Die deutsche Sozialdemokratie 1872 – 1914: Der Kampf gegen organisatorischen Opportunismus (Teil 1)

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Die Kapitulation der proletarischen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vor dem Imperialismus im Jahre 1914 ist unter Revolutionären wohlbekannt. Ebenso die Tatsache des opportunistischen Niedergangs der SPD, der zu diesem folgenschweren Verrat an der Arbeiterklasse führte.

Weniger bekannt ist der kontinuierliche Kampf, den der revolutionäre Flügel der Partei seit ihrer Gründung gegen die Kräfte des reformistischen Opportunismus führte, und zwar nicht nur auf theoretischer Ebene durch so bahnbrechende Werke wie die Kritik des Gothaer Programms von Karl Marx, den Anti-Dühring von Friedrich Engels oder Reform oder Revolution von Rosa Luxemburg, sondern auch auf der Ebene der Verteidigung der organisatorischen Klassenprinzipien.

Der folgende Text, der sich oft auf Recherchen in Büchern und Dokumenten stützt, die nur in deutscher Sprache verfügbar sind, zeichnet die Geschichte dieses Organisationskampfes in zwei Teilen nach. Der erste Teil umfasst den Zeitraum von 1872 bis 1889, vom Gothaer bis zum Erfurter Programm; der zweite Teil beschreibt die darauffolgende Zeit bis 1914.

Teil 1: 1872-1890

Kapitel 1: 1872-1875 – Von der Pariser Kommune bis zum Gothaer Kongress

Der Kampf um den Erhalt wichtiger Errungenschaften

Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune reagierte die Bourgeoisie europaweit mit einer Welle der Repression. Natürlich waren die Kommunarden in Frankreich, von denen mehr als 20.000 von der Versailler Regierung ermordet und 38.000 verhaftet und mehr als 7.000 zur Flucht gezwungen worden waren, die Hauptopfer. Aber in Anbetracht dieser ersten großen erfolgreichen Machtergreifung in einer Stadt durch die Arbeiterklasse wurden auch die Arbeiterorganisationen in anderen Ländern verstärkter Repression ausgesetzt.

Gleichzeitig startete die herrschende Klasse einen Angriff von Innen gegen die I. Internationale – mit Bakunin und seiner „Allianz der Sozialistischen Demokratie“ als Speerspitze. Mit Hilfe einer geheimen Organisation sollten die bisherigen Errungenschaften der I. Internationale auf der Ebene der Funktionsweise untergraben, die I. Internationale dem Anarchismus preisgegeben werden. Auf dem Haager Kongress 1872 entblößte der Generalrat der I. Internationale mit Marx und Engels an deren Spitze diesen Komplott. Dieser Kampf zur Verteidigung der Organisation sollte zu einem der wertvollsten Erfahrungsschätze der revolutionären Bewegung werden, dessen Bedeutung und Konsequenzen jedoch zum damaligen Zeitpunkt weitestgehend unterschätzt wurden und lange Zeit in Vergessenheit gerieten. Die IKS hat in einer Reihe von Artikel (Internationale Revue Nrn. 17, 19 und 20) diesen Kampf und diese Lehren ausführlich dargestellt. Wir empfehlen sie unseren Leser:innen als unerlässliches Ausgangsmaterial, um die nachfolgende Entwicklung zu begreifen.[1]

Die deutschen Sektionen der IAA beteiligten sich aktiv an der Vorbereitung des Haager Kongresses – gegen den Widerstand der Herrschenden in Deutschland. Nach der Pariser Kommune war die Bildung von Sektionen der Internationale in Deutschland verboten worden, nur Einzelbeitritte waren möglich. Damit gab es offiziell keine Mitgliedschaft einer Organisation aus Deutschland in der IAA und auch offiziell keine örtlichen Sektionen. In den meisten europäischen Ländern konnte keine Organisation von nennenswerter Größe existieren, wenn sie sich nach 1872 offen zur Internationale bekannte. Die Regierung verbot den in Deutschland wohnenden Mitgliedern der IAA, nach Den Haag zu reisen und als Delegierte zu wirken, dennoch gelang es ihnen, diese Zwangsmaßnahmen zu umgehen. Wilhelm Liebknecht und August Bebel, führende Persönlichkeiten der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei/Eisenacher[2] [1869-1875]), wurden wegen Hochverrats inhaftiert, weil sie während des deutsch-französischen Krieges eine internationalistische Position eingenommen hatten. Viele Genossen, die für den Volksstaat (die Publikation der SDAP) schrieben, wurden verhaftet, und die Behörden untersagten die Veröffentlichung von Material über den Haager Kongress. Dennoch konnte die deutsche Delegation auf dem Kongress immerhin 15 Delegierte von insgesamt 65 Delegierten stellen (d.h. knapp ein Viertel) und eine aktive Rolle spielen. Marx hatte ein Mandat aus Leipzig, Engels eins aus Breslau erhalten und Cuno war Vorsitzender des Ausschusses zur Untersuchung der Tätigkeit der Bakuninistischen Allianz.

