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Die Schlussfolgerungen Harpers über die Russische Revolution und der Aspekt der marxistischen Dialektik, den er besser im Dunkeln zu lassen glaubt
Es gibt drei Wege, die russische Revolution zu betrachten.
a) Der erste ist der Weg der „Sozialisten“ aller Art, Linke, Rechte und das Zentrum, von Revolutionären und Co. (in Russland), von Unabhängigen und Konsorten woanders.
Vor der Revolution war ihre Perspektive: Die russische Revolution werde eine bürgerlich-demokratische Revolution sein, in der die Arbeiterklasse „demokratisch“ für „ihre Rechte und Freiheiten“ kämpfen dürfe.
All diese Herren waren neben ihrem Dasein als „aufrichtige, demokratische Revolutionäre“ glühende Verteidiger des „Volksrechtes, über sich selbst zu verfügen“, und endeten – über den Umweg eines Einbahn-Internationalismus, der im Pazifismus begann und zum Kampf gegen die Aggressoren und die Unterdrücker führte – in der Verteidigung der Nation. Diese Leute waren also „Moralisten“ im reinsten Wortsinn, da es ihnen nachdrücklich um DAS „Recht“ und DIE „Freiheit“ der Armen und Unterdrückten ging.
Als die erste Revolution, die vom Februar, losbrach, löste dies selbstverständlich einen Strom von Freudestränen und einen ausgelassenen Jubel über die Bestätigung der lang ersehnten heiligen Perspektiven, der heiligen Revolution aus.
Sie haben nur vergessen, dass der Anschub durch den allgemeinen Februaraufstand lediglich die Tür zum wahren Kampf zwischen den sich gegenüberstehenden Klassen öffnete.
Nachdem der Zar gestürzt war, bedeutete die sich in der alten Selbstherrschaft vollziehende bürgerliche Revolution die Verfaulung dieses Apparats und die Notwendigkeit, ihn beiseite zu schieben: Der Februar öffnete das Tor zum Kampf um die Macht.
In Russland selbst standen sich auf einmal vier Kräfte gegenüber:
1. die Autokratie, die feudale Bürokratie, die ein Land regierte, in dem das Großkapital erst in der Entstehung begriffen war;
2. die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum, das Großkapital, die Industriebosse und die intellektuelle Elite, mittelgroße Landbesitzer, etc.;
3. die große Masse der verarmten Bauernschaft, die der Leibeigenschaft kaum entronnen war;
4. die Intellektuellen und das Kleinbürgertum, die durch die Krise des Regimes und des Landes proletarisiert wurden, und das große Industrieproletariat.
Die „reaktionären“ Elemente (die Unterstützer des zaristischen Regimes) waren von der Unausweichlichkeit und Notwendigkeit der Einführung des großindustriellen Kapitalismus in Russland überzeugt und strebten nach nichts anderem, als die Verwalter und Gendarmen der ausländischen Großfinanz im Gegenzug für die Erhaltung eines für sie vorteilhaften gesellschaftlichen Status zu sein, für die Aufrechterhaltung eines imperialen bürokratischen Systems, die „Befreiung“ der Leibeigenen, die notwendig war, um die Industrie mit Arbeitskräften zu versorgen und um zu gewährleisten, dass die Bürokratie und der Adel eine strikte Kontrolle über die Mittelbauernschaft, die als eine Klasse von Pachtbauern betrachtet wurde, aufrechthielt.
Dies war offensichtlich bereis die „bürgerliche Revolution“. Doch die gesellschaftlichen Kräfte, die die Arena der Geschichte betraten, setzten sich über die Anliegen der Bürokratie hinweg. Das Kapital in Russland einführen bedeutete auf der einen Seite das Proletariat und auf der anderen Seite die kapitalistische Klasse, die sich nicht aus Kapitaleignern zusammensetzte, sondern als Gesellschaftsklasse in ihrer Gesamtheit effektiv die Industrie dirigiert und die Kapitalzirkulation verwaltet.
Der Kapitalimport hatte zur Konsequenz, dass den – im weitesten Wortsinn – führenden russischen Klassen all die enormen Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen geführt wurden, die der Kapitalismus Russland bieten könnte.
So bildeten sich in diesen Klassen zwei ambivalente Tendenzen heraus: die erste, die Notwendigkeit, sich des ausländischen Finanzkapitals für die kapitalistische Entwicklung in Russland zu bedienen; die zweite, eine Tendenz zur nationalen Unabhängigkeit und somit dazu, sich vom Einfluss dieses Kapitals zu befreien.
