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Am 4. Dezember 2011 fanden in Russland die Parlamentswahlen statt. Der Wahlbetrug war so zynisch, dass sich Hunderttausende von Bürgern empörten. Zehntausende von Menschen nahmen an den Demonstrationen „für ehrliche Wahlen“ teil. In verschiedenen Städten des Landes gab es solche Demonstrationen. Man muss aber anmerken, dass die Mehrheit der Empörten sich mit demokratischen Illusionen für die Verbesserung des kapitalistischen Systems einsetzt, statt sich diesem mit den Mitteln des Klassenkampfes zu widersetzen.
Reiche und Arme zusammen auf der Straße
Die größten Demonstrationen fanden in Moskau statt, am 10. Dezember auf dem Balotnaia-Platz und am 24. Dezember in der Sacharov-Allee, wo die Anzahl der Teilnehmer_innen auf einige Zehntausend geschätzt wurde. An den Protesten nahmen verschiedene politische Kräfte teil. Man sah die Banner der Liberalen neben den roten Flaggen, die Nationalisten neben den rotschwarzen Fahnen der Anarchisten. Aber die Mehrheit der Teilnehmer_innen war keiner Organisation oder Tendenz zugehörig.
Die wichtigste Forderung der Demonstration war die nach „ehrliche Wahlen“. Viele Leute, die nicht politisch engagiert sind, wollten nichts anderes, als dass sich die Behörden den Gesetzen unterwerfen und friedliche, demokratische Veränderungen stattfinden. Im Allgemeinen hatte die große Masse kein offenes Ohr für revolutionäre Aufrufe oder radikale Aktionen.
Man muss auch sagen, dass die Zusammensetzung der Teilnehmenden buntscheckig war. Man fand Geschäftsleute, alte Mitglieder der Regierung (den ehemaligen Premierminister Mikhail Kassianov), Stars aus dem Showbusiness, bekannte Journalisten und sogar eine Vertreterin der High Society wie Xenia Sabchak, deren Vater Anatoli Sabchak als graue Eminenz von Putins Politik bezeichnet wird. Andererseits gab es viele gewöhnliche Leute: Büroangestellte, Student_innen, Arbeiter_innen, Rentner_innen, Arbeitslose ... Einigen Beobachtern zufolge war die Anzahl von Proletarier_innen in anderen Städten, abgesehen von Moskau und St. Petersburg, größer als in diesen.
Die Gründe der Proteste und die Reaktion des Kremls
Es steht außer Zweifel, dass die weltweite ökonomische Krise auch in Russland die Rolle des Katalysators in den Protesten gespielt hat. Trotz des von offizieller Seite propagierten Optimismus spüren die gewöhnlichen Leute je länger je mehr die Krise. Der Wahlbetrug der Parlamentswahlen von 2011 diente einzig als Vorwand für die Massenproteste. Die Forderung nach „ehrlichen Wahlen“ war das Leitmotiv fast aller Proteste, vom Fernen Osten bis zu den Zentren Russlands.
Das Internet ist die wichtigste Waffe der Opponenten Putins geworden. Im Internet kann man Hunderte, wenn nicht Tausende von Videos anschauen, auf denen laut ihren Herstellern der Wahlbetrug festgehalten ist. Im Übrigen hat aber niemand die Glaubwürdigkeit dieser Videos überprüft. Die Empörung hat im Wahlbetrug einen formellen Aufhänger gefunden. Wie wir oben schon gesagt haben, ist aber ihr wichtigster Grund die Unzufriedenheit von Millionen von Menschen über ihre Lebensverhältnisse.
Auf der anderen Seite wird von offizieller Seite behauptet, dass die Anschuldigungen des Wahlbetrugs haltlos seien. Der Kreml lancierte eine mediale Kampagne, in der behauptet wurde, die Proteste ständen unter dem Einfluss westlicher Agenten, die in Uncle Sam‘s Dienste arbeiteten.
Durch diese generelle Unzufriedenheit war Putin trotz allem gezwungen, gewisse Konzessionen zu machen. Zum Beispiel machte Medwedew gewisse demokratische Versprechen, namentlich dass die Gouverneure der Republiken wieder von den Bürger_innen gewählt werden sollen, welches Recht Putin unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung abgeschafft hatte.
Die demokratischen Illusionen
Es steht außer Zweifel, dass die Unzufriedenheit soziale Gründe hat. Russland geht wie andere Teile der Weltwirtschaft durch eine Krise. Die Arbeiter_innen Russlands und der anderen Länder beginnen zu verstehen, dass der Kapitalismus ihnen keine strahlende Zukunft zu bieten hat. Aber dieses Gefühl hat sich noch nicht in Klassenbewusstsein verwandelt. Die demokratischen Illusionen, die von der bürgerlichen Propaganda verbreitet werden, behindern die Bewusstseinsbildung. Leider verstehen viele nicht, dass Wahlen, wie Marx richtig bemerkte, nur das Recht der Unterdrückten sind, alle paar Jahre die Vertreter der herrschenden Klasse zu wählen. Dabei verändert sich aber das Gesicht der Macht nicht. Es bleibt kapitalistisch und ausbeuterisch. Was macht es für einen Unterschied, ob man diesen oder jenen Präsidenten hat, diesen oder jenen Vertreter? Die Proletarier_innen, die Lohnabhängigen, die Hand- und Kopfarbeiter_innen, die von den Produktionsmitteln und der politischen Macht getrennt sind, bleiben ausgebeutet. Die Arbeiter_innen werden nicht die soziale Emanzipation erlangen, außer sie stürzen das System, wie z.B. in der Pariser Kommune oder in den Arbeiterräten von 1905 und 1917. Nur mit einem Wechsel des Systems ist es möglich, die Ausbeutung abzuschaffen.
Die Anführer der Opposition gegen Putin
Die Liberalen, die Linke (vor allem Stalinisten), Nationalisten, haben sich an die Spitze dieser Bewegung gestellt. Zusammen haben sie das Koordinationszentrum „ Für ehrliche Wahlen“ gebildet.
Unter den „Anführern“ gibt es Figuren wie Boris Nemtsov, Vize-Premier unter Jelzin, der nicht wenig zur Verschlechterung der Lage der Arbeiter beigetragen hat.
Alles in allem erhalten die Opponenten Putins keinen großen Zuspruch von Seiten der Arbeiter_innen. Die Leute erinnern sich nur zu gut an die Armut, an die zurückgehaltenen Löhne und Renten, an die Zeit, in der die heutige Opposition an der Macht war. Die Führer der Opposition versuchen bloß, die aktuelle Unzufriedenheit für ihre Wahlziele auszunutzen. Es geht ihnen um die zukünftige Präsidentschaft. In den Protestdemonstrationen werden die Wähler_innen dazu aufgerufen, so abzustimmen, „wie es sich gehört“. Aber es ist klar, dass, selbst wenn die jetzige Opposition Putin ablösen sollte, dies keine Verbesserungen für die Arbeiter_innen bedeuten würde.
Die Aufgaben der Revolutionäre
Man weiß nur zu gut, dass die Forderung nach „ehrlichen“ Wahlen nichts mit dem Klassenkampf zu tun hat. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass unter den vielen Tausenden, die an diesen Demonstrationen teilgenommen haben, viele unserer Klassengenoss_innen sind. In einer solchen Situation müssen wir offen die demokratischen Illusionen kritisieren. Auch wenn es nicht dazu führt, dass wir uns bei den „Anhängern“ von „ehrlichen Wahlen“ beliebt machen. Ohne das Verständnis dafür, dass die eigentliche Grundlage dieser Probleme das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise ist, wird es keine Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins geben. Trotz der medialen Kampagnen um diese Wahlen müssen Revolutionäre die falschen Illusionen der bürgerlichen „Freiheiten“ entlarven. Auch wenn wir die Fehler der Teilnehmer_innen an den Demos für „ehrliche Wahlen“ kritisieren, sollte man aber nicht vergessen, dass es einen Unterschied zwischen der bürgerlichen „Opposition“ gibt, die diese Proteste für sich nutzen und sich bequeme Posten in den Organen der Macht ergattern will, und den gewöhnlichen Leuten, die ehrlich ihren Unmut über die Unverschämtheit und Dreistigkeit der Autoritäten im Kreml zum Ausdruck bringen.
Aber die Erfahrung zeigt, dass in so sterilen und unbedeutenden Protesten, wie sie die Demonstrationen von Moskau für die Machthaber waren, sehr schnell ein radikaler Geist erwachen kann. Vor Monaten noch konnte sich niemand vorstellen, dass Zehntausende auf die Straße gehen würden, um gegen das Regime Putins zu protestieren.
Es ist unsere revolutionäre Aufgabe, den wirklichen Charakter der Opposition als auch Putins zu entlarven. Wir müssen den Arbeiter_innen erklären, dass nur der autonome Klassenkampf für den Umsturz des Kapitalismus und den Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeutung ihre Probleme und die der ganzen Menschheit lösen können.
Sympathisant_innen der IKS in der ex-UdSSR (Januar 2012)