Nach Abschluss des Haager Kongresses (2.-7. September 1872) fuhren die Delegierten sofort zum Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Eisenacher) nach Mainz (7.-11. September).

Während die Eisenacher auch nach dem Haager Kongress anfangs noch vehement gegen die Bakuninisten Stellung bezogen, ließen aber schon kurze Zeit später ab Herbst 1872/73 die Stellungnahmen des Volksstaat gegen die Bakuninisten nach. Liebknecht enthielt sich in dieser Phase der Kritik an den Anarchisten, er wollte aus taktischen Gründen gegenüber den Lassalleanern[3] zurückweichen. Demgegenüber drohten Marx und Engels, falls der Volksstaat sich einen Maulkorb anlege, müssten sie ihre Mitarbeit aufkündigen; man könne keine Einheit durch Aufgabe von Prinzipien anstreben. Nach der Kritik von Marx und Engels reaktivierte der Volksstaat wieder kurzfristig seine Kritiken an den Bakuninisten.[4] Unterdessen trieben die Lassalleaner weiterhin ihre Wühlarbeit zur Unterstützung der Bakuninisten. Im April 1873 verwarfen die Lassalleaner die Beschlüsse des Haager Kongresses, sie schickten gar Delegierte zu einem Treffen der Bakuninisten in der Schweiz.

Der Vereinigungskongress von Gotha und die Verwischung der Prinzipien

Die Neigung der Eisenacher, gegenüber den Lassalleanern zurückzuweichen, war u.a. mit den begonnenen  Vereinigungsbestrebungen zwischen den Lassalleanern und den Eisenachern begründet worden, denn auf dem Mainzer Kongress der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) 1872 wurden die Weichen gestellt für „ein prinzipielles Zusammengehen“ mit dem ADAV, auch wenn auf dem Coburger Kongress 1874 der SDAP noch hauptsächlich über eine gegenseitige Unterstützung im Klassenkampf diskutiert wurde und eine sofortige Vereinigung von SDAP und ADAV nicht auf der Tagesordnung stand. Die Führer der SDAP ließen sich entgegen dem Votum von Marx und Engels zu einer schnellen Vereinigung im März 1875 in Gotha hinreißen und gründeten die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). „Man muss sich durch das Geschrei nach „Einigung“ nicht beirren lassen (…) Natürlich will jede Parteileitung Erfolge sehn, das ist auch ganz gut. Aber es gibt Umstände, wo man den Mut haben muss, den augenblicklichen Erfolg wichtigeren Dingen zu opfern. Namentlich bei einer Partei wie die unsrige, deren schließlicher Erfolg so absolut gewiss ist, und die zu unseren Lebzeiten und unter unseren Augen sich so kolossal entwickelt hat, braucht man den augenblicklichen Erfolg keineswegs immer und unbedingt. (…) Jedenfalls glaube ich, dass die tüchtigen Elemente unter den Lassalleanern Ihnen mit der Zeit von selbst zufallen werden und dass es deshalb unklug wäre, die Frucht vor der Reife zu brechen, wie die Einigungsleute wollen. Übrigens hat schon der alte Hegel gesagt: Eine Partei bewährt sich dadurch als die siegende, dass sie sich spaltet und die Spaltung vertragen kann“. Im gleichen Brief warnte Engels davor, nachdem sich die Eisenacher gewissermaßen in Konkurrenz zum ADAV sahen, man „gewöhnt sich, in allem zuerst an ihn zu denken (…) Nach unserer Ansicht, die wir durch lange Praxis bestätigt gefunden haben, ist aber die richtige Taktik in der Propaganda nicht die, dem Gegner hier und da einzelne Leute und Mitgliedschaften abspenstig zu machen, sondern auf die große noch teilnahmslose Masse zu wirken. Eine einzige neue Kraft, die man aus dem Rohen heraus selbst herangezogen hat, ist mehr wert als ein Lassallscher Überläufer, die immer den Keim ihrer falschen Richtung mit in die Partei hineintragen.[5]

