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Die Bedeutung theoretischer Arbeit
Ohne einen aktiven Austausch von Standpunkten, ohne Debatte ist eine Klärung kommunistischer Positionen unmöglich. Deshalb versuchen wir möglichst regelmäßig in unserer Zeitung Zuschriften von Leser/Innen zu veröffentlichen und darauf so ernsthaft wie möglich zu antworten. Wir unsererseits sind nicht nur erfreut, sondern auch dankbar für jede Zuschrift, die wir erhalten, weil sie uns zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit unserer Arbeit und unseren Positionen zwingt. Deshalb, wenn euch an unserer Zeitung etwas besonders angesprochen aber auch missfallen hat, schreibt uns, auch wenn es nur ein paar Zeilen sind.
Leserbrief aus Süddeutschland
Zunächst einmal muß ich mich bei euch entschuldigen, dass ich Nichts von mir habe hören lassen. Vor etwa einem Jahr habe ich so ziemlich jede linke Organisation zwecks Informationen angeschrieben und infolgedessen bei einigen auch Materialien bestellt. Ebenso bei der IKS - hier ein "Weltrevolution"-Abo und diverse Publikationen.
Wenn ich versuche im Folgenden auf euch einzugehen, dann bitte ich zu bedenken, dass mir als Quellenmaterial nur die letzten vier Ausgaben der "Weltrevolution" und "Plattform und Manifest der IKS" zu Verfügung standen. Für die restlichen Publikationen habe ich noch keine Zeit zum Lesen gefunden.
Ich stimme mit euch überein, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist. Marx und Engels haben dies im Kommunistischen Manifest nachgewiesen. Gleichzeitig halte ich den Begriff, den ihr vom Proletariat habt, für ziemlich abstrakt. Da wird die Arbeiterklasse "geschwächt und an Händen und Füßen gefesselt in den II. Weltkrieg geführt" und "dazu gezwungen , eine vom Krieg zerstörte, in Trümmern liegende Welt wiederaufzubauen". Sind wir nicht alle ein bißchen Opfer ? möchte man fragen.
Kein Arbeiter steht außerhalb der Welt. Jeder handelt eigenverantwortlich zugunsten oder eben zuungunsten der "eigenen Sache". Das die naheliegende Revolution nur so selten angegangen wird, und wenn, dann meist ziemlich schnell in der Scheiße landet, hat viele Ursachen. Die Bourgeoisie hält eine Aktie daran, das Proletariat die andere. Über die Bedenken des Proletariats bezüglich der revolutionären Frage sollte aber schon Klarheit bestehen (auch wenn es sich nur um die Tatsache handelt, dass Arbeiterkinder während der revolutionären Krise schneller verhungern als Generalsfamilien). Das kann dann schon ein verdammt gutes Argument dafür sein, die Füße still zu halten und die Faust in der Tasche zu ballen. Wenn es da an Lösungswegen mangelt, liegt die Schuld hierbei aber weder bei der Bourgeoisie noch beim Proletariat, sondern vielmehr bei der revolutionären Partei.
Auch der Begriff "Dekadenz des Kapitalismus" wirkt auf mich eher verwirrend als erleuchtend. Während ihr damit zum einen auf die "Überproduktionskrise" eingeht, werden etwas später auch die Toten der "systematischen, fabrikmäßigen Massenmorde" hierunter subsumiert.
Die Überproduktionskrise wirkt auf mich weniger dekadent, als vielmehr notwendig logisch aus der Krise der Akkumulation. Diese wiederum hat ihren Ursprung in einer unvernünftigen Ideologie namens Kapitalismus. Ebenso "vernünftig" erscheint auch die Vernichtung von Lebensmitteln, während nebenan Millionen Hunger leiden. Auch dies ist notwendiger Bestandteil des kapitalistischen Systems. Dekadent bleibt dabei vielleicht die Tatsache, dass man Kinder im Rahmen der Entwicklungshilfe im vierten Lebensjahr für zehn Jahre gegen Viruserkrankungen immunisiert, während man genau weiß, dass diese das achte Lebensjahr mangels Nahrung sowieso nicht erreichen. Dies ist auch innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik nicht nachzuvollziehen.
