenigen, die vorhaben, die Erzieher zu sein, sind selbst von der Gesellschaft geformt, in der wir leben, und ihre Ideen von einer „anderen Welt“ bleiben in Wahrheit tief verankert in der Welt von heute.
Im Kern servierten uns die beiden „Sozialforen“ in der Verkleidung neuer und revolutionärer Ideen nichts anderes als altes Gedankengut, das sich seit langem als untauglich, wenn nicht vollständig konterrevolutionär gezeigt hatte.
Die „selbstverwalteten Räume“ erinnern an die Kooperativen und an ähnliche Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, ganz zu schweigen von den Arbeiter-„Kollektiven“ unserer Zeit (von Lip in Frankreich bis hin zu Triumph in Grossbritannien), die entweder bankrott gingen oder gewöhnliche kapitalistische Unternehmen blieben, eben weil sie gezwungen waren, innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft zu produzieren und zu verkaufen. Sie erinnern ebenfalls an jene „Gemeinschafts“-Unternehmen der 70er-Jahre (Hausbesetzungen, Gemeinschaftskomitees, „freie Schulen“), die darin endeten, als soziale Dienste in den bürgerlichen Staat integriert zu werden.
All diese Ideen mittels einer radikalen Umwandlung kraft kostenloser öffentlicher Dienste erinnern an den Reformismus, der bereits eine Illusion der Arbeiterbewegung um 1900 gewesen war und der 1914 den totalen Bankrott erlebte, als er Partei ergriff für „seinen eigenen“ Staat, um dessen „Errungenschaften“ gegen den imperialistischen „Aggressor“ zu verteidigen. Diese Ideen erinnern an die Schaffung des „Wohlfahrtsstaates“ durch die herrschende Klasse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, um das Management und die Mystifikation der Arbeitskraft (insbesondere durch den „Beweis“, dass die Millionen von Opfern nicht umsonst gestorben seien) zu rationalisieren.
Unsere Welt geht mit einer neuen Welt schwanger
Im Kapitalismus wie in jeder Klassengesellschaft ist es absolut unvermeidlich, dass die vorherrschenden Gedanken die Gedanken der herrschenden Klasse sind. Es ist nur deshalb möglich, die Notwendigkeit und die materielle Möglichkeit einer kommunistischen Revolution zu verstehen, weil innerhalb der kapitalistischen Welt eine Gesellschaftsklasse existiert, die diese revolutionäre Zukunft bereits in sich verkörpert: die Arbeiterklasse. Im Gegensatz dazu können wir, wenn wir nur einfach versuchen, uns „vorzustellen“, wie eine „bessere“ Gesellschaft auf der Basis unserer Wünsche und Vorstellungen, wie sie heute von der kapitalistischen Gesellschaft (und entsprechend dem Modell unserer anarchistischen „Erzieher“) geformt werden, aussehen müsste, nichts anderes tun, als die gegenwärtige kapitalistische Welt „neu zu erfinden“, indem wir entweder dem reaktionären Traum der Kleinproduzenten, die nicht weiter blicken können als bis zum Ende ihres „selbstverwalteten Raumes“, oder dem mega-monströsen Delirium eines wohltätigen Weltstaates à la George Monbiot anheimfallen.8
Der Marxismus dagegen, innerhalb der kapitalistischen Welt von heute die Voraussetzungen der neuen Welt zu entdecken, die die kommunistische Revolution zum Leben erwecken müssen, falls die Menschheit ihrem Verderben entgehen will. Wie es das Kommunistische Manifest 1848 formulierte: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“9
Wir können drei gesonderte, aber miteinander verwobene Hauptelemente in dieser „unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“ unterscheiden.