Nachdem die Pariser Kommune niedergeschlagen und die I. Internationale in Europa ab 1873[6] de facto aufgelöst war, hatte sich der Schwerpunkt der Arbeit auf die einzelnen Länder verlagert. „Der Schwerpunkt der Bewegung [ist] nach Deutschland verlegt[7], nachdem dort die marxistische Tendenz politische Anerkennung dank ihres Internationalismus während des deutsch-französischen Krieges gewonnen hatte.

In den 1870er Jahren war die SAPD eine der ersten Parteien, die nach der Niederschlagung der Pariser Kommune und der darauf international einsetzenden Repression als Zusammenschluss von zwei existierenden Parteien in einem Land gegründet wurde. Weil unmittelbar nach der Auflösung der I. Internationale keine größere internationale Zusammenarbeit möglich war, stand die Arbeiterbewegung international vor der Aufgabe, in den einzelnen Ländern auf eine Parteigründung hinzuarbeiten und diese programmatisch und organisatorisch auf eine höhere Stufe als in den 1860er Jahren zu stellen.[8]

In Österreich wurde die Vereinigte Sozialdemokratische Partei Österreichs im April 1874 gegründet (ihr Programm stützte sich auf das der Eisenacher).[9] In den anderen Ländern setzte der Prozess der Parteienbildung erst später ein.[10]

Der Gothaer Gründungskongress der SAPD (1875) brachte dennoch einige Merkmale des Fortschritts zum Ausdruck, dass z.B. das erste Mal eine in einem ganzen Land vorhandene Partei mit festen Organisationsprinzipien gegründet wurde. Die Fusion aus zwei Organisationen – ADAV und Eisenacher – hatte es ermöglicht, dass die „Führerdiktatur“, die zuvor im ADAV von Lassalle ausgeübt worden war, überwunden und die Leitung der Partei in kollektive und zentralisierte Hände gelegt wurde. Der 1867 in einem Duell verstorbene Lassalle hatte bei den Lassalleanern die Rolle eines Präsidenten mit geradezu diktatorischen Vollmachten und Ansprüchen gespielt, und dessen Herangehensweise warf immer noch seine Schatten auf den ADAV.

Die Statuten des ADAV von 1872 verlangten in „III. Mitgliedschaft § 3: Jeder Arbeiter wird durch einfache Beitrittserklärung Mitglied des Vereins mit vollem und gleichem Stimmrecht und kann jederzeit austreten. § 6 Die Angelegenheiten des Vereins werden verwaltet durch den Vorstand, bestehend aus einem Präsidenten und 24 Mitgliedern.“ In den nachfolgenden Punkten wurden vor allem die Befugnisse des Präsidenten weiter definiert. Die Statuten der 1875 gegründeten SAPD sahen vor: „§ 1 Der Partei kann jeder angehören, der sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und für die Förderung der Arbeiterinteressen tatkräftig, auch durch Geldopfer, eintritt. Wer drei Monate keine Beiträge leistet, wird nicht mehr als Parteigenosse betrachtet“. Weil es schon Verbote für die Vereinsbildung und aktive Beteiligung an revolutionären Organisationen gab, hatte man in den Statuten Hinweise auf eine aktive Mitarbeit in der Organisation vermieden.

Weiterhin hieß es: „Parteigenossen, welche gegen das Interesse der Partei handeln, können vom Vorstand ausgeschlossen werden. Berufung an den Parteikongress ist zulässig“ (§ 2 der Statuten). In dieser Hinsicht wurde eine Kontinuität mit den Methoden des Bundes der Kommunisten hergestellt, die allerdings nur über die Eisenacher weitergegeben wurde.

Während die neu gegründete Partei auf organisatorischer Ebene einen Schritt nach vorne darstellte, spiegelte die Partei auf programmatischer Ebene die große politische Unreife wider, die sich in einer Vielzahl von Geburtsschwächen äußerte.

