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Wir legen hier einen Artikel neu auf, den wir vor 20 Jahren – zum 80. Jahrestag der Novemberrevolution 1918 geschrieben und in Weltrevolution Nr. 91 abgedruckt haben. Damit diese für unsere Klasse wesentlichen Ereignisse nicht vergessen gehen und wir die Lehren aus den Stärken und Schwächen ziehen können, werden wir in unseren Publikationen – insbesondere online – in den verschiedenen Sprachen in nächster Zeit weitere Artikel zur Revolution in Deutschland vor 100 Jahren veröffentlichen. Folgender Artikel also zum Auftakt.
Weltrevolution, 27. August 2018
Am 4. Nov. 1918 meuterten in Kiel an der deutschen Ostseeküste die Matrosen gegen den Befehl des Militärs, zu einer weiteren Seeschlacht auszulaufen.
Ein Siedepunkt der Unzufriedenheit, der Ablehnung des Krieges war erreicht worden. Nach 4 Jahren mörderischen Abschlachtens mit mehr als 20 Mio. Toten, unzähligen Verletzten, den verlustreichen, zermürbenden Stellungskriegen mit ihren Giftgaseinsätzen in Frankreich, der Ausmergelung und Aushungerung der arbeitenden Bevölkerung, war diese restlos kriegsmüde geworden und nicht mehr bereit, den Preis für dieses Abschlachten mit ihrem eigenen Leben zu zahlen. Die militärische Führung dagegen wollte die Fortführung des Krieges mit brutaler Repression durchsetzen und verhängte drakonische Strafen gegen die meuternden Matrosen.
Dagegen erhob sich sofort eine breite Solidarisierungswelle, deren Zündungsfunke von Kiel ausging und der sofort auf andere Städte in ganz Deutschland übersprang. Arbeiter traten in den Ausstand, Soldaten verweigerten die Befehle; sie bildeten - wie zuvor schon Anfang des Jahres in Berlin geschehen, Arbeiter- und Soldatenräte, die sich in Windeseile auch auf andere Städte ausbreiteten. Am 5./6. November setzten sich Hamburg, Bremen und Lübeck in Bewegung; Dresden, Leipzig, Magdeburg, Frankfurt, Köln, Hannover, Stuttgart, Nürnberg, München befanden sich am 7. und 8. November in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte. Innerhalb einer Woche gab es keine deutsche Großstadt, in der nicht auch Arbeiter- und Soldatenräte gegründet waren.
In dieser Anfangsphase wurde Berlin schnell zum Zentrum der Erhebung: dort strömten am 9. November unzählige Arbeiter und Soldaten zu Demonstrationen auf die Straße. Die Regierung hatte zuvor noch die als "zuverlässig" bezeichneten Bataillone nach Berlin zum Schutz der Regierung kommen lassen. Aber am Morgen jenes 9. November "leerten sich die Fabriken in unglaublich schnellen Tempo. Die Straßen füllten sich mit gewaltigen Menschenmassen. An der Peripherie, wo die größten Fabrikbetriebe liegen, formierten sich große Demonstrationszüge, die in den Mittelpunkt der Stadt zuströmten ... Wo sich Soldaten zeigten, bedurfte es zumeist keiner Aufforderung, sie schlossen sich freiwillig den Arbeiterzügen an. Männer, Frauen, Soldaten, ein Volk in Waffen flutete durch die Straßen den zunächst gelegenen Kasernen zu" (R. Müller, Die Novemberrevolution, Bd. II, S. 11). Unter dem Übergewicht dieser auf den Straßen versammelten Massen wechselten die letzten regierungstreuen Truppen das Lager, schlossen sich den Aufständischen an und verteilten ihre Waffen an die Arbeiter. Das Polizeipräsidium, die großen Zeitungsbetriebe, Telegraphenbüros, das Reichstags- und andere Regierungsgebäude – sie alle wurden an dem Tag von bewaffneten Arbeitern und Soldaten besetzt, Gefangene aus den Gefängnissen befreit. Viele Regierungsbeamte hatten die Flucht ergriffen. Wenige Stunden hatten genügt, um diese Schaltstellen der bürgerlichen Macht zu besetzen. In Berlin wurde ein die Stadt übergreifender Rat der Arbeiter- und Soldatenräte gegründet: der Vollzugsrat.
