Bericht zur nationalen Lage Deutschlands (Frühjahr 2018)

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Nach der jüngsten Krise in der Bundesregierung (zwischen der Christlich-Demokratischen Union von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer "Schwesterpartei", der bayerischen CSU) veröffentlichen wir hier Auszüge aus dem Bericht[1] über die nationale Situation in Deutschland von unserer Konferenz im Frühjahr 2018. Wir glauben, dass er eine Analyse und einen Hintergrund liefert, der zum Verständnis der gegenwärtigen politischen Krise im zentralen Land des europäischen Kapitalismus beitragen kann. Wir haben auf eine Aktualisierung des Berichts verzichtet. Dies wird die Aufgabe späterer Artikel sein.

Die Notwendigkeit einer radikalen Korrektur der deutschen Wirtschaftspolitik

(…) Deutschland ist derzeit die Lokomotive der Europäischen Union, die heute eine der Hauptstützen der Weltwirtschaft ist. In der Tat profitiert letztere momentan von einer Situation, in der zum ersten Mal seit Jahren die Hauptkomponenten der Weltwirtschaft alle gleichzeitig, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, wachsen. Dazu gehören auch die USA und Japan, die sich insbesondere von einer langen Phase ohne Wachstum erholen. Russland und Brasilien haben endlich eine Phase der schweren Rezession hinter sich gelassen. In China gelingt es, das Wachstum bei rund 7% zu halten. Ausschlaggebend hierfür war die Politik der hohen Geldmenge und der billigen Kredite der Zentralbanken in Washington, Frankfurt und Tokio.

Die hohe Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die wir in unserem letzten Bericht zur Lage in Deutschland beschrieben haben, ist weiterhin vorhanden. Deutschland bleibt der weltweit führende Hersteller von Produktionsmitteln. Deutsche Maschinen sind nicht nur von hoher Qualität, viele hochspezialisierte Maschinenbauprodukte werden nur von deutschen Firmen hergestellt. Der Grad weltweiter Vernetzung deutscher Familienunternehmen ist einzigartig. Noch mehr als die großen Unternehmen wie Siemens oder Bosch sind diese "versteckten Meister" das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. (…)

Dank dieser Stärke ist es Deutschland gelungen, den Angriffen in den Vereinigten Staaten gegen so wichtige Stützen seiner Wirtschaft wie die Deutsche Bank und Volkswagen (gegen die enorme Geldbußen verhängt wurden) oder den deutschen Energiesektor (insbesondere wegen der Zusammenarbeit mit Russland) zu widerstehen. Unser vorheriger Bericht sprach in diesem Zusammenhang von einem "Wirtschaftskrieg" (im Sinne des preußischen Militärtheoretikers von Clausewitz: der Versuch, den Willen des Gegners zu brechen). In den Reden während des Wahlkampfes in Hannover vor den Parlamentswahlen im September 2017 erklärte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder freimütig: "Amerika hat einen Wirtschaftskrieg gegen uns begonnen." "Die Art und Weise, wie eine bestimmte Technologie, die des Dieselmotors, den Löwen zum Fraß geworfen wurde, ärgert mich". In Bezug auf die Wirtschaftssanktionen gegen Moskau sagte er auch, dass die "Isolation Russlands nur den Vereinigten Staaten dient". Wir sollten hier hinzufügen, dass die amerikanische Dämonisierung des Dieselkraftstoffs eine Reaktion darauf ist, dass er von den europäischen Regierungen über viele Jahre hinweg privilegiert wurde: eine Art versteckter Protektionismus, da sich die europäische Automobilindustrie auf diese Technologie spezialisiert hat. Auf jeden Fall hat Volkswagen in den ersten neun Monaten 2017 trotz der in den USA verhängten Bußgelder in Milliardenhöhe einen Gewinn von 7,7 Milliarden Euro erzielt - ein neuer Unternehmensrekord. VW behauptet auch seine Position als das Automobilunternehmen mit dem höchsten Forschungsbudget. Der Konzern hat auch enorme Neuinvestitionen angekündigt: 10 Milliarden Euro in China und 24 Milliarden Euro in Europa (vor allem im ostdeutschen Zwickau) für die Produktion von Elektroautos. Die Situation der Automobilindustrie ist widersprüchlich. Technologisch ist Deutschland sowohl bei der Elektromobilität als auch bei den Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor weit fortgeschritten. Doch während die Marktposition in diesem Bereich sehr stark ist, hinkt sie bei der Produktion von E-Autos immer noch hinter ihren Hauptkonkurrenten hinterher.

