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In ihrer Nr. 530 vom Oktober/November 2018 veröffentlichte Le Prolétaire, ein Organ der Internationalen Kommunistischen Partei - Le Prolétaire, eine Antwort (Die Schwärmereien der IKS über den Populismus) auf zwei Artikel, die wir unter dem Titel: Die Schwächen der IKP in der Frage des Populismus verfasst hatten. Diese Artikel waren bereits eine erste Antwort auf ihren vorherigen Artikel: Populismus, sagten Sie Populismus? (Le Prolètaire Nr. 523), der unsere Analyse des gegenwärtigen Populismus kritisiert. Wir setzen hier diese Polemik fort, die wir für wesentlich halten, sowohl für die Konfrontation zwischen zwei verschiedenen Methoden im Kampf für die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse, als auch für die unerlässliche Klärung der Analyse der aktuellen Situation im Proletarischen Politischen Milieu.
Eine historische Methode zur Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen
Revolutionäre untersuchen einen historischen Zeitraum und eine historische Situation als Kräfteverhältnis zwischen den beiden bestimmenden Klassen der Gesellschaft – der Bourgeoisie und dem Proletariat. Diese Analyse gehört zur höchsten Verantwortung der revolutionären Organisationen und war in den Schlüsselmomenten des proletarischen Kampfes immer entscheidend. Als Beispiel: Dank der Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und derjenigen der „Doppelherrschaft“ korrigierte Lenin in den Aprilthesen von 1917 die Orientierung der Bolschewistischen Partei gegenüber der Provisorischen Regierung von Fürst Lwow und Kerenski. Ebenso konnte die Bolschewistische Partei im Juli 1917, weil sie die Realität des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie verstanden hatte, die von der Provisorischen Regierung aufgestellte Falle eines vorzeitigen Aufstands vereiteln.
Umgekehrt hat die Fehleinschätzung dieses Kräfteverhältnisses durch eine revolutionäre Organisation, unabhängig vom Grad ihres Einflusses auf die Arbeiterklasse immer sehr schwere, ja katastrophale Folgen gehabt. So hatte die Entscheidung Karl Liebknechts, als trotz der heftigen sozialen Unruhen in Deutschland im Januar 1919 die Bedingungen noch nicht reif waren, in Berlin zum Aufstand aufzurufen, tragische Folgen für das gesamte internationale Proletariat, weil er zur blutigen Niederschlagung der Revolution in Deutschland führte und der Bourgeoisie erlaubte, der Ausbreitung der Weltrevolution einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Ebenso wurde Trotzkis opportunistische und aktivistische Haltung in den 1930er Jahren, die aus seinen Illusionen über eine mögliche positive Entwicklung des Stalinismus und seinem Unverständnis für die Notwendigkeit der Fraktionsarbeit herrührte, durch seine Unterschätzung der weltweiten Konterrevolution und des damals völlig ungünstigen Kräfteverhältnisses für das Proletariat noch verschlimmert. All dies veranlasste Trotzki unter anderem dazu, für die Bildung von Einheitsfronten mit bürgerlichen Parteien einzutreten, als Mittel gegen den Aufstieg des Faschismus. Ebenso vertrat er eine katastrophale Position während des Krieges in Spanien von 1936-38, als er behauptete, dass es „eine hybride, verwirrte, halb blinde und halb taube Revolution“ gegeben habe, die in eine „sozialistische Revolution“ umgewandelt werden könne, wenn es an der Spitze des bürgerlichen Staates „revolutionäre Führer“ gäbe. Einige dieser Fehler basierten auf Trotzkis Verwirrung über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, was ihn 1938, als die Kräfte der Revolutionäre nicht nur völlig zersplittert, sondern auch stark dezimiert waren, zum Fehler der Gründung einer „Vierten Internationale“ führte. Diese tragischen Irrtümer führten zu schrecklichen Massakern an der Arbeiterklasse im Krieg in Spanien, der Auftakt der blutigen imperialistischen Konfrontation von 1939-1945 war. Diese Politik steuerte die trotzkistischen Organisationen während des Zweiten Weltkriegs direkt in den Verrat und den Übertritt ins bürgerliche Lager. Deshalb haben wir, insbesondere in Anlehnung an Bilan und die Französische Kommunistische Linke, stets die entscheidende Bedeutung der Analyse über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen betont.