Die Arbeiter in Deutschland traten damit in die Fußstapfen ihrer Klassenbrüder in Russland, die ebenfalls als eine Reaktion gegen den Krieg sich im Februar 1917 schon in Arbeiter- und Soldatenräten zusammengeschlossen und im Oktober 1917 siegreich die Macht übernommen hatten. Damit schickten sich die Arbeiter in Deutschland an, den gleichen Weg zu beschreiten, den Sturz des kapitalistischen Systems in Angriff zu nehmen: Übernahme der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte, Lahmlegung des bürgerlichen Staatsapparates, Bildung einer Arbeiterregierung ... Die Perspektive war: das Tor zur weltweiten Erhebung der Arbeiterklasse weiter aufzustoßen, nachdem in Russland zuvor schon die Arbeiter den ersten Schritt dazu getan hatten.
Mit dieser Aufstandsbewegung hatten die Arbeiter in Deutschland die größten Massenkämpfe in ihrer Geschichte in Gang gesetzt. All die von den Gewerkschaften während des Krieges geschlossenen Stillhalteabkommen, die Politik des Burgfriedens, waren damit unter den Paukenschlägen des Klassenkampfes zerplatzt. Durch diese Erhebung hatten die Arbeiter die Niederwerfung vom August 1914 abgeschüttelt und sich wieder aufgerichtet; der Mythos einer durch den Reformismus gelähmten Arbeiterklasse in Deutschland war verflogen. Dabei setzten die Arbeiter in Deutschland ebenso die neuen typischen Waffen des Proletariats in dem Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz ein, deren Gebrauch zuvor schon von den Arbeitern in Russland (1905 und 1917) erfolgreich erprobt worden war: Massenstreiks, Vollversammlungen, Bildung von Arbeiterräten, Massendemonstrationen, kurzum die Eigeninitiative der Arbeiter selbst. Neben dem Proletariat in Russland, das die Kapitalistenklasse ein Jahr zuvor erfolgreich gestürzt hatte, standen die Arbeiter in Deutschland an der Spitze der ersten großen internationalen, revolutionären Welle von Kämpfen, die aus dem Krieg hervorgegangen waren. In Ungarn und Osterreich hatten die Arbeiter 1918 sich auch schon erhoben und angefangen, Arbeiterräte zu errichten.
Die SPD - Speerspitze gegen das Proletariat
Aber während so auf örtlicher Ebene überall Herde proletarischer Aktivität entstanden, das Proletariat in Wallung gekommen war, blieb die herrschende Klasse nicht untätig. Die Ausbeuter und die Militärs in ihrer Mitte brauchten eine Kraft, die der Ausbreitung dieser revolutionären Erhebung entgegentreten könnte. Aus der Erfahrung in Russland lernend, zog die deutsche Bourgeoisie mit den Chefs der Obersten Heeresleitung die Fäden. General Groener, oberster Boss des Militärs, berichtete:
"Es gibt zur Zeit in Deutschland nach meinem persönlichen Dafürhalten keine Partei, die Einfluss genug im Volk, insbesondere bei den Massen hat, um eine Regierungsgewalt mit der Obersten Heeresleitung wiederherstellen zu können. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden, und mit den äußersten Radikalen zu gehen war natürlich ausgeschlossen. Es blieb nichts übrig, als dass die Oberste Heeresleitung dieses Bündnis mit der Mehrheitssozialdemokratie schloss ... Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen die Revolution, zum Kampf gegen den Bolschewismus ... An eine Wiedereinführung der Monarchie zu denken, war meines Erachtens vollkommen ausgeschlossen. Der Zweck unseres Bündnisses, das wir am 10. November abends geschlossen hatten, war die restlose Bekämpfung der Revolution, Wiedereinsetzung einer geordneten Regierungsgewalt, Stützung dieser Regierungsgewalt durch die Macht einer Truppe und baldigste Einberufung einer Nationalversammlung ...“ (W. Groener über die Vereinbarungen zwischen der Obersten Heeresleitung und F. Ebert vom 10. Nov. 1918).
Damit war die SPD wieder einmal zum Dreh- und Angelpunkt der Politik des Kapitals geworden, wie zuvor schon im August 1914 und im weiteren Verlauf des Krieges - als sie sich als sicherer Pfeiler des kapitalistischen Gerüsts erwiesen hatte.
