Das verborgene Erbe der Linken des Kapitals Teil 3: Eine Funktionsweise im Widerspruch zu den kommunistischen Prinzipien

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Diese Serie hat den am wenigsten sichtbaren Teil (das verborgene Gesicht) der Organisationen der Linken und der extremen Linken des Kapitals (Sozialisten, Stalinisten, Trotzkisten, Maoisten, offizieller Anarchismus, die 'neue' Linke von Syriza, France Insoumise und Podemos) angeprangert. Im ersten Artikel der Serie sahen wir, wie diese Organisationen die Arbeiterklasse, die sie vorgeben zu verteidigen, tatsächlich infrage stellen, im zweiten haben wir ihre Methode und Denkweise entlarvt. In diesem dritten Artikel wollen wir ihre Funktionsweise analysieren, die internen Verhältnisse dieser Parteien und wie diese Funktionsweise die Infragestellung aller kommunistischen Prinzipien selbst und ein Hindernis für jede Bewegung in Richtung dieser Prinzipien darstellt.

Die Kräfte des Stalinismus, Trotzkismus usw. haben eine völlige Verfälschung der proletarischen Positionen in Bezug auf ihre Organisation und ihr Verhalten betrieben. Zentralisierung bedeutet für sie Unterwerfung unter eine allmächtige Bürokratie, und Disziplin heißt blinde Unterwerfung unter eine Kontrollkommission. Die Mehrheitsposition ist das Ergebnis eines Machtkampfes. Und eine Debatte ist in ihrer manipulativen Weise eine Waffe, um die Position rivalisierender Gruppen zu überwinden. Und so könnten wir bis zum Erbrechen weitermachen.

Es kann vorkommen, dass ein proletarischer Militanter innerhalb einer wirklich kommunistischen Organisation dazu neigt, ihre organisatorischen Positionen und ihr Verhalten aus dem Blickwinkel der düsteren Zeiten zu betrachten, die sie in der einen oder anderen linken Organisation verbracht haben.

Die Kasernendisziplin linker Organisationen

Wenn wir mit einem solchen ehemaligen Mitglied einer linken Gruppe über die Notwendigkeit von Disziplin sprechen, erinnern sie sich an den Albtraum, den sie durchlebt haben, als sie Mitglied einer Organisation der bürgerlichen Linken waren.

In diesen Organisationen bedeutet "Disziplin", absurde Dinge zu verteidigen, weil "die Partei es verlangt". Heute müssen sie sagen, dass ein rivalisierender Teil "bürgerlich" war, und morgen, je nach den politischen Veränderungen in den Bündnissen der Führung, wird dieser Teil jetzt als der proletarischste der Welt angesehen.

Wenn die Politik des Zentralkomitees falsch ist, dann ist das allein die Schuld der Militanten, die "einen Fehler gemacht haben" und "das, was das Zentralkomitee beschlossen hatte, nicht richtig umgesetzt haben". Wie Trotzki sagte: "Jede Resolution des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, die neue Niederlagen verzeichnet, erklärte einerseits, dass alles geplant war und dass es andererseits die Schuld derjenigen ist, die sie interpretiert haben, weil sie die ihnen von oben vorgegebene Linie nicht verstanden hatten".[1]

Nach diesen traumatischen Erlebnissen empfindet der Militante, der diese Parteien durchlebt hat, eine tiefgreifende Ablehnung der Disziplin und versteht nicht, dass die proletarische Disziplin etwas radikal anderes ist und im Gegensatz zur Disziplin der Bourgeoisie steht.

In einer proletarischen Organisation bedeutet "Disziplin", dass alle Entscheidungen respektiert werden und dass jeder sich dafür einsetzt, sie zu erreichen. Einerseits ist sie verantwortlich für und andererseits der praktische Ausdruck des Vorrangs des Kollektivs vor dem Individuum - was aber nicht bedeutet, dass Individuum und Kollektiv einander gegenüberstehen, sondern vielmehr verschiedene Aspekte derselben Einheit zum Ausdruck bringen. Folglich ist die Disziplin in einer revolutionären Organisation freiwillig und bewusst. Diese Disziplin ist nicht blind, sondern basiert auf einer Überzeugung und einer Perspektive.

