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Mehr als 300 Tote und Dutzende von Schwerverletzten: die Explosion, die das Bergwerk von Soma im Westen der Türkei erschütterte, ist die opferreichste Industriekatastrophe in der Geschichte des Landes. Sie ist keineswegs ein „Unfall“, ein Produkt schieren Pechs, das wir gottgegeben hinnehmen müssen. Sie ist ein Verbrechen – ein Verbrechen des Kapitals.
Nach dem Zusammenbruch der Mine gingen Tausende von ArbeiterInnen und StudentInnen nicht nur in Soma und Izmir (einer Hafenstadt nahe Soma), sondern auch in den Großstädten der Türkei, in Ankara und Istanbul, und in den kurdischen Regionen auf die Straße. Mutig der brutalen Repression, dem Tränengas und der Schlagstöcke trotzend, nahmen – fast ein Jahr nach der großen sozialen Bewegung, die von der Verteidigung des Gezi-Parks in Istanbul ausgegangen war – die Demonstrationen täglich an Umfang zu.
Die Bourgeoisie und ihre gefügigen Medien blieben sehr einsilbig gegenüber diesem Zorn. Alle Fernsehsender konzentrierten sich darauf, trauernde Familien, die um ihre Toten weinen, zu zeigen, und Reden von Erdogan und vom Energieminister einzustreuen, in denen diese Ausgleichszahlungen versprachen – als ob dies den Schmerz der Angehörigen lindern oder die Toten wieder lebendig machen könnte. Um die sozialen Spannungen abzubauen und dem Zorn der Bergarbeiter ein Ende zu bereiten, versprach man ihnen andere Jobs nach der Schließung des Bergwerks.
Das Stillschweigen der Medien über die Straßendemonstrationen und die Versammlungen von StudentInnen, die die Universitäten besetzten, ging einher mit vermehrten Polizeikontrollen gegen die Bevölkerung. Es drangen nur wenige Informationen darüber durch, was tatsächlich in Soma geschehen war. Die Regierung mobilisierte ihre Imame, um die ArbeiterInnen mit religiösem Opium zu narkotisieren, um sie dazu zu bringen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden, sich der kapitalistischen Ordnung zu fügen.
Auf den Demonstrationen trafen die Solidarität mit den Familien der Opfer und die Empörung über die Gleichgültigkeit der Regierung und der Bosse auf die brutale Repression eines Polizeistaates. Das Foto, das eine junge Frau zeigt, die ein Plakat hochhält, auf dem geschrieben steht: „Dies war kein Unfall, dies ist Mord. Die Regierung ist verantwortlich!“, spricht für sich, was das Ausmaß der Wut und die gesellschaftliche Unzufriedenheit angeht.
Zum Zeitpunkt, als diese Zeilen geschrieben wurden, wurden nach den Polizeiattacken gegen die Demonstrationen Generalversammlungen in den Universitäten von Istanbul und Ankara abgehalten.
Wahlen sind eine Falle für die Arbeiterklasse!
Neben den Imamen mobilisierte die türkische Bourgeoisie auch all ihre demokratischen Kräfte, ihre „Opposition“, um die Gefahr einer sozialen Explosion niederzuhalten. Alle demokratischen Kräfte, die in den Demonstrationen involviert sind, stimmen in den Schlachtruf ein: „Die Regierung muss zurücktreten!“ Die Kräfte des demokratischen „Fortschritts“ (die linken und linksextremen Parteien, die Gewerkschaften, etc.) tragen so ihren eigenen Part zum Schutz der kapitalistischen Ordnung und der nationalen Einheit bei. Ihre „radikalen“ Reden gegen die Erdogan-Regierung haben nur ein Ziel: die soziale Zeitbombe zu entschärfen und den Zorn der ArbeiterInnen und StudentInnen in die Falle der Wahlen zu lenken. Die Imame rufen die ArbeiterInnen dazu auf, Trost im Gebet zu suchen; die Oppositionskräfte rufen sie dazu auf, isoliert voneinander ihr Heil an der Wahlurne zu suchen und ein besseres Management des nationalen Kapitals durch eine „kompetentere“ bürgerliche Clique zu fordern.
