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Vor 70 Jahren, am 6. August 1945, wurden in Hiroshima als Opfer der Demonstration der neuen amerikanischen Nuklearwaffe mehr als Hunderttausend Menschen getötet. Nach offiziellen Zahlen starben 70`000 bei der Explosion und Tausende erlitten in den Tagen danach dasselbe Schicksal. Drei Tage danach, am 9. August, explodierte in Nagasaki eine zweite Atombombe, die eine ähnlich hohe Zahl von Opfern forderte1. Die Barbarei und das Leid, die die Bevölkerung in Japan erlitt, lassen sich kaum beschreiben.
1995 schrieben wir angesichts des 50. Jahrestages dieses schrecklichen Ereignisses: “Um ein solches Verbrechen zu legitimieren und um auf den berechtigten Schock eine Antwort zu geben, der durch die katastrophalen Auswirkungen der Bomben verursacht wurde, setzten Truman, der US-Präsident, der diesen nuklearen Holocaust angeordnet hatte, und sein Busenfreund Churchill eine durch und durch zynische Lüge in die Welt: Der Einsatz der Atombomben habe eine Million Menschenleben gerettet, die die Invasion der amerikanischen Truppen erfordert hätte. Trotz der grausamen Auswirkungen seien die Bomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstört hätten, Bomben für den Frieden gewesen! Diese besonders widerliche Behauptung wurde jedoch von zahllosen, von der Bourgeoisie selbst herausgegebenen Geschichtsstudien widerlegt.“
Wenn wir Japans militärische Situation zur Zeit der Kapitulation Deutschlands näher unter die Lupe nehmen, so sehen wir ein Land, das am Rande der Niederlage stand. Die Luftwaffe, seine wohl wichtigste Waffe im Zweiten Weltkrieg, war auf eine Handvoll Kampfflugzeuge geschrumpft, die von jugendlichen Piloten geflogen wurden, deren Unerfahrenheit durch Fanatismus wettgemacht wurde. Auch die Kriegs- und Handelsflotte war praktisch ausgeschaltet. Die Flugabwehr wies so viele Lücken auf, dass die amerikanischen B29-Bomber im Frühling 1945 Tausende von nahezu verlustfreien Angriffen starten konnten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Churchill selbst hielt dies im 12. Band seiner Kriegsmemoiren fest.
Eine 1989 in der New York Times veröffentlichte Studie, die vom US-Geheimdienst 1945 erstellt worden war, zeigte, dass „der japanische Kaiser, die Niederlage eingestehend, am 20. Juni 1945 entschied, alle Kampfhandlungen zu beenden und vom 11. Juli an Friedensverhandlungen in Gang zu setzen mit dem Ziel, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden".2 Doch da in der kapitalistischen Gesellschaft Zynismus und Verachtung keine Grenzen kennen, ist hier noch anzufügen, dass die Überlebenden dieser Explosionen, die „Hibakusha“, erst im Jahr 2000 vom japanischen Staat als Opfer anerkannt wurden und immer noch unter Diskriminierungen leiden.3
Bezüglich der wirklichen Ziele der Bombardierungen schrieben wir 2005: „Im Gegensatz zu all den Lügen, die seit 1945 über den angeblichen Sieg der Demokratie und des Friedens in die Welt gesetzt wurden, war der Zweite Weltkrieg dann zu Ende, als die imperialistische Neuaufteilung der Welt erfolgt war. Enthielt der Vertrag von Versailles den Keim eines neuen Krieges in sich, so enthielt auch Jalta den Gegensatz zwischen den zwei Hauptsiegern des Zweiten Weltkrieges, den USA und ihrem russischen Gegner. Durch den Zweiten Weltkrieg von einer ökonomisch schwachen Macht zu einem Imperialismus von Weltrang aufgestiegen, konnte die Sowjetunion nicht anders, als die US-amerikanische Supermacht zu bedrohen. Bereits im Frühling 1945 benutzte die UdSSR ihre militärische Stärke, um einen Block in Osteuropa auf die Beine zu stellen. Jalta diente nur dazu, das existierende Kräfteverhältnis zwischen den mächtigsten imperialistischen Haien, die aus der größten Schlächterei der Geschichte hervorgingen, zu sanktionieren. Die Situation, die durch das eine Kräftegleichgewicht geschaffen worden war, wurde nun durch ein anderes über den Haufen geworfen. Im Sommer 1945 war das wahre Problem, vor dem die USA stand, nicht, wie es uns in den Schulbüchern eingetrichtert wird, Japan sobald als möglich zur Kapitulation zu zwingen, sondern, wie man dem imperialistischen Feldzug des ‚großen russischen Verbündeten‘ begegnen konnte.“