Die "Massenmorde", auf die ihr dagegen hinweist - und hier vor allem die Shoah -, sind meines Erachtens auch keiner "Dekadenz des Kapitalismus" geschuldet, sondern vielmehr in der Unendlichkeit der menschlichen Dummheit zu suchen. Es gibt nicht eine einzige These die glaubhaft den Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen aus Marxens "Kapital" mit der "Notwendigkeit" von Ausschwitz herstellt.
Während ich euren Thesen zum Staatskapitalismus, den "sozialistischen" Ländern, den Gewerkschaften, den bürgerlichen Quatschbuden und zur "nationalen Befreiung" teile, möchte ich euch in den "partiellen Kämpfen" widersprechen. Zu diesen Auseinandersetzungen zähle ich mal grundsätzlich alle "Ein-Punkt-Bewegungen", also nicht nur Umwelt, Gender, Rassismus, sondern auch Antifaschismus. Diese Bewegungen grundsätzlich als "Mittel der Bourgeoisie, um die Ziele der Arbeiter zu vernebeln" zu brandmarken, halte ich grundsätzlich für falsch. Oftmals sind solche Zusammenhänge erst der Beginn eines politischen Bewußtseins. Sicherlich habt ihr recht, wenn ihr meint, dass man sich nicht in einzelnen Kämpfen aufreiben darf. Aber Leuten, die eine fortschrittliche Linie verfolgen, dann die Solidarität mit der Begründung zu entziehen - insbesondere wenn der bürgerliche Staat denen gegenüber repressiv auftritt -, dass sowieso nur die Sache der Konterrevolution vertreten wird, kann ich nur als zynisch und der Konterrevolution als dienlicher bezeichnen. (Darin ist vielleicht auch ein Grund zu sehen; warum die warum die "Fraktionen der kommunistischen Linken" so sang- und klanglos in den 30ern ausgestorben sind. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.
Dies bringt mich zum letzten Kritikpunkt: "Unsere Aktivität"
Hier wird von der "Umgruppierung der Revolutionäre im Hinblick auf die Schaffung einer wirklichen kommunistischen Weltpartei" geschrieben. Dass sich dies in theoretischen Veranstaltungen zu erschöpfen scheint, finde ich ziemlich schade. Ein reiner Diskussionsclub ist ein bißchen wenig für eine revolutionäre Perspektive. Statt dessen wird sich in altlinker Manier mit Verrätern und Abweichlern gekloppt. Bitte zukünftig gelassener und besser werden als KPD/ML und Genossen.
Abschließend möchte ich noch zu eurer letzten Ausgabe der "Weltrevolution" Nr. 130 ein paar Zeilen verlieren.
Der Artikel "60. Jahrestag der Befreiung der KZs, der Bombardierung Dresdens, Hiroshimas, der Kapitulation Deutschlands" besticht vor allem durch eins, es geht um Bombardierung und Vertreibung und arbeitende Deutsche - ähem deutsche Arbeiter. Natürlich alle Opfer der barbarischen englischen, amerikanischen und russischen Bourgeoisie. Gleichzeitig wird kurz vor Kriegsende ein zweites 1918 halluziniert. Ursache und Wirkung wird mal wieder schön ausgeblendet. Weder wird der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Tschechoslowakei, Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg; Frankreich, England, Jugoslawien, Griechenland und der Sowjetunion thematisiert, noch wird auf die Befreiung der Zwangsarbeiter, der koreanischen, chinesischen und der kommunistischen KZler eingegangen. Kriegsverbrechen auf deutscher und japanischer Seite ? - Fehlanzeige !