In einer bürgerlichen Organisation bedeutet Disziplin im Gegenteil die Unterwerfung unter eine allmächtige Führung und den Verzicht auf jegliche Verantwortung, indem man sie in den Händen dessen belässt, was diese Führung tut oder sagt. In einer bürgerlichen Organisation beruht die Disziplin auf dem Gegensatz zwischen dem "Kollektiv" und dem Individuum. Das "Kollektiv" sind hier die Interessen des nationalen Kapitals und seines Staates, die diese Organisationen in ihrem jeweiligen Bereich verteidigen, ein Interesse, das keineswegs mit dem seiner Mitglieder übereinstimmt. Deshalb wird ihre Disziplin entweder aus Furcht vor öffentlicher Zurechtweisung auferlegt, die zu einem Ausschluss führen könnte; oder, wenn sie freiwillig angenommen wird, ist sie das Ergebnis eines Schuldgefühls oder eines kategorischen Imperativs, der mehr oder weniger periodische Konflikte mit den authentischen Interessen jedes Einzelnen hervorruft.

Das mangelnde Begreifen des radikalen Unterschieds, der zwischen proletarischer und bürgerlicher Disziplin besteht, führt oft dazu, dass einige Militante, die die bürgerliche Linke oder den Linksextremismus durchlaufen haben und sich in einer proletarischen Organisation wiederfinden, in einen Teufelskreis geraten. Einst folgten sie den Befehlen ihrer Vorgesetzten wie Schafe; jetzt, in einer proletarischen Organisation, lehnen sie jede Disziplin ab und stimmen nur mit einer einzigen Ordnung überein: die, die von ihrer eigenen Individualität diktiert wird.

Nach ihrer Erfahrung mit der Kasernendisziplin vertreten sie nunmehr die „Disziplinlosigkeit“, d.h. jeder kann tun was er will, oder anders ausgedrückt: sie predigen die anarchische Disziplin des Individualismus. Nun dreht man sich im Kreis, gefangen zwischen der wilden und gewalttätigen Disziplin der Parteien der Bourgeoisie und der individualistischen Disziplinlosigkeit ("zu tun, was ich will"), die für die Kleinbourgeoisie und den Anarchismus charakteristisch ist.

Die bürokratische Zentralisierung sämtlicher bürgerlichen Organisationen

Auch das Konzept der Zentralisierung wird von Militanten, die dem vergiftenden Einfluss der Linken (des Kapitals) ausgeliefert sind.

Sie assoziieren Zentralisierung mit:

  • allmächtigen Führungen, denen man sich bedingungslos unterwerfen muss;
  • einer erdrückenden Pyramide von Bürokratie und ihres Kontrollapparates;
  • einem völligen Verzicht auf jede persönliche Initiative und jedes persönliche Denkens, ersetzt durch blinden Gehorsam und ein Nachtraben hinter einer Führung;
  • Entscheidungen werden nicht durch Diskussion unter Beteiligung Aller getroffen, sondern durch die Befehle und Manöver der Führung.

Tatsächlich basiert die bürgerliche Zentralisierung auf diesen Konzepten. Das ist darauf zurückzuführen, dass innerhalb der Bourgeoisie Einheit nur dann besteht, wenn sie mit einem imperialistischen Krieg oder dem Proletariat konfrontiert ist; im Übrigen gibt es einen ständigen Interessenkonflikt zwischen ihren verschiedenen Fraktionen.

Um Ordnung in ein solches Chaos zu bringen, muss die Autorität eines "Zentralorgans" durch Willen oder Gewalt durchgesetzt werden. Die bürgerliche Zentralisierung ist also notwendigerweise bürokratisch und von oben nach unten gerichtet.

Diese allgemeine Bürokratisierung aller bürgerlichen Parteien und ihrer Institutionen ist umso unentbehrlicher bei den (sogenannten) "Arbeiter"-Parteien oder der Linken, die sich als Verteidiger der Arbeiter präsentieren.

Die Bourgeoisie kann sich dieser eisernen Disziplin des politischen Apparates unterwerfen, weil sie in ihren eigenen Institutionen eine totale und diktatorische Macht ausüben kann. In einer Organisation der Linken oder der extremen Linken gibt es jedoch einen sorgfältig verborgenen Antagonismus zwischen dem, was offiziell behauptet wird, und dem, was wirklich geschieht. Um diesen Widerspruch aufzulösen, braucht sie eine Bürokratie und eine vertikale Zentralisierung.