Von dem Moment an, als die Gesellschaft in eine neue historische Periode eintrat – die Periode der Kriege und Revolutionen, wie sie der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale bezeichnete –, wurde es für revolutionäre Organisationen entscheidend, alle Konsequenzen zu ziehen, welche diese Veränderung der historischen Periode mit sich brachten. Die Kommunistische Linke setzte diese Arbeit nach dem Triumph der Konterrevolution durch die Niederschlagung der revolutionären Welle von 1917-1923 fort. Mit diesem Ansatz konnte die IKS den allgemeinen Rahmen für die Analyse des Eintritts des Kapitalismus in die Periode der Dekadenz erstellen. Wir konnten noch weiter gehen, indem wir zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Ostblocks 1989 den Eintritt des Kapitalismus in seine letzte Phase des Zerfalls erkannten[1]. Mit diesem theoretischen Rahmen, der sich auf die historische und globale Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stützt, ist die IKS in der Lage, eine Analyse von Phänomenen wie dem Populismus zu entwickeln, die für die Zerfallsphase des Kapitalismus typisch sind.
Natürlich ist Le Prolétaire mit diesem Analyserahmen nicht einverstanden, was seine völlig reduzierte Interpretation der marxistischen Methode offenbart.
Die Ablehnung des Klassenbewusstseins als materielle Kraft durch die IKP
Wenn Le Prolétaire als Antwort auf die IKS kategorisch behauptet, dass „es nicht „ideologische“ Faktoren, sondern materielle Bedingungen sind, die die Proletarier in die Kampfbewegungen drängen und drängen werden, ihre Spaltungen überwinden lassen, die ihnen die Erkenntnis geben, dass sie derselben sozialen Klasse angehören, derselben Ausbeutung unterworfen sind, und die die avantgardistischen Elemente in diesen Bewegungen dazu drängen werden, eine Parteiorganisation aufzubauen, die den Kampf führt“, so beschreibt er damit bloß die elementarste Ebene des Klassenkampfes. Auch wir anerkennen voll und ganz, dass die materiellen Bedingungen für die Arbeiterklasse als Zusammenspiel objektiver Faktoren (das Ausmaß der Wirtschaftskrise, das Ausmaß der Angriffe der Bourgeoisie usw.) eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Klassenbewusstseins spielen. Aber die IKP vergisst dabei, dass subjektive Faktoren (Kampfbereitschaft, Überzeugung, Moral, Solidarität, Organisation, Bewusstsein, Theorie) sehr schnell eine wichtige Rolle für das Proletariat spielen, bis sie in einer revolutionären Periode entscheidend werden. Das brachte Marx dazu, zu sagen: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ [2]. Diese Wirkungsweise wurde durch den Verlauf der Revolution in Russland lebhaft bestätigt. Es ist diese entscheidende Rolle des Bewusstseins, die Trotzki in den Mittelpunkt seiner Geschichte der Russischen Revolution stellte, als er schrieb: „Der Stand des Bewusstseins der Volksmassen, als entscheidende Instanz revolutionärer Politik, schloss somit im Juli die Möglichkeit der Machtergreifung durch die Bolschewiki aus“[3], und er auf folgende Worte Lenins Bezug nahm: „Wir sind keine Scharlatane: Wir stützen uns lediglich auf das Bewusstsein der Massen“.[4]
Bordiga hatte genau dies bei seiner Rückkehr ins militante politische Leben nach dem Zweiten Weltkrieg (die Geburtsstunde des Bordigismus) vergessen, was ihn dazu veranlasste, das Bewusstsein außerhalb des proletarischen Kampfes bis zur Revolution völlig zurückzuweisen und es auf die Partei zu reduzieren. Damit wertet die IKP den Klassenkampf auf eine Summe oder Abfolge fast automatischer und mechanischer materieller Bestimmungen ab, die zu jedem Zeitpunkt des Kapitalismus gültig sind. Jede andere Konzeption sei „Idealismus“. Genau das wirft uns die IKP in ihrem Artikel hinter den Begriffen „Geschwafel“ und „Launen“ vor, was eine wirkliche Antwort verhindert. Im selben Atemzug, wie sie die Bedeutung des Bewusstseinsfaktors im Kampf des Proletariats leugnet, verwirft die IKP auch die historische Dimension der Entwicklung des Kapitalismus und veranlasst sie dazu, die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus, die wir verteidigen, abzulehnen.