Trotz all dieser Erfolge muss sich Deutschland angesichts der Instabilität der Weltfinanzsysteme, der Gefahr von Handelskriegen und politischer Instabilität für die Zukunft rüsten. Nach Angaben des Institute of International Finance hat sich die weltweite Verschuldung in den letzten drei Jahrzehnten vervierfacht und erreichte 232 Billionen Dollar: 318% höher als der weltweite BIP (in der Europäischen Union 104%, in Deutschland 66%). 172 Billionen dieser Schulden befinden sich in den alten kapitalistischen Ländern, 61 Billionen in den "Schwellenländern". Für die Europäische Union drohen Handelskonflikte sowohl mit den Vereinigten Staaten als auch mit China. Die EU selbst ist dabei ein aktiver Faktor. Zum Beispiel war sie bisher gegenüber China protektionistischer als die USA. Sie trifft insbesondere Maßnahmen, um die Übernahme von High-Tech-Unternehmen durch chinesische, russische oder andere Konkurrenten einzuschränken. Was die politischen und wirtschaftlichen Krisen anbelangt, so gibt es bereits innerhalb der Europäischen Union eine Reihe von Krisen, die entweder bereits vollständig aufgeflogen sind (Brexit, die Verfassungskrise in Spanien) oder drohen (Italien, der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau, bei dem Donald Tusk bereits vor der Gefahr warnt, dass Polen die EU verlässt). Die Steuerreform von Trump kann dem deutschen Staatshaushalt Milliardeneinnahmen entziehen. Siemens, eines der wichtigsten deutschen Unternehmen, hat kürzlich angekündigt, dass es aufgrund der neuen Steuerregelung in den USA in diesem Jahr mit einer Gewinnsteigerung von einer Milliarde Dollar rechnet. Daher ist geplant, Teile der Entwicklung und Produktion von Deutschland nach Amerika zu verlagern. Doch nicht nur von außen drohen Gefahren für die deutsche Wirtschaft. Denn ohne eine radikale Änderung der Wirtschaftspolitik droht Deutschland mittelfristig seine Konkurrenzfähigkeit zu verlieren, was in der heutigen Welt in etwa fünf Jahren bedeutet. So fordert der Verband der mittleren Unternehmen dringend massive Investitionen in Bildung und Qualifizierung, eine radikale Reform des Bildungssystems (insbesondere weniger "Föderalismus"), einen "digitalen Neuanfang", ein neues Zuwanderungsgesetz "nach kanadischem Vorbild" sowie eine "Auszeit" für Arbeitnehmer zur Qualifizierung, Kinderbetreuung oder als Prophylaxe gegen Burn-out (die IG Metall hat ähnliche Forderungen). Das ist eine widersprüchliche Realität: "Boomende Industrie und hohes Beschäftigungsniveau" in vielen Bereichen, aber ein zunehmender Arbeitsdruck für diejenigen, die eher gut bezahlte Arbeitsplätze haben und vor allem eine steigende Zahl von Working Poor. Das widersprüchliche Gesicht der Krise bedeutet also einerseits höchste Beschäftigung und andererseits verstärkte Verarmung für viele Schlechtverdiener. Die Besonderheiten dieser Situation, die niedrigste Arbeitslosigkeit, ist ein Aspekt, der die relative soziale Ruhe der letzten Jahre erklärt.