Seit der Eröffnung des revolutionären Kurses verstanden die Länder, die Kapital in Russland investiert hatten wie Frankreich, England und noch zahlreiche weitere, vor allem die Gefahr vom Standpunkt der Interessen „ihres“ Kapitals. Nun wissen wir, dass die Mentalität der Besitzenden im Allgemeinen die Feigheit ist, die Angst und als Reaktion darauf die Entfesselung und Explosion der Gewalt, über die sie verfügt.
Diese Länder wussten sehr gut, dass eine demokratische Regierung ihre Interessen schützen würde, doch wie alle Kapitalisten sahen sie in der Installation irgendeines reaktionären Putsches die Möglichkeit, ihre Politik zu diktieren und Zugriff auf ein äußerst reiches Territorium zu haben. Die ausländischen Staaten spielten jede mögliche Karte aus, unterstützten allesamt Kerenski und Denikin, die reaktionären Banden und die provisorische Regierung, etc. Die Einen erhielten das Geld, die Waffen und die militärtechnischen Berater, die Anderen erhielten den „selbstlosen Rat“ von Botschaftern und anderen Konsuln. Mehr noch, durch dieses große Gezänk um die Macht machen sich mit immer größerer Heftigkeit die Kämpfe um den ausschlaggebenden Einfluss geltend, fallen sich die rivalisierenden Imperialismen, gestern noch einig, heute gegenseitig in den Rücken und schmieden Komplotte gegen den Verbündeten, etc.
Der adäquateste Begriff zur Charakterisierung der politischen Geographie dieser Periode, in der es von der ersten Revolution (Februar) zur zweiten (Oktober) ging, ist der Morast, das Chaos, das die zeitgenössische Geschichtsforschung erst zur Kenntnis zu nehmen beginnt, dank der Veröffentlichungen aller Geheimabkommen durch die bolschewistischen Regierung.
b) Der imperialistische Krieg selbst befand sich in der Sackgasse, die Leichen verwesten im Niemandsland, das die Schützengräben einer Front trennte, die sich durch ganz Ostdeutschland, Österreich-Ungarn und durch den Süden derselben Länder zog, ohne dass der Krieg im Begriff zu sein schien, einen Ausweg zu finden.
In diesem allgemeinen Chaos stand auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal eine kleine Gruppe für den revolutionären Internationalismus und beharrte auf der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung auf den Ruinen der Zweiten Internationalen.
Das Proletariat müsse vor allem seinen Internationalismus proklamieren, indem es in den Kampf tritt, der unter allen Umständen gegen die eigene Bourgeoisie geht, und im Blick behält, dass diese Bewegung nur eine internationale Bewegung des Proletariats sein kann, die, um die Realisierung des Sozialismus zu ermöglichen, sich auf die bürgerlichen Großmächte ausweiten muss.
Der einzige Unterschied, der zwischen Sozialdemokraten und dem Kern der künftigen Kommunistischen Internationale existierte, war dieser fundamentale Punkt: Die Sozialdemokraten meinten den Sozialismus durch die „fortschreitende Erweiterung der inneren Demokratie“ der Länder zu realisieren, und außerdem dachten sie, dass der Krieg ein „Unfall“ in der historischen Bewegung war und dass während des Krieges der Klassenkampf eingemottet werden müsse, um bis zum Sieg über den bösen Feind zu warten, damit sich dieser „Kampf“ „pazifistisch“ vollziehen könne.
(Es würde zu viel Platz erfordern, um auf die Manifeste der verschiedenen Parteien – Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, etc. – in der Epoche des Krieges von 1914 bis 1917 und auf die Zeitungsauszüge dieser Parteien einzugehen, die für die russischen Truppen in Frankreich bestimmt waren und in denen der „Sozialismus“ mit wahrhaft revolutionärer Inbrunst verteidigt wurde.)