Damit verlässt die IKP die historische Dimension und den konkreten Kontext der Entfaltung des Klassenkampfes, welche zu einer wesentlichen Errungenschaft des Marxismus gehören. Das Klassenbewusstsein ist keineswegs ein abstrakter Faktor, sondern eine materielle Kraft, wie Marx und Engels immer klar unterstrichen haben. Das Bewusstsein und das Niveau dieses Bewusstseins zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt sind nicht nur aktiver, sondern auch entscheidender Faktor, was bei einer Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen grundlegend ist und zwingend berücksichtigt werden muss.
Mit anderen Worten, es gibt nicht nur objektive Faktoren, sondern auch subjektive Faktoren, d.h. Faktoren, die mit dem Zustand und dem Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins des Proletariats zusammenhängen und seine Stärke auf dem politischen Terrain bestimmen. Deshalb haben wir immer unterstrichen, dass im Kapitalismus das Proletariat, da es keine wirtschaftliche und materielle Macht besitzt, nur über zwei Waffen des Kampfes verfügt: sein Bewusstsein und seine Organisation.
Allgemeiner gesagt, sind die von der Bourgeoisie gestreuten und instrumentalisierten Ideen und Ideologien auch materielle Kräfte im Dienste ihrer Herrschaft und Ausbeutung. Die von der Bourgeoisie verbreiteten Mystifikationen und Illusionen spielen in konkreten Situationen eine aktive Rolle. Es gibt also einen konkreten Kampf, den das Proletariat führen muss, um die Manöver der ideologischen Propaganda der Bourgeoisie zu entlarven, insbesondere die gewichtigen demokratische Mystifizierung und jede Ideologie, die darauf abzielt, die Arbeiterklasse zu spalten: Rassismus/Antirassismus, Populismus/Antipopulismus, Totalitarismus/Demokratie, usw. Die IKP übersieht die große und aktive Rolle der Entwicklung des Bewusstseins des Proletariats im revolutionären Prozess, indem sie dieses Bewusstsein nur auf die Partei reduziert, auf welchem sie (und nur sie selbst) das „Monopol“ habe. Indem die IKP die Entwicklung des Klassenbewusstseins auf diese Ansammlung von materiellen Bedingungen reduziert, gerät sie in einen rein mechanischen Determinismus, d.h. in die Falle einer Sichtweise, welche dem des vulgären Materialismus gleicht und in ihrer Substanz Geist und Materie entgegenstellt: die absolute Bestimmung durch die materiellen und wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse, unter Ausschluss „der Welt der Ideen“, d.h. die Verleugnung und Ablehnung der materiellen Kraft des Denkens und der Reflexion in der Klasse selbst. Diese verengte Sichtweise hat Konsequenzen, die insbesondere die IKP dazu führt, sich zu verselbständigen und sich in falsche, aus der Vergangenheit geerbten Theorien einzuhüllen.
Die „Arbeiteraristokratie“: eine soziologische Theorie, welche die Arbeiterklasse spaltet
Es gibt noch einen weiteren Aspekt in ihrer Kritik an unserem sogenannten „Idealismus“, der Zeugnis davon gibt, wie die IKP die Grundlagen des Marxismus auf den Kopf stellt: „Die IKS hat die völlig idealisierte Sichtweise einer Arbeiterklasse ohne Widersprüche, ohne verschiedene Schichten, ohne innere Spaltungen (...). Im Gegensatz zu diesem Märchen ist es wichtig zu verstehen, dass die Spaltung und Unterwerfung der Arbeiterklasse materielle Grundlagen hat“. Diese Auffassung führt die IKP dazu, an der Theorie der „Arbeiteraristokratie“ festzuhalten, die wir bereits in unserem vorherigen Artikel kritisiert haben.