Von den Lassalleanern waren 73 Delegierte für 15.322 Mitglieder, von den Eisenachern 56 Delegierte für 9121 Stimmen zugegen.[11]  Weil die Lassalleaner konfuser waren, sollte man aus Sicht der Führung Kompromisse eingehen und programmatische Verwässerungen im Interesse der Einheit hinnehmen. Als von Karl Marx am 5. Mai 1875 an Wilhelm Bracke „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ geschickt wurden, verheimlichte die Parteiführung diese vor dem Kongress und den Parteimitgliedern; selbst der berühmtesten Führerpersönlichkeit Bebel wurde das Schreiben vorenthalten. So schrieb Marx u.a. an Wilhelm Bracke am 5.5.1875: „Nach abgehaltenem Koalitionskongress werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, dass wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehen und nichts damit zu haben. (…) Abgesehen davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen. Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht – und die Zeitumstände ließen das nicht zu – über das Eisenacher Programm hinausgehen, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktion gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt dies bis zurzeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung misst (…) Man wollte offenbar alle Kritik eskamotieren und die eigne Partei nicht zum Nachdenken kommen lassen. Man weiß, wie die bloße Tatsache der Vereinigung die Arbeiter befriedigt, aber man irrt sich, wenn man glaubt, dieser augenblickliche Erfolg sei nicht zu teuer erkauft. Übrigens taugt das Programm nichts, auch abgesehen, von der Heiligsprechung der Lassallschen Glaubensartikel.“[12] [13]

Engels schrieb im Oktober 1875 in einem Brief an Wilhelm Bra cke: „Wir sind ganz Ihrer Ansicht, dass Liebknecht durch seinen Eifer, die Einigung zu erreichen, jeden Preis für sie zu zahlen, die ganze Sache verfahren hat. (…) Nachdem der Einigungsprozess einmal auf fauler Grundlage ins Werk gesetzt und ausposaunt war, durfte er um keinen Preis scheitern.“ [14]

Die heftige Kritik von Marx und Engels an der mangelnden Klarheit und gar opportunistischen Haltung verdeutlichte, wieviel Wert Marx und Engels auf programmatische Klarheit gelegt hatten, dass Einheit nicht durch die Preisgabe des Programms und das Zusammengehen mit unzuverlässigen, unklaren Kräften herbeigeführt werden darf. Dass es besser wäre, erst einmal wenige zu sein, aber auf klarer Basis arbeitend, anstatt viele auf unklarer Basis. Damit vertraten Marx und Engels den Standpunkt, dass Einheit nur auf klaren Grundlagen geschaffen werden und Klarheit nicht der Einheit zum Opfer fallen darf. Das Festhalten an programmatischer Unnachgiebigkeit und Prinzipientreue zeichnete das Verhalten der Marxisten gegenüber später auftauchenden opportunistischen Tendenzen und Kräften aus. Insofern stand die Haltung von Marx und Engels, nicht Einheit um jeden Preis, sondern Klarheit und keine Angst vor Abgrenzung und ggf. Spaltung im Gegensatz zur späteren Politik der SPD.