Ich persönlich bin der Meinung, dass alle humanistischen Leistungen auch zur Geschichte des Proletariats gehören. Und zur größten humanistischen Leistung des 20. Jahrhunderts -gehört nun mal die Befreiung vom NS-Regime,vom japanischen und italienischen Faschismus. Ich wäre heute nicht am Leben, hätten die Nazis damals gesiegt.
Hand aufs Herz Leute: Den gleichen Sermon kann man in Publikationen wie den "Funkenflug" der Heimattreuen Deutschen Jugend, dem "Fahnenträger" oder der "Volk in Bewegung" lesen. Wenn der Schwachsinn auf angloamerikanischen Haufen gewachsen ist, dann bitte auch nur dort publizieren. Danke !Trotzdem werde ich natürlich mein Abo verlängern. Den Betrag füge ich diesem Schreiben in bar bei.
Mit freundlichen Grüßen
Antwort der IKS
Lieber Genosse,
auch wenn du deine Korrespondenz vom 06.07.2005 mit der Äußerung beendest, dass dein Brief ”hoffentlich nicht zu streng klingt” – wir haben uns darüber sehr gefreut. Erstens weil für uns die politische Debatte das Lebensblut der Arbeiterklasse darstellt, unverzichtbare Vorbedingung der Klärung ist. Diese Auseinandersetzung soll ruhig kontrovers und polemisch geführt werden, solange die Argumente aufrichtig sind und der Klärung dienen. Schließlich ist unser Thema, der Klassenkampf des Proletariats, eine äußerst wichtige und auch emotional ergreifende Angelegenheit! Zweitens weil es eine Reihe von Punkten gibt, wo du Übereinstimmung mit uns signalisierst. So stellst du von vorne weg klar: ”Ich stimme mit euch überein, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist.” Darüber hinaus schreibst du, dass du unsere ”Thesen zum Staatskapitalismus, den ‘sozialistischen’ Ländern, den Gewerkschaften, den bürgerlichen Quatschbuden und zur ‘nationalen Befreiung’” teilst. Auch wenn du dich sonst eher kritisch über die Kommunistische Linke in deinem Brief äußerst, erscheint es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass du einigen der wichtigsten Thesen zustimmst, welche diese internationalistische Strömung von den Positionen der Stalinisten, Trotzkisten und auch vielen Anarchisten radikal unterscheidet. Selbst gegenüber dem Bereich, den du als ”Ein-Punkt-Bewegungen” bezeichnest (wozu du ”nicht nur Umwelt, Gender, Rassismus, sondern auch Antifaschismus” zählst), wo du unsere Ansicht nicht teilst, stimmst du uns zumindest in einem wichtigen Punkt zu: ”Sicherlich habt ihr recht, wenn ihr meint, dass man sich nicht in einzelnen Kämpfen aufreiben darf.
Der alte Maulwurf am Werk
Wenn wir diese Übereinstimmungen betonen, dann nicht um die zwischen uns bestehenden, schwerwiegenden Meinungsunterschiede herunterzuspielen. Was uns bedeutsam erscheint ist, dass wir in letzter Zeit immer mehr Briefe erhalten – nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt – worin die Leser unserer Presse teilweise, manchmal aber auch umfassend und begeistert unseren Positionen zustimmen. Unsere politische Tradition, die der Kommunistischen Linken, entstand ursprünglich als Reaktion auf die Degeneration der russischen Revolution und der Kommunistischen Internationale. Sie musste ihre programmatischen Positionen ausarbeiten inmitten der vom Stalinismus, Nazismus und von der totalitären Demokratie geprägten Konterrevolution. Und selbst nach der Beendigung dieser langen Phase der Konterrevolution durch die weltweite Wiederbelebung des Klassenkampfes nach 1968 mussten wir Jahrzehnte lang in gewisser Weise gegen den Strom der kapitalistischen Linken anschwimmen, welche die ”politische Hoheit” über die große Mehrheit der politisierten Teile der neuen, ungeschlagenen Generation der Arbeiterklasse gewann. Es ist noch gar nicht so lange her, da wirkten proletarische Positionen - etwa die Ablehnung der sog. nationalen Befreiung und der Gewerkschaften - noch schockierend auf die große Mehrheit der Politisierten. Heute hingegen stimmen immer mehr dieser politisierten, proletarische Positionen Suchenden den Thesen des ”Linkskommunismus” zu. Wir sehen darin einen ganz wichtigen Ausdruck eines Prozesses, welchen wir mit Marx als unterirdische Bewusstseinsentwicklung bezeichnen möchten.