Abgesehen von der saloppen Ironie in seiner Antwort („In diesem Punkt befinden wir uns in guter Gesellschaft, da die IKS behauptet, dass diese Auffassung bereits ein Irrtum von Engels und Lenin gewesen sei!“), stützt sich Le Prolétaire in der Tat auf eine falsche Vision, die sie aus Lenins[5] Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus geerbt hat.[6]
Niemand bestreitet, dass es in der Arbeiterklasse immer Unterschiede bei Löhnen, Lebens- und Arbeitsbedingungen gibt, welche die Bourgeoisie immer versucht zu verstärken, hervorzuheben und zu instrumentalisieren, um damit das Wesen und den historischen Charakter der assoziierten und einheitlichen Klasse des Proletariats zu verbergen. Aber wir haben diesen Begriff der „Arbeiteraristokratie“ immer kritisiert, weil er die grundlegende Einheit des Proletariats als politische Klasse und seine Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ missachtet und damit von kategorischen soziologischen Spaltungen und angeblichen Antagonismen konkurrierender Interessen innerhalb der Arbeiterklasse ausgeht. Die IKP hält an dieser soziologischen und fotografischen Sicht auf die Arbeiterklasse fest, verliert deren Wesen, Rolle und politische Orientierung aus den Augen, und gerät dadurch in eine ideologische Falle, wenn sie über die Spaltung des Proletariats in verschiedene Schichten spricht. Was die Arbeiter und Arbeiterinnen zum Kampf drängt, sind nicht nur die materiellen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, sondern auch der Entwicklungsstand ihres Klassenbewusstseins im Kampf, der keineswegs linear oder kontinuierlich ist. Wegen ihrer Unzulänglichkeiten in der marxistischen Methode vergisst die IKP, dass das Proletariat fähig ist, sich in seinem Kampf gegen die Ausbeutung zu vereinen, und dass es dies in den höchsten Momenten seiner Geschichte (von der Pariser Kommune 1871, 1917 in Russland, Mai 1968 in Frankreich, bis hin zu den Kämpfen in Polen 1980) bewiesen hat, auch in Sektoren, in denen das Proletariat besser bezahlt wird. Die Bourgeoisie gibt sich in der Tat Mühe, die Arbeiterklasse als eine hoffnungslos gespaltene Klasse darzustellen, die bloß branchenspezifische und von der Konkurrenz geprägte Interessen verteidige. Doch die Realität der Arbeiterklasse, des Proletariats als Klasse, beruht auf ihrer tiefen Einheit. Das Proletariat kann, wie der Marxismus immer unterstrichen hat, seine Klassenidentität nur durch den Kampf und die Bekräftigung seiner Einheit und Solidarität auf der Grundlage des damit verbundenen Charakters seiner Arbeit innerhalb des Kapitalismus erkennen, sich so als revolutionäre Klasse behaupten und damit die existierenden Spaltungen überwinden. Die IKP verwechselt hier die bloße Existenz des Proletariats mit dem tatsächlich heterogenen und ungleichen Prozess, der bei der Entwicklung seiner Kämpfe und seines Klassenbewusstseins abläuft.
Die zentrale Frage des Staatskapitalismus in der Periode der Dekadenz
Wenn der Artikel von Le Prolétaire zur Rechtfertigung seiner Position einer „Arbeiteraristokratie“ behauptet, dass „es eine materialistische Analyse ist, um den bürgerlichen Einfluss (und insbesondere den Einfluss kollaborierender Parteien und Organisationen) auf das Proletariat zu erklären“, vertritt er die Auffassung, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften „kollaborierende“ Arbeiterorganisationen seien, obwohl es aber in Wirklichkeit darum ginge, sie als bürgerliche Organe zu denunzieren, die unwiederbringlich in das bürgerliche Lager übergegangen sind. Zur Verteidigung seiner Theorie fügt Le Prolétaire hinzu: „Es ist ganz bewusst, dass die Kapitalisten einigen Schichten des Proletariats bestimmte Vorteile und bestimmte „Garantien“ (Sonderstatuten usw.) gewähren, um den sozialen Frieden in bestimmten Wirtschaftszweigen oder in der Wirtschaft insgesamt zu sichern. Diese Schichten bilden die Massenbasis der reformistischen Organisationen“. Es ist zwar richtig, dass die Bourgeoisie in ganz bestimmten historischen Momenten in der Lage ist, freiwillig und sehr bewusst, gezielte wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen. Aber zu welchem Zweck? Es geht