Die Linke, die sich nach den beiden Konferenzen in der Schweiz zu sammeln begann, hatte ihre solidesten Fundamente rund um die Persönlichkeit Lenins errichtet, der damals nicht von den ehemaligen Anhängern der bolschewistischen Partei, sondern selbst von der Linken fast vollständig isoliert war. Lenin verkündete wörtlich:
„Klassenkollaboration predigen, der sozialen Revolution und den revolutionären Methoden abschwören, sich am bürgerlichen Nationalismus anpassen, den veränderlichen Charakter von nationalen Grenzen und Ländern vergessen, einen Fetisch aus der bürgerlichen Legalität machen, die Vorstellung von Klassen und Klassenkämpfen leugnen aus Furcht, die ‘Volksmassen’ (d.h. das Kleinbürgertum) zu erschrecken – dies ist zweifellos die theoretische Grundlage des Opportunismus.“
„... Die Bourgeoisie missbraucht das Volk, indem sie über den imperialistischen Raubzug den Schleier der alten Ideologie vom „nationalen Krieg“ zieht. Das Proletariat entlarvt diese Lüge, indem es die Umwandlung dieses imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg proklamiert. Dies ist der in den Resolutionen in Stuttgart und Basel angedeutete Schlachtruf, die zwar nicht den Krieg im Allgemeinen, aber diesen gegenwärtigen Krieg antizipierten und die nicht von der ‘Verteidigung des Vaterlandes’ sprachen, sondern von der ‘Beschleunigung des Niedergangs des Kapitalismus’, von der Ausnutzung der vom Krieg verursachten Krise, indem sie auf das Beispiel der Kommune hinwiesen. Die Kommune war die Umwandlung des nationalen Krieges in einen Bürgerkrieg.“
„Solch eine Umwandlung ist nicht einfach und kann nicht von dieser oder jener Partei angeordnet werden. Doch dies entspricht präzise dem objektiven Zustand des Kapitalismus im Allgemeinen und seinem letzten Stadium im Besonderen. In diese Richtung, und nur in diese Richtung, müssen Sozialisten wirken. Nicht indem sie für Kriegskredite stimmen, nicht indem sie den Chauvinismus des eigenen Landes und dessen Verbündeten befürworten, sondern im Gegenteil indem sie vor allem den Chauvinismus der eigenen Bourgeoisie bekämpfen und indem sie sich weigern, sich auf legale Methoden einengen zu lassen, wenn die Krise offen zutage tritt und die Bourgeoisie selbst die von ihr geschaffene Legalität annulliert; dies ist die Marschrichtung, die zum Bürgerkrieg führt, zum Flächenbrand, der sich in ganz Europa ausbreiten wird...“
„… der Krieg ist kein Unfall, eine „Sünde“, wie die Pfaffen meinen (die den Patriotismus, die Menschlichkeit und den Frieden mindestens so gut wie die Opportunisten predigen), sondern eine unausweichliche Phase des Kapitalismus, eine kapitalistische Existenzform, die ebenso legitim ist wie der Krieg. Der gegenwärtige Krieg ist ein Völkerkrieg. Aus dieser Wahrheit folgt nicht, dass man dem „Volksstrom“ folgen müsse, sondern dass während des Krieges, angesichts des Krieges und unter allen Gesichtspunkten des Krieges die gesellschaftlichen Antagonismen, welche die Völker entzweien, weiter existieren und sich weiter ausdrücken …“
„... Nieder mit dem sentimentalen Gefasel, mit den idiotischen Seufzern nach ‘Friede um jeden Preis’! Der Imperialismus spielt mit dem Schicksal der europäischen Zivilisation. Wenn dem Krieg nicht Serien von siegreichen Revolutionen folgen, folgen ihm bald neue Kriege. Die Mär über den ‘Krieg zur Beendigung aller Kriege’ ist ein krudes, leeres Märchen, ein kleinbürgerlicher Mythos (um den sehr angemessenen Ausdruck von Golos zu benutzen).“
„Heute oder morgen, im oder nach dem Krieg wird das proletarische Banner des Bürgerkriegs hinter sich nicht nur Hunderte von Millionen bewusster Arbeiter scharen, sondern auch Millionen von Halb-Proletariern und Kleinbürgern, die gegenwärtig durch den Chauvinismus brutalisiert werden und die möglicherweise über die Schrecken des Krieges entsetzt und deprimiert sein werden, die aber vor allem alle für den Krieg gegen die Bourgeoisie – die Bourgeoisie ‘ihres’ Landes und der ‘ausländischen’ Länder – instruiert, aufgeklärt, aufgeweckt, organisiert, geprüft und vorbereitet werden...“
„... Die II. Internationale ist tot, bezwungen vom Opportunismus. Nieder mit dem Opportunismus, lang lebe die Internationale, die nicht nur von den ‘Abtrünnigen’ (wie Golos es will), sondern auch vom Opportunismus gereinigt ist. Lang lebe die III. Internationale!“
„Die II. Internationale hat ihre nützlichen Funktionen erfüllt (...) Es liegt nun an der III.Internationalen, die proletarischen Kräfte für eine revolutionäre Offensive gegen alle kapitalistischen Regierungen zu organisieren, für einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie in allen Ländern, um die Eroberung der Macht, für den Sieg des Sozialismus...“
Vergleicht man dies mit Marx, sieht man, wie viel Lenin im Gegensatz zu dem, was uns Harper glauben machen will, vom Marxismus verstanden hat und dass er gewusst hat, ihn im passenden Moment anzuwenden:
„…Es versteht sich ganz von selbst, dass, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muss als Klasse, und dass das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs ist. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das Kommunistische Manifest sagt, „der Form nach“ national. Aber der „Rahmen des heutigen nationalen Staats“, z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch „im Rahmen des Weltmarkts“, politisch „im Rahmen des Staatensystems“. Der erste beste Kaufmann weiß, dass der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik.
Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewusstsein, dass das Ergebnis ihres Strebens „die internationale Völkerverbrüderung sein wird“ – eine dem bürgerlichen Freiheits- und Friedensbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen.“ (Kritik des Gothaer Programms, I. Teil, kurz vor Schluss)
Was diese Linke der Sozialdemokratie also von der gesamten Arbeiterbewegung unterschied, waren ihre politischen Positionen:
1. über den Begriff der Machtergreifung (den Zwist zwischen bürgerlicher Demokratie und Arbeiterdemokratie, wie sie in der Diktatur des Proletariats verwirklicht ist);
2. über den Charakter des Krieges und die Position der Revolutionäre in diesem Krieg.
Was den ganzen Rest, besonders die „ökonomische“ Organisation des Sozialismus betraf, so hielt man noch an der Parole der Verstaatlichung von Grund und Boden und der Industrie fest, so wie Viele politisch noch der Parole des „aufständischen Generalstreiks“ anhingen. Dessen ungeachtet ist es gut, daran zu erinnern, dass die sozialistischen Militanten eine sehr kleine Anzahl ausmachten, selbst in der Linken, die im Verlaufe des Krieges Lenins Positionen begriffen und sich anschließend während der Russischen Revolution, als die Theorie in Taten umgesetzt wurde, ihr angeschlossen hat.
Dies war so sehr der Fall, dass Kautsky in seinem Streit mit Lenin diese Seite des Problems mit keinem Wort erwähnte und dennoch, wie Lenin bemerkte, auf dem Basler Kongress Stellung für ähnliche und sehr fortschrittliche Positionen über die Arbeitermacht und über den Internationalismus bezogen hatte. Doch es reicht nicht aus, Resolutionen zu unterschreiben, wenn man nicht weiß, wie man sie in der Praxis anwendet. Erst an der Umsetzung der Theorie in die Praxis sieht man, wer wirklich ein Marxist ist. Der ganze Wert eines Plechanow oder Kautsky, respektable Männer in der sozialistischen Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts, fiel wie ein Kartenhaus zusammen angesichts dieser kleinen Gruppe von Bolschewiki, die ihre Theorien – zunächst über die Machtergreifung, dann über die Kriegsfrage, im Gegensatz zu den linken Sozialrevolutionären und der bolschewistischen Fraktion, die in der Brest-Litovsk-Frage für den „revolutionären Krieg“ war, und über die deutsche Offensive sowie den darauffolgenden Bürgerkrieg im Innern – in die Praxis übersetzen musste.
Darauf wartend, dass die Revolution sich international ausbreitet, konnte die Wirtschaft in Russland nur auf bürgerliche Weise organisiert werden, jedoch nach dem Modell des fortgeschrittensten Kapitalismus: des Staatskapitalismus.
Erst die ultimative Lösung der internationalen Revolution (die ihren internationalen Ausgang in den Positionen und im Beispiel der Bolschewiki nahm) ermöglichte eine Entwicklung und eine Transformation der Gesellschaft in Richtung Sozialismus. Abgesehen davon könnte man zig Beispiele von falschen Positionen desselben Lenins vor und nach der Revolution zitieren.
1905 erteilte Trotzki ihm in „Unsere Unterschiede“ eine harte Lektion, und es war die Synthese zwischen der Position Trotzkis in „Unsere Unterschiede“ und Lenins Position in „Was tun?“, die als Stellungnahme im Krieg diente. Nach der Machtergreifung wurden eine Menge Fehler auf beiden Seiten im inneren Kreis der Partei, von Lenin, Trotzki, etc. begangen. Es geht hier nicht darum, den Blick von diesen Irrtümern abzuwenden; wir werden in der Folgezeit und an anderer Stelle auf sie zurückkommen, wenn es vor allem um die „reinen Leninisten“ geht. Doch es ist eine Sache, die Lehren 30 Jahre nach dem Niedergang zu ziehen, wenn die ökonomischen Bedingungen sich geändert haben, wenn die Charakteristiken klarer geworden sind, und es ist eine ganz andere Sache, inmitten der Ereignisse, die sich auf anarchische und unvorhergesehene Weise darstellen, zu handeln. Heute kann man sagen, welches die Fehler der Bolschewiki gewesen sind, kann man die Russische Revolution als ein historisches Ereignis studieren, kann man überblicken, welche politischen Gruppen damals involviert gewesen sind, ihre Dokumente, ihre Aktivitäten etc. analysieren und studieren.
Doch waren damals die Bolschewiki, Lenin und Trotzki an der Spitze, mit all ihren rückständigen Positionen in einer Bewegung beteiligt, deren unmittelbarer Zweck es war, eine Bewegung in Richtung des Sozialismus zu sein? Wohin führten die Wege, die die Bolschewiki einschlugen? Oder jene, die von Kautsky oder von X, Y oder Z eingeschlagen wurden?
Wir antworten darauf, dass es nur eine Ausgangsbasis gibt, damit sich die Bewegung für den Weg zur sozialistischen Revolution entscheidet, und diese Basis haben allein die Bolschewiki in Russland (und noch nicht alle, ganz im Gegenteil) in den Vordergrund gestellt und angewendet. Es war diese Basis, die bewirkte, dass sie sich auf einen Klassenkampf einließen, dessen Ziel der Sturz des Kapitalismus auf internationaler Ebene war und in dem die allgemeinen politischen Positionen ganz reell zu diesem Sturz führten.
Abgesehen davon gäbe es viel über diese Grundlagen zu sagen, die den großen Linien des Aufbruchs der bolschewistischen Oktoberbewegung vorstanden, und die Diskussion, weit entfernt davon, beendet zu sein, beginnt im Gegenteil erst, doch sie muss zur Minimalgrundlage das revolutionäre Programm des Oktobers haben, das für eine ganze Epoche Gültigkeit besaß und die gesamte Erfahrung der Arbeiterbewegung der 30er Jahre prägte.
Die revolutionäre Bewegung, die sich 1917 in Russland ausbreitete, bewies durch die Resonanz, die sie in Deutschland ein Jahr danach auslöste, dass sie international war.
Anfang November 1918 erhoben sich die deutschen Matrosen, in ganz Deutschland verbreiteten sich Sowjets.
Doch einige Tage später wurde der Waffenstillstand unterzeichnet, einige Monate später verrichtete Noske sein Repressionswerk, schließlich, 1919 – als der erste Kongress der Kommunistischen Internationale (KI) abgehalten wurde und obwohl die große Bewegung, die durch die russisch-deutsche Revolution ausgelöst wurde, das Proletariat noch Jahre später im Bann hielt -, war der Höhepunkt der Revolution bereits überschritten, hatte sich die Bourgeoisie wieder gefangen, hatte der wiedergefundene Frieden den Klassenkampf Stück für Stück stumpf gemacht und zog sich das Proletariat ideologisch in dem Maße zurück, wie die deutsche Revolution in tausend Stücke zerschlagen wurde. Das Scheitern der deutschen Revolution ließ Russland isoliert zurück, so dass es gezwungen war, mit seiner Wirtschaftsorganisation fortzufahren und auf eine neue revolutionäre Welle zu warten.
Aber die Geschichte zeigt, dass die Revolution nicht scheibchenweise triumphieren kann. Die Russische Revolution war kein Teilsieg; da das finale Resultat der Bewegung, die sie entfesselt hatte, das Scheitern auf internationaler Ebene war, konnte der so genannte „Aufbau des Sozialismus“ in Russland nur ein Abbild dieser Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung sein.