Es fügt sich, dass die Präsidentschaftswahlen im August stattfinden, und das zum ersten Mal auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts. Alle Sirenen der Demokratie werden die Ausgebeuteten dazu aufzurufen, als bloße „Bürger“ zu handeln. Es ist kein Zufall, dass Erdogans Opponenten so sehr die „mangelnde Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gegenüber den Arbeitsbedingungen“, insbesondere in den Bergwerken, anprangern. Und es ist ebenfalls kein Zufall, dass die Gewerkschaften einen eintägigen Generalstreik angekündigt haben, um „gegen die Versäumnisse der Regierung“ zu protestieren. Die Gewerkschaften und die Oppositionsparteien versuchen, die Aufmerksamkeit auf Erdogan zu fokussieren, um die Illusion zu verbreiten, dass eine andere Clique von Ausbeutern die Ausbeutung der Proletarier humaner gestalten könnte, so jegliches Nachdenken über die wahren Ursachen dieser Katastrophe, die kapitalistische Produktionsweise, verhindernd.
Die provokanten Erklärungen des Ministerpräsidenten können offenkundig nur dazu führen, dieses Gefühl der Abscheu über den grenzenlosen Zynismus Erdogans zu steigern. Als er kaltherzig gegenüber den betroffenen Familien behauptete: „In solchen Minen passieren immer wieder solche Unfälle“, konnte dies den Zorn nur noch weiter steigern. Und schließlich sind wir Zeuge eines noch provokanteren Auftretens der Bullen und sogar Erdogans und seiner Leibwächter, die auf Demonstranten einschlagen.
Erdogans Brutalität und Arroganz zeigt uns das wahre Gesicht der gesamten Bourgeoisie, einer globalen Klasse von Ausbeutern und Mördern. Der Kapitalismus „mit einem humanen Antlitz“ ist eine reine Mystifikation, weil die Bourgeoisie, welche Clique auch immer an der Regierung sein mag, ob rechts oder links, sich nicht einen Deut um Menschenleben schert. Ihre einzige Sorge gilt dem Profit. Und ob er nun säkular oder religiös geprägt ist, der Staat ist stets ein Polizeistaat, wie wir in den meist entwickelten demokratischen Ländern sehen können, wo Demonstrationen stets gut von Kräften der Opposition und den Basisgewerkschaftern auf der einen und von den Repressionskräften auf der anderen Seite kontrolliert werden.
Der Kapitalismus ist ein System, das den Tod verbreitet
Akin Celik, der Direktor des Soma-Bergwerks, teilte im Jahr 2012 einer türkischen Zeitung mit, dass es gelungen war, die Produktionskosten auf 24 Dollar die Tonne zu reduzieren, im Vergleich zu den 130 Dollar vor der Privatisierung des Bergwerks. Wie konnte es zu einer solchen Meisterleistung kommen? Natürlich durch Kürzungen an allen Ecken und Enden, soweit möglich, besonders auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit. Sie wurden mit dem Segen der Gewerkschaften erzielt, die jetzt die Versäumnisse der Regierung anprangern. Man kann es nicht deutlicher ausdrücken, wie dieser Kumpel aus Soma: „Es gibt keinerlei Sicherheiten in diesem Bergwerk. Die Gewerkschaften sind nur Marionetten und die Bosse denken nur ans Geld.“[1]
Doch die Gier der Bosse ist nicht die wesentliche Ursache von Industriekatastrophen und Arbeitsunfällen. Wenn die Kosten ständig gedrückt werden müssen, geschieht dies, um die Produktivität des Unternehmens, seine Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten, es ist die eigentliche Produktionsweise des Kapitalismus – eine Produktionsweise, die auf die Konkurrenz, auf den Weltmarkt, auf die profitorientierte Produktion basiert -, die die Bosse, selbst die „humansten“ unter ihnen, unerbittlich dazu treibt, das Leben jener zu gefährden, die sie ausbeuten. Für die bürgerliche Klasse ist der/die LohnarbeiterIn lediglich die Quelle einer Ware, deren Arbeitskraft zu einem möglichst niedrigen Preis gekauft wird. Und um die Produktionskosten zu senken, hat die Bourgeoisie keine andere Wahl, als die Sicherheit auf dem Arbeitsplatz einzusparen. Die Ausbeuter können sich nicht allzu viele Sorgen um das Leben, die Sicherheit und die Gesundheit der Ausgebeuteten machen. Das einzige, was zählt, ist das Auftragsbuch, die Profitmarge, die Mehrwertrate.
Laut einem 2003 veröffentlichten Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation werden alljährlich weltweit 270 Millionen LohnarbeiterInnen Opfer von Arbeitsunfällen; 160 Millionen leiden an „Berufskrankheiten“. Die Untersuchung enthüllt, dass jedes Jahr zwei Millionen Menschen bei der Verrichtung ihrer Arbeit zu Tode kommen. Das sind 5.000 pro Tag!
