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Im ersten Teil dieses Artikels sind wir auf die in verschiedenen mündlichen und schriftlichen Beiträgen debattierte Frage des Klassencharakters der Gewerkschaften eingegangen. Wir sind dabei zum Schluss gekommen, dass die Position, die von einem nicht eindeutig bürgerlichen, sondern ambivalenten Charakter der Gewerkschaften in der heutigen Zeit spricht, letztlich mindestens in Teilen den Schein aufrecht erhält, den diese so genannten Arbeiterorganisationen über ihr eigenes Wesen erwecken wollen. Wir kommen nun zum zweiten Punkt, welcher der Klärung bedarf: Läuft die Position der IKS, die den Gewerkschaften in der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg einen bürgerlichen, staatskapitalistischen Klassencharakter zuweist und von Gewerkschaftsmanövern gegen die Arbeiterklasse spricht, auf eine Verschwörungstheorie hinaus?
Manöver der Gewerkschaften
Schauen wir uns diese Kritik an. Entzündet hat sich der Widerspruch an einem Wort – dem „Manöver“ der Gewerkschaften. Die IKS verwendet den Begriff des Manövers seit langem in der Intervention. So schrieben wir beispielsweise Ende 2004 nach dem damaligen Opel-Streik in Bochum: „Dass die Arbeit nach sechs Tagen in Bochum wieder aufgenommen wurde, obwohl die Hauptforderung der Streikenden nicht erfüllt wurde, haben diverse 'kritische Gewerkschaftler' mit dem Manöver der IG Metall- und Betriebsratsleitung während der Abstimmung vom 20. Oktober erklärt. Natürlich war die Formulierung der Alternative, worüber die Streikenden abzustimmen hatten - entweder Streikbruch und Verhandlungen oder Fortsetzung des Streiks ohne Verhandlungen - ein typisches Beispiel eines gewerkschaftlichen Manövers gegen die Arbeiter. Eine endlose Fortsetzung eines bereits isolierten Streiks wurde nämlich als einzige Alternative zum Streikabbruch hingestellt. Dabei wurden die entscheidenden Fragen ausgeblendet, nämlich: Erstens, wie kann man am wirksamsten den Forderungen der Arbeiter Nachdruck verleihen? Zweitens, wer soll verhandeln, die Gewerkschaften und der Betriebsrat oder die Vollversammlung, die gewählten Delegierten der Arbeiter selbst?“[1]
Die neuere Gewerkschaftsdebatte auf dem undergrounddogs-Forum hat sich an der von uns vertretenen Meinung entfacht, dass die Ferieninitiative der Gewerkschaftsverbandes Travailsuisse im Frühjahr 2012 in der Schweiz „ein regelrechtes Manöver der Gewerkschaften ist, damit die Angestellten und Arbeiter nicht andere, wirkungsvollere Massnahmen gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen sich überlegen. Pressluft rauslassen, die sich angestaut hat, das ist die Funktion solcher Initiativen“[2].
Darauf gab es mehrere Antworten, die dieser Position eine Verschwörungstheorie unterstellten. Beispielsweise O.B.M.F.: „Was den Punkt 'Manöver der Gewerkschaften' betrifft (…) ich will nicht behaupten, dass es solche Manöver in der Geschichte nie gegeben hat oder dass es sie heute nicht geben würde. Aber einfach zu sagen, es sei eines gewesen, weil es doch zu diesen oder zu jenen Punkten passt, überzeugt doch niemanden. Das ist doch genau das, was diese Verschwörungsparanoiker auch die ganze Zeit machen. Es geht doch darum sich klarzumachen, was die Gewerkschaften sind und warum sie so handeln, wie sie es tun und warum die Arbeiter ihnen in den entscheidenden Momenten folgen. Das hat viel weniger mit Irreführungen durch Gewerkschaften zu tun, als damit dass es ein Kapitalismusimmanentes Interesse der Klasse tatsächlich gibt, welches die Gewerkschaft ihnen nicht erst unterjubeln muss. Sie muss es nur organisieren. Das ist das Problem und es ist viel tiefer, als ein blosser Beschiss.“
Oder Muoit: „Du hingegen gehst an die Sache mit einem bereits feststehenden und der Realität meines Erachtens äusserlichen Schablone heran: Die Gewerkschaften vertreten nie die Interessen der in ihnen organisierten – oder in diesem Falle sogar fast allen – Arbeiter, sondern sie sind bürgerliche Organe, entsprechend muss das ein Manöver gegen die Klasse sein. Um so was überhaupt denkmöglich zu machen, müsste man sich aber auch mal erklären, wie es zu so was in deiner Theorie kommen soll: Da bleibt dann nicht viel mehr übrig, als die Ansicht, die Gewerkschaftsführer hätten das als Manöver geplant und das – bei allem Respekt – ist zumindest nahe an der Verschwörungstheorie gebaut.“
Beschiss und Verschwörung
Dabei wurde in der Debatte nicht genauer umschrieben, was mit Verschwörungstheorie gemeint sei. Aber man kann sich den Kern der Kritik wohl so vorstellen: Es geht um die Idee, dass die so genannten Manöver in einem mehr oder weniger begrenzten Kreis von Verschwörern im Geheimen bewusst geplant und umgesetzt würden. Offenbar spielt in dieser Auseinandersetzung das Argument des Bewusstseins eine wichtige Rolle. Konkret: Mit welchem Bewusstsein handeln die Gewerkschaften (vertreten und handelnd durch ihre Organe, die Gewerkschaftsfunktionäre), wenn sie etwas tun oder unterlassen, was den allgemeinen und langfristigen Zielen der Arbeiter_innenklasse widerspricht?