Am 4. August 1914 hatte die parlamentarische Fraktion der Sozialdemokratie mit ihrer rechten Führung die Interessen des Proletariats verraten und den Krediten für den imperialistischen Krieg zugestimmt. Trotz des heftigsten Widerstands einer unbeugsamen Minderheit (deren prominenteste Vertreter K. Liebknecht, R. Luxemburg, Cl. Zetkin, O. Rühle waren und die sich später im Spartakusbund und als Linksradikale vor allem in Norddeutschland und Mitteldeutschland organisiert hatten) hatte diese kapitalistische Führung den ganzen Krieg über für diesen mobilisiert.
Aber die Opposition gegen diese Kriegspolitik erhielt vor allem an der Basis immer mehr Aufschwung, insbesondere durch die Streiks, die von 1916-17 an Deutschland in zunehmendem Maße erschütterten, und infolge des Drucks der Ereignisse in Russland 1917. Die Opposition in der Partei weigerte sich, dem kapitalistischen Vorstand Beiträge zu zahlen, immer mehr SPD-Zeitungen und immer mehr Ortsverbände bezogen gegen den Krieg und damit gegen den Vorstand Stellung. Als sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei gegen die kapitalstreue SPD-Führung zu wenden begannen, schloss diese die Opposition im April 1917 aus der Partei aus. Die so Ausgeschlossenen gründeten darauf eine neue Partei – Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland.
Engster Verbündeter des Kapitals während des Krieges waren auch die Gewerkschaften gewesen, die sofort nach Kriegsanfang ein generelles Streikverbot (Burgfrieden) erlassen hatten. Und wenn es dennoch Proteste, Streiks und Demonstrationen gab, und deren Häufigkeit nahm seit dem Sommer 1916 beständig zu, dann wurden die kämpferischsten Arbeiter, die sogenannten Rädelsführer, von den Gewerkschaften bei den Behörden denunziert, welche diese oft zwangsrekrutierten und als Kanonenfutter an die Front zum Abschlachten schickten. Hier hatten die Gewerkschaften zum ersten Mal unter Beweis stellen können, dass diese mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz zu staatstragenden Organen, zur eigentlichen Polizei im Betrieb geworden waren. Damit trat nun mit diesem Bündnis aus SPD, Gewerkschaften und den höchsten Stellen des Militärs im Hintergrund den Arbeitern ein mächtiges Bollwerk entgegen, das sich schon im Krieg für die Verteidigung der Interessen des Kapitals bewährt hatte.
Der Deckmantel der "Einigkeit" soll die Klassengegensätze übertünchen
Um nicht den gleichen Fehler wie die Herrschenden in Russland zu begehen – dort hatte die bürgerliche provisorische Regierung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 den imperialistischen Krieg weitergeführt und damit den erbitterten Widerstand der Arbeiter, Soldaten und Bauern auf sich gezogen, die Widersprüche auf die Spitze getrieben und unbeabsichtigt den Boden für die Oktoberrevolution bereitet –, reagierte die Kapitalistenklasse in Deutschland schnell und weitsichtiger: am 9. November wurde der Kaiser aus dem Verkehr gezogen und ins Ausland geschickt, am 11. November der Waffenstillstand vereinbart, wodurch der schmerzhafteste Dorn aus dem Fleisch der Arbeiterklasse gezogen und der erste Anlass des Widerstandes der revoltierenden Soldaten beiseite geschafft war. Damit gelang es den Kapitalisten in Deutschland, der Bewegung frühzeitig Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber neben der Absetzung des Kaisers und dem Abschluss des Waffenstillstandes war die Übergabe der Regierungsgeschäfte an die SPD ein entscheidender Schritt zur Eindämmung der Kämpfe.