(…)

Deutschland: Anker der europäischen Wirtschaft in stürmischen Zeiten

Einer der Hauptfaktoren, die die deutsche Politik heute beeinflussen, ist die veränderte Einstellung Frankreichs dazu. Seitdem sich der damalige Amtsinhaber im Elysee, Francois Mitterrand, unmittelbar nach dem Fall der Mauer für den Erhalt der DDR ausgesprochen hat ("Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zwei von ihnen will"), ist es für die französischen Staatschefs so etwas wie eine Tradition, innerhalb der EU (manchmal in Großbritannien, manchmal in den Mittelmeerstaaten) und innerhalb der Eurozone nach Verbündeten gegen Berlin zu suchen. Aus französischer Sicht diente die Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung in erster Linie der politischen Kontrolle Deutschlands. Insbesondere sollte verhindert werden, dass die Bundesbank in Frankfurt über die dominante Rolle der Deutschen Mark ihre Geldpolitik dem übrigen Europa diktiert. Macron bekräftigt jedoch, dass Europa ohne die wirtschaftliche Stärke Deutschlands und ohne ein starkes deutsch-französisches Bündnis keine Chance hat, sich in der heutigen Welt zu behaupten. Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung 1989 hat Frankreich eine Art Bündnis mit Deutschland als Hauptziel seiner Außenpolitik vorgeschlagen. Dieser Politikwechsel ist natürlich mit der Machtübernahme von Macron verbunden, aber natürlich hat "Macronisme" selbst tiefere Ursachen. Und eine davon ist die Lehre aus der so genannten Euro-Krise, die nach der weltweiten "Finanzkrise" von 2007/08 folgte. In Wirklichkeit waren das nur zwei verschiedene Momente ein und derselben Krise. Eine Krise, die in vielerlei Hinsicht die tiefste Erschütterung des Weltkapitalismus seit der Großen Depression der 1930er Jahre war. Die Schulden des kleinen Griechenlands standen nur scheinbar im Mittelpunkt der Euro-Krise. Neben den Vereinigten Staaten war Europa der Teil der Weltwirtschaft, der am stärksten von der Finanzkrise und der damit einhergehenden brutalen Rezession betroffen war. Da die amerikanische Bourgeoisie versuchte, die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf ihre europäischen "Partner" abzulenken, begann die internationale Finanzwelt massiv gegen die gemeinsame europäische Währung zu spekulieren und sogar auf ihre Explosion zu wetten. Der Grund für diese Vertrauenskrise in den Euro war weniger die wirtschaftliche Schwäche Griechenlands oder anderer seiner Mitgliedstaaten, sondern vielmehr sein Charakter als gemeinsame Währung verschiedener Nationalstaaten, die nicht durch einen einigen Willen und eine einzige Autorität zusammengehalten werden. Der Wendepunkt dieser Krise wurde erst am 26. Juli 2012 mit der berühmten Aussage des Chefs der Europäischen Bank Mario Draghi erreicht: "Die EZB ist bereit, im Rahmen unseres Mandats alles zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glaubt mir, es wird reichen." Möglich wurde diese Wende jedoch fast ausschließlich durch das Vertrauen der Investoren in die deutsche Wirtschaft und in die deutsche Wirtschaftspolitik. Obwohl die Sparpolitik, die die Regierung Merkel-Schäuble Athen diktierte, der griechischen Bevölkerung große zusätzliche Schwierigkeiten bereitete (und für die herrschende Klasse den sehr willkommenen Nebeneffekt hatte, das europäische Proletariat zu spalten, vor allem indem sie die deutschen und griechischen Arbeiter gegeneinander ausspielte), ging es Berlin nicht um die griechische Wirtschaft, sondern um die Glaubwürdigkeit des Euro. Der künftige französische Präsident Macron gehörte als Banker von Beruf selbst zu denen, die verstanden haben, wie sehr die Volkswirtschaften der Eurozone heute von der Glaubwürdigkeit des deutschen Staates abhängen, um das Privateigentum der Investoren zu schützen. Aufgrund der Stärke seiner Wirtschaft und seiner im Verhältnis zum BSP vergleichsweise niedrigen Verschuldungsrate wird es als in der Lage angesehen, seine Schulden zurückzuzahlen, wann immer dies erforderlich ist. Aufgrund seiner politischen Stabilität, seiner Tradition des "sozialen Friedens" und seines Rufs, jede "extremistische" oder "unverantwortliche" Partei am Regierungsantritt hindern zu können, gilt es als die wichtigste Garantie der bürgerlichen Ordnung auf dem europäischen Kontinent. Der wirtschaftliche und politische "Kredit" (aus dem lateinischen "Credo": Glaube) Deutschlands rettete die Finanz- und Währungsarchitektur und damit die Grundlage der politischen Stabilität des alten Kontinents. Es war Berlin, das diese Rettungsaktion mehr oder weniger gegen den Willen seiner verschiedenen europäischen "Partner", darunter Frankreich, und ohne die Hilfe der Obama-Regierung in Washington, die damals selbst mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten zu kämpfen hatte, organisierte. Es war Berlin, das dem Rest der Eurozone brutal seine Version der Sparpolitik aufzwang, die es für notwendig hielt, das "Vertrauen der Märkte" zurückzugewinnen. Diese Erfahrung hat einen wichtigen Teil der französischen Bourgeoisie dazu gebracht, Deutschland in einem neuen Licht zu sehen: weniger als Bedrohung und mehr als Anker in stürmischen Zeiten. (…)