nicht darum, einen Teil des Proletariats zu „kaufen“, wie die IKP impliziert, „um die reformistische Ideologie zu verewigen“, sondern darum, es zu spalten und zu versuchen, die Arbeiter und Arbeiterinnen gegeneinander auszuspielen, indem man den Forderungen eines bestimmten Sektors oder in einem Unternehmen nachkommt. Eine Strategie, die vor allem angewendet wird, wenn die Mehrheit der Proletarier und Proletarierinnen im Kampf nichts anderes als die tiefe Bitterkeit der Niederlage erfährt, wie im Kampf in den Krankenhäusern in Frankreich 1988, wo nur die Krankenschwestern ein paar Krümel bekamen, oder in vielen Kämpfen, wie im jüngsten Streik bei General Motors in den USA, wo sie einen Wettbewerb zwischen Arbeitern provozierten, indem sie sie in die Verteidigung der Fabrik, des Unternehmens, der Region oder des Landes lockten. Strategien der herrschenden Klasse zur Kontrolle des Proletariats sind nicht neu, vor allem nicht durch neue Gesetzgebungen der Ausbeutung, wie Rosa Luxemburg in ihrer Einführung in die Nationalökonomie über die Bedeutung von Arbeitsschutzgesetzen erinnert: „Das Kapital mußte also im eigenen Interesse, um sich für die Zukunft die Ausbeutung zu ermöglichen, der Ausbeutung in der Gegenwart einige Schranken setzen. Die Volkskraft mußte etwas geschont werden, um ihre weitere Ausbeutung zu sichern. Von einer unwirtschaftlichen Raubwirtschaft mußte zur rationellen Ausbeutung übergegangen werden. Daraus sind die ersten Gesetze über den Maximalarbeitstag entstanden, wie die gesamte bürgerliche Sozialreform entsteht. Ein Gegenstück dazu haben wir in den Jagdgesetzen. Ebenso wie dem Edelwild eine bestimmte Schonzeit durch Gesetze gesichert wird, damit es sich rationell verbreitet und regelmäßig als Gegenstand der Jagd dienen kann, ebenso sichert die Sozialreform eine gewisse Schonzeit der Arbeitskraft des Proletariats, damit sie rationell zur Ausbeutung durch das Kapital dienen kann. Oder wie Marx sagt: Die Beschränkung der Fabrikarbeit war diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche die Landwirte zwingt, den Dünger über die Felder auszugießen. Die Fabrikgesetzgebung wird im harten jahrzehntelangen Kampf mit dem Widerstand der Einzelkapitalisten erst für Kinder und Frauen und in einzelnen Industrien Schritt für Schritt geboren.“ (www.mlwerke.de/lu/lu05/lu05_739.htm)
Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll an historischen Beispielen, die zeigen, dass die herrschende Klasse nicht nur darauf bedacht ist, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu rationalisieren, sondern dass es immer ein zentrales Ziel war, eine strenge Kontrolle über die Arbeiter auszuüben, zum Beispiel durch die Schaffung neuer Gewerkschaftsstrukturen. Bereits vor 1905 gab es in Russland das bekannte Beispiel der „Subatow-Gewerkschaften“ unter Kontrolle und direktem Befehl der zaristischen Polizei. Dies war in vielen Ländern vor allem auch kurz nach 1945 der Fall mit dem Sonderstatus der Beamten sowie bestimmten Schlüsselsektoren der Industrie (Strom- und Gasversorgung, Eisenbahnen, etc.) oder durch Lohnerhöhungen, die eine Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter und Arbeiterinnen ermöglichten, weil dies der herrschenden Klasse erlaubte, die Arbeiterklasse unter dem Joch der Nachkriegsausbeutung im Dienste der „nationalen Wiederaufbaubemühungen“ zu halten (das berühmte „Ärmel hochkrempeln!“ des französischen Ministers Thorez und seiner stalinistischen Gefolgsleute in einer aus dem Résistance hervorgegangenen Regierung der Nationalen Einheit). All dies durch die Mystifizierung von Verstaatlichungen und dem angeblich „arbeiterfreundlichen“ Charakter dieser Maßnahmen. Desgleichen in den folgenden Jahren während der Periode der „Glorreichen 30 Jahre“ (oder des „Wirtschaftswunders“), als die Bourgeoisie die Illusion einer beispiellosen wirtschaftlichen Neuentwicklung des Kapitalismus nach Überwindung seiner Krisen aufrechterhalten konnte. Während die Bourgeoisie der westlichen Länder den Arbeitern vorgaukelte, dass sie etwas vom Kapitalismus zu gewinnen hätten, ging es in Wahrheit darum, sie dazu zu bringen, die weitere Militarisierung der