Eines sei vorab klargestellt: Wenn wir von „Manövern der Gewerkschaften“ sprechen, meinen wir nicht, dass ihre Repräsentanten sich über ihr Handeln in einem grösseren Zusammenhang Rechenschaft ablegen, geschweige denn, dass sie stets bewusst (und versteckt vor der Öffentlichkeit) einen Plan aushecken würden, wie sie die Interessen der Arbeiter_innen am effektivsten hintertreiben können. Und trotzdem behaupten wir, dass die Gewerkschaften in der Regel so handeln, dass tatsächlich die langfristigen Klasseninteressen des Proletariats wirksam hintergangen werden, so dass sich zur Beschreibung des äusseren Ablaufs der Dinge der Begriff des Manövers förmlich aufdrängt.
Wie kommt aber dieses "Manöver" zustande? Aus unserer Sicht sind es nicht ideelle, sondern ganz materielle Gründe, nicht weil sich die Gewerkschaftsspitzen und ihre Funktionäre einen von A bis Z ausgedachten Plan zurechtlegten und bewusst ein Manöver inszenierten, sondern weil sie ihrer Funktion gemäss handeln. In Anlehnung an Marx könnte man über diese „Handlanger des Kapitals“ sagen, dass auch sie das tun, was sie ihrem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sind: Sie sollen den Arbeitern und Arbeiterinnen Lösungsvorschläge zur „Verbesserung“ des Kapitalismus unterbreiten. Ist das denn etwas Anderes als Sabotage der Revolution! Mit welchem Bewusstsein die Gewerkschafter agieren, spielt für das Gelingen des Manövers zunächst keine Rolle. Es wird Gewerkschafter geben, die als alte Linke ziemlich bewusst ans Werk gehen. Andere haben keine Ahnung, was sie tun; schon der Vater war Gewerkschafter und der Grossvater auch – das macht man einfach so. Dabei sollte auf rein empirischer Ebene festgehalten werden, dass in offenen Kampfsituationen ein Manöver der Gewerkschaftsspitzen oft, wie im Kampf von 2004 bei Opel in Bochum, selbst von Gewerkschaftsmitgliedern als solches bezeichnet wird.
Bewusstsein und Ideologie
In dieser Diskussion darf nicht vergessen gehen, welches Abbild die kapitalistischen Verhältnisse im Bewusstsein der Menschen typischerweise produzieren. Im Kapitalismus stehen die Menschen in verdinglichten (über den Warenaustausch vermittelten) Beziehungen mit allen anderen, ohne dass sie die Gesamtheit dieser Verhältnisse bestimmen (oder auch nur durchschauen) würden. Die Menschen sind in ihren Handlungen durch diese materiellen Verhältnisse geprägt, nicht durch die ideellen Vorstellungen, die sie sich davon machen, auch wenn es ihnen genau umgekehrt erscheint – ein „Irrtum“, der „vom ideologischen Standpunkt aus um so leichter zu begehen“ war, „als jene Herrschaft der Verhältnisse (…) in dem Bewusstsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint“ (Marx, Grundrisse).