Das erste ist die Umwandlung, die der Kapitalismus im Produktionsprozess der gesamten menschlichen Spezies bereits vollzogen hat. Ein ganz alltägliches Objekt dieser Umwandlung ist die Arbeit, die nicht mehr das Werk eines selbstgenügsamen Handwerkers oder lokaler Fabrikation ist, sondern die gemeinsame Arbeit von Tausenden, wenn nicht Zehntausenden von Männern und Frauen, die an einem Netzwerk teilhaben, das sich über den ganzen Planeten erstreckt. Durch die kommunistische Weltrevolution von den Zwängen der kapitalistischen Marktverhältnisse für die Produktion und der privaten Aneignung ihrer Früchte befreit, wird die Zerstörung allen lokalen, regionalen und nationalen Partikularismus die Grundlage für die Konstitution einer einzigen menschlichen Gemeinschaft auf Weltebene sein. Der Fortschritt in der gesellschaftlichen Umwandlung und die Bekräftigung eines jeglichen Aspektes des gesellschaftlichen Lebens in dieser weltweiten Gemeinschaft wird zum Verschwinden aller Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen, den Völkern und Nationen (wozu die Bourgeoisie heute ermutigt, um die Arbeiterklasse zu spalten) führen. Es ist absehbar, dass Bevölkerungen und Sprachen so weit vermischt werden, bis keine Europäer, Afrikaner oder Asiaten (und schon gar nicht Katalanen, Bretonen und Basken!) mehr existieren, sondern eine vereinte menschliche Spezies, deren intellektuelle und künstlerische Produktion in einer einzigen Sprache ihren Ausdruck finden, die von allen verstanden und unendlich reicher, präziser und harmonischer als jene sein wird, in denen die begrenzte und zerfallende Kultur von heute ihren Ausdruck findet.10
Das zweite Hauptelement, das mit dem ersten eng verknüpft ist, ist die Existenz einer Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft, die an ihrem höchsten Punkt diese Realität eines internationalen und vereinten Produktionsprozesses verkörpert und ausdrückt. Ob sie amerikanische Stahlarbeiter, britische Arbeitslose, französische Behördenangestellte, deutsche Maschinenschlosser, indische Programmierer oder chinesische Bauarbeiter sind, all diese Arbeiter haben eins gemeinsam: dass sie immer unerträglicher ausgebeutet werden durch die globale kapitalistische Klasse und dass sie sich dieser Ausbeutung nur entledigen können, wenn sie die kapitalistische Ordnung an sich stürzen.
Wir sollten an dieser Stelle zwei Aspekte in der Natur der Arbeiterklasse hervorstreichen:
– Zuallererst ist die Arbeiterklasse, anders als die Bauern oder kleinen Handwerker, ein Geschöpf des Kapitalismus, das unabdingbare Notwendigkeit für diese Gesellschaft ist ohne diesem sie nicht leben kann. Der Kapitalismus konnte die Bauern und die Handwerker unterdrücken, sie auf den Status von Proletariern reduzieren – oder zur Arbeitslosigkeit verdammen, wie in der gegenwärtigen dekadenten Ökonomie. Doch der Kapitalismus kann nicht ohne das Proletariat existieren. So lange wie der Kapitalismus existiert, wird auch das Proletariat existieren. Und so lange das Proletariat existiert, wird es in sich das revolutionäre kommunistische Projekt des Sturzes des Kapitalismus und des Aufbaus einer anderen Welt tragen.
– Ein anderes fundamentales Kennzeichen der Arbeiterklasse liegt in der Bewegung und der Vermischung von Völkern, um auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion zu antworten. „Die Arbeiter haben kein Vaterland“, wie das Manifest sagt, nicht nur weil sie kein Eigentum besitzen, sondern auch weil sie dem Kapital und dessen Anforderungen an die Arbeitskraft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Die Arbeiterklasse ist durch ihre eigentliche Natur eine Klasse von Immigranten. Um sich davon zu überzeugen, müssen wir lediglich die Bevölkerung in jeder grösseren Industriestadt betrachten: Die Strassen sind voller Männer und Frauen aus allen Herren Länder. Doch dies trifft auch auf die unterentwickelten Länder zu: An der Elfenbeinküste sind viele Landarbeiter Burkinabé, südafrikanische Bergarbeiter kommen aus allen Landesteilen, aber auch aus Simbabwe und Botswana, Arbeiter am Persischen Golf kommen aus Indien, Palästina oder von den Philippinen, in Indonesien gibt es Millionen von ausländischen Arbeitern in den Fabriken. Diese Realität der Arbeiterexistenz – die das Vermischen der Völker vorausnimmt, von der wir weiter oben gesprochen hatten – demonstriert die Zwecklosigkeit des von Anarchisten und Demokraten lieb gewonnenen Ideals lokaler oder regionaler „Gemeinschaften“. Um nur ein Beispiel zu nehmen: Was kann der schottische Nationalismus der Arbeiterklasse Schottlands, die sich zum Teil aus asiatischen Immigranten zusammensetzt, bestenfalls anbieten? Nichts natürlich. Die einzig wahre Gemeinschaft, die Arbeiter, die von ihren Wurzeln gekappt wurden, finden können, ist die weltweite Gemeinschaft, die sie nach der Revolution errichten werden.