Wirtschaft, das Wettrüsten und eine permanente Kriegswirtschaft zu akzeptieren, mit dem Ziel, sie auf kriegerische Auseinandersetzungen mit dem gegnerischen Block vorzubereiten und zu mobilisieren. So wurde in Frankreich im Kontext des Kalten Krieges die Gewerkschaft Force Ouvrière (FO) 1947 auf Initiative der Bourgeoisie, insbesondere der Sozialdemokratischen Partei (SFIO) die in den 1950er Jahren eine zentrale Rolle in der Regierung spielte, bewusst ins Leben gerufen, um die Arbeiter im westlichen Lager und im pro-atlantischen Geist zu halten. Ziel war es, dem Einfluss der von der stalinistischen KPF kontrollierten CGT entgegenzuwirken, deren Einfluss die Gefahr mit sich brachte, dass das Kräfteverhältnis zugunsten des gegnerischen russischen Blocks kippt. Ebenso in Italien 1950 mit der Gründung der Gewerkschaft CISL (von der regierenden Christdemokratischen Partei gesponsert) und der UIL (von der Sozialdemokratischen Partei gesponsert) gegen die von den Stalinisten kontrollierte CGIL.
Wenn die Gewährung gezielter wirtschaftlicher „Vorteile und Garantien“ für bestimmte Sektoren, oder sogar für die ganze Klasse, tatsächlich eine bewusste Politik der Bourgeoisie unter diesem oder jenem Umstand oder in einem ganz bestimmten historischen Kontext sein kann, macht die IKP jedoch eine völlig falsche Interpretation davon, die zur eigenartigen Schlussfolgerung einer sogenannten „Klassenkollaboration der reformistischen Organisationen“ führt. Im Gegensatz zur verkürzten Vision der Wirklichkeit, die von der Theoretisierung der „Arbeiteraristokratie“ herrührt, ist die grundlegende und zentrale Frage, die dem Proletariat gestellt wird und die die IKP nicht sieht, die totalitäre Herrschaft des Staatskapitalismus als universelle Herrschaftsform der Bourgeoisie. Dies ist ein grundlegendes Merkmal der Zeit seit der Niederlage der weltrevolutionären Welle von 1917-1923 und Kennzeichen der Dekadenz dieses Systems, entweder direkt und brutal wie unter den stalinistischen Regimes oder indirekt in „demokratischer“ Form: die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft und über die gesamte Gesellschaft. Anstelle einer Methode, welche die Entwicklung eines lebendigen analytischen Rahmens für Erfahrungen und Lehren, die von einem Klassenstandpunkt aus abgeleitet werden können, ermöglicht, hält Le Prolétaire daran fest, sich in „invariante“ Schemata einzuschließen und Formeln aus der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, ohne die historische Entwicklung der kapitalistischen Herrschaft wirklich zu berücksichtigen. So sprechen sie weiterhin von „reformistischen Organisationen“, „Klassenzusammenarbeit“, oder sogar von „Schichten, die Ausdruck einer Arbeiteraristokratie sind“, während in Tat und Wahrheit die Gewerkschaften wie auch die ehemaligen Arbeiterparteien nicht nur definitiv zu Organisationen mit bürgerlichem Charakter geworden sind, sondern auch vollständig in den Staatsapparat integriert sind und als dessen wesentliches Instrument der Herrschaft und Ausbeutung agieren. Ihre spezifische Funktion innerhalb des Staatsapparates besteht in der ausschließlichen Verteidigung seiner Interessen, indem sie es ermöglichen, dem Proletariat ein Korsett und einen Maulkorb anzulegen. In diesem Sinne sind sie sowohl die besten Verteidiger der Bourgeoisie als auch die schlimmsten und gefährlichsten Feinde des Proletariats. Einen Teil des bürgerlichen Staatsapparats als „reformistische Organisationen“ zu bezeichnen und dabei die Tatsache zu ignorieren, dass diese ehemaligen Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, Sozialdemokratie, sog. „Kommunistische Parteien“, trotzkistische Organisationen) angesichts von Krieg oder Revolution unwiderruflich in die Reihen der Bourgeoisie eingegliedert und zu erklärten Feinden des Proletariats geworden sind, hält die Illusion aufrecht, dass sie immer noch Arbeiterorganisationen seien[7]. Dies ist von Seiten einer Organisation des proletarischen Lagers wie der IKP unverantwortlich, weil es eine grundlegende Konfusion aufrechterhält, welche die herrschende Klasse gegen die Entwicklung des Klassenbewusstseins im Proletariat einsetzt.