Um die Mechanismen der bürgerlichen Zentralisierung zu verstehen, die in den Parteien der Linken des Kapitals praktiziert wird, können wir uns den Stalinismus ansehen, der ein echter ‚Wegbereiter‘ war. In seinem Buch Die Dritte Internationale nach Lenin analysiert Trotzki die Methoden der bürgerlichen Zentralisierung, die in den kommunistischen Parteien praktiziert wurden.

Er erinnert daran, wie der Stalinismus, um die bürgerliche Politik durchzusetzen, "eine Geheimgesellschaft mit ihrem illegalen Zentralkomitee (dem Septemvirat) mit seinen Rundschreiben, Geheimagenten und Codes usw. angenommen hat. (...)Der Parteiapparat schuf in sich selbst eine geschlossene und außer Kontrolle geratene Ordnung, die über außergewöhnliche Mittel verfügte, nicht nur für diesen Apparat, sondern auch für den Staat, der eine Partei der Massen in ein Instrument verwandelte, das die Aufgabe hatte, alle Manöver und Intrigen zu tarnen". (idem).[2]

Um die revolutionären Versuche des Proletariats in China auszulöschen und den imperialistischen Interessen des russischen Staates in den Jahren 1924-28 zu dienen, wurde die Kommunistische Partei Chinas von oben nach unten, d.h. sehr streng hierarchisch organisiert, wie eine Zeugenaussage aus dem  Lokalkomitee von Kiangsu verdeutlicht. " (Das Zentralkomitee) erhob Anschuldigungen und sagte, das Provinzkomitee sei nicht gut; dieses wiederum beschuldigte die Basisorganisationen und sagte, das Regionalkomitee sei schlecht. Letzteres begann, Anschuldigungen zu erheben und sagte, dass die Genossen, die vor Ort arbeiteten, schuld seien. Und die Genossen verteidigten sich und sagten, dass die Massen nicht revolutionär genug seien" (idem).

Die bürokratische Zentralisierung zwingt den Parteimitgliedern eine Karrierementalität auf, wobei sie sich gegenüber ‚Oben‘ unterordnen und denen ‚Unten‘ misstrauen und sie manipulieren. Das ist ein deutliches Merkmal aller Parteien des Kapitalismus, der Linken wie der Rechten, die dem Modell folgen, das Trotzki in den stalinistischen kommunistischen Parteien sah und in den 1920er Jahren anprangerte: "Sie wird aus ganzen Teams junger Akademiker durch Manöver gebildet, die zwar bolschewistisch flexibel sind, aber die Elastizität ihres eigenen Rückgrats verstanden haben" (idem).

Die Folgen dieser Methoden sind, dass "die aufsteigenden Schichten gleichzeitig von einem gewissen bürgerlichen Geist, einem engstirnigen Egoismus und engstirnigen Kalkülen durchdrungen sind" (idem). Man kann sehen, dass sie den festen Willen haben, sich einen Platz zu erkämpfen, ohne sich um andere zu kümmern, ein blinder und spontaner Karrierismus. Um an diesen Punkt zu gelangen, müssen sie alle eine skrupellose Anpassungsfähigkeit, eine schändliche und kriecherische Haltung gegenüber den Mächtigen beweisen. Das ist es, was wir in dieser Hinsicht in jeder Geste, auf jedem Gesicht sehen. Darauf wurde in allen Akten und Reden hingewiesen, die im Allgemeinen voller grober revolutionärer Phraseologie waren"[3]

Die Rückgewinnung der wahren Bedeutung der proletarischen Organisationsbegriffe

Wir müssen anhand einer kritischen Analyse wieder alle Organisationskonzepte für uns beanspruchen, die die Arbeiterbewegung vor der enormen Katastrophe verwendet hat, die die ersten Schritte der sozialistischen Parteien auf dem Weg zur Integration in den kapitalistischen Staat und später die Umwandlung der kommunistischen Parteien in stalinistische Kräfte für das Kapital kennzeichneten.

Die proletarische Position zu Fragen der Organisation, auch wenn sie den gleichen Namen trägt, hat nichts mit ihrer verfälschten Darstellung zu tun. Die proletarische Bewegung hat es nicht nötig, neue Konzepte zu erfinden, weil diese Konzepte zu ihr gehören. In der Tat sind diejenigen, die ihre Terminologie geändert haben, die Linken und die extreme Linke des Kapitals; das sind die "Erneuerer", die die moralischen und organisatorischen Positionen der Bourgeoisie übernehmen. Wir werden uns einige dieser proletarischen Konzepte noch einmal ansehen und untersuchen, inwiefern sie in völligem Gegensatz zum Stalinismus, zur Linken und ganz allgemein zu jeder bürgerlichen Organisation stehen.