Macron hat erkannt, dass keine der westeuropäischen Mächte - einschließlich Italien, Frankreich und sogar Deutschland - eine Chance hat, als mehr oder weniger "unabhängige" Kräfte im Weltmaßstab zu überleben, wenn sie nicht eng zusammenarbeiten. (…) Ohne Deutschland ist Macron wie ein Kommandant ohne Armee. Wir haben jedoch Grund zu der Annahme, dass sich die deutsche Bourgeoisie bereits an der Formulierung dieser Politik beteiligt hat. Macron selbst hat gesagt, dass er seine "Sorbonne-Rede" an Bundeskanzlerin Merkel geschickt hat, um ihre Zustimmung einzuholen, bevor er sie gehalten hat. Diese Politik reagiert unter anderem auf Brexit und die zunehmende Renitenz der V4-Regierungen in Mitteleuropa. Ihr Kerngedanke ist die Entwicklung der Eurozone, ohne auf Osteuropa zu warten. Es ist jedoch klar, dass Deutschland und Frankreich in Europa nicht die gleiche Rolle spielen und nicht die gleichen Interessen haben. Das Hauptaugenmerk der französischen Bourgeoisie liegt auf der Durchsetzung der Euro-Zone. Deutschland sieht sich jedoch aufgrund seiner geografischen Lage im Herzen Europas und der Bedeutung seiner wirtschaftlichen Interessen in Osteuropa auch in der Verantwortung, die EU als Ganzes zusammenzuhalten. Auch in der Handelspolitik gibt es Unterschiede: Deutschland ist wettbewerbsfähiger und damit tendenziell weniger protektionistisch als Frankreich.

Die EU-weite Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten hat zwangsläufig eine wichtige militärische Dimension, da Rüstung ein zentraler Faktor der kapitalistischen Wirtschaft ist, allen voran der Hightech-Sektor. Aber für Berlin und Paris soll die Zusammenarbeit der europäischen Rüstungsunternehmen durch eine stärkere Zusammenarbeit der Armeen "ergänzt" werden. Bisher hat Großbritannien solche Entwicklungen immer behindert. Heute ermöglicht die Perspektive von Brexit militärische Projekte wie Pesco oder die heutige deutsch-französische Militärinitiative von Ursula von der Leyen und Jean-Yves Le Driand.

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Die gegenwärtigen Spaltungen innerhalb der deutschen herrschenden Klasse