Auf der Grundlage, dass unbeherrschbare gesellschaftliche Verhältnisse falsche, d.h. ideologische Vorstellungen bei den Betroffenen hervorrufen, dürfte das Bewusstsein über die eigene Rolle bei einem Gewerkschaftsfunktionär oder selbst beim ganzen Gewerkschaftsapparat nur ausnahmsweise klar und dem Gegenstand angemessen sein. Der herrschenden Ideologie unterworfen, sitzen auch die Gewerkschaftskader dem Schein der falschen Verhältnisse auf: Sie meinen zu einem guten Teil tatsächlich, dass sie die Arbeiterinteressen verträten und wirksam gegen die kapitalistische Ausbeutung kämpften. Worum es hier also geht, ist die Frage, welchen Bewusstseinsgrad die Akteure, die die Intervention der Gewerkschaften bestimmen und tragen, bei ihren Handlungen haben. Von einer Verschwörung oder einem Komplott spricht man dann, wenn sich die massgebenden Leute miteinander bewusst über ihre Ziele und Mittel verständigen und auf eine Strategie einigen. Dass dies geschehen kann, gibt auch O.B.M.F. zu; dass es aber bei dem, was wir Manöver der Gewerkschaften nennen, in jedem Fall eine Verständigung über die langfristigen Ziele gebe, behaupten auch wir nicht. Was ist aber die Fortsetzung des Gedankens von O.B.M.F.? Manchmal gibt es bewusste Manöver und manchmal nicht? Sollten wir nicht vielmehr die Frage nach den Bewegungsgesetzen und Triebkräften hinter den allfälligen Manövern beantworten?
Meines Erachtens gibt es dabei mindestens zwei Aspekte, die genauer zu betrachten sind: Der erste Gesichtspunkt betrifft den subjektiven Standpunkt der Akteure, konkret der Gewerkschaftsfunktionäre. Sie vertreten, was auch Eiszeit in ihrem Beitrag in Kosmoprolet Nr. 3 konstatiert und kritisiert, u.a. Werte bzw. Inhalte wie: Spaltung der Klasse in Nationen, Souveränität des Nationalstaats, Herrschaft der bürgerlichen Demokratie, Verteidigung des Gewaltmonopols des kapitalistischen Staates usw. Wer so ausgerüstet in das Geschäft des „gewerkschaftlichen Kampfes“ steigt, kann doch nicht anders als, im Grossen und Ganzen gesehen, den proletarischen Interessen diametral entgegenstehen. Wenn es in einem Kampf der Arbeiter_innen um Selbstorganisation gehen könnte, ruft jener Demokrat: „Gewerkschaftliche Repräsentation!“ Wenn die bürgerliche Staatsordnung gefährdet ist, eilt er seinem Programm gemäss genau dieser Ordnung zu Hilfe. Dass die Spitzen der deutschen Politik offen über die gelungene Arbeitsteilung bei der Durchsetzung der Agenda 2010 reden können und Stoiber dem Linken Schröder zu den erfolgreichen Massnahmen/Angriffen gratuliert, die er als Rechter aufgrund drohender Volksproteste nicht hätte umsetzen können, ist ein Gradmesser für das Bewusstsein der herrschenden Klasse über ihre Strategien.[4]
Keine Naivität gegenüber der Bourgeoisie
Und hier ist der zweite Aspekt angesprochen, die Funktionsweise der herrschenden Klasse im Kapitalismus. Uns scheint, dass die Position, die in dieser Diskussion gegen uns den Bann ausspricht, die Gefährlichkeit des Gegners unterschätzt. Im Artikel „Marxismus und Verschwörungstheorien“ haben wir versucht, aufzuzeigen, dass das Phänomen der Verschwörungstheorien im Kapitalismus kein zufälliges ist. Vielmehr sind auch sie ein ideologischer Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse. Die Bourgeoisie ist eine herrschende Klasse, die selber in Nationen gespalten und von ständigen Rivalitäten geprägt ist. Die Verschwörung gehörte von Anfang an zum Arsenal ihres ihrer Funktionsweise. Niccolò Machiavelli (1469-1527) ist der Pate dieses Kindes - des Machiavellismus. Obwohl auch die Bourgeoisie nicht über den gesellschaftlichen Verhältnissen steht und insofern die von Widersprüchen zerrissene kapitalistische Produktionsweise nicht wirklich beherrschen kann, gehört die Verschwörung zu den von ihr verwendeten Mitteln und ist die verschwörerische Sicht auf die Welt Teil ihrer Ideologie – ein falsches Bewusstsein, das aber ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion entspricht.
Die durchaus bestehende Fähigkeit und Bereitschaft zur Verschwörung zeigt sich bei der Bourgeoisie insbesondere in angespannten Zeiten, wenn das Proletariat zur Gefahr für die herrschende Ordnung wird. Beispiele:
- In der Novemberrevolution 1918 in Deutschland vereinbarten Friedrich Ebert als SPD-Vorsitzender und Mitglied des Rates der Volksbeauftragten und General Wilhelm Groener als Chef der Obersten Heeresleitung ein gemeinsames Vorgehen gegen linksradikale Gruppierungen (Ebert-Groener-Pakt, auch "Pakt mit den alten Mächten"). Die SPD war zuständig für die Legitimation der Regierung gegenüber der Arbeiterklasse, während gleichzeitig die Militärs die Bildung der Freikorps zur brutalen Niederschlagung der revolutionären Arbeiter_innen vorbereiteten. Die Fortsetzung der Geschichte ist bekannt.
- Als im Mai 1968 in Frankreich der bis damals grösste Streik in der Geschichte ausbrach, setzten sich (einmal mehr) Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung zusammen. „Es war offensichtlich, dass die Bourgeoisie Angst hatte. Der Premierminister Pompidou leitete die Verhandlungen. Am Sonntagmorgen traf er den Chef der CGT, Séguy, eine Stunde lang unter vier Augen. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frankreich brauchten Zeit, um ohne Zeugen die Bedingungen für die Wiederherstellung der Ordnung zu besprechen (…)“[5] Es kam dabei auch zu einem Geheimtreffen auf einem Dachboden zwischen dem damaligen Minister für soziale Angelegenheiten, Jacques Chirac, und der Nummer 2 bei der CGT, Krasucki. Wenn das kein Komplott ist!
O.B.M.F. hat sicher recht, wenn er sagt, dass das Problem tiefer ist „als ein blosser Beschiss“. Für das Gelingen eines Manövers spielt es – wie oben beschrieben – zunächst gar keine Rolle, ob ihre Protagonisten arglistig oder naiv ehrlich handeln. Einig sind wir uns auch in der Feststellung, dass die Bourgeoisie zu eigentlichen verschwörerischen Manövern fähig und bereit ist. Dabei spielen heute die Gewerkschaften eine kaum ersetzbare Rolle, was v.a. dort deutlich wird, wo die Gewerkschaften gerade nicht mehr den Schein der Unabhängigkeit gegenüber dem Staat (z.B. in den stalinistischen Ordnungen) haben. Doch über die Fähigkeit und Bereitschaft der herrschenden Klasse zum geplanten Manöver hinaus darf ihre Neigung, ihre spontane Tendenz dazu, nicht übersehen werden. Im Gegensatz zum Proletariat hat die im Kapitalismus das Kommando ausübende Klasse (mit all ihren bewussten oder unbewussten Agenten) kein Interesse an Ehrlichkeit, Offenheit, Debatte – sie hat kein Interesse an der Wahrheit.
Wut und Kampfbereitschaft
Wir können uns gut vorstellen, dass die eingangs erwähnten Kritiker unserer Position zur Ferieninitiative über weite Strecken mit unseren Argumenten einverstanden sind – und trotzdem finden, dass diese Initiative von Travailsuisse kein Manöver gewesen sei, weil die fehlende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse ein solches schlicht unnötig mache. Dabei muss man wohl zwischen tatsächlicher Kampfbereitschaft und wachsender Wut unter den Arbeiter_innen unterscheiden. Jene ist ein kollektiver Prozess, diese eine Vorstufe dazu, die zunächst individuell und noch nicht als gemeinsame Stimmung wahrgenommen wird. Schon in diesem Stadium gibt es für die Schützer der herrschenden Ordnung (z.B. die Gewerkschaften) eine Tendenz zum Manöver, um „Dampf abzulassen“. Denn die Wut ist eine Voraussetzung der Entwicklung der Kampfbereitschaft – und je früher ein solcher Prozess verhindert oder gebremst werden kann, desto besser fürs System. Wenn schon eine Ferieninitiative reicht, um etwas Dampf abzulassen (bzw. die demokratischen Illusionen zu stärken), umso stabiler die Ausbeutungsordnung. Wenn dieses Mittel nicht reicht, dann hilft vielleicht ein gewerkschaftlich kontrollierter Streik. Insofern ist die Analyse der verschiedenen Manöver des Bourgeoisie (von den fies geplanten bis zu den sich spontan ergebenden) ein Spiegel der Auseinandersetzung zwischen den Klassen und kann helfen, das Kräfteverhältnis möglichst differenziert einzuschätzen.
Maluco, 29.03.13
(leicht gekürzte Fassung des auf unserer Homepage veröffentlichten Originalartikels)