In Wirklichkeit begann schon vor 1945 aufgrund der sich zuspitzenden imperialistischen Spannungen ein regelrechter nuklearer Aufrüstungswettlauf. Kapitalistische Großmächte konnten ihre Position auf der imperialistischen Bühne nur noch aufrechterhalten und wurden von ihren Gegnern nur dann ernstgenommen, wenn sie Atomwaffen besaßen oder, noch besser, selbst entwickelten. Dies galt vor allem für die „Blockführer“ USA und UdSSR. Ab 1949 begann Russland seine eigenen Atombomben zu testen. 1952 war Großbritannien an der Reihe. 1960 wurde die erste französische Atombombe, zynischerweise „Blaue Springmaus“ (gerboise bleue) genannt, in der algerischen Sahara gezündet. Während dieser Periode wurden - und dies ist nicht übertrieben - Hunderte von Atombombentests mit tragischsten Konsequenzen für die Natur (und oft auch für die Bevölkerung in der Umgebung) durchgeführt, die von den jeweiligen Staaten geheim gehalten wurden. Nicht nur entfaltete sich ein irrsinniger Wettlauf zwischen den USA und der UdSSR um die Erhöhung der Anzahl von immer größeren Nuklearwaffen; es wurden auch alle erdenklichen Anstrengungen zur Verstärkung der Zerstörungskraft dieser Waffen unternommen. Zwar stellten die Bomben vom August 1945 einen Moment äußerster Grausamkeit in der kapitalistischen Barbarei dar, doch waren sie weit entfernt vom Zerstörungspotenzial der heute existierenden Waffen.
Die kapitalistische Barbarei kennt keine Grenzen. Als wären die mehr als Hunderttausend Toten von Hiroshima und Nagasaki lediglich ein Vorgeschmack auf das, was der dekadente Kapitalismus anzurichten vermag, gingen die USA noch einen Schritt weiter, als sie 1952 eine Wasserstoffbombe namens „Ivy Mike“ mit 10,4 Megatonnen Sprengkraft zündeten, eine Bombe mit der sechshundertfachen Zerstörungskraft der Atombombe von Hiroshima. Russland zündete 1961 in dieser fatalen Rüstungsspirale mit der berühmten „Tsar-Bomba“ auf der Insel Nowaja Semlija die stärkste je getestete Wasserstoffbombe. Sie hatte eine Kraft von mehr als 50 Megatonnen, verglaste buchstäblich die Erde in einem Radius von 25 Kilometern und zerstörte alle hölzernen Gebäude im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Die Armeeführung war von der Vorstellung angetan, dass die Hitze, die durch die Explosion entstand, noch in einem Umkreis von 100 Kilometern Verbrennungen dritten Grades verursachte.1968 unterzeichneten die großen Atommächte USA, Russland, Großbritannien und Frankreich formell einen Atomwaffensperrvertrag. Dieser Vertrag, der das Ziel hatte, die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen zu bremsen, hatte aber kaum Wirkung. Er war genau so heuchlerisch wie Jahre später das Kyoto-Protokoll gegen die Erderwärmung. Seit dem Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrages 1970 erweiterte sich die Liste der Nuklearmächte um eine Reihe von Ländern: Indien, China, Pakistan, Nordkorea, Israel. Dazu kommt eine Reihe von Staaten, bei denen der Besitz von Atomwaffen Gegenstand von Diskussionen zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse ist: der Iran natürlich, aber auch Brasilien, das verdächtigt wird, ein Atomwaffenprogramm