Aber wenn die Divergenzen in der Wirtschafts- und Außenpolitik nicht gravierend genug sind, um Spaltungen innerhalb der deutschen herrschenden Klasse hervorzurufen, so ist doch klar, dass es solche Spaltungen gibt. Eine erste große Spaltung innerhalb der Christlich-Demokratischen Union zwischen CDU und CSU über Merkels Flüchtlingspolitik trat bereits 2015 ein. Nach den Parlamentswahlen im September 2017 kam es zu einem zweiten großen Konflikt zwischen der Union und den Grünen einerseits und der FDP andererseits, der zum Scheitern des Koalitionsprojekts "Jamaika" führte. Dies wiederum hat innerhalb der SPD zu einer Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern einer neuen Großen Koalition ("GroKo") mit der Union unter Merkel geführt. Für eine Bourgeoisie, die im vergangenen halben Jahrhundert so einheitlich und kohärent war wie kaum eine andere, sind diese Spaltungen in der Tat relativ dramatisch. Ihre wichtigste Ursache ist die unterschiedliche Herangehensweise an die Herausforderungen einer neuen historischen Phase. Heute werden diese Unterschiede zu Spaltungen. Bis zu einem gewissen Grad sind sie auch zu einem Generationenkonflikt geworden. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dass Kontinuität und eine "ruhige Hand" die besten Möglichkeiten sind, den Problemen der Stunde zu begegnen. Die prominenteste Vertreterin dieser "business as usual"-Haltung ist die Kanzlerin selbst, die nach den Parlamentswahlen (wo die Regierungsparteien 14% ihres Stimmenanteils verloren haben) erklärte: "Ich sehe nicht, was in meiner Politik geändert werden müsste." Andererseits fordern Vertreter der neuen Politikergeneration wie Lindner von der FDP oder die Jusos ("Junge Sozialisten in der SPD") ein Ende des "Merkelsystems" und radikale politische Veränderungen. Diese Kräfte verlangen massive Investitionen und eine umfassende Umstrukturierung des Bildungssystems, Forschung und Entwicklung neuer Technologien sowie eine neue Einwanderungsgesetzgebung nach kanadischem Vorbild. Vor allem aber wollen sie der so genannten Diktatur des Konsenses in der deutschen Nachkriegspolitik ein Ende setzen, die sie kontroverser gestalten wollen. Insbesondere kritisieren sie den politischen Stil von Angela Merkel, das Programm der eigenen politischen Gegner zu übernehmen und damit die ohnehin schon kleinen Unterschiede zwischen den politischen Parteien zusätzlich zu verwischen. Obwohl sie immer noch die erfahrenste und am meisten respektierte politische Führerin in Europa (und in der "westlichen Welt", so Barak Obama) ist, denken diejenigen, die sich ihr heute widersetzen, dass Angela Merkel mehr Teil des Problems der deutschen Bourgeoisie als Teil ihrer Lösung geworden ist. Obwohl ihre Einwanderungspolitik "Flüchtlinge willkommen" gescheitert ist, weigert sie sich, dies öffentlich anzuerkennen und erweckt den Eindruck, dass sie sich mehr um ihren "Platz in der Geschichte" als um die alltägliche Politik sorgt. Damit ist sie zu einem "roten Tuch" für Populisten in Deutschland und für Regierungschefs in Osteuropa geworden. Merkels Vision war, dass die Flüchtlinge die demographischen Probleme Deutschlands (einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung) lösen würden. Sie orientiert sich an der Rolle der Vertriebenen (die Millionen von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Osteuropa vertrieben wurden) beim Wiederaufbau, aber auch der sogenannten "Dreamer" in den Vereinigten Staaten, die als "Humankapital" gelten. Im Jahr 2015 wurde ihre Politik von den meisten Arbeitgeberverbänden mit Begeisterung unterstützt, die erklärten, dass die deutsche Wirtschaft während bis zu einem Jahrzehnt vom Zustrom von einer Million (vorzugsweise) junger Menschen pro Jahr profitieren würde. Der Aufstieg des Rechtspopulismus hat diesen Träumen ein Ende gesetzt. Merkels "Willkommenspolitik" ist gescheitert, obwohl etwa 80% der Bevölkerung Deutschlands dafür sind. Der deutlichste Beweis dafür ist, dass die AfD bei den Parlamentswahlen 13% der abgegebenen Stimmen erhielt.

Das bedeutet nicht, dass die Öffnung der deutschen Grenze für Flüchtlinge im Sommer 2015 aus Sicht der Kapitalinteressen ein Fehler war. Seitdem hat die Regierung in Athen (die nicht den Ruf hat, deutschfreundlich zu sein) öffentlich anerkannt, dass es diese Entscheidung von Angela Merkel war, die die Situation in Griechenland gerettet hat. Wäre die Flüchtlingswelle über den Balkan nach Griechenland zurückgeschickt worden (wie es das "Dubliner Abkommen" normalerweise verlangt), hätte das wahrscheinlich zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und der Staatsfinanzen in Hellas geführt. Dies wiederum wäre das Ende des mühsam erreichten Bergungspakets gewesen, das dazu beigetragen hatte, die Spekulationen gegen den Euro zu stoppen. Mit anderen Worten, was Merkel rettete, war in erster Linie der Euro und das "Vertrauen der Märkte" in die europäische Wirtschaft. Auf dieser Ebene war die "Flüchtlingskrise" von 2015 gewissermaßen die Fortsetzung der "Euro-Krise" auf einer anderen Ebene, die mit anderen Mitteln bewältigt wurde.