Gleichzeitig brachte die Art und Weise, wie man mit der Kritik von Marx und Engels an diesen Schwächen umging, eine Tendenz zum Vorschein, die in der revolutionären Bewegung immer wieder aufgetreten ist: Ein Ausweichen, wenn nicht gar Verschweigen der Kritiken unter dem Vorwand, dass die Einheit bzw. Vereinigung wichtiger sei als Klarheit. Wie wir unten aufzeigen, konnte Friedrich Engels erst im Jahre 1891 (d.h. 16 Jahre später und erst nach Marxen‘s Tod) die Veröffentlichung dieser Kritik in der „Neuen Zeit“ gegen den heftigsten Widerstand der Opportunisten in der Parteiführung durchsetzen. Indem das Gothaer Programm bestimmte opportunistische Auffassungen schriftlich verankerte, erleichterte es später das Aufkommen des Opportunismus.   Erst auf Drängen Engels wurde in das Programm ein Punkt aufgenommen, der die Solidarität des deutschen Proletariats mit den Arbeitern aller Länder und dessen Bereitschaft zur Erfüllung seiner internationalen Pflichten verkündete.[15] Hinzu kam, dass neben der unzureichenden Betonung des Internationalismus auf dem Gothaer-Gründungskongress nahezu überhaupt kein Bezug genommen wurde auf die Konsequenzen aus der Erfahrung der Pariser Kommune. Es gab schon eine Art Lücke in der historischen Kontinuität und in der Weitergabe der Erfahrung aus dem Kampf um die Organisation gegen die Bakuninisten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Verwässerung oder Verzerrung der wichtigen politischen Kritiken war deren falsche Darstellung als angeblich aus persönlichen Motiven entstanden. Selbst Franz Mehring, der eine ansonsten lesenswerte Biographie von Marx und eine Geschichte der deutschen Sozialdemokratie schrieb, tappte in diese Falle: „Marx verkannte, dass der Programmentwurf die theoretischen Anschauungen beider Fraktionen getreu widerspiegelte; er glaubte, dass die Eisenacher den wissenschaftlichen Kommunismus bereits in allen seinen Konsequenzen erfasst hätten, während die Lassalleaner eine zurückgebliebene Sekte seien (...)“Sonst  gewöhnt, die Arbeiterbewegung immer nach ihrem großen Wurfe zu beurteilen, nahm er für dieses Mal die Dinge allzu sehr unters Mikroskop und suchte hinter kleinen Unbehilflichkeiten, Unebenheiten, Ungenauigkeiten des Ausdrucks hinterhältige Absichten, die wirklich nicht dahinter steckten. Auch lässt sich nicht leugnen, dass seine Antipathie gegen Lassalle in diesem Briefe sein Urteil beeinflusst hat (...)“.[16]  Somit spielte Mehring die Auseinandersetzung über die Grundsatzprinzipien herunter und stellte jene als eine Frage der persönlichen Antipathie zwischen Marx und Lassalle dar. Anstatt zu betonen, dass die Überwindung des Lassalleanertums ein teilweises Abstreifen einer Fessel bedeutete, schrieb Mehring: „Der Lassalleanismus erlosch in diesen Gothaer Tagen für immer, und doch waren sie die leuchtendsten Ruhmestage Lassalles. Wie recht immer Marx mit seinen Einwendungen gegen das Gothaer Programm haben mochte, das Schicksal seines Programmbriefes zeigte klar, dass die Wege, auf denen sich in Deutschland eine mächtige und unbesiegbare Arbeiterpartei als Trägerin der sozialen Revolution entwickeln konnte, von Lassalle richtig erkannt worden waren.“[17]

Gleichzeitig gab es Anzeichen von Unklarheiten insofern, als Mehring gewissermaßen die Entwicklung von Parteien in den einzelnen Ländern der Entwicklung auf internationaler Ebene ‚gegenüberstellte‘.

Der Gedanke der internationalen Solidarität hatte in dem modernen Proletariat so tiefe Wurzeln geschlagen, dass er keiner äußeren Stütze mehr bedurfte, und die nationalen Arbeiterparteien entwickelten sich durch die industriellen Umwälzungen der siebziger Jahre so eigentümlich und kräftig, dass sie über den Rahmen der Internationalen hinauswuchsen (...)“[18]

Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune und der Unmöglichkeit der Fortsetzung der Arbeit der I. Internationale mussten zwar die Tätigkeiten der Revolutionäre notgedrungenermaßen zunächst auf die einzelnen Länder ausgerichtet werden, um die Bedingungen für die Gründung von Parteien zu schaffen. Aber dieser Schwerpunkt in den einzelnen Ländern hieß nicht, dass damit die internationale Ausrichtung und die Zusammenarbeit überholt und die internationale Solidarität oder gar eine Internationale somit zu einer überflüssigen Stütze geworden wären, oder dass durch das schnelle Wachstum der Parteien in einzelnen Ländern der nationale Rahmen gar über den internationalen Rahmen hinausgewachsen wäre. Vielleicht spiegelt diese Sichtweise Mehrings Elemente eines mangelnden internationalen Geistes wider, auf den Engels schon zuvor bei der Kritik des Gothaer Programms hingewiesen hatte. Die internationalistische Ausrichtung kann nur durch einen ständigen und bewussten Kampf gegen nationale oder gar lokalistische Schwerpunkte verwirklicht werden. Obwohl der Hauptteil der Aktivitäten auf den Aufbau der SAPD gelegt wurde, unternahm man auch Anstrengungen zur internationalen Kontaktaufnahme und Vorbereitung der Gründung der II. Internationale 1889.