– Das dritte Hauptelement, das wir hier unterstreichen wollen, kann in einer einzigen Statistik zusammengefasst werden: In allen Klassengesellschaften, die dem Kapitalismus vorausgingen, bearbeiteten (mehr oder weniger) 95% der Bevölkerung das Land, und der Mehrwert, den sie produzierten, reichte gerade aus, um die anderen 5% (Kriegsherren und die Kirche, aber auch Kaufleute, Handwerker, etc.) zu ernähren. Heute hat sich diese Logik in ihr Gegenteil verkehrt, da in den entwickeltsten Ländern selbst die Produktion von materiellen Waren immer weniger Arbeiter beschäftigt. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der physischen Kapazität des Produktionsapparates hat die Menschheit einen Grad an Überfluss erreicht, der alle Ziele und Ambitionen möglich macht.
Bereits unter dem Kapitalismus haben die menschlichen Produktionskapazitäten eine – im Vergleich zur gesamten früheren Geschichte – qualitativ neue Situation geschaffen: Während zuvor der Mangel und manchmal auch der nackte Hunger das Los breiter Bevölkerungsmassen war, vor allem wegen der natürlichen Grenzen der Produktion (niedrige Produktivität auf dem Land, geringe Ernten), sind unter dem Kapitalismus die einzigen Gründe für Mangel die kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst. Die Krise, die die Arbeiter auf die Strasse wirft, wird nicht von einem unzureichenden Produktionsniveau verursacht: Im Gegenteil, sie ist das direkte Resultat der Unmöglichkeit alles zu verkaufen, was produziert wird.11 Darüber hinaus hat in den so genannten „fortgeschrittenen“ Ländern ein immer weiter wachsender Teil der Wirtschaftsaktivitäten absolut keinen Nutzen ausserhalb des kapitalistischen Systems selbst: Finanz- und Börsenspekulation aller Art, astronomische Rüstungsetats, Modeartikel, „künstliche Alterung“, womit bezweckt wird, die Erneuerung des Produkts zu forcieren, Werbung etc. Wenn wir weiter schauen, wird deutlich, dass der Gebrauch der globalen Ressourcen auch von der wachsend irrationalen – ausser vom Standpunkt der kapitalistischen Profitabilität – Funktionsweise der Wirtschaft beherrscht wird: Stunden, die Millionen von Menschen auf dem täglichen Weg von und zur Arbeit verbringen, oder der Transport von Frachten auf der Strasse statt auf der Schiene, um auf die unvorhersehbaren Erfordernisse eines anarchischen Produktionsprozess zu reagieren etc. Kurz, das Verhältnis zwischen dem Zeitaufwand für die Produktion zur Befriedigung der Minimalbedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Obdach) und dem für die Produktion „über das Minimum hinaus“ (um es mal so zu formulieren) ist vollständig umgekippt.12
Die Geburt einer planetarischen Gemeinschaft
Wenn wir auf Demonstrationen oder vor den Fabriktoren unsere Presse verkaufen, werden wir häufig mit derselben Frage konfrontiert: „Was ist denn Kommunismus, wenn Ihr sagt, dass er nie existiert hatte?“ In einer solchen Lage versuchen wir, eine Antwort zu geben, die sowohl allgemein als auch kurz ist, und wir antworten daher oft: „Der Kommunismus ist eine Welt ohne Klassen, ohne Nationen und ohne Geld.“ Auch wenn diese Definition sehr einfach klingt (und negativ, denn sie definiert den Kommunismus als etwas „ohne...“), enthält sie dennoch die grundlegenden Kennzeichen einer kommunistischen Gesellschaft:
– Sie wird ohne Klassen sein, weil sich das Proletariat nicht selbst befreien kann, indem es eine neue ausbeutende Klasse wird: Das Wiederauftreten einer ausbeutenden Klasse nach der Revolution würde tatsächlich die Niederlage der Revolution und das Überleben der Ausbeutung bedeuten.13 Das Verschwinden der Klassen entspringt ganz natürlich den Interessen einer siegreichen Arbeiterklasse, ihrer eigenen Emanzipation. Eines der ersten Ziele der Klasse wird darin bestehen, die Arbeitszeit zu reduzieren, indem die Arbeitslosen und die Massen ohne Arbeit in der Dritten Welt, aber auch das Kleinbürgertum, die Bauern und sogar die Mitglieder der gestürzten Bourgeoisie in den Produktionsprozess integriert werden.