Das Problem der AfD

Das Problem des politischen, insbesondere des Rechtspopulismus, ist international und hat sich in den letzten Jahren verschärft. Brexit und die Trump-Präsidentschaft gehörten zu den wichtigsten Faktoren der neuen Virulenz dieses Problems. Jetzt hat sie Deutschland in überwältigender Weise erreicht. Die "Alternative für Deutschland" ist bei weitem nicht der einzige, aber derzeit wichtigste Ausdruck dieser Entwicklung, die mit der Erosion der politischen Glaubwürdigkeit der "Establishment"-Parteien einhergeht.

Franz-Josef Strauß, der Vorsitzende der bayerischen CSU von den 1960er bis 1980er Jahren, formulierte folgende Strategie der deutschen Christdemokraten: die Verhinderung der Gründung einer Partei im Parlament zur Rechten der Union. Die rechte Partei, die die Christdemokraten damals aus dem Bundestag ausschließen wollten, war die neonazistische NPD. Und es ist gelungen. Heute etabliert sich eine rechtspopulistische Partei im Parlament, und insbesondere die CSU macht Angela Merkel dafür verantwortlich. Der Aufstieg einer Fraktion zu ihrer Rechten ist ein schwerer Schlag für die Union, nicht zuletzt, weil er die absolute Mehrheit der CSU in Bayern gefährdet. Für die deutsche Bourgeoisie als Ganzes ist es aber nicht unbedingt ein großer Rückschlag. Es ist offensichtlich, dass eine weitere parlamentarische Kraft die Regierungsbildung erschwert. (…)

Trotz aller Schwierigkeiten wäre die deutsche Bourgeoisie in der Lage, mit einer sechsten Partei zurechtzukommen, mit einer nationalen konservativen Partei auf der rechten Seite der Union. Und trotz Verhältniswahl ist es ihr in den letzten Jahrzehnten immer gelungen, die NPD aus dem Parlament herauszuhalten. Das Problem mit der AfD ist, dass sie weder eine traditionelle konservative noch eine neonazistische Partei ist. Es ist eine Mischung aus beidem. Die Politik der etablierten Parteien im Bundestag ist klar: Es sollte keine Macht- und Privilegienteilung mit einer Partei geben, die Neonazis in ihren Reihen beherbergt. Diese Politik des Ausschlusses ist ein Angebot an die AfD: Sie sind auf dem Staatsbankett willkommen, wenn Sie Ihre Neonazis loswerden. Bis jetzt waren die Ergebnisse dieser Politik von Zuckerbrot und Peitsche jedoch dürftig. Obwohl Frauke Petry, einst die Vorsitzende der AfD, die ein Direktmandat in Sachsen gewann, ihre Partei unmittelbar nach den Parlamentswahlen verließ, folgten nur wenige ihrem Beispiel. Dies wiederum veranschaulicht das gegenwärtige Dilemma der Bourgeoisie. Das Geheimnis des Erfolgs der zeitgenössischen populistischen Parteien ist gerade ihre Mischung aus national-konservativen und rechtsradikalen Positionen. Wir befinden uns nicht in den 1930er Jahren, in der Zeit der radikalen Niederlage der Arbeiterbewegung und der unmittelbaren Vorbereitung auf den Weltkrieg. Faschistische Massenbewegungen stehen derzeit nicht auf der Tagesordnung. Gleichzeitig stellt der heutige Populismus etwas Neues in Bezug auf die Jahrzehnte nach 1968 dar. Er ist nicht nur eine weitere Variante von Nationalismus und Konservatismus. In den Teilen der Bevölkerung, die er direkt beeinflusst, reitet er auf der Welle des Hasses. Eines Hasses, der sich nur scheinbar gegen die etablierten "Eliten" richtet. Die Skandale, die der Populismus erzeugt und von denen er lebt, enthalten immer den Hinweis und damit das Versprechen zukünftiger Pogrome, nicht gegen die Eliten, sondern gegen viel verletzlichere Opfer. Neben der Heiligkeit des Privateigentums bleibt in den alten kapitalistischen "Demokratien" vor allem das Tabu gegen Rassismus. Deshalb sind die heutigen Rechtspopulisten "nicht rassistisch", können aber auch nicht ohne Rassismus auskommen.