Für uns ist diese Arbeit des ”alten Maulwurfs” – welche das Potenzial birgt, nach der Niederlage des revolutionären Ansturms in Deutschland, Österreich-Ungarn und schließlich Russland am Ende des Ersten Weltkrieges, einen zweiten Anlauf zur proletarischen Weltrevolution vorzubereiten – in erster Linie ein Ergebnis der aktuellen Weltlage: Zuspitzung der kapitalistischen Krise, langsamer Illusionsverlust der Arbeiterklasse. Aber es ist auch ein Ergebnis der programmatischen Arbeit der kommunistischen Linken in den 20er und 30er Jahren. Denn ohne diese theoretische Vorarbeit würden die oft jungen, nach Klarheit suchenden politischen Vorkämpfer der Arbeiterklasse keine Orientierungspunkte vorfinden.
Nun aber zu deinen Divergenzen. Dass du uns in der Frage der ”Ein-Punkt-Bewegungen” nicht zustimmst, haben wir bereits erwähnt. Vielleicht können wir diesen Punkt für einen späteren Briefwechsel aufheben. Grundlegender erscheint uns die Frage der Dekadenz des Kapitalismus.(...) Schließlich ist die Dekadenztheorie keine Erfindung der IKS oder der Kommunistischen Linken. In seiner berühmten Vorrede zur ”Kritik der politischen Ökonomie” erklärte bereits Marx die Vorstellung, dass jede bisherige Produktionsweise eine aufsteigende und eine niedergehende Entwicklungsphase durchlief, zum Eckpfeiler seiner dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung.
Die Einschätzung des Antifaschismus und des 2. Weltkriegs
Eine andere in deinem Brief aufgeworfene, sehr grundlegende Frage ist die Einschätzung des Antifaschismus und des 2. Weltkriegs. Hier äußerst du keinen Zweifel, sondern erhebst entschieden Widerspruch gegen unsere internationalistische Auffassung. Das, was weithin die ”Befreiung vom NS-Regime” durch den angloamerikanisch-sowjetischen Block genannt wird, betrachtest du als eine ”humanistische Leistung” welche zur ”Geschichte des Proletariats” gehört. Du behauptest sogar, ”den gleichen Sermon” nicht nur bei uns, sondern auch bei den Rechtsradikalen lesen zu können. Stimmt das?
Die Neonazis sind Nationalisten. Auch die Stalinisten sind Nationalisten. Alle bürgerlichen Demokraten sind Nationalisten. Spätestens dann, wenn wichtige imperialistische Kriege ausbrechen, kann man beobachten, wie sie alle sich beeilen, für eine der kriegsführenden Seiten Partei zu ergreifen. Was alle diese – durch und durch bürgerlichen – Kräfte gemeinsam haben, ist ihr Glaube, dass die Nation, dass der Nationalstaat noch eine fortschrittliche Rolle in der Menschheitsgeschichte spielen kann. Diese Auffassung stirbt nicht aus, sobald der Kapitalismus, durch die Schaffung eines einheitlichen Weltmarktes und eines Weltproletariats, die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen hat. Im Gegenteil. Je brutaler der Widerspruch der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen wird - und damit der Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der weltweiten Produktion und dem Fortbestand einer durch Nationalstaaten organisierten privaten Aneignung - desto wahnwitziger die Art und Weise, wie die herrschende Klasse die Nation hochhält. Zwei der aberwitzigsten Ausdrücke dieser den Bedürfnissen der geschichtlichen Entwicklung total widersprechenden, nationalen Wahnsysteme griffen in den 20er und 30er Jahren um sich: Der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Während der Nationalsozialismus im Rassismus eine neue ideologische Grundlage für die bürgerliche Nation suchte, verstieg sich der Stalinismus sogar zu der Behauptung, dass der Nationalstaat den geeigneten Rahmen für die Entwicklung des Sozialismus liefern könnte.