Dass die KI ihre Kongresse in Moskau abhielt, deutete bereits an, dass die Revolution zu einem Halt gekommen war; diese Niederlage spiegelte sich mit jedem neuen Kongress wider, der einen weiteren Rückzug der internationalen Arbeiterbewegung markierte, auf theoretischer Ebene in Moskau, physisch in Berlin.
Von neuem befanden sich die Revolutionäre in der am meisten ausgegrenzten Minderheit. Die Kommunistische Internationale nach dem Ersten und Zweiten Kongress und die Kommunistischen Parteien erlebten wie so viele andere „sozialistischen“ Parteien, Arbeiterparteien und andere, wie sich ihre Ideologie Stück für Stück verbürgerlichte.
Doch neben diesem Rückzug der Arbeiterbewegung traten zwei markante Phänomene auf: eine degenerierte Arbeiterpartei hütete die Staatsmacht für sich allein, und der Kapitalismus trat 1914 in eine neue Ära ein und stürzte in der Folgezeit in innere Krisen von bisher ungekannten Ausmaßen.
Das ist, denken wir, die Analyse dieser beiden Phänomene, die allein die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken (die zwischen 1933 bis 1938 BILAN publizierte, deren Titel allein schon Programm ist) auf klare Weise herausgearbeitet hat und die die Erweckung einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung hätte ermöglichen sollen.
c) Angesichts dieser Degeneration der Arbeiterbewegung, angesichts der Entwicklung des modernen Kapitalismus, angesichts des stalinistischen russischen Staates und angesichts der Probleme, die sich in den Aufständen der Sowjets stellten, gibt es eine dritte Position, die darin besteht, sich nicht mit zu tiefen Untersuchungen des historischen und politischen Wie und Warum der vergangenen dreißig Jahre anzustrengen und stattdessen alles einem „Sündenbock“ in die Schuhe zu schieben. Die Einen wählten Stalin zum „Sündenbock“ und fabrizierten den Anti-Stalinismus, der sie zur Kriegsteilnahme im amerikanischen „demokratischen“ Lager führte; die Anderen wählten irgendein „Steckenpferd“. Das „Steckenpferd“ variiert je nach Bedürfnis der politischen Mode. 1938-1942 war es Mode, den Faschismus für den Krieg und die Degeneration der Gesellschaft verantwortlich zu machen, die eigentlich der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems insgesamt geschuldet waren. Heute ist es der Stalinismus, der als „Sündenbock“ dient. Und so blühen die Theorien und die Theoretiker auf: Burnham gegen die Bürokratie, Bettelheim dafür, Sartre und die „Freiheit“ und die ganze Clique von bezahlten Schriftstellern der politischen Parteien der Bourgeoisie und des modernen Journalismus verkommener Karrieristen. Harpers Beschuldigungen gegen den „Leninismus“, dessen „unweigerliches Produkt der Stalinismus“ sei, ist nur ein weiteres Beweisstück auf der Liste und ein Versuch, die Anderen zu überbieten.
Zu einer Zeit, als der „Marxismus“ seine größte Krise durchleidet (wir hoffen nur, dass es eine Wachstumskrise ist), fügt Harper nur ein Stück mehr Konfusion hinzu, von der es bereits zuviel gibt.
Wenn Harper behauptet:
„Aber nein; von einer Klassenbestimmtheit der Ideen bemerkt man bei Lenin nichts. Die theoretischen Gegensätze hängen bei ihm in der Luft. Natürlich kann eine theoretische Ansicht nur mit theoretischen Argumenten kritisiert werden. Wo aber die gesellschaftlichen Konsequenzen mit solcher Heftigkeit in den Mittelpunkt gestellt werden, sollte der gesellschaftliche Ursprung der theoretischen Anschauungen nicht außer Acht gelassen werden. Diese wesentlichste Seite des Marxismus besteht offenbar für Lenin nicht.“ (Lenin als Philosoph, aus: Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, Germinal, 2008, S. 354), – geht er über eine bloße Schlussfolgerung, über eine Polemik, einen sprachlichen Exzess hinaus. Harper ist einer dieser zahlreichen Marxisten, die im Marxismus mehr eine philosophische und wissenschaftliche Methode in der Theorie sahen, aber im astronomischen Elfenbeinturm der Theorie verharrten, ohne sie jemals auf die historische Praxis der Arbeiterbewegung anzuwenden. Für diese „Marxisten“ war die „Praxis“ auch nur ein Objekt der Philosophie, aber kein treibender Faktor.