Am 9. November bildeten drei SPD-Führer (Ebert, Scheidemann, Landsberg) zusammen mit drei USPD-Führern den Rat der Volksbeauftragten, die bürgerliche Regierung in treuen Diensten des Kapitals. Diese selbsternannte (bürgerliche) Regierung kam nur gegen den Widerstand der Spartakisten und anderer bewusster USPD-Mitglieder zustande, denn vielen war klar, dass die SPD als Speerspitze gegen die Revolution wirkte. "Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg. Die proletarische Revolution wird über seine Leiche hinwegschreiten ", hatte R. Luxemburg in den Spartakusbriefen schon im Oktober 1918 gewarnt. Und auch jetzt, am 10. November, schrieb die Rote Fahne, Zeitung der Spartakisten: "Vier Jahre haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten, euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse das "Vaterland" verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte. – Jetzt, da der deutsche Imperialismus zusammenbricht, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist und suchen die revolutionäre Energie der Massen zu ersticken. Es darf kein "Scheidemann" mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungsozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre lang verraten haben. Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten!" Während im Laufe des Krieges immer mehr Arbeiter angefangen hatten, die wahre Rolle der Mehrheitssozialdemokratie zu durchschauen, und es in jeder revolutionären Situation von entscheidender Bedeutung ist, dass sich die Klassengegensätze zunehmend polarisieren und die Gegner eindeutig erkennbar sind, versuchte die SPD diese Gegensätze, die wahren Fronten zu verdecken. So zog jetzt die SPD mit der Parole in den Kampf:
"Es darf keinen Bruderkampf geben ... Wenn Gruppe gegen Gruppe, Sekte gegen Sekte arbeitet, dann entsteht das russische Chaos, der allgemeine Niedergang, das Elend statt des Glückes ... Soll nun der Welt nach solchem herrlichen Triumph [der Absetzung des Kaisers und der Zustimmung der rechten USPD-Führung zur Bildung einer gemeinsamen, paritätisch besetzten bürgerlichen Regierung mit der SPD] das Schauspiel einer Selbstzerfleischung der Arbeiterschaft in sinnlosem Bruderkampf geboten werden? Der gestrige Tag hat in der Arbeiterschaft das Gefühl für die Notwendigkeit innerer Einheit hoch emporlodern lassen! Aus fast allen Städten ... hören wir, dass alte Partei und Unabhängige sich am Tage der Revolution wieder zusammengefunden und zu der alten geschlossenen Partei geeint haben. … Und wenn auch noch soviel Verbitterung sich eingefressen hat, wenn auch der eine Teil dem anderen manches aus der Vergangenheit vorwirft, und umgekehrt, ein Tag wie der gestrige ist groß und überwältigend genug, um all das vergessen zu machen. Das Versöhnungswerk darf nicht an einigen Verbitterten scheitern, deren Charakter nicht stark genug ist, um alten Groll überwinden und vergessen zu machen.... Die Bruderhand liegt offen – schlagt ein!" (Vorwärts, 10.11.1918)
Der Vorwärts war an diesem Tag die Zeitung, die sich jeder Arbeiter zu verschaffen suchte. War bis dahin alles, was aus den Reihen der SPD stammte, mit Misstrauen aufgenommen worden, schaffte die SPD es nun mit dieser Demagogie, den Klassengraben zwischen ihr und der Arbeiterklasse zu übertünchen; die ganze Kriegspolitik, der Burgfrieden mit der Bourgeoisie, mit ihren Wirkungen auf die Lage der Arbeiter, alles was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, wollte sie vergessen machen; und viele Arbeiter gingen ihr dabei auf den Leim. So hatte sie mit dieser Vorgehensweise Erfolg bei der ersten Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am 10. November. "‘Wir kennen keine verschiedenen sozialistischen Parteien mehr, wir kennen nur noch Sozialisten.‘ Die Flagge eines neuen Burgfriedens ist gehisst; fanatischer Hass wird gesät gegen jeden, der sich dem neuen Einigkeitstaumel entgegenwirft. Die lautesten Rufer nach Einigkeit ... finden ein hallendes Echo vor allem unter den Soldaten. Kein Wunder. Bei weitem nicht alle Soldaten sind Proletarier; und Belagerungszustand, Zensur, amtliche Propaganda und Stampferei waren nicht wirkungslos. Die Masse der Soldaten ist revolutionär gegen den Militarismus, gegen den Krieg und die offenkundigen Repräsentanten des Imperialismus; im Verhältnis zum Sozialismus ist sie noch zwiespältig, schwankend, unausgegoren. Ein großer Teil der proletarischen Soldaten wie der Arbeiter ... wähnt, die Revolution sei vollbracht, nun gelte es nur noch den Frieden und die Demobilisation [zu verwirklichen]. Sie wollen Ruhe nach langer Qual ... Aber nicht jede "Einigkeit" macht stark. Einigkeit zwischen Wolf und Lamm liefert das Lamm dem Wolfe zum Fraß; Einigkeit zwischen Proletariat und herrschenden Klassen opfert das Proletariat, Einigkeit mit Verrätern bedeutet Niederlage. Nur gleichgerichtete Kräfte stärken sich durch Vereinigung; einander widerstrebende Kräfte zusammenzuketten heißt sie lähmen ... Zerstreuung des Einigkeitsphrasennebels, Bloßstellung aller Halbheit und Lauheit, Entlarvung aller falschen Freunde der Arbeiterklasse ist dann das erste Gebot - heute mehr als je." So beschrieb Liebknecht im Namen der Spartakisten die Lage und die Aufgaben in der Roten Fahne vom 19. November 1918. Mit dieser Taktik des Einigkeitsrummels trat der Rat der Volksbeauftragten gegenüber der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte auf. Weil die bürgerliche Regierung unter dem Deckmantel des Rates der Volksbeauftragten zwischen SPD und USPD paritätisch besetzt war, bestand sie auf einer paritätischen Zusammensetzung der Leitung des Berliner A.- und S.-Rates (Vollzugsrat). Auch schaffte sie es, sich von dieser Vollversammlung ein "Mandat" als provisorische Regierung geben zu lassen, um so ihr konterrevolutionäres Treiben "demokratisch legitimiert" fortzusetzen.