Das Grundprinzip des Proletariats hingegen ist, dass die Arbeiter kein Vaterland haben. Das heißt aber nicht, dass die marxistische Auffassung über die Rolle des Nationalstaates unwandelbar ist. Denn die Rolle der Nation in der Geschichte vollzieht selbst einen Wandel. Die Nation spielte eine fortschrittliche Rolle gegen die feudale Zersplitterung. Sie trug entscheidend dazu bei, große, durch die Produktion und den modernen Verkehr miteinander verbundene Abteilungen des Proletariats zu erschaffen. Deshalb gab die Arbeiterbewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus bestimmten, fortschrittlichen nationalen Bewegungen ihre kritische Unterstützung, ohne aber sich die Ideologie des Nationalismus zu Eigen zu machen. Jedoch hat der Erste Weltkrieg aufgezeigt, dass diese Phase im Leben des Kapitalismus zu Ende war. Aus einem Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts ist die Nation zu einem Faktor der Zerstörung der bis dahin entwickelten, materiellen Voraussetzungen des Sozialismus geworden.
In deinem Brief listest du die Verbrechen Deutschlands, Italiens und Japans im Zweiten Weltkrieg auf, sozusagen als Beweis für die Fortschrittlichkeit des Antifaschismus. Du wirfst uns sogar vor, diese Verbrechen zu verschweigen. Jedoch vom Standpunkt des Marxismus können die Verbrechen der einen Seite eines imperialistischen Krieges niemals ausreichen, um die Fortschrittlichkeit der anderen Kriegsseite zu beweisen. Dies wurde bereits beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich. Führende Sozialdemokraten aller kriegsführenden Länder haben ihre Kriegsteilnahme mit der Barbarei der Gegenseite zu rechtfertigen versucht. Jedes Mal beriefen sie sich auf die Haltung von Marx und Engels gegenüber dem barbarischen Russland. Was sie dabei verschwiegen: Marx und Engels haben niemals behauptet, dass die von den modernen, demokratischen, bürgerlichen Nationen angewendeten Mittel – beispielsweise in den Kolonien – weniger barbarisch waren als die zaristisch-russischen. Die Barbarei, von der sie in Bezug auf Russland sprachen, war die feudale Barbarei, welche alle fortschrittlichen, bürgerlichen Bewegungen auf dem europäischen Festland bekämpfte.
Die Barbarei der Nazis beweist keineswegs die Fortschrittlichkeit des angloamerikanisch-sowjetischen Blocks im Zweiten Weltkrieg – genau so wenig wie sie die im Namen des Antifaschismus verübten Verbrechen aus der Welt schaffen kann. Wir meinen, dass gerade diese Frage die entscheidende Wichtigkeit des Konzepts von der Dekadenz des Kapitalismus unterstreicht. Die Ablehnung des Nationalismus ist ein Prinzip des Proletariats. Dass die Arbeiterbewegung dennoch bestimmte nationale Bewegungen gutheißen konnte, war eine Ausnahme, welche nur die Regel bestätigt – eine Ausnahme auf Grund der Tatsache, dass die materiellen Vorbedingungen der proletarischen Revolution noch nicht vorhanden waren. Dass diese Ausnahmephase, in der die Arbeiterklasse unter Umständen ihren natürlichen Hauptfeind, die Bourgeoisie, gegen den Feudalismus unterstützen konnte, mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging, trifft aus unserer Sicht nicht nur für die Rolle des Nationalstaates und der ”nationalen Befreiung” zu, sondern auch was die Demokratie anbetrifft, ist eine Ausnahmephase zu Ende gegangen. Hat die Arbeiterklasse, der Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus oft der revolutionären und ”liberalen” Bourgeoisie gegen das Mittelalter geholfen, so bestimmt nicht, weil diese demokratische Bourgeoisie weniger barbarische Mittel zum Einsatz bringen