Proletarische Zentralisierung

Zentralisierung ist der Ausdruck der natürlichen Einheit, die innerhalb des Proletariats und folglich unter den Revolutionären besteht. Daher ist die Zentralisierung in einer proletarischen Organisation die kohärenteste Form des Funktionierens und das Ergebnis freiwilliger und bewusster Aktionen. Während die Zentralisierung in einer linken Organisation durch eine Bürokratie und durch Manövrieren erzwungen wird, kommt in einer proletarisch-politischen Organisation, in der es keine unterschiedlichen Interessen gibt, die Einheit durch die Zentralisierung zum Ausdruck; sie ist also bewusst und kohärent.

In einer linken Organisation hingegen, wie in jeder bürgerlichen Organisation, gibt es unterschiedliche Interessen, die mit Einzelpersonen und Fraktionen verbunden sind, die, um diese unterschiedlichen Interessen zu versöhnen, die bürokratische Auferlegung einer Fraktion oder eines Führers oder eine Art "demokratischer Koordinator" zwischen den verschiedenen Führern oder Fraktionen erfordern. In allen Fällen sind Machtkämpfe, Manöver, Verrat, Manipulation und Gehorsam notwendig, um das Funktionieren der Organisation zu "schmieren", weil sie sonst auseinander fällt und zerbricht. Auf der anderen Seite ist in einer proletarischen Organisation  „Der Zentralismus ist kein abstraktes oder frei wählbares Prinzip einer Organisationsstruktur. Er stellt die Konkretisierung ihres Einheitscharakters dar; deshalb spiegelt er die Tatsache wider, daß die Organisation als ein einheitlicher Körper Position bezieht und in der Klasse handelt.

In der Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation und dem Ganzen überwiegt das Ganze."[4].

Innerhalb der Linken ist diese "ein und dieselbe Organisation, die innerhalb der Klasse Positionen einnimmt und handelt", entweder eine Farce oder eine monolithische und bürokratische Auferlegung eines "Zentralkomitees". In einer proletarischen Organisation ist sie die eigentliche Bedingung ihrer Existenz. Es geht darum, dem Proletariat nach einer kollektiven Diskussion und entsprechend seiner historischen Erfahrung alles vor Augen zu führen, was seinen Kampf voranbringt, und ihm nicht vorzumachen, für Interessen zu kämpfen, die nicht seine eigenen sind. Aus diesem Grund ist es notwendig, eine gemeinsame Anstrengung der gesamten Organisation zu unternehmen, um ihre Positionen auszuarbeiten.

Innerhalb der Linken, die mit den manchmal als absurd empfundenen Entscheidungen der "Führung" konfrontiert ist, kümmern sich die Militanten an der Basis um sich selbst und handeln selbst, indem sie in lokalen Strukturen oder in Gruppen, die auf persönlichen Beziehungen basieren, die Positionen festlegen, die sie für richtig halten. In einigen Fällen ist dies eine gesunde proletarische Reaktion angesichts der offiziellen Politik. Diese lokalistische Maßnahme eines jeden für sich selbst ist jedoch kontraproduktiv und negativ in einer proletarischen Organisation. „Wir müssen resolut die Auffassung verwerfen, derzufolge einzelne Teile der Organisation gegenüber der Klasse oder der Organisation Positionen oder Einstellungen vertreten können, die ihnen im Gegensatz zu den Positionen der Organisation, die sie als falsch betrachten, als richtig erscheinen:

  • Denn wenn die Organisation einen falschen Weg einschlägt, besteht die Verantwortung der Mitglieder, die glauben eine richtige Position zu verteidigen, nicht darin, sich selbst auf eine Insel zu retten, sich in eine Ecke zurückzuziehen, sondern einen Kampf innerhalb der Organisation zu führen, um damit beizutragen, sie wieder auf den "richtigen Weg zu bringen" (1).
  • Eine solche Auffassung führt einen Teil der Organisation dazu, ihren eigenen Willen der gesamten Organisation willkürlich hinsichtlich dieses oder jenes Aspektes (lokal oder spezifisch) aufzuzwingen. „Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre“, Internationale Revue Nr. 22, Punkt 3)

Der Ansatz, das irgendein Teil der Organisation (sei es eine lokale Sektion oder eine internationale Kommission) einen Beitrag leistet, um mit der Anstrengung Aller eine korrekte Position zu erreichen, entspricht der Einheit der Interessen, die in einer revolutionären Organisation zwischen allen ihren Mitgliedern besteht. Auf der anderen Seite gibt es in einer Organisation der Linken keine Einheit zwischen der "Basis" und der "Führung". Letztere verfolgt das Ziel, die allgemeinen Interessen der Organisation, d.h. die des nationalen Kapitals, zu verteidigen, während die "Basis" zwischen drei Kräften zerrissen ist, die alle in unterschiedliche Richtungen gehen: die Interessen des Proletariats, die Verantwortung für die kapitalistischen Interessen der Organisation oder, prosaischer ausgedrückt, die Verantwortung für die Karriere auf den verschiedenen bürokratischen Ebenen der Partei. Es ist das Ergebnis eines  Gegensatzes und einer Trennung zwischen den Militanten und den Zentralorganen.

Die Mitglieder der revolutionären Organisation haben heute über all dies noch viel zu lernen. Sie werden von dem Verdacht gequält, dass die Zentralorgane am Ende "verraten" werden. Sie vertreten oft die voreingenommene Position, dass die Zentralorgane mit bürokratischen Mitteln alle Dissidenten beseitigen werden. Es breitet sich ein mentaler Mechanismus aus, der besagt, dass "die Zentralorgane Fehler machen können". Das ist vollkommen richtig. Jedes Zentralorgan einer proletarischen Organisation kann Fehler machen. Aber es sollte nicht fatal sein, Fehler zu machen, und wenn tatsächlich Fehler gemacht werden, hat die Organisation die Mittel, sie zu korrigieren.

Wir können dies an einem historischen Beispiel veranschaulichen: Im Mai 1917 beging das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei einen Fehler, als es die kritische Unterstützung der Provisorischen Regierung, die aus der Februarrevolution hervorging, befürwortete. Lenin, der im April nach Russland zurückkehrte, legte die berühmten April-Thesen vor, um eine Debatte in Gang zu setzen, in der sich die gesamte Organisation dafür einsetzte, den Fehler zu korrigieren und die Ausrichtung der Partei wieder in die richtige Bahn zu lenken[5].

Diese Episode zeigt die Kluft, die zwischen der vorgefassten Idee, dass 'die Zentralorgane sich irren können', und der proletarischen Auffassung besteht, den Opportunismus zu bekämpfen, wo immer er sich manifestiert (unter den Militanten oder innerhalb des Zentralorgans). Alle proletarischen Organisationen sind dem Druck der bürgerlichen Ideologie ausgesetzt, und das betrifft die Militanten ebenso wie die Zentralorgane. Der Kampf gegen diesen Druck ist die Aufgabe der gesamten Organisation.

Die proletarisch-politischen Organisationen stellen die Mittel der Debatte zur Verfügung, um ihre Fehler zu korrigieren. Wir werden in einem weiteren Artikel dieser Reihe die Rolle der Tendenzen und Fraktionen sehen. Was wir hier unterstreichen wollen, ist, dass, wenn die Mehrheit der Organisation und vor allem ihre Zentralorgane dazu neigen, sich zu irren, die Genossen der Minderheit die Mittel haben, gegen dieses Abdriften zu kämpfen, wie Lenin 1917, was ihn dazu veranlasste, einen außerordentlichen Parteitag zu fordern. Insbesondere " kann eine Minderheit der Organisation einen Außerordentlichen Kongreß von dem Augenblick an einberufen lassen, wenn sie zu einer bedeutenden Minderheit wird (z.B. 2/5): Im allgemeinen muß der Kongreß die Hauptfragen entscheiden, und das Vorhandensein einer größeren Minderheit, die sich für die Einberufung eines Kongresses ausspricht, ist ein Beweis für die Existenz von großen Problemen innerhalb der Organisation.[6]

Die Rolle des Kongresses

Es gibt die widerwärtigen Schauspiele von Kongressen von Organisationen der Bourgeoisie. Diese sind ein Spektakel mit Hostessen und Klatschbörsen. Die Führung kommt, um zu protzen und um Applaus für ihre Reden einzuheimsen, der von den Cheerleader-Gruppen-Beifallteams organisiert wird,  oder um ihre Fernsehauftritte zu machen. Die Reden stoßen auf großes Desinteresse, das einzige Ziel des Kongresses ist es, zu erfahren, wer welche Schlüsselpositionen in der Organisation übernimmt und wer abgesetzt wird. Die große Mehrheit dieser Sitzungen dient nicht der Diskussion, Klärung und Verteidigung von Positionen, sondern der Zuweisung von Machtquoten an die verschiedenen "Familien" der Partei.