Aber nach "der Beendigung des Weltkriegs und der Beseitigung der augenfälligsten politischen Vertreter des Systems, das zum Krieg geführt hat, darf das Proletariat sich nicht mit diesem Ergebnis begnügen. Es geht um die Aufhebung der kapitalistischen Klassenherrschaft, die Befreiung der Arbeiterklasse überhaupt." (Liebknecht, 28.11.1918) Hier zeichneten sich all die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse ab, das Ziel der Bewegung klar zu erkennen und damit auch die Täuschungs- und Betrugsmanöver der SPD zu durchschauen. "Man kann nicht erwarten, wenn man auf dem Boden historischer Entwicklung steht, dass man in dem Deutschland, das das furchtbare Bild des 4. August und der vier Jahre darauf geboten hat, plötzlich am 9. November 1918 eine großartige, klassen- und zielbewusste Revolution erlebt, - und was wir am 9. November 1918 erlebt haben, war zu drei Vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prinzips. Es war einfach der Moment gekommen, wo der Imperialismus wie ein Koloss auf tönernen Füßen, innerlich morsch, zusammenbrechen musste, und was darauf folgte, war eine mehr oder weniger chaotische, planlose, sehr wenig bewusste Bewegung, in der das einigende Band und das bleibende, das rettende Prinzip nur in der Losung zusammengefasst war: die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte" (Gründungsparteitag der KPD 1918/19).
Nur die Arbeiterklasse konnte den Krieg beenden
Mit ihren Erhebungen Anfang November 1918 hatte die Arbeiterklasse in Deutschland nach dem revolutionären Aufstand in Russland den Weltkrieg schließlich zu Ende gebracht. Der Aufstand eines zentralen Teils der Arbeiterklasse war nötig gewesen, um die Bourgeoisie zur Beendigung des Krieges zu zwingen. Der unbeugsame Widerstand der revolutionären Minderheit - allen voran die Spartakisten an ihrer Spitze - hatte seine Früchte getragen, denn nur dieser heldenhafte Kampf hatte der Arbeiterklasse den Weg zur Beendigung des Kriegs gezeigt. Die Einkerkerung R. Luxemburgs kurz nach Kriegsbeginn, um sie mundtot zu machen, selbst die Festungshaft im Zuchthaus für K. Liebknecht hatten diese bekanntesten Stimmen der Arbeiterklasse nicht zum Schweigen gebracht, sondern nur noch mehr die Widerstandskraft der Arbeiter gegen den Krieg angespornt. So streikten und demonstrierten beispielsweise im Juni 1916 55.000 Arbeiter allein in Berlin gegen den imperialistischen Krieg und die Verurteilung K. Liebknechts. Wie schon in Russland war es in Deutschland ebensowenig der Pazifismus gewesen, der den Krieg zu Ende brachte, sondern nur der Klassenkampf des Proletariats. Und dies ist das große Verdienst der Arbeiterklasse, den Beweis angetreten zu haben, dass sie die große Barriere gegen den Krieg ist und die einzige Kraft, um ihn zu beenden. Und bei dieser Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Klassenkrieg war die Arbeiterklasse gezwungen, einen Sturmlauf gegen den Staat und seine ihn verteidigenden Kräfte anzutreten. Während es der Arbeiterklasse in Russland gelungen war, die Regierung zu stürzen und die Macht zu ergreifen, stieß das Proletariat in Deutschland auf ungleich größere Hindernisse. Nicht nur hatte es hier mit einer viel intelligenteren und mächtigeren Bourgeoisie zu tun, sondern es befand sich auch in einer neuen historischen Situation, wo es die Konsequenzen des Eintritts des Kapitalismus in seinen Zeitraum der Dekadenz zu begreifen hatte.
Dino, November 1998