Aus Platzgründen können wir hier auf den Beitrag der SAPD zur Gründung der II. Internationale nicht näher eingehen.

Darüber hinaus setzte sich die Tendenz, Errungenschaften zu ‚vergessen‘ fort. Im Vergleich zur 1872 noch vorhandenen Entschlossenheit eines Großteils der deutschen Delegierten auf dem Haager Kongress und der anschließenden Verteidigung der Politik des Generalrates gegenüber den Bakuninisten durch die SDAP schien diese Haltung 1875 in Gotha begraben worden zu sein. Die Lehren aus dem nur drei Jahre zuvor stattgefundenen Haager Kongress, auf dem die Prinzipien der Revolutionäre vehement verteidigt worden waren, wurden nicht weiter aufgegriffen. Es gab keine Hinweise auf eine Kontinuität und Weitergabe dieser Erfahrung. Stattdessen neigte Mehring später dazu, auch diesen Kampf wie den zwischen der Orientierung Lassalles und der Marxens als einen Konflikt zwischen der Autorität Marxens und der Bakunins darzustellen.

Kapitel 2: 1878-1890  - Das Sozialistengesetz

Der Kampf für eine revolutionäre Organisation gegen den parlamentarischen Opportunismus

Auf dem Gothaer Vereinigungskongress 1875 wurde Hamburg als Sitz des Parteivorstandes und Leipzig zum Sitz der Kontrollkommission gewählt. Aufgeschreckt durch die erstarkende Arbeiterbewegung verboten die Behörden die SAPD im Geltungsbereich des preußischen Vereinsgesetzes ab März 1876 und kurze Zeit später auch vor allem in Bayern und Sachsen. Die Bourgeoisie in Deutschland fing an, ihre Pläne für ein generelles Verbot der SAPD zu schmieden. Die Attentatsversuche von zwei Individuen wurden als Vorwand genommen, um am 21.10.1878 das Sozialistengesetz zu verabschieden.

Alle Vereine mit sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Zielen sollten aufgelöst, Druckschriften und Versammlungen mit dem Ziel der Verbreitung solcher Ziele ebenso verboten werden wie Bildungsvereine, Tanzvereine, Theaterclubs (die Mitglieder der SAPD waren zuvor meist als Mitglieder eines Vereins amtlich registriert). „In der Folgezeit wurden 1.299 Druckschriften, 95 Gewerkschaften, 23 Unterstützungsvereine, 106 politische und 108 so genannte Vergnügungsvereine verboten. Rund 1.500 Personen wurden zu Haftstrafen verurteilt, knapp 900 aus verschiedenen Orten des Reiches ausgewiesen. Die Ausgewiesenen, die nicht ins Exil gingen, mussten meist in abgelegene Regionen umsiedeln und versuchten dort, weiterhin politisch zu wirken. Lediglich die Reichstagsfraktion der SAP blieb aufgrund des Persönlichkeitswahlrechts unbehelligt und konnte ihre parlamentarische Arbeit fortsetzen.[19]

D.h. während die Partei an der Basis in ihren Aktivitäten gehindert und die Festigung eines Organisationsgewebes verhindert werden sollte, durfte (und sollte aus der Sicht der Herrschenden) ihr ganzer Schwerpunkt sich auf die Parlamentstätigkeit konzentrieren. Auch wenn Bismarck die Parlamentstätigkeit anfänglich ebenso verbieten wollte, gaben die anderen bürgerlichen Fraktionen im Reichstag dem Drängen Bismarcks nicht nach. Das Bestreben der bürgerlichen Parteien war letztendlich, die SAPD voll ins parlamentarische Räderwerk einzuspannen. Somit wurde die Mobilisierung für die Wahlen damals schon zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Im Vergleich zu den Repressionsmaßnahmen in Russland unter dem Zaren war das Sozialistengesetz in Deutschland bei weitem nicht so brutal, aber sehr viel heimtückischer.

Noch bevor das Sozialistengesetz im Reichstag verabschiedet worden war, hatte im vorauseilenden Gehorsam das in Hamburg ansässige, als Parteivorstand fungierende Zentralwahlkomitee die Selbstauflösung der Parteiorganisation gegen die Position von Bebel und Liebknecht zu dieser Frage gegenüber den Polizeibehörden verkündet und die lokalen Sektionen auch zur Selbstauflösung aufgefordert! Die Parteiführung schