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Von den Bundestagswahlen vom 18. September in Deutschland wird behauptet, dass niemand als klarer Sieger daraus hervorgegangen sei. CDU/CSU ziehen zwar als stärkste Fraktion in den neuen Bundestag ein, haben dennoch eine empfindliche Wahlschlappe erlitten. Die SPD hat zwar im Verlauf des Wahlkampfes stark aufgeholt und dennoch ihr drittschlechtestes Ergebnis der Nachkriegszeit erzielt. Die FDP hat zwar zugelegt, so dass sie nunmehr wieder die drittstärkste Parlamentsfraktion geworden ist, und dennoch hat sie ihr Ziel der Ablösung von Rot-Grün durch eine Schwarz-Gelbe Koalition verfehlt. Zwar haben die Grünen ihre Stellung ungefähr halten können, erklärten sich aber am Wahlabend zunächst für abgewählt. Nur der Linkspartei-PDS, die auf Anhieb mehr Sitze als die Grünen errungen hat, wird so etwas wie ein Wahlsieg zugestanden. Dagegen gilt ausgerechnet der Standort Deutschland als der größte Verlierer dieser Wahlen. Dies nicht nur weil die Wirtschaft im In- und Ausland im Vorfeld auf eine Regierung aus CDU/CSU/FDP gesetzt habe, sondern v.a. weil der Einzug von politischer Instabilität in der zumindest in dieser Hinsicht bislang als äußerst stabil geltenden Bundesrepublik befürchtet wird. Zu diesem Szenario werden gezählt: Die Möglichkeit unklarer Mehrheitsverhältnisse, eine schwierige Regierungsbildung, das Fortdauern der gegenseitigen Blockade bestimmter Gesetze zwischen Bundestag und Bundesrat, sowie von erneuten vorgezogenen Wahlen. All dies könne dazu führen, das Tempo der Verwirklichung der von der herrschenden Klasse frenetisch eingeforderten "Reformen" zu drosseln.
Demgegenüber bleibt festzustellen, dass auf jeden Fall ein ganz eindeutiger Sieger aus den Wahlen hervorgeht: die bürgerliche Klasse insgesamt gegen ihren Hauptfeind, die Arbeiterklasse.
Zweitens ist das Aufholen der SPD im Verlauf des Wahlkampfes nicht weniger bemerkenswert. Das katastrophale Abschneiden der Sozialdemokratie bei der NRW-Wahl war, wie gesagt, der unmittelbare Auslöser der jetzigen vorgezogenen Bundestagswahl. Und siehe da, die SPD ist nicht nur fast gleichauf mit der Union ins Parlament gezogen - sie ist ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen als stärkste Partei hervorgegangen. Man darf dabei nicht vergessen, dass NRW immer noch eine der bedeutendsten Konzentrationen der Arbeiterklasse in Deutschland aufweist. Tatsächlich ist es der Sozialdemokratie gelungen, unerwartet viele ihrer sogenannten Stammwähler zu mobilisieren und damit alle demoskopischen Vorhersagen Lügen zu strafen. Dieses unerwartet gute Abschneiden der SPD war für die gesamte Bourgeoisie nicht nur in Hinblick auf die Mobilisierung des Wahlvolkes erfreulich. Die Sozialdemokratie ist das wertvollste Juwel in der Krone des politischen Systems der Bourgeoisie in Deutschland, vielleicht sogar in Europa. Insbesondere war diese Partei maßgeblich beteiligt an der Niederschlagung der proletarischen Revolution in Deutschland - und damit weltweit - am Ende des Ersten Weltkrieges. Eine zu schwere Niederlage der Sozialdemokratie bei dieser Wahl hätte zu aufreibenden internen Machtkämpfen und damit möglicherweise zu einer länger anhaltenden Schwächung dieser Partei führen können.
Lange Zeit haben die Umfragen eine absolute Mehrheit für eine konservative, aus Union und FDP bestehende Regierung vorausgesagt, sowie ein Abschneiden der SPD z.T. unter der 30% Marke. Unmittelbar nach der NRW Wahl wurde sogar eine absolute Mehrheit für CDU/CSU für möglich gehalten. Im Vergleich dazu ist das Ergebnis der Union von knapp 35% geradezu verheerend.
Auch wenn dieses Protestwahlverhalten dem parteipolitischen Spiel ein für bundesdeutsche Verhältnisse ungewohntes Maß an Unberechenbarkeit beschert, ist es vor allem der Beweis dafür, wie mächtig und geschmeidig sich die Demokratie als wichtigste Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse erweist. Selbst dann, wenn Arbeiter mit der Politik der Bourgeoisie nichts mehr am Hut haben, können sie oft noch dazu gebracht werden, sich an den Spielregeln der Demokratie zu beteiligen.
Schröder hat recht mit seiner Behauptung, dass die Medien versucht haben, die Wiederwahl seiner rot-grünen Koalition zu verhindern. Dabei ist es aber in den Augen der Bourgeoisie eine ziemliche Entgleisung, wenn der Staatschef so etwas vor der ganzen Welt ausposaunt und damit ein schlechtes Licht auf das geheiligte Märchen von der Unabhängigkeit der demokratischen Medien fallen lässt! Wenn damals - nach der NRW Wahl - die gesamte Bourgeoisie Schröders Entscheidung begrüßte, die Bundestagswahlen um ein Jahr vorzuziehen, so nicht nur, um eine neue politische Legitimierung für die Angriffe einzuholen und um die Arbeiterklasse mittels des Wahlzirkus zu benebeln. Es herrschte innerhalb der herrschenden Klasse "Wechselstimmung". Nicht zuletzt deshalb, weil man der Meinung war, dass der Sozialdemokratie nach sieben Jahren an der Regierung eine Erholung in der Opposition gut tun würde.
Als sich jedoch Schröder für Neuwahlen entschied, verfolgte er dabei seine eigene Strategie mit dem Ziel, an der Macht zu bleiben. Wir haben bereits damals (in Weltrevolution 130) darauf aufmerksam gemacht. Wir zeigten damals auch auf, worin diese Strategie bestand. Es ging zum einen darum, durch vorzeitige Wahlen Richtungskämpfen innerhalb der SPD vorzubeugen. Denn angesichts wachsender Unpopularität und des Verlusts von Machtpositionen in den Ländern und Kommunen begann sich eine gewisse Sehnsucht auch innerhalb der Partei bemerkbar zu machen, die Regierungsverantwortung im Bunde eine Zeit lang los zu werden. Schröder wusste, dass bei deutschen Sozialdemokraten das Prinzip immer noch gilt: kein Zwist während eines Wahlkampfes.
Zum anderen ging es darum, die Union zu zwingen, sich auf Schröders Wunschgegner Merkel als Kanzlerkandidatin festzulegen. Der einstige Protegé Helmut Kohls aus dem Osten, die über keine ausreichende Machtbasis in der eigenen Partei verfügt, war zunächst mehr oder weniger provisorisch Vorsitzende geworden, weil sich keiner der mächtigen Landesfürsten der CDU im Machtkampf gegeneinander durchsetzen konnte. Zudem rechnete Schröder damit, dass seine unerfahrene Herausforderin unter Druck die Nerven verlieren und Fehler machen würde, wie bereits unmittelbar vor der amerikanischen Invasion des Iraks geschehen, als Merkel - mehr als jeder andere deutsche Politiker - öffentlich Verständnis für die Haltung der Bush-Administration an den Tag legte. Schröder behielt damit Recht. Um die Wahlen zu gewinnen, brauchte die Union sich eigentlich nur darauf zu beschränken, auf das Versagen der Amtsinhaber gegenüber der Arbeitslosigkeit hinzuweisen und selber ein paar vage Versprechungen abzugeben. Aber eben weil sie über keine eigene Hausmacht in der Union verfügte, wollte Merkel unbedingt dem Wahlkampf ihren eigenen Stempel aufdrücken. Die Parteigranden der Union bemühten sich mehr oder weniger erfolglos um Contenance und um Schadensbegrenzung, während die Kanzlerkandidatin mit ihren Versuchen, eigene "Zukunftsvisionen" zu entwerfen, den Vorsprung der eigenen Partei verspielte. Das ganze reichte für Schröder nicht mehr aus, um seine eigene Mehrheit zu verteidigen. Aber es reichte vollkommen aus, um die deutsche Bourgeoisie in einen Schlamassel zu bringen. Jedenfalls waren in der deutschen Nachkriegsgeschichte die Voraussetzungen für die Bildung einer stabilen Regierung nach einer Wahl noch nie so ungünstig wie jetzt.
Es ist schon ein ungewohnter Anblick zu sehen, wie mit Schröder, ein bundesdeutscher (und auch noch ein sozialdemokratischer) Politiker auch dann wie besessen um seinen Machterhalt kämpft, wenn sein Verbleib im Amt nicht unbedingt der vorherrschenden Interpretation der Staatsräson entspricht. Dabei erklärt er aller Welt, dass nur er in der Lage sei, das zu bewahren, was er als die strategischen Errungenschaften seiner Regierungszeit betrachtet. Beispielsweise wurde mitten im Wahlkampf eine Entscheidung bekannt gegeben, welche ganz Osteuropa, v.a. aber Polen und die baltischen Staaten (und im Hintergrund vermutlich Washington) in helle Aufregung versetzte. Es handelt sich um den Beschluss, eine Erdöl- und Erdgaspipeline von Russland nach Deutschland zu bauen. Diese Pipeline wird am Grund der Ostsee entlang geführt werden, obwohl diese Lösung um mehrere Milliarden Euro teuerer sein wird als eine landgestützte Ölleitung. Solche Projekte sollen den deutsch-russischen Beziehungen einen langfristigen und strategischen Charakter verleihen. Die Vertragsunterschreibung wurde extra vorverlegt, damit der russische Präsident Putin kurz vor dem deutschen Wahlgang dafür zu Schröder nach Berlin anreisen konnte.
Ausschlaggebend bei dieser Wahl war aber nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik. Von Anfang bis Ende blieben die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit die vorherrschenden Themen. Auch das ganze Geschick Schröders als Wahlkämpfer hätte nicht gereicht, um einen deutlichen Sieg der Konservativen zu verhindern, wenn die Merkel-Leute die Stimmung im Lande nicht falsch eingeschätzt hätten. Die Wirtschaftskrise im führenden Industriestaat Europas ist heute so weit fortgeschritten, dass die Angst vor Verelendung große Teile der Bevölkerung erfasst hat, einschließlich der bis jetzt weniger betroffenen Mittelschichten. Davon ist auch ein Teil der bisherigen Stammwählerschaft der CDU selbst betroffen. Wir leben nicht mehr im Zeitalter von Maggie Thatcher. Durch die Radikalisierung ihrer neoliberalen Parolen in den Wochen vor der Wahl hat Merkel einen Teil der eigenen Wählerschaft verprellt.
Die wichtigste Säule dieses Umbaus ist momentan der versuchte Ausbau zu einem Fünfparteiensystem durch die Etablierung der Linkspartei als gesamtdeutsche Kraft. Auch die mächtigste Bourgeoisie kann nicht auf Anhieb eine solche neue Kraft hervorzaubern. Die meisten neuen politischen Parteien Westeuropas der letzten Jahrzehnte gingen entweder aus irgendwelchen "sozialen Bewegungen" hervor (wie die Grünen aus der Studentenbewegung, den "Antikriegskampagnen und der Anti-AKW Bewegung), oder verdanken ihren Aufstieg einer charismatischen Führungspersönlichkeit wie Le Pen in Frankreich, Bossi in Italien oder Fortyn in den Niederlanden. In Österreich hatte eine ähnliche Persönlichkeit, Jörg Haider, eine bereits bestehende Partei zu ihren Zwecken umfunktioniert. Die neue Linkspartei in Deutschland setzt sich aus allen dreien dieser Bestandteile zusammen. Die ehemalige SED der DDR liefert den bestehenden Kern. Die Proteste der Arbeitslosen im vergangenen Jahr wurden ausgenutzt, um eine gewisse Parteistruktur auch im Westen unter tatkräftiger Mitarbeit diverser Trotzkisten aufzubauen. Schließlich ist der charismatische, demagogische ehemalige Parteichef der SPD Lafontaine dazu gestoßen, um die neue Partei anzuführen.
Ein erster Erfolg der Linkspartei bei den Wahlen bestand darin, ein gewisses Protestpotenzial abzuschöpfen, welches sonst möglicherweise zum Teil rechtsradikal gewählt hätte. Einen Einzug der NPD in den Bundestag, wie es sich nach dem Wahlerfolg dieser Partei in Sachsen abgezeichnet hat, wäre v.a. außenpolitisch eine Belastung für den heute sich gerne antifaschistisch gebenden deutschen Imperialismus gewesen. Aber es geht bei diesem Projekt auch um längerfristige Zielsetzungen. Die Flexibilität und Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit beruhte auf einem Dreiparteiensystem mit zwei Hauptparteien und der kleinen FDP als Zünglein an der Waage. Dieses Arrangement erlaubte jederzeit einen Regierungswechsel, indem die FDP die Seite wechselte, während andererseits, verkörpert durch die Liberalen, eine Kontinuität der Regierungsarbeit, insbesondere in der Außenpolitik, mit eingebaut war. Dieses Gleichgewicht musste geopfert werden, als es notwendig wurde, durch die Etablierung der Grünen als vierte Kraft das Potenzial der 68er Generation für die Führung der Staatsgeschäfte abzuschöpfen. Sollte es gelingen, die Linkspartei langfristig als fünfte Kraft zu etablieren, so wäre das Gleichgewicht der parteipolitischen Landschaft Deutschlands - wenngleich in einer anderen, komplizierteren Konstellation - wiederhergestellt. Dabei könnten dann sowohl die Liberalen als Mitterechtspartei und die Grünen als Mittelinkspartei die Rolle des Königsmachers bzw. des Garanten der Kontinuität - gegebenenfalls abwechselnd - übernehmen. Allerdings: Diese anvisierte neue Parteienlandschaft ist immer noch eine Baustelle. Ob die Bourgeoisie sich schon jetzt dieses erst entstehenden System bedienen kann, um einen Ausweg aus der etwas verzwickten Lage zu finden, welche das Wahlresultat gebracht hat, wird sich erst im Verlauf der bevorstehenden Verhandlungen zur Regierungsbildung zeigen.
Demgegenüber bleibt festzustellen, dass auf jeden Fall ein ganz eindeutiger Sieger aus den Wahlen hervorgeht: die bürgerliche Klasse insgesamt gegen ihren Hauptfeind, die Arbeiterklasse.
Die Wahlen gegen die Arbeiterklasse
Als Bundeskanzler Schröder nach der bitteren Niederlage der SPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vom 21. Mai vorgezogene Bundestagswahlen für diesen Herbst ansetzte, wurde diese Entscheidung einhellig von der herrschenden Klasse als notwendige Antwort auf die wachsende "Reformmüdigkeit" und "Politikverdrossenheit" der Bevölkerung begrüßt. Nun, der "kurze aber intensive" Wahlkampf hat ebenso wenig wie der allgemein als "Sensation" und als "politisches Erdbeben" bezeichnete Wahlausgang die in den Medien beklagte Entfremdung der Bevölkerung gegenüber der herrschenden "Elite" und ihrem politischen System aus der Welt schaffen können. Aber der Bourgeoisie ist eindeutig das Kunststück gelungen, dieser Entfremdung und Verdrossenheit zum Trotz die lohnabhängige Bevölkerung an die Wahlurne zu locken. Die Wahlbeteiligung lag immerhin mit fast 78% nur um einen Prozentpunkt niedriger als vor drei Jahren. Außerdem haben die verschiedenen Rededuelle der Politiker im Fernsehen relativ hohe Einschaltquoten erzielt. Darüber hinaus ist es nicht zu übersehen, dass der Wahlzirkus in den letzten Wochen zum Hauptgesprächsthema geworden ist in den Cafés und auf öffentlichen Plätzen. Themen wie die Art und Weise, wie die Regierenden die Ärmsten der arbeitenden Bevölkerung in den Südstaaten der USA tagelang ihrem oft todbringenden Schicksal überlassen haben, wurden nach wenigen Tagen wieder von den Medien verdrängt. Andere Meldungen, wie über den Solidaritätsstreik bei British Airways in London Heathrow, über gigantische Angriffspläne bei Volkswagen im Stammwerk Wolfsburg, oder über Massenentlassungen und mögliche Werksschließungen bei Henschel im Ruhrgebiet, oder bei Siemens und Infineon, gingen ziemlich unter. Wie ist es der Bourgeoisie gelungen, aller Politikverdrossenheit zum Trotz so viele Menschen an die Wahlurne zu bewegen, damit sie um so nachdrücklicher die politische Legitimität beanspruchen kann, die sie braucht, um möglichst ohne Widerstand noch brutalere Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen? Wie ist es gelungen, eine lohnarbeitende Bevölkerung, welche allein durch die Wucht der Wirtschaftskrise und der Angriffe täglich durch die Realität darauf gestoßen wird, dass es im Kapitalismus sehr wohl eine ausbeutende und eine ausgebeutete Klasse gibt, über Monate so sehr das Gefühl zu vermitteln, dass die Gesellschaft doch nicht aus Klassen, sondern aus "mündigen Bürgern" besteht, von denen jeder durch seine Wahlzettel einen gewissen Einfluss auf das Geschick der Gesamtheit nehmen kann?Wie die Bourgeoisie die Bevölkerung doch noch an die Wahlurne locken konnte
Um diese Fragen zu beantworten, ist es zunächst von Nutzen, auf zwei bemerkenswerte Ergebnisse dieser Bundestagswahl 2005 aufmerksam zu machen. Erstens auf das starke Abschneiden der Linkspartei-PDS. Seit der "Wiedervereinigung" Deutschlands ist die PDS, als Nachfolger der einstigen Regierungspartei der DDR, immer mehr zu einer regionalen Protestpartei des Ostens verkümmert. Bei den letzten Bundestagswahlen vor drei Jahren verfehlte sie sogar erstmals ihr Minimalziel, in Fraktionsstärke ins Parlament einzuziehen. Jetzt ist sie als gesamtdeutsche Partei mit verdoppeltem Stimmenanteil aus den Wahlen hervorgegangen. Und obwohl sie im Westen die 5% Marke knapp verfehlt hat - und somit eine Partei hauptsächlich des Ostens bleibt - hat sie dank ihrem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine in dessen Wahlkreis im Saarland einen Stimmenanteil von über 18% errungen. Der Stimmenanteil der Linkspartei-PDS von bundesweit 8,7% verkörpert zum großen Teil Wähler, welche ohne das Auftreten einer "linken Alternative" (welche angeblich Hartz 4 und die Agenda 2010 der scheidenden Bundesregierung ablehnt) vermutlich überhaupt nicht zur Wahl gegangen wären. Vor allem Erwerbslose sollen für die Linken gestimmt haben. Lafontaine und Gysi haben somit wesentlich zum Mobilisierungserfolg der Bourgeoisie beigetragen.Zweitens ist das Aufholen der SPD im Verlauf des Wahlkampfes nicht weniger bemerkenswert. Das katastrophale Abschneiden der Sozialdemokratie bei der NRW-Wahl war, wie gesagt, der unmittelbare Auslöser der jetzigen vorgezogenen Bundestagswahl. Und siehe da, die SPD ist nicht nur fast gleichauf mit der Union ins Parlament gezogen - sie ist ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen als stärkste Partei hervorgegangen. Man darf dabei nicht vergessen, dass NRW immer noch eine der bedeutendsten Konzentrationen der Arbeiterklasse in Deutschland aufweist. Tatsächlich ist es der Sozialdemokratie gelungen, unerwartet viele ihrer sogenannten Stammwähler zu mobilisieren und damit alle demoskopischen Vorhersagen Lügen zu strafen. Dieses unerwartet gute Abschneiden der SPD war für die gesamte Bourgeoisie nicht nur in Hinblick auf die Mobilisierung des Wahlvolkes erfreulich. Die Sozialdemokratie ist das wertvollste Juwel in der Krone des politischen Systems der Bourgeoisie in Deutschland, vielleicht sogar in Europa. Insbesondere war diese Partei maßgeblich beteiligt an der Niederschlagung der proletarischen Revolution in Deutschland - und damit weltweit - am Ende des Ersten Weltkrieges. Eine zu schwere Niederlage der Sozialdemokratie bei dieser Wahl hätte zu aufreibenden internen Machtkämpfen und damit möglicherweise zu einer länger anhaltenden Schwächung dieser Partei führen können.
Lange Zeit haben die Umfragen eine absolute Mehrheit für eine konservative, aus Union und FDP bestehende Regierung vorausgesagt, sowie ein Abschneiden der SPD z.T. unter der 30% Marke. Unmittelbar nach der NRW Wahl wurde sogar eine absolute Mehrheit für CDU/CSU für möglich gehalten. Im Vergleich dazu ist das Ergebnis der Union von knapp 35% geradezu verheerend.
Das Phänomen der Protestwähler
Wie ist es dazu gekommen? Nachdem die Regierung Schröder-Fischer sieben Jahre lang zunehmend brutale Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt hatte, welche alles in den Schatten stellten, was unter der rechten Regierung von Helmut Kohl beschlossen wurde, machte sich in der Bevölkerung eine Stimmung breit, v.a. die SPD dafür durch eine Art Protestwahl abzustrafen. Dieses Wahlverhalten, weit davon entfernt, die Herrschenden zu beunruhigen, wurde von der Bourgeoisie begünstigt und instrumentalisiert. Denn gerade dieses Protestwahlverhalten bindet einen (wohlgemerkt) wachsenden Teil der Bevölkerung - aller Wut gegen die Angriffe und gegen die Regierenden zum Trotz - an die demokratische Staatsräson. Darüber hinaus wollte man durchaus von dieser Stimmung profitieren, um einen Regierungswechsel herbeizuführen. Dies, nicht so sehr aus Unzufriedenheit gegen-über der bestehenden Regierung, sondern weil es wichtig war angesichts der immer deutlicher werdenden Unmöglichkeit innerhalb des Kapitalismus der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden, so zu tun, als ob dies an der Regierung und nicht am kapitalistischen System läge. Angesichts der für sie seinerzeit äußerst günstig erscheinenden Umfragewerte hat sich die Kanzlerkandidatin der Union Angela Merkel auf ein riskantes Spiel eingelassen. Sie wollte dem wachsenden Misstrauen gegenüber der bürgerlichen Politik dadurch entgegentreten, indem sie einen auf Ehrlich macht und zumindest einen Teil der geplanten Angriffe bereits vorab bekannt gibt. So kündigte sie beispielsweise eine Erhöhung der Mehrwertsteuer an. Das Ergebnis: Die bestehende Proteststimmung, den Politikern einen Denkzettel zu verpassen, welche sich bis dahin gegen Schröder richtete, wandte sich nun gegen die Union. Da die Union begonnen hatte, sich bereits vor der Wahl wie eine Regierungspartei aufzuführen, begann sie, die Wut der Bevölkerung auf sich zu ziehen, welche sich normalerweise gegen die Regierung richtet. Als sie