würde oder weniger rassistisch wäre (das Gegenteil ist viel eher der Fall, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigt hat), sondern weil die demokratische und parlamentarische Republik für eine freiere Entwicklung des Kapitalismus und damit für die Voraussetzungen des Sozialismus günstige Bedingungen schuf. Deshalb sind wir auch nicht damit einverstanden, wenn du den Antifaschismus zu den ”Ein-Punkt-Bewegungen” zählst. Wir lehnen die Ein-Punkt-Bewegungen ab, nicht weil ihre Zielsetzungen als solche falsch wären (die Beseitigung des Rassismus, des Sexismus, der Umweltzerstörung gehören selbstverständlich zu den Zielen des kämpfenden Proletariats), sondern weil diese Ziele nicht innerhalb des Kapitalismus, sondern nur durch seine revolutionäre Beseitigung erreicht werden können. Wir lehnen hingegen die Zielsetzung des Antifaschismus rundweg ab, die darin besteht, eine bestimmte Form der Kapitalherrschaft gegen eine andere zu verteidigen, da erstere angeblich menschlicher wäre oder zumindest ”das kleinere Übel” für die Arbeiterklasse darstelle. Die Geschichte zeigt, dass die Demokratie die stärkste Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse darstellt, und dass die Herrschenden diese Waffe erst bei Seite legen kann , wenn die Arbeiterklasse bereits geschlagen ist.
Wir sind aber der Ansicht, dass deine, aus unserer Sicht falsche Einschätzung des Zweiten Weltkrieges und des Antifaschismus nicht nur mit der Dekadenzfrage, sondern auch mit deiner Einschätzung der Rolle der Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren zusammenhängt. Du deutest an, dass die Linkskommunisten, da sie ”Leuten die eine fortschrittliche Linie verfolgen dann die Solidarität mit der Begründung [entziehen …], dass sowieso nur die Sache der Konterrevolution vertreten wird” eine Haltung einnehmen, welche du als ”zynisch” und ”der Konterrevolution dienlich” bezeichnest. Denn du fügst direkt hinzu: ”Darin ist vielleicht auch ein Grund zu sehen, warum die ‘Fraktionen der kommunistischen Linken’ so sang- und klanglos in den 30ern ausgestorben sind. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.”
Das Wirken der Fraktionen der Kommunistischen Linken
Das erste, was wir dazu anmerken wollen, ist, dass weder die Fraktionen der Kommunistischen Linken in den 30er Jahren, noch die IKS als die international wichtigste linkskommunistische Organisation der Gegenwart, Leuten ”die eine fortschrittliche Linie” verfolgt haben, die Solidarität entzogen haben. Die italienische Fraktion, auf dessen Verhaltenskodex und Organisationsverständnis die IKS sich beruft, nahm immer eine solidarische Haltung allen proletarischen Strömungen gegenüber ein, nicht nur gegenüber der deutsch-holländischen Linken (allen politischen Divergenzen zum Trotz), sondern auch beispielsweise gegenüber den Trotzkisten, welche sogar eine Zusammenarbeit mit der Konterrevolution, mit Stalinismus und Sozialdemokratie befürwortet haben. Nicht zuletzt auf Grund dieser solidarischen Haltung gelang es den Linkskommunisten, die besten Genossen im Lager der Trotzkisten für ihre internationalistische Haltung gegenüber dem 2. Weltkrieg zu gewinnen, während der Trotzkismus die Arbeiterklasse verraten hat. Was allerdings wahr ist: Die Linkskommunisten zählten bürgerliche Demokraten, Stalinisten, Sozialdemokraten (und auch nicht die CNT Anarchisten, welche 1937 in der Regierung saßen, welche auf kämpfende Arbeiter in Barcelona scharf schießen ließ) nicht zu denjenigen, welche eine ”fortschrittliche Linie” verfolgten. Wir auch nicht. Was meinst du dazu?