Eine proletarische Organisation muss in diametral entgegengesetzter Weise funktionieren. Der Ausgangspunkt für die Zentralisierung einer proletarischen Organisation ist ihr internationaler Kongress. Der Kongress vereinigt und ist Ausdruck der Organisation als Ganzes, die in souveräner Weise über die Orientierungen und Analysen entscheidet, die sie leiten müssen. Die vom Kongress verabschiedeten Resolutionen legen das Mandat für die Arbeit der Zentralorgane fest. Es kann nicht willkürlich nach den Entwürfen oder Launen der Mitglieder handeln, sondern muss von den Beschlüssen des Kongresses als Ausgangspunkt seiner Tätigkeit ausgehen.

Der Zweite Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im Jahre 1903 führte zur bekannten Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Einer der Gründe für die Spaltung und die starke Kontroverse zwischen den beiden Parteien der Organisation war, dass letztere die Beschlüsse des Kongresses nicht respektiert hatten. Lenin bekämpfte in seinem Buch „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ diese illoyale Haltung, die eigentlich eine bürgerliche Haltung war. Wenn man nicht einverstanden ist mit den Entscheidungen eines Kongresses, ist die richtige Haltung, die Divergenzen klar darzustellen und auf eine geduldige Debatte zu drängen, um zu einer Klärung zu gelangen.“Der Internationale Kongreß ist der Ort, wo die Einheit der Organisation in ihrem ganzen Ausmaß zum Ausdruck kommt. Auf dem Internationalen Kongreß wird das Programm der IKS definiert, bereichert und korrigiert; dort werden auch die Organisationsformen und Funktionsweisen festgelegt, verändert oder präzisiert; die Analysen und Gesamtausrichtungen angenommen; eine Bilanz der vergangenen Aktivitäten gezogen und Arbeitsperspektiven für die Zukunft verabschiedet. Deshalb muß die Vorbereitung des Kongresses mit der größten Sorgfalt und Energie von der gesamten Organisation durchgeführt werden. Deshalb müssen die Orientierungen und Entscheidungen des Kongresses im Leben der Organisation als ständige Bezugspunkte dienen.“ In einem proletarischen Kongress gibt es keine Zirkel, in denen Verschwörungen gegen Rivalen ausgebrütet werden, sondern eine Diskussion, um möglichst bewusst Positionen zu verstehen und einzunehmen.

In bürgerlichen Organisationen sind die Gänge vor den Sitzungsräumen das Herz des Kongresses, in denen Klatsch und Tratsch, Verschwörungen gegen Rivalen, Manöver und Intrigen geschürt werden. Die Korridore sind der Ort, an dem der Kongress wirklich entschieden wird. Wie Ciliga sagte: "Die Sitzungen waren langweilig, die öffentlichen Sitzungen waren reine Geschwätzigkeit. Alles wurde in den Gängen entschieden".

In einer proletarischen Organisation müssen "die Gänge" als Entscheidungszentren verboten werden, sie sollen lediglich als ein Raum für Entspannung dienen und um engere Beziehungen zwischen den Militanten herstellen zu können. Das Herz des Kongresses muss einzig und allein in seinen offiziellen Sitzungen liegen. Dort müssen die Delegierten die dem Kongress vorgelegten Dokumente sehr sorgfältig bewerten, indem sie Klarstellungen fordern und Änderungsanträge, Kritiken und Vorschläge formulieren. Es geht um die Zukunft der Organisation, denn die Beschlüsse des Kongresses sind kein toter Buchstabe oder bloße Rhetorik, sondern bewusst getroffene Vereinbarungen, die der Organisation als Richtschnur und Orientierung dienen und den Grundlagen ihrer Tätigkeit dienen müssen.