zu entwickeln4, Saudi-Arabien und Syrien, über dessen Kernreaktor in Damaskus schon viel gesprochen wurde. Es ist unübersehbar, dass dieser Sperrvertrag nichts anderes als Augenwischerei ist, der die brutale Realität des illegalen Handels mit nuklearem Material verheimlichen soll. In einem System, basierend auf der Konkurrenz und dem Kräftemessen, ist die Idee, zur Vernunft zurückzukehren, reine Mystifikation. Seit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Blöcke 1990 hat die militärische Instabilität in fortschreitendem Maße alle Zonen des Planeten ergriffen. Die internationale Situation zeigt uns dies täglich. Es handelt sich um einen wahren Zerfallsprozess, der immer mehr Barbarei und Irrationalität erzeugt. In diesem Rahmen muss man auch die Ankündigung Putins vom 16. Juni verstehen, laut der: „… Russland sein nukleares Arsenal mit der Installierung von mehr als 40 neuen Interkontinentalraketen bis Ende des Jahres verstärken wird (…) Diese Ankündigung wurde vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen zwischen Russland und den USA gemacht, deren Pläne, schwere Waffen in Europa zu stationieren, wie von der New York Times enthüllt wurde, Moskau in Rage gebracht hatten“.5 Angesichts des 70. Jahrestages des nuklearen Holocaust ist eine solche Deklaration bezeichnend für die Verwesung, in die die kapitalistische Gesellschaft abgleitet.
Die Arbeiterklasse, die als einzige Klasse der Menschheit eine Perspektive bieten kann, ist auch die einzige Klasse, die der kriegerischen Barbarei der imperialistischen Mächte etwas entgegenzusetzen vermag. Das Proletariat darf sich nicht durch den Schrecken und die Angriffe, die die kapitalistische Klasse zu veranstalten fähig ist, einschüchtern und lähmen lassen. Zweifellos löst das Grauen vom August 1945 in Japan und des Krieges insgesamt Angst aus. Und dies aus gutem Grund. Im Getümmel der kapitalistischen Konkurrenz will die Bourgeoisie stets ihre Rivalen auslöschen. Die einzig reale Bremse gegen diese Barbarei ist das Bewusstsein der revolutionären Klasse und ihre Fähigkeit, sich über die Schrecken einer zerfallenden Gesellschaft zu empören.
Erinnern wir uns schließlich daran, dass der Sommer 2015 auch ein anderer Jahrestag ist, auch wenn er von den Medien viel diskreter behandelt wird: der 110. Jahrestag der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin (Juni 1905). Die über das Misstrauen der Offiziere aufgebrachten russischen Matrosen richteten, erschöpft durch den Krieg gegen Japan, ihre Waffen gegen die eigenen Offiziere und begannen einen Aufstand, der einen Markstein in der Geschichte der Arbeiterbewegung darstellt.6 Es sind nicht die Tränen der Verzweiflung, sondern die Empörung, die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein, die in sich die Perspektive einer kommunistischen Gesellschaft tragen.
Tim 2. 7. 2015
1 Auf dem „Friedensdenkmal in Japan wird die Zahl der Opfer mit 140`000 angegeben.
2 Le Monde Diplomatique, August 1990. Für einen tieferen Einblick in den Zynismus dieser Lügengeschichten siehe unseren Artikel „Hiroshima, Nagasaki: Die Lügen der Bourgeoisie“ in Internationale Revue Nr. 17
3 Zuvor bekamen die Opfer keinerlei Unterstützung vom japanischen Staat. „Im Mai 2005 gab es 266`598 von der japanischen Regierung anerkannte Hibakusha.“, Japan Times, 15. März 2006.
4 Lula unterzeichnete mit Argentinien einen Vertrag zur gemeinsamen Entwicklung eines atomaren Programms, das militärische Ziele nicht ausschließt.
5 Le Monde, 16. 6. 2015
6 Es ist wichtig sich auch daran zu erinnern, dass es die Arbeiterbewegung war, die dem Ersten Weltkrieg mit der revolutionären Bewegung ab 1917 ein Ende setzte.