dann, wenige Wochen vor den Wahlen, Paul Kirchhoff als Finanzminister in spe und als "neuen Ludwig Erhard" dem staunenden Publikum präsentierte, der sofort seine Vorliebe für ein Steuersystem zum besten gab, indem Millionäre und Putzfrauen denselben Steuersatz bezahlen, brachte die Kanzlerkandidatin beinahe das Kunststück fertig, eine satte Mehrheit fast vollständig zu verspielen. Offensichtlich glaubte die überzeugte Christin und ehemalige Aktivistin der stalinistischen Jugendorganisation der DDR, die "Menschen draußen im Lande" würden ihre Ehrfurcht vor Professoren und anderen Experten mit Doktortiteln teilen.Auch wenn dieses Protestwahlverhalten dem parteipolitischen Spiel ein für bundesdeutsche Verhältnisse ungewohntes Maß an Unberechenbarkeit beschert, ist es vor allem der Beweis dafür, wie mächtig und geschmeidig sich die Demokratie als wichtigste Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse erweist. Selbst dann, wenn Arbeiter mit der Politik der Bourgeoisie nichts mehr am Hut haben, können sie oft noch dazu gebracht werden, sich an den Spielregeln der Demokratie zu beteiligen.
Eine von der Bourgeoisie nicht gewollte Pattsituation
Bei der sog. Elefantenrunde (d.h. dem üblichen gemeinsamen Fernsehauftritt der Spitzenpolitiker am Wahlabend) gab es einen Auftritt des Bundeskanzlers, welcher weithin als erstaunlich, arrogant und peinlich bezeichnet wurde. Von seinem unerwartet guten Abschneiden an den Wahlurnen sichtlich berauscht, gab Schröder zum besten, dass nur er - keineswegs aber Angela Merkel - berechtigt und auch befähigt sei, eine Regierung zu bilden und die Geschicke des Staates zu lenken. Zudem brachte er unverhüllt seine Schadenfreude darüber zum Ausdruck, dass die Medien, einschließlich der staatlichen Rundfunkstationen, sich vergeblich bemüht hatten, seinen Verbleib im Amt mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern. Dass Schröder arrogant auftreten kann und mitunter erstaunliches von sich gibt, ist nicht neu. Recht haben aber diejenigen, die meinen, das Auftreten des Kanzlers sei unbeherrscht gewesen. Gerade diese - für Schröder ungewöhnliche - Unbeherrschtheit ließ tief blicken. Tatsächlich warf sein Auftritt ein grelles Licht auf die politischen Probleme, welche zu einem von der deutschen Bourgeoisie nicht gewollten Wahlergebnis - zu einer Pattsituation - geführt haben.Schröder hat recht mit seiner Behauptung, dass die Medien versucht haben, die Wiederwahl seiner rot-grünen Koalition zu verhindern. Dabei ist es aber in den Augen der Bourgeoisie eine ziemliche Entgleisung, wenn der Staatschef so etwas vor der ganzen Welt ausposaunt und damit ein schlechtes Licht auf das geheiligte Märchen von der Unabhängigkeit der demokratischen Medien fallen lässt! Wenn damals - nach der NRW Wahl - die gesamte Bourgeoisie Schröders Entscheidung begrüßte, die Bundestagswahlen um ein Jahr vorzuziehen, so nicht nur, um eine neue politische Legitimierung für die Angriffe einzuholen und um die Arbeiterklasse mittels des Wahlzirkus zu benebeln. Es herrschte innerhalb der herrschenden Klasse "Wechselstimmung". Nicht zuletzt deshalb, weil man der Meinung war, dass der Sozialdemokratie nach sieben Jahren an der Regierung eine Erholung in der Opposition gut tun würde.
Als sich jedoch Schröder für Neuwahlen entschied, verfolgte er dabei seine eigene Strategie mit dem Ziel, an der Macht zu bleiben. Wir haben bereits damals (in Weltrevolution 130) darauf aufmerksam gemacht. Wir zeigten damals auch auf, worin diese Strategie bestand. Es ging zum einen darum, durch vorzeitige Wahlen Richtungskämpfen innerhalb der SPD vorzubeugen. Denn angesichts wachsender Unpopularität und des Verlusts von Machtpositionen in den Ländern und Kommunen begann sich eine gewisse Sehnsucht auch innerhalb der Partei bemerkbar zu machen, die Regierungsverantwortung im Bunde eine Zeit lang los zu werden. Schröder wusste, dass bei deutschen Sozialdemokraten das Prinzip immer noch gilt: kein Zwist während eines Wahlkampfes.
Zum anderen ging es darum, die Union zu zwingen, sich auf Schröders Wunschgegner Merkel als Kanzlerkandidatin festzulegen. Der einstige Protegé Helmut Kohls aus dem Osten, die über keine ausreichende Machtbasis in der eigenen Partei verfügt, war zunächst mehr oder weniger provisorisch Vorsitzende geworden, weil sich keiner der mächtigen Landesfürsten der CDU im Machtkampf gegeneinander durchsetzen konnte. Zudem rechnete Schröder damit, dass seine unerfahrene Herausforderin unter Druck die Nerven verlieren und Fehler machen würde, wie bereits unmittelbar vor der amerikanischen Invasion des Iraks geschehen, als Merkel - mehr als jeder andere deutsche Politiker - öffentlich Verständnis für die Haltung der Bush-Administration an den Tag legte. Schröder behielt damit Recht. Um die Wahlen zu gewinnen, brauchte die Union sich eigentlich nur darauf zu beschränken, auf das Versagen der Amtsinhaber gegenüber der Arbeitslosigkeit hinzuweisen und selber ein paar vage Versprechungen abzugeben. Aber eben weil sie über keine eigene Hausmacht in der Union verfügte, wollte Merkel unbedingt dem Wahlkampf ihren eigenen Stempel aufdrücken. Die Parteigranden der Union bemühten sich mehr oder weniger erfolglos um Contenance und um Schadensbegrenzung, während die Kanzlerkandidatin mit ihren Versuchen, eigene "Zukunftsvisionen" zu entwerfen, den Vorsprung der eigenen Partei verspielte. Das ganze reichte für Schröder nicht mehr aus, um seine eigene Mehrheit zu verteidigen. Aber es reichte vollkommen aus, um die deutsche Bourgeoisie in einen Schlamassel zu bringen. Jedenfalls waren in der deutschen Nachkriegsgeschichte die Voraussetzungen für die Bildung einer stabilen Regierung nach einer Wahl noch nie so ungünstig wie jetzt.
Es ist schon ein ungewohnter Anblick zu sehen, wie mit Schröder, ein bundesdeutscher (und auch noch ein sozialdemokratischer) Politiker auch dann wie besessen um seinen Machterhalt kämpft, wenn sein Verbleib im Amt nicht unbedingt der vorherrschenden Interpretation der Staatsräson entspricht. Dabei erklärt er aller Welt, dass nur er in der Lage sei, das zu bewahren, was er als die strategischen Errungenschaften seiner Regierungszeit betrachtet. Beispielsweise wurde mitten im Wahlkampf eine Entscheidung bekannt gegeben, welche ganz Osteuropa, v.a. aber Polen und die baltischen Staaten (und im Hintergrund vermutlich Washington) in helle Aufregung versetzte. Es handelt sich um den Beschluss, eine Erdöl- und Erdgaspipeline von Russland nach Deutschland zu bauen. Diese Pipeline wird am Grund der Ostsee entlang geführt werden, obwohl diese Lösung um mehrere Milliarden Euro teuerer sein wird als eine landgestützte Ölleitung. Solche Projekte sollen den deutsch-russischen Beziehungen einen langfristigen und strategischen Charakter verleihen. Die Vertragsunterschreibung wurde extra vorverlegt, damit der russische Präsident Putin kurz vor dem deutschen Wahlgang dafür zu Schröder nach Berlin anreisen konnte.
Ausschlaggebend bei dieser Wahl war aber nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik. Von Anfang bis Ende blieben die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit die vorherrschenden Themen. Auch das ganze Geschick Schröders als Wahlkämpfer hätte nicht gereicht, um einen deutlichen Sieg der Konservativen zu verhindern, wenn die Merkel-Leute die Stimmung im Lande nicht falsch eingeschätzt hätten. Die Wirtschaftskrise im führenden Industriestaat Europas ist heute so weit fortgeschritten, dass die Angst vor Verelendung große Teile der Bevölkerung erfasst hat, einschließlich der bis jetzt weniger betroffenen Mittelschichten. Davon ist auch ein Teil der bisherigen Stammwählerschaft der CDU selbst betroffen. Wir leben nicht mehr im Zeitalter von Maggie Thatcher. Durch die Radikalisierung ihrer neoliberalen Parolen in den Wochen vor der Wahl hat Merkel einen Teil der eigenen Wählerschaft verprellt.