Gibt es keine Philosophie, die man dieser revolutionären Periode entnehmen könnte?
Gewiss doch. Ich sage sogar, dass man als Marxist Philosophie nur aus einer historischen Bewegung beziehen kann, um daraus die Lehren für die Nachwelt der historischen Bewegung zu ziehen. Doch was macht Harper? Er philosophiert über die Philosophie Lenins, indem er sie aus ihrem historischen Zusammenhang reißt. Wenn dies alles wäre, würde dies schlicht dazu führen, eine Halbwahrheit zum Ausdruck zu bringen. Und obwohl er diese Schlussfolgerung, diese Halbwahrheit in einem historischen Kontext anwenden will, unterzieht er sich nicht einmal der Mühe, diesen zu untersuchen. Hier liefert er uns den Beweis, dass er es nicht besser, sondern schlechter macht als Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“. Er sprach über den Marxismus und führte dies in seiner Position zum Problem der Erkenntnis vor. Es gäbe noch viel darüber zu sagen, was Harper gesagt hatte; es muss vor allem gesagt werden, dass sich der Hauptaspekt in der Position zum Problem der Praxis und der Erkenntnis für den Marxismus nicht außerhalb des unmittelbar politischen Aspektes festmachen lässt, der die „Praxis“, d.h. die Entwicklung des revolutionären Denkens und Handelns, wahrhaft revolutionär macht!!! Harper wiederholt wie eine Litanei: „Lenin war kein Marxist!! Er hat nichts vom Klassenkampf verstanden!!!“, und es stellt sich heraus, dass Lenin Punkt für Punkt den Lehren von Marx in der Entwicklung seines politischen, revolutionären, praktischen Denkens folgte.
Der Beweis, dass Lenin die Lehren des Marxismus verstanden und auf die Russische Revolution angewendet hat, ist im „Vorwort“ von Lenin zu den „Briefen von Marx an Kugelmann“ enthalten, wo er auf die Lehre zurückkommt, die Marx aus der Pariser Kommune gezogen hat; es gibt also noch eine weiter kuriose Analogie zwischen dem Text Lenins, den wir zitiert haben, und der oben stehenden Passage aus Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“.
Lenin und Trotzki befinden sich voll auf der Linie des revolutionären Marxismus. Sie sind seinen Lehren Schritt für Schritt gefolgt. Die Theorie der „permanenten Revolution“ von Trotzki ist nichts anderes als die Lehre aus dem Kommunistischen Manifest und dem Marxismus ganz allgemein, aus seiner nicht-degenerierten Seite: Die Russische Revolution gibt im Übrigen die Schemata getreu wieder und hält sich an diesem Marxismus. Harper und all die anderen Marxisten haben eine Sache vergessen: Ist die gültige Perspektive der Revolutionen im 19. Jahrhundert, in der Ära des aufsteigenden Kapitalismus, der gerade endete, als die Russische Revolution abhob, auch in der degenerierenden Phase dieser Gesellschaft hinreichend?
Lenin hat sehr wohl die neue Perspektive verbreitet, indem er über eine Periode der „Kriege und Revolutionen“ sprach; Rosa hat sehr wohl die Idee entwickelt, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche, in die Epoche der Degeneration eingetreten ist, was die KI und in ihrem Gefolge die ganze trotzkistische Arbeiterbewegung sowie die andere Linksopposition nicht daran hinderte, an der antiquierten Perspektive festzuhalten oder sie wiederaufzugreifen, wie Lenin dies nach dem Scheitern der deutschen Revolution getan hatte. Harper geht sicher davon aus, dass es eine neue Perspektive gibt, aber er hat mit seiner Analyse Lenins und mit ihm der Russischen Revolution bewiesen, dass er wie viele andere nicht imstande ist, sie weiterzuentwickeln, und hat sich in einem Haufen vager oder falscher Erwägungen wie viele andere vor ihm verloren.
Es ist kein Zufall, dass es die Erben eines Teils des ideologischen Gepäcks von BILAN waren, die ihm antworteten, wie sie im Übrigen anderswo auch den reinen „Leninisten“ antworteten.
Beide Seiten, die Befürworter und die Gegner Lenins, vergessen eins: Auch wenn die Probleme von heute nur im Lichte der Probleme der Vergangenheit verstanden werden können, sind sie dennoch anders.
Philippe