Zweitens stimmt es nicht, dass die Kommunistische Linke in den 30er Jahren ”sang- und klanglos” ausgestorben ist. Die Vertreter dieser Strömung in Italien und Frankreich, in Belgien oder in den Niederlanden, haben ihr Leben riskiert, und oft auch hingegeben, um den politischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg während des zweiten Weltgemetzels weiterzuführen. Dabei taten sie im Prinzip nichts anderes, als Lenin oder Rosa Luxemburg gegenüber dem Ersten Weltkrieg: in Wort und Tat den proletarischen Internationalismus gegen alle kriegsführenden Seiten hochzuhalten. Sie setzten sich dafür ein, dass der Klassenkampf gegen den Krieg fortgeführt wird, dass die Proletarier in Uniform ihre Waffen, nicht gegen ihre Klassenbrüder und Schwester, sondern gegen ihre eigenen Offiziere richten, dass der imperialistische Krieg in einen Bürgerkrieg verwandelt wird. Du wirfst unserer Strömung vor, ”kurz vor Kriegsende ein zweites 1918 halluziniert” zu haben. Muss man im Nachhinein diese internationalistische Politik als falsch oder unnütz betrachten, da es nicht zum gewünschten Erfolg führte, da der Zweite, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nicht durch die Revolution beendet werden konnte? Die Internationalisten im Ersten Weltkrieg haben mehrere Jahre lang in großer Isolation gegen den Strom des Chauvinismus ankämpfen müssen, bevor die Masse der Arbeiter von der Richtigkeit dieser Politik überzeugt werden konnte. Die Internationalisten des Zweiten Weltkriegs mussten Jahrzehnte bis 1968 darauf warten, bis zumindest ein Teil der Politisierten einer neuen, ungeschlagenen Generation der Arbeiterklasse von der Richtigkeit und der Unerlässlichkeit dieser internationalistischen Haltung überzeugt wurde. Heute, ca. weitere 30 Jahre später, beginnt sich der politisierteste Teil der jetzigen neuen Generation von diesem Internationalismus zu überzeugen – wobei dieser Prozess, wenn auch weniger spektakulär, so doch viel breiter und tiefer in der Klasse insgesamt verwurzelt zu sein verspricht als nach 1968. Ist das etwa kein Beweis für die Wirksamkeit proletarischer Politik? Wir meinen ja, es sei denn, man misst den Erfolg ausschließlich an den unmittelbaren Auswirkungen.
Aber du behauptest, dass die Internationalisten von damals ”Schwätzer und Schreiber” waren, die das Proletariat nicht brauchte. Diese Behauptung wird durch die geschichtlichen Tatsachen selbst am besten widerlegt. Zwei Beispiele. Erstens: Während im gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs der westlich-”sowjetische” Block es systematisch unterließ, auch nur das Geringste zu unternehmen, um die Juden vor der Vernichtung zu bewahren, trat das niederländische Proletariat gegen die Deportationen in den Massenstreik, wobei die Internationalisten eine aktive, vorantreibende Rolle gespielt haben. Zweitens: Eines der berühmtesten politischen Manifeste des Zweiten Weltkrieges – Das Manifest von Buchenwald – wurde im KZ Buchenwald kurz vor der dortigen Erhebung am Kriegsende von einem Genossen der österreichische RKD verfasst, welche sich auf Grund des politischen Einflusses der Französischen Kommunistischen Linken (die direkte Vorläuferin der IKS) von dem die internationalistischen Klassenprinzipien verratenden Trotzkismus gelöst hatten.
Der spezifische Beitrag der Revolutionäre – die theoretische Arbeit
Wir finden, dass man die Hochhaltung des proletarischen Internationalismus nicht als ”Geschwätz” gering schätzen sollte. Bereits Friedrich Engels stellte fest, dass der proletarische Klassenkampf drei Hauptbestandteile hat. Neben dem ökonomischen und dem politischen Kampf nannte Engels den theoretischen Kampf als dritte Säule der Befreiung der Arbeit. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Revolutionäre sich entschlossen an den ökonomischen und politischen Kämpfen ihrer Klasse zu beteiligen haben. Ja, sie haben sich nach Möglichkeit an die Spitze dieser Kämpfe zu stellen. Jedoch ist der theoretische Kampf nicht nur ebenso wichtig wie die beiden anderen Dimensionen – es ist die Ebene des theoretischen Kampfes, worin der spezifische Beitrag der Revolutionäre besteht und ausschlaggebend ist.
Die Arbeit der Revolutionäre besteht nicht nur darin, die vorwärtsstürmenden Massen voranzutreiben. Da – um mit Marx zu sprechen – die herrschende Ideologie in der Regel die Ideologie der herrschenden Klasse ist, besteht sogar die Hauptaufgabe der Revolutionäre über weite Strecken darin, gegen den Strom zu schwimmen. So nannten Lenin und Sinoview ihre während des 1. Weltkriegs in der Schweiz herausgegebene Zeitschrift ”Gegen den Strom”. Wir sprachen vorhin davon, wie die Internationalisten im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskierten, um den Prinzipien ihrer Klasse treu zu bleiben. Nun, nicht nur die Revolutionäre, sondern Millionen von Soldaten haben damals, während des ersten wie des zweiten imperialistischen Gemetzels ihr Leben aufs Spiel gesetzt bzw. setzen müssen. Worin bestand der besondere Mut der Internationalisten? Er bestand darin, Risiken auf sich zu nehmen für eine Sache, welche von der offiziellen Gesellschaft – und manchmal sogar, zumindest vorübergehend, von einer Mehrheit der Bevölkerung – gehasst, verfolgt und verleumdet wird. Marx spricht von Augenblicken in der Geschichte, wo große umstürzlerische revolutionäre Ideen von der Masse Besitz ergreifen. Besteht die vornehmste Aufgabe der Kommunisten nicht darin, sich und die Klasse auf diesen Umsturz vorzubereiten, indem sie diese Ideen hochhalten und in der Klasse verbreiten? Eine große Revolution kann nicht gemacht werden auf Grund von reaktionären oder halbherzigen Prinzipien. Nur Ideen, welche zutiefst dem Wesen und den Klasseninteressen des Proletariats entsprechen, können die lohnabhängige Bevölkerung mit Macht ergreifen. Hierin liegt aus unserer Sicht die große Gefahr des Aktivismus. Damit meinen wir eine Herangehensweise, welche v.a. auf den unmittelbaren Erfolg bzw. die unmittelbare Einflussnahme abzielt auf Kosten der langfristigen Ziele. Bereits Bernstein, der bekannteste Sprecher des Opportunismus und ”Revisionismus” innerhalb der deutschen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts erklärte: ”Die Bewegung ist alles. Das Ziel ist nichts.” Für den revolutionären Marxismus hingegen müssen Ziel und Mittel übereinstimmen. Deswegen erscheint es uns so gefährlich, Genossen, welche inmitten der tiefsten Konterrevolution in der Geschichte des Proletariats Klassenprinzipien verteidigt haben, als ”Schwätzer” zu bezeichnen.
Wir wissen, dass wir nicht alle Punkte deines Briefes hiermit angesprochen und beantwortet haben (beispielsweise unseren Umgang mit der so genannten ”internen Fraktion der IKS). Andere wichtige Aspekte, etwa die Dekadenztheorie, haben wir hier nur kurz angeschnitten. Wir halten aber nichts davon, alles in einen Brief zu stopfen. Wir hoffen vielmehr auf die Entwicklung einer lebhaften Korrespondenz mit dir.
Mit kommunistischen Grüßen die IKS. August 2005