Die Orientierungen und Beschlüsse des Kongresses müssen die gesamte Organisation einbeziehen. Das bedeutet nicht, dass alles unfehlbar wird. Regelmäßige internationale Diskussionen können zu der Schlussfolgerung führen, Fehler festzustellen, die es zu korrigieren gilt oder wenn die Entwicklung der internationalen Situation Veränderungen hervorbringt, diese zu erkennen und die Analyse entsprechend anzupassen. Das kann sogar zur Einberufung eines außerordentlichen Kongresses führen. In der Zwischenzeit muss diese Arbeit rigoros und ernsthaft mit einer Debatte auf der breitesten und tiefsten internationalen Basis durchgeführt werden. Das hat nichts mit dem zu tun, was ständig in linken Organisationen vor sich geht, wo sich die Verlierer eines Kongresses rächen, indem sie neue Positionen vorschlagen, mit denen sie mit den Siegern abrechnen.

Die Zentralorgane

In einer proletarischen Organisation gibt der Kongress die Orientierungen vor, die das Mandat eines Zentralorgans definieren, das die Einheit und Kontinuität der Organisation zwischen den Kongressen und nach den Kongressen repräsentiert. In einer bürgerlichen Partei ist das Zentralorgan ein Arm der Macht, weil es die Organisation den Bedürfnissen des Staates und des nationalen Kapitals unterwerfen muss. Das Zentralorgan ist eine Elite, die vom Rest der Organisation getrennt ist und sie kontrollieren, beaufsichtigen und ihr ihre Entscheidungen aufzwingen muss. In einer proletarischen Organisation ist das Zentralorgan nicht von der Organisation als Ganzes getrennt, sondern es ist ihr aktiver und einheitlicher Ausdruck. Das Zentralorgan ist keine allmächtige privilegierte Organisationsspitze, sondern ein Mittel, um die Interessen des auszudrücken und zu entwickeln

„Im Gegensatz zu bestimmten Auffassungen, insbesondere der sogenannten "leninistischen" Auffassung, ist das Zentralorgan ein Instrument der Organisation und nicht umgekehrt. Es ist nicht die Spitze einer Pyramide, wie das eine hierarchische und militärische Auffassung von der Organisation der Revolutionäre meinen könnte. Die Organisation besteht nicht aus dem Zentralorgan, und dann folgen die Militanten; sondern sie stellt ein eng geflochtenes und vereinigtes Netz dar, innerhalb dessen alle Teile miteinander verbunden sind und zusammenwirken. Man muß deshalb das Zentralorgan eher als den Kern einer Zelle auffassen, der den Stoffwechsel eines lebendigen Ganzen koordiniert. ("Bericht über die Struktur und Funktionsweise der revolutionären Organisation", Punkt 5).

Die Rolle der Sektionen

Die Struktur der linken Organisation ist hierarchisch. Sie reicht von der nationalen Führung bis zu den regionalen Organisationen, die ihrerseits in "Abschnitte" (Arbeiter, Fachleute, Intellektuelle usw.) und, am Ende all dessen, in die Zellen (z. B. die „Betriebszellen“ der KPD) unterteilt sind. Diese Organisationsform ist ein Erbe des Stalinismus, der 1924 die berühmte "Bolschewisierung" unter dem Vorwand, "zur Arbeiterklasse zu gehen", durchsetzte.

Hinter dieser Demagogie verbirgt sich die Abschaffung der Strukturen von Arbeiterorganisationen, die auf lokalen Sektionen basieren, in denen alle Militanten einer Stadt zusammenkommen, um sich mit globalen Aufgaben und einer globalen Vision zu befassen. Im Gegensatz dazu spaltet eine "Bolschewisierungs"-Struktur die Militanten, die sie in einem Umfeld einsperren, das durch eine Fabrik oder einen Betrieb begrenzt ist, je nach Beruf oder sozialem Sektor... Ihre Aufgaben sind rein unmittelbarer Natur, auf die Berufsgruppe beschränkt, und sie bleiben in einem ‚Loch‘ stecken, in dem nur die unmittelbaren, besonderen und lokalen Probleme behandelt werden. Der Erfahrungshorizont der Militanten wird beschränkt und statt einer historischen, internationalen und theoretischen Sichtweise wird alles auf das Unmittelbare, Berufsbezogene, Lokalistische und rein Pragmatische reduziert. Das ist eine große Verarmung und erlaubt es der Führung, die Dinge nach Belieben zu manipulieren und sich daher den Interessen des nationalen Kapitals zu unterwerfen, während sie dies mit einer populären und arbeiterorientierten Demagogie maskiert.