– Sie wird ohne Nationen sein, weil der Produktionsprozess bereits weit über den nationalen Rahmen hinausgegangen ist und dabei die Nation als organisatorischen Rahmen für die menschliche Gesellschaft überflüssig gemacht hat. Durch die Schaffung der ersten weltweiten Gesellschaft ist der Kapitalismus bereits über den nationalen Rahmen hinaus geschritten, innerhalb dessen er geboren wurde. So wie die bürgerliche Revolution alle feudalen Partikularitäten und Grenzen (Steuern auf den Transport von Waren innerhalb der nationalen Grenzen, spezifische Gesetze, Gewichte und Masseinheiten, die in dieser oder jener Stadt und Region galten) zerstört hat, so wird die proletarische Revolution der letzten Spaltung der Menschheit, die Spaltung in Nationen, ein Ende bereiten.
– Sie wird ohne Geld sein, weil der Begriff des Austausches keine Bedeutung im Kommunismus hat, dessen Überfluss die Befriedigung der Bedürfnisse jedes Gesellschaftsmitglieds erlauben wird. Der Kapitalismus hat die erste Gesellschaft geschaffen, wo der Warenaustausch auf die Gesamtheit der Produktion ausgeweitet ist (im Gegensatz zu früheren Gesellschaften, wo der Warenaustausch im Wesentlichen auf Luxusgüter oder bestimmte Artikel beschränkt blieb, die, wie das Salz, nicht überall produziert werden konnten). Heute wird der Kapitalismus durch seine Unfähigkeit stranguliert, alles auf dem Markt zu verkaufen, was er zu produzieren imstande ist. Die eigentliche Tatsache des Kaufens und Verkaufens ist zu einer Barriere für die Produktion geworden. Der Austausch wird daher verschwinden. Mit ihm wird auch die Idee der Ware verschwinden, einschliesslich der allerersten Ware: die Lohnarbeit.
Diese drei Prinzipien sind den Gemeinplätzen der bürgerlichen Ideologie diametral entgegengesetzt, nach der es eine gierige und gewalttätige „menschliche Natur“ gibt, die die Spaltungen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten oder zwischen Nationen verewigt. Natürlich eignet sich diese Idee der „menschlichen Natur“ bestens für die Bourgeoisie, rechtfertigt sie doch ihre Klassenherrschaft und hindert die Arbeiterklasse daran, klar und deutlich zu identifizieren, was tatsächlich für das Elend und die Massaker, die die Menschheit heute überwältigen, verantwortlich ist. Aber dies hat rein gar nichts mit der Realität zu tun: Während die „Natur“ (d.h. das Verhalten) anderer Tierarten von ihrer natürlichen Umgebung bestimmt wird, wird die „menschliche Natur“ um so mehr von unserer gesellschaftlichen, nicht natürlichen Umgebung bestimmt, je mehr die Herrschaft des Menschen über die Natur voranschreitet.
Das umgewandelte Verhältnis zwischen Mensch und Natur
Die drei Punkte, die wir oben hervorgehoben haben, sind nicht mehr als äusserst kurze Skizzen. Dennoch haben sie tiefergehende Auswirkungen auf die kommunistische Gesellschaft von morgen.
Es ist richtig, dass Marxisten es stets vermieden haben, „Blaupausen“ zu entwerfen, erstens, weil der Kommunismus von der wirklichen Bewegung der grossen Massen der Menschheit aufgebaut wird, und zweitens, weil wir uns den Kommunismus noch viel weniger vorstellen können, als ein Bauer des 11. Jahrhunderts sich den modernen Kapitalismus vorstellen konnte. Dies hindert uns jedoch nicht daran, einige der allgemeineren Charakteristiken anzugeben, die aus dem folgen, was wir gerade gesagt haben (aus Platznot sehr kurz, versteht sich).