Wenn eine proletarische Organisation an einer starren Vision der Vergangenheit festhält, ohne die dialektische und lebendige Dynamik im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu berücksichtigen, ohne die Lehren und Erfahrungen der Arbeiterbewegung zu berücksichtigen, läuft sie Gefahr, schwerwiegende Fehler zu begehen und Lehren zu ziehen, die nicht nur falsch, sondern auch sehr gefährlich sind. Mit einer dermaßen engen und reduzierten Sichtweise hat die IKP immer implizit geglaubt, dass das Proletariat in den zentralen Ländern des Kapitalismus nie wirklich aus der Konterrevolution herausgekommen ist. Da sie nicht in der Lage war, das Wiederaufflammen der proletarischen Kämpfe, das mit dem Mai 1968 in Frankreich eröffnet wurde, auf internationaler Ebene zu erkennen, konnte die IKP auch nicht die Gefahr einschätzen, die von der Schwächung des Klassenbewusstseins seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime des ehemaligen Ostblocks Ende der 1980er Jahre ausgeht. Diese Gefahr ist mit der bürgerlichen Propaganda verbunden, die den Stalinismus mit dem Kommunismus gleichsetzt und das Vertrauen eines großen Teils des Proletariats in die Perspektive einer kommunistischen Gesellschaft untergräbt. Le Prolétaire wirft uns vor, bei unserer Analyse des Populismus in die Falle der bürgerlichen Propaganda zu tappen (darauf werden wir im zweiten Teil dieses Artikels zurückkommen). Die IKP kann unsere Analyse des Populismus als eines der Merkmale der Zerfallsphase des Kapitalismus nicht verstehen, weil sie unseren Rahmen der Dekadenz des Kapitalismus und seine Auswirkungen auf den Kampf des Proletariats ablehnen.
(Fortsetzung folgt)
Wim, 4. Februar 2020
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Wer ist Le Prolétaire?
Die Internationale Kommunistische Partei (Le Prolétaire) gehört zur langen Tradition der Italienischen Kommunistischen Linken, von der auch die IKS abstammt. Für uns ist es eine Gruppe, die dem Proletarischen Politischen Milieu angehört, trotz der Meinungsverschiedenheiten, die uns trennen. Unsere Polemik, offen und manchmal bitter, ist Ausdruck der notwendigen und vitalen Debatte, die sich im revolutionären Lager entwickeln muss. Die 1943 unter dem Namen Partito Comunista Internazionalista (PCInt) geborene, in ihrer heutigen Form seit 1952 (Datum der Abspaltung von der Gruppe um Onorato Damen, die ihre Tätigkeit bis heute um die Zeitung Battaglia Comunista fortsetzt) bestehende PCI (auf deutsch IKP) gruppiert sich heute im Wesentlichen in Frankreich und Italien mit den Zeitschriften Programma Comunista oder Le Prolétaire. Die IKP besteht darauf, in der Kontinuität der Kommunistischen Internationale und der Italienischen Kommunistischen Linken zu stehen, doch im Namen der „Invarianz des Marxismus“ kehrte die IKP dem gesamten Erbe der Zeitschrift Bilan den Rücken. In den 1930er Jahren und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sammelten sich die revolutionären Elemente der Italienischen Kommunistischen Linken um die Zeitschrift Bilan, um den Marxismus am Leben zu erhalten, da sie wussten, dass man der Konterrevolution entgegentreten musste, indem sie die wahren Lehren aus dieser schrecklichen Periode zog. Über den Antifaschismus, die Dekadenz des Kapitalismus, die Gewerkschaften, die nationale Befreiung, die Bedeutung der Degeneration der Russischen Revolution, den bürgerlichen Charakter der stalinistischen Parteien, über den Staat in der Übergangsperiode oder den Aufbau der „Partei“ wurden alle Erkenntnisse von Bilan seit der Entstehung der IKP beiseite gelegt. Diese politischen und theoretischen Fehler führten dazu, dass die IKP politische Aktivitäten ausübte, die für die Arbeiterklasse nur nachteilig waren. So konstituierte sich die IKP auf der Grundlage eines Ansatzes, der den Beiträgen von Bilan zur Frage der Fraktion und