Die AfD begann als konservative neoliberale Protestpartei gegen die griechischen und europäischen Rettungsaktionen, die als Ausverkauf deutscher Interessen durch Christdemokraten und Liberale angesehen wurden. Die Rolle der selbständigen Handwerker, der Familienunternehmen und der kleinen Unternehmen, die für den Binnenmarkt arbeiten und die ausländische Konkurrenz fürchten, war beträchtlich. Doch die "Flüchtlingskrise" und Protestbewegungen wie Pegida haben sie schnell in eine fremdenfeindliche Partei verwandelt. Auf wirtschaftspolitischer Ebene präsentiert sich einer seiner Flügel nun als Verteidiger des "Wohlfahrtsstaates" gegen die "Globalisierung". (…) Seine Weltsicht basiert auf Verschwörungstheorien, wie der Idee, dass Merkel und die "Globalisierer" die "europäischen Nationen", die als Haupthindernisse für die "planetarische Herrschaft des Finanzkapitals" dargestellt werden, verwässern und schließlich liquidieren wollen. Während Schröders "Agendapolitik" verurteilt wird, sind für dieses Milieu die Hauptfeinde des "Wohlfahrtsstaates" die Flüchtlinge und Migranten. Diese Art von Rechtspopulismus ist derzeit typisch für die Länder Nordeuropas (in Skandinavien, der Schweiz oder Österreich ist die Situation ähnlich), wo der "Wohlfahrtsstaat" einen öffentlicheren, Hegel würde sagen eher "abstrakten" Charakter hat. (…)

In Ländern wie Deutschland sind die Migranten das Ziel eines (…) Hasses, der sie vor allem als Konkurrenten von "Sozialleistungen" sehen will. So scheint zum Beispiel gegenwärtig in Cottbus, der zweitgrößten Stadt des ostdeutschen Bundeslandes Brandenburg, nur eine starke Polizeipräsenz die Entwicklung einer Pogrom-Situation zu verhindern. Cottbus, eine Stadt mit einer (sehr proletarischen) Bevölkerung von rund 100.000 Einwohnern, galt noch vor wenigen Jahren als Vorbild für eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen, die zur Revitalisierung des Ortes beigetragen hatten.

Mit dem Aufstieg der AfD haben die Geister der Vergangenheit, die die deutsche Bourgeoisie zumindest teilweise hinter sich gelassen zu haben schien, sie wieder eingeholt. In der heutigen Bundesrepublik erhielt die Kapitulation vom Mai 1945 den Titel "die Stunde Null". Es war die Mythologie des Neuanfangs. In Wirklichkeit wurde das "Wunder" der Nachkriegszeit (mit wenigen Ausnahmen) unter der Herrschaft der ehemaligen Nazis vollbracht, die den Kampf der amerikanisch geführten "freien Welt" als direkte Fortsetzung des Hitler-Kreuzzugs gegen den "Bolschewismus" sahen. Erst als eine neue Generation der Bourgeoisie an die Macht kam, entwickelte Deutschland die Politik der eindeutigen Verurteilung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit - eine Haltung, die ihm weltweit viel Anerkennung und Popularität eingebracht hat. In Deutschland, dem Land des Holocaust, ist das Flirten mit der Nazi-Terminologie, ihren historischen Bezügen und Symbolen ein noch probateres Mittel als in anderen Ländern für politische Zerstörer und Hasardeure, um die herrschenden Eliten zu stören und zu erpressen.

(…)

Die Situation des proletarischen Kampfes

Deutschland hat in den vergangenen Monaten eine Reihe von Arbeiterkämpfen erlebt. Es gab Protestdemonstrationen von Stahlarbeitern (Thyssen-Krupp), die eine Verschlechterung der Bedingungen bei einer möglichen Fusion mit Tata befürchteten. In jüngster Zeit haben Siemens-Mitarbeiter in mehreren Städten gegen Werkschließungen und den Verlust von 4000 Arbeitsplätzen demonstriert. Auch die Mitarbeiter von Ryanair streiken (nicht nur in Deutschland). Die IG Metall hat zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Berichts Zehntausende von Arbeitern zu Aktionen aufgerufen, in denen sie höhere Löhne und die Möglichkeit einer befristeten Arbeitszeitverkürzung mit einem gewissen Lohnausgleich fordern. Solche Manifestationen der Unzufriedenheit der Klasse sind nicht überraschend. Zur Zeit der "Finanzkrise" haben wir geschrieben, dass es wahrscheinlich weniger Arbeitskämpfe geben wird, da es angesichts von Fabrikschließungen und rasch steigender Arbeitslosigkeit schwieriger ist, in den Streik zu treten. In diesem Sinne ist der gegenwärtige Zeitpunkt der wirtschaftlichen Expansion und des Arbeitskräftemangels für die Arbeiter_innen viel günstiger, um ihre Forderungen durchzusetzen. Es wäre falsch, darin erste Anzeichen des Beginns des Endes des weltweiten Rückgangs in Klassenkampf, Klassenidentität und Klassenbewusstsein nach dem sogenannten "Zusammenbruch des Kommunismus" 1989 zu sehen. Im Gegenteil, dieser Rückgang setzt sich nicht nur fort, sondern vertieft sich. Die Tatsache, dass in Spanien in den letzten Monaten Hunderttausende von Menschen, viele von ihnen Arbeiter_innen, hinter den Nationalflaggen Kataloniens oder Spaniens (oder von beiden!) auf die Straße gegangen sind, ist eine dramatische Bestätigung dafür.

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Ein weiteres Beispiel für die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Proletariats ist der Kampf gegen die Entlassungen bei Siemens. Proteste fanden unter anderem in Görlitz, Leipzig, Dessau und Berlin statt. Görlitz ist besonders betroffen, da Bombardier dort auch ein Werk geschlossen hat. Vor kurzem fand eine Demonstration mit 7000 Teilnehmern statt - die größte in der Stadt seit 1989. Seit einiger Zeit fordern die Arbeiter_innen dort, dass der Siemens-Chef Joe Kaeser persönlich erscheint, um ihre Fragen zu beantworten. Er war sehr zurückhaltend, aber als er schließlich kam, sagte er, er sei "angenehm überrascht", dass "seine Mitarbeiter" keineswegs unrealistische Forderungen wie die Fortsetzung der Produktion von Gasturbinen, die niemand kaufen wird, aufwerfen würden. Stattdessen versuchten sie ihn davon zu überzeugen, wie wertvoll sie für Siemens aufgrund ihrer Erfahrung, ihres Könnens und ihrer "Motivation" sein können. Er verkündete, wie "tief beeindruckt" er von ihren Argumenten gewesen sei, und versprach, alle Möglichkeiten zu prüfen, die "Görlitz helfen" könnten. Wie viel Wert seine Versprechungen haben, zeigte sich bald darauf in Davos, wo er neben Donald Trump die Entwicklung der nächsten Generation von Siemens-Gasturbinen in den USA ankündigte. Siemens hat im vergangenen Jahr einen Gewinn von 6,2 Milliarden Euro erzielt. Neben dem Abbau von 4000 Arbeitsplätzen in diesem Jahr will Siemens in Deutschland 10.000 neue schaffen. Wer weiß, vielleicht gehen einige dieser Jobs sogar nach Görlitz. Aber was diese ganze Tragikomödie vor allem illustriert, ist das gegenwärtige Dilemma des Proletariats. Ohne die geringste Hoffnung, den Kapitalismus in Frage stellen zu können, wird es für die "wirtschaftlichen" Kämpfe gegen Ausbeutung schwieriger, sich zu entwickeln und vor allem auf einem Klassengelände zu bleiben, um die Fallstricke einer bürgerlichen Politisierung zu vermeiden. Die Situation erfordert daher eine proletarische Politisierung der Arbeiterkämpfe. Um den gegenwärtigen Rückzug des Proletariats zu stoppen, ist auch eine Entwicklung der politischen und theoretischen Dimensionen seines Kampfes erforderlich.

Weltrevolution, 01.02.2018


[1] Den vollständigen Bericht stellen wir so bald als möglich auf unsere Webseite de.internationalism.org

Rubric: 

Weltrevolution Nr. 182