Und dieser Horror beschränkt sich nicht auf die Dritte Welt. In Frankeich kommen laut der CNAM (Caisse National d’Assurance-Maladie – die nationale Krankenversicherungsorganisation) pro Jahr 780 Beschäftigte bei Arbeitsunfällen ums Leben, mehr als zwei pro Tag. Es gibt etwa 1.350000 Arbeitsunfälle im Jahr, das heißt 3.700 Opfer jeden Tag oder, bei einem Achtstunden-Arbeitstag, acht Verletzte jede Minute.
Wenn wir zurückblicken, so hat der Kapitalismus stets Tod verbreitet. Wie Engels 1845 in seiner Untersuchung über Die Bedingungen der Arbeiterklasse in England aufzeigt:
„Die Kohlengrube ist der Schauplatz einer Menge der schreckenerregendsten Unfälle, und gerade diese kommen direkt auf die Rechnung des Bourgeoisie-Eigennutzes. Das Kohlenwasserstoffgas, das sich so häufig in ihnen entwickelt, bildet durch seine Vermischung mit atmosphärischer Luft eine explosible Luftart, die sich durch die Berührung mit einer Flamme entzündet und jeden tötet, der sich in ihrem Bereich befindet. Solche Explosionen fallen fast alle Tage hier oder dort vor; am 28. September 1844 war eine in Haswell Colliery (Durham), welche 96 Menschen tötete. Das kohlensaure Gas, das sich ebenfalls in Menge entwickelt, lagert sich an den tiefern Stellen der Gruben oft über Mannshöhe und erstickt jeden, der hineingerät (…) Durch eine gute Ventilation der Gruben vermittels Luftschachten wäre die nachteilige Wirkung beider Gase gänzlich zu vermeiden, aber dazu gibt der Bourgeois sein Geld nicht her und befiehlt lieber den Arbeitern, nur von der Davyschen Lampe Gebrauch zu machen, die ihm wegen ihres düstern Scheins oft ganz nutzlos ist und die er deshalb lieber mit der einfachen Kerze vertauscht. Kommt dann eine Explosion, so war es die Nachlässigkeit der Arbeiter, wo doch der Bourgeois durch gute Ventilation jede Explosion hätte fast unmöglich machen können. Ferner fällt alle Augenblicke ein Stollen ganz oder teilweise ein und begräbt die Arbeiter oder zerquetscht sie; es ist das Interesse des Bourgeois, daß die Flöze soviel irgend möglich ausgegraben werden, und daher auch diese Art Unglücksfälle.“ (Kapitel über „Das Bergwerksproletariat“)
Der Kapitalismus – das ist der Mörder, das ist der Feind!
Die Toten von Soma sind auch unsere Toten. Es sind unsere Klassenbrüder, die durch den Kapitalismus getötet worden sind. Es sind unsere Klassenbrüder und -schwestern, die auf den Demonstrationen in der Türkei zusammengeschlagen wurden. Die Ausgebeuteten der gesamten Welt müssen sich von dieser Katastrophe mit betroffen fühlen, weil das gesamte System eine Katastrophe für die Menschheit ist.
Angesichts der Barbarei dieser Gesellschaftsordnung, die nicht nur in militärischen Konflikten, sondern auch immer häufiger auf dem Arbeitsplatz Tote produziert, müssen sich die Ausgebeuteten weigern, irgendeine gemeinsame Sache mit ihren Ausbeutern zu machen. Die einzige Solidarität, die sie mit den Familien der Opfer von Soma zeigen können, ist der Kampf auf ihrem eigenen Klassenterrain. Überall, auf den Arbeitsplätzen, in den Hochschulen und Universitäten, auf Versammlungen und Treffen müssen wir die wahren Ursachen dieser Tragödie diskutieren. Wir müssen über die Fallen der reformistischen Wächter der bürgerlichen Ordnung hinwegspringen, die mit der Vogelscheuche Erdogan herumfuchteln, um die wahre Verantwortung des Weltkapitals zu verschleiern.
Auf die Trauerreden der Imame – „Kämpft nicht, sondern betet!“ –, auf die Slogans der demokratischen Opposition – „Kämpft nicht, sondern geht wählen!“ – müssen wir entgegnen:
Solidarität mit unseren Klassenbrüdern und -schwestern in der Türkei! Kampf den Ausbeutern in aller Herren Länder!
Révolution Internationale, 16.5.14