Wahrscheinlich wird die radikalste Änderung dem Verschwinden des Widerspruchs zwischen dem Menschen und seiner Arbeit entspringen. Die kapitalistische Gesellschaft hat den in einer Klassengesellschaft stets existierenden Widerspruch zwischen der Arbeit, mit anderen Worten: die Tätigkeit, die wir nur ausüben, weil wir dazu gezwungen werden, und der Freizeit, mit anderen Worten: die Zeit, in der wir unsere Aktivitäten (natürlich nur begrenzt) frei wählen können, auf die Spitze getrieben.14 Die Nötigung, die uns zu arbeiten zwingt, ist einerseits auf den Mangel, der uns durch die Grenzen der Arbeitsproduktivität aufgezwungen wird, und andererseits auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein Teil der Früchte der Arbeit von der ausbeutenden Klasse angeeignet wird. Im Kommunismus wird dieser Mangel nicht mehr existieren: Zum ersten Mal in der Geschichte wird die menschliche Spezies frei produzieren, und die Produktion wird ausschliesslich auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet sein. Wir können sogar annehmen, dass die Wörter „Arbeit“ und „Freizeit“ aus der Sprache verschwinden werden, da keine Aktivität aus schlichter Notwendigkeit unternommen wird. Die Entscheidung, zu produzieren oder nicht, wird nicht allein von der Nützlichkeit des zu produzierenden Dings abhängen, sondern auch von der Lust oder dem Interesse am Produktionsprozess selbst.
Die eigentliche Idee der „Befriedigung von Bedürfnissen“ wird ihren Charakter ändern. Grundbedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Obdach) werden einen immer weniger wichtigen Platz einnehmen, während die Bedürfnisse, die von der gesellschaftlichen Entfaltung der Spezies bestimmt werden, immer mehr in den Vordergrund rücken. Es wird keine Unterscheidung mehr zwischen „künstlerischer“ und nicht-künstlerischer Arbeit geben. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft, die den Widerspruch zwischen „Kunst“ und „Nicht-Kunst“ auf die äusserste Spitze getrieben hat. Erst mit dem Aufstieg des Kapitalismus begann der Künstler, sein Werk zu unterzeichnen, und wurde die Kunst zu einer spezifischen Tätigkeit, die von der täglichen Produktion abgetrennt wurde. Heute hat diese Tendenz mit einer fast totalen Trennung zwischen den „schönen Künsten“ auf der einen Seite (unverständlich für die grosse Mehrheit der Bevölkerung und reserviert für eine dünne intellektuelle Minderheit) und der industrialisierten Kunstproduktion der Werbung und der „Popkultur“, beide reserviert für die „Freizeitaktivitäten“, ihren Höhepunkt erreicht. All dies ist nichts anderes als die Folge des Widerspruchs zwischen dem Menschen und seiner Arbeit. Mit dem Verschwinden dieses Widerspruchs wird auch der Widerspruch zwischen „nützlicher“ und „künstlerischer“ Produktion verschwinden. Schönheit, die Befriedigung der Sinne und des Geistes werden ebenfalls fundamentale menschliche Bedürfnisse sein, die der Produktionsprozess befriedigen Muss.15
Auch die Erziehung wird ihren gesamten Charakter ändern. In jeder Gesellschaft ist es der Zweck der Erziehung von Kindern, ihnen zu erlauben, ihren Platz in der erwachsenen Gesellschaft einzunehmen. Unter dem Kapitalismus bedeutet das „Einnehmen seines Platzes in der erwachsenen Gesellschaft“ für sie, ihren Platz in einem System brutaler Ausbeutung einzunehmen, wo diejenigen, die nicht profitabel sind, faktisch keinen Platz haben. Der Zweck der Erziehung (den uns die „alternativen Kosmopoliten“ als nicht „zum Verkauf“ stehend aufschwatzen) ist es daher vor allem, die neue Generation mit Fähigkeiten auszustatten, die notwendig sind, um das nationale Kapital gegen seine Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu stärken. Es ist ebenfalls klar, dass der Kapitalismus absolut kein Interesse daran hat, ein kritisches Verhalten gegenüber seiner eigenen gesellschaftlichen Organisation zu fördern. Kurz, der Zweck der Erziehung ist nichts anderes, als junge Menschen zu unterwerfen und sie nach der kapitalistischen Gesellschaft und den Erfordernissen ihres Produktionsprozesses zu gestalten; kein Wunder also, dass Schulen immer mehr zu Lernfabriken werden und die Lehrer wie Arbeiter am Fliessband wirken.
Im Kommunismus wird im Gegensatz dazu die Integration der Jungen in die erwachsene Welt die grösstmögliche Schärfung all ihrer physischen und intellektuellen Sinne fordern. In einem Produktionssystem, dass von den Erfordernissen des Profits völlig befreit sein wird, wird sich die erwachsene Welt dem Kind allmählich, entsprechend der Entwicklung seiner Fähigkeiten, öffnen, und der junge Erwachsene wird nicht mehr der peinigenden Erfahrung ausgesetzt sein, die Schule zu verlassen, um in einen grimmigen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt geworfen zu werden. So wie es keinen Widerspruch mehr zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ oder „Produktion“ und „Kunst“ geben wird, so wird es auch keinen Gegensatz zwischen der Schule und der „Welt der Arbeit“ geben. Die Wörter „Schule“, „Fabrik“, „Büro“, „Kunstgalerie“, „Museum“ werden verschwinden17 oder ihre Bedeutung völlig verändern, da die Gesamtheit der menschlichen Aktivität in einem harmonischen Bemühen zusammengefasst sein wird, um die physischen, intellektuellen und sinnlichen Bedürfnisse der Spezies zu entwickeln und zu befriedigen.
Die Verantwortung des Proletariats
Kommunisten sind keine Utopisten. Wir haben hier versucht, äusserst kurze und notwendigerweise beschränkte Skizzen dessen zu entwerfen, wie der neuen Gesellschaft aussehen Muss, die der heutige Kapitalismus in seinem Schoss trägt. In diesem Sinn ist der Slogan der „alternativen Kosmopoliten“, dass „eine andere Welt möglich ist“ (oder gar „andere Welten möglich sind“), eine reine Mystifikation. Nur eine andere Welt ist möglich: der Kommunismus.
Aber die Geburt dieser neuen Welt ist beileibe nicht unvermeidlich. In diesem Zusammenhang gibt es keinen Unterschied zwischen dem Kapitalismus und den anderen Klassengesellschaften, die ihm vorausgingen, wo „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Bnaron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte (...) in stetem Gegensatz zueinander (standen), (....) einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf (führten), einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“18 Mit anderen Worten: gleichgültig, wie notwendig sie ist, ist die kommunistische Revolution nicht unausweichlich. Der Übergang vom Kapitalismus in die neue Welt wird nicht möglich sein ohne die Gewalt der proletarischen Revolution als ihre unvermeidliche Geburtshelferin.19 Doch die Alternative unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen Zerfalls der heutigen Gesellschaft ist die Vernichtung nicht nur der beiden „kämpfenden Klassen“, sondern der gesamten menschlichen Art. Daher die gigantische Verantwortung, die auf den Schultern der weltweiten revolutionären Klasse lastet.
Von der heutigen Situation aus betrachtet, mag die Entwicklung der revolutionären Fertigkeiten des Proletariats als solch ein unmöglicher, abgehobener Traum erscheinen, dass die Versuchung gross ist, heute „irgendetwas zu tun“, selbst wenn dies bedeuten sollte, sich auf jene alten Schurken der stalinistischen und sozialistischen Parteien, anders ausgedrückt, den linken Flügel des bürgerlichen Staatsapparates, einzulassen. Doch für die revolutionären Minderheiten ist der Reformismus kein Notbehelf, den man mangels besserer Alternativen anwendet. Er ist im Gegenteil ein tödlicher Kompromiss mit dem Klassenfeind. Der Weg zur Revolution, der allein eine „andere Welt“ schaffen kann, wird lang und schwierig sein, aber es ist der einzige Weg, der existiert.