der Partei völlig entgegengesetzt war, als eine revolutionäre „Partei“, während jedoch die Arbeiterklasse schon vor dem Zweiten Weltkrieg komplett geschlagen und nicht in der Lage war, ihr Haupt zu erheben. Es ist derselbe Verzicht auf die grundlegenden Errungenschaften von Bilan, der die IKP dazu veranlasste, die stalinistischen Parteien als „reformistisch“ und die Trotzkisten als „Opportunisten“ zu betrachten und nicht als das, was sie wirklich sind: bürgerliche Parteien. Für die IKP gibt es diese Klassengrenze hier nicht. Ebenso lenkte die IKP den Anti-Parlamentarismus der historischen Italienischen Kommunistischen Linken (der 1919 geborenen „Abstinenzfraktion“, deren Hauptvertreter Bordiga war) auf das Terrain einer „Taktik“, rief zur Teilnahme an Wahlen und Referenden auf und verteidigte gleichzeitig „demokratische Rechte“, darunter das Wahlrecht für Immigranten. Darüber hinaus können in den Augen der IKP irgendwelche gewerkschaftliche „Taktiken“, frontistische Allianzen, bis hin zur „kritischen“ Unterstützung terroristischer Gruppen wie der Action Directe in Frankreich die Massen „organisieren“. So sah die IKP 1980 während der großen Streiks in Polen in der Gewerkschaft Solidarnosc, deren einzige Aktivität darin bestand, den Kampf zu sabotieren, den „Organisator“ der Arbeiterklasse. Aber wenn die Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei (PCInt) 1943, die viele Militante der Italienischen Kommunistischen Linken sammelte, nicht ohne große theoretische und organisatorische Verwirrungen verlief, so verdankt es diese Gruppe der Kampferfahrung, mit der sie verbunden ist, dass sie immer auf einem Klassenterrain geblieben ist, und damit eine Organisation des proletarischen Lagers bleibt.
[1] Siehe dazu: Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13 /content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[2] Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843)
[3] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Kapitel „Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?“
[4] ebenda, Kapitel „Die Bolschewiki und die Sowjets“
[5] Lenin greift tatsächlich einen Begriff auf, der bereits von Marx verwendet wurde, aber in einem ganz anderen Sinne. Marx beschreibt im ersten Band des Kapitals den am besten bezahlten Teil des Proletariats, um aufzuzeigen, dass auch er von der Krise betroffen ist und unter deren Auswirkungen im Elend versinkt.
[6] In diesem Werk stützt sich Lenin auf Passagen in Briefen von Engels an Marx bzw. Kaustky, in denen er davon spricht, dass „das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert“ bzw. die englischen Arbeiter „flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands“ zehren würden. Davon ausgehend theoretisiert Lenin zwei gefährliche Konzeptionen: Einerseits die Aufteilung der Proletarier in „obere“ Schichten (die „Arbeiteraristokratie“) und „untere“ Schichten, die ihm zufolge charakteristisch für das „imperialistische und monopolistische“ Stadium der Herrschaft des Kapitalismus seien. Und andererseits, dass das Proletariat der wichtigsten kolonialistischen Länder Privilegien genießen würde, die mit der Ausbeutung des Proletariats der kolonialisierten Länder verbunden seien. Es ist eine Infragestellung der Einheit des Proletariats als ausgebeutete Klasse, die im Zentrum der marxistischen Sichtweise steht, zugunsten einer soziologischen Vision der Dritten Welt, welche die Propaganda der gesamten linken Ideologie genährt hat und die behauptet, für „nationale Befreiung“ zu kämpfen.
[7] Genau so werden diese Parteien auch von linken bürgerlichen Organisationen als opportunistische oder zentristische oder „degenerierte Arbeiterparteien“ qualifiziert, die sich ebenfalls der Theoretisierung der „Arbeiteraristokratie“ bedienen, diese aber bewusst zu einem Faktor der Spaltung des Proletariats machen.