Die Bourgeoisie beginnt auf eine historisch sich wandelnde Lage zu reagieren
Die deutsche Bourgeoisie hat allerdings bereits damit begonnen, ihren parteipolitischen Apparat umzubauen, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Angesichts einer insgesamt unberechenbarer werdenden politischen Situation, angesichts gewisser Zersplitterungstendenzen innerhalb der eigenen Reihen (beispielsweise des andauernden Zwists zwischen Bund und Länder) v.a. aber angesichts erster Zeichen einer unterirdischen Bewusstseinsentwicklung innerhalb der Arbeiterklasse, muss auch die politische Struktur den neuen Anforderungen genügen, welche auch sonst angesichts der Weltwirtschaftskrise und der Zuspitzung des Militarismus an Wirtschaft und Armee verlangt werden: Die politische Struktur muss flexibler, effizienter, vielseitiger und "intelligenter" werden.Die wichtigste Säule dieses Umbaus ist momentan der versuchte Ausbau zu einem Fünfparteiensystem durch die Etablierung der Linkspartei als gesamtdeutsche Kraft. Auch die mächtigste Bourgeoisie kann nicht auf Anhieb eine solche neue Kraft hervorzaubern. Die meisten neuen politischen Parteien Westeuropas der letzten Jahrzehnte gingen entweder aus irgendwelchen "sozialen Bewegungen" hervor (wie die Grünen aus der Studentenbewegung, den "Antikriegskampagnen und der Anti-AKW Bewegung), oder verdanken ihren Aufstieg einer charismatischen Führungspersönlichkeit wie Le Pen in Frankreich, Bossi in Italien oder Fortyn in den Niederlanden. In Österreich hatte eine ähnliche Persönlichkeit, Jörg Haider, eine bereits bestehende Partei zu ihren Zwecken umfunktioniert. Die neue Linkspartei in Deutschland setzt sich aus allen dreien dieser Bestandteile zusammen. Die ehemalige SED der DDR liefert den bestehenden Kern. Die Proteste der Arbeitslosen im vergangenen Jahr wurden ausgenutzt, um eine gewisse Parteistruktur auch im Westen unter tatkräftiger Mitarbeit diverser Trotzkisten aufzubauen. Schließlich ist der charismatische, demagogische ehemalige Parteichef der SPD Lafontaine dazu gestoßen, um die neue Partei anzuführen.
Ein erster Erfolg der Linkspartei bei den Wahlen bestand darin, ein gewisses Protestpotenzial abzuschöpfen, welches sonst möglicherweise zum Teil rechtsradikal gewählt hätte. Einen Einzug der NPD in den Bundestag, wie es sich nach dem Wahlerfolg dieser Partei in Sachsen abgezeichnet hat, wäre v.a. außenpolitisch eine Belastung für den heute sich gerne antifaschistisch gebenden deutschen Imperialismus gewesen. Aber es geht bei diesem Projekt auch um längerfristige Zielsetzungen. Die Flexibilität und Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit beruhte auf einem Dreiparteiensystem mit zwei Hauptparteien und der kleinen FDP als Zünglein an der Waage. Dieses Arrangement erlaubte jederzeit einen Regierungswechsel, indem die FDP die Seite wechselte, während andererseits, verkörpert durch die Liberalen, eine Kontinuität der Regierungsarbeit, insbesondere in der Außenpolitik, mit eingebaut war. Dieses Gleichgewicht musste geopfert werden, als es notwendig wurde, durch die Etablierung der Grünen als vierte Kraft das Potenzial der 68er Generation für die Führung der Staatsgeschäfte abzuschöpfen. Sollte es gelingen, die Linkspartei langfristig als fünfte Kraft zu etablieren, so wäre das Gleichgewicht der parteipolitischen Landschaft Deutschlands - wenngleich in einer anderen, komplizierteren Konstellation - wiederhergestellt. Dabei könnten dann sowohl die Liberalen als Mitterechtspartei und die Grünen als Mittelinkspartei die Rolle des Königsmachers bzw. des Garanten der Kontinuität - gegebenenfalls abwechselnd - übernehmen. Allerdings: Diese anvisierte neue Parteienlandschaft ist immer noch eine Baustelle. Ob die Bourgeoisie sich schon jetzt dieses erst entstehenden System bedienen kann, um einen Ausweg aus der etwas verzwickten Lage zu finden, welche das Wahlresultat gebracht hat, wird sich erst im Verlauf der bevorstehenden Verhandlungen zur Regierungsbildung zeigen.