Die Ergebnisse dieser berühmten "Bolschewisierung", in Wirklichkeit die Atomisierung der Militanten in den Ghettos der Arbeitswelt, wurden von Ciliga sehr gut beschrieben: "Die Leute, die ich dort traf — ständige Mitarbeiter der Komintern —, wirkten ebenso eng wie die ganze Institution, und das nüchterne Grau des Gebäudes, in dem sie untergebracht war, schien mir genau das Denken und Fühlen dieser Männer zu symbolisieren. Es fehlte ihnen jede Weite des Blicks, jede geistige Selbständigkeit. Ich hatte Riesen erwartet und fand Zwerge. Ich hoffte, Informationen von verehrungswürdigen Meistern zu empfangen, und traf Lakaien. Im Herbst und Winter 1926 war ein heftiger Kampf innerhalb der kommunistischen Partei im Gange. Bei meiner Ankunft wurde ich in die russische kommunistische Partei aufgenommen und konnte so die Entwicklung der Dinge von innen her beobachten.

Man brauchte nur an ein paar Parteiversammlungen teilgenommen zu haben, um zu erkennen, daß das geistige Ringen in diesem Kampf nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Die entscheidende Rolle war den Drohungen, den Einschüchterungsmanövern und dem Terror zugefallen. ". Um diese Isolierung und theoretische Ignoranz der Militanten noch weiter zu verstärken, bestimmt das "Zentralkomitee" ein ganzes Netz von "politischen Kommissaren", die sich strikt seiner Disziplin unterwerfen und dafür verantwortlich sind, als Transmissionsriemen für die Befehle der Führung zu fungieren.

Die Struktur, über die eine revolutionäre Organisation verfügen muss, unterscheidet sich radikal davon. Die Hauptaufgabe der lokalen Sektionen besteht darin, die Fragen der Organisation als Ganzes zu studieren und sich zu äußern, sowie die historische Situation zu analysieren und die für notwendig erachteten allgemeinen theoretischen Themen zu untersuchen. Diese Struktur schließt die Sektionen bzw Militanten nicht aus, sondern gibt den lokalen Aktivitäten und Interventionen, der Presse und den Diskussionen mit Genossen oder interessierten Gruppen Sinn und Körper. Dies erfordert jedoch "regelmäßige Treffen der örtlichen Sektionen und eine Tagesordnung, wo die Hauptfragen diskutiert werden müssen, die in der gesamten Organisation besprochen werden. Auf keinen Fall darf die Debatte erstickt werden“. (idem). Gleichzeitig ist eine „größtmögliche Zirkulation der verschiedenen Beiträge innerhalb der Organisation durch die zu diesem Zweck vorgesehenen Mittel (interne Bulletins)“ notwendig. Die (internen) internationalen Diskussionsbulletins sind das Mittel, um diese Debatte zu kanalisieren und die Diskussion in allen Sektionen zu stattfinden und vorantreiben zu lassen.

C. Mir, 16. Januar 2018


[1]Die III. Internationale nach Lenin (nach der französischen Ausgabe S. 159 zitiert)

[2]Dieses Septemvirat bildete eine illegale und gegen die Partei gerichtete Institution, die über die Geschicke der Partei hinter deren Rücken verfügte. […] an der Arbeit dieses spalterischen Septemvirats teil, das in den Parteistatuten nicht vorgesehen ist und das gegen die Statuten und den Willen der Partei tätig war —sonst hätte es keinen Grund gehabt, sich zu verbergen.“ Aus Trotzki, ZWEI REDEN AUF DER SITZUNG DER ZENTRALEN KONTROLLKOMMISSION IM JULI 1927 S. 158 in Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928 Hrsg. Ulf Wolter

[3]Ante Ciliga, Im Land der verwirrenden Lüge, Kapitel 1

[4]"Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre", International Revue 22 (1983), Punkt 3 /content/1075/bericht-zur-struktur-und-funktionsweise-der-organisation-der-revolutionaere

[5]Zu einer Analyse wie die Bolschewistische Partei diesem opportunistischen Fehler verfiel und wie sie mit Hilfe der Debatten diesen wieder korrigieren konnten, siehe: „1917: Die Russische Revolution - Die „Aprilthesen” – Leitlinien der proletarischen Revolution, Internationale Revue Nr. 19, https://de.internationalism.org/rusrev19/1997_rusrevaprilthesen; siehe auch die Kapitel hinsichtlich dieser Phase in „Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution“

[6]"Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre", International Revue 22 (1983), Punkt 6

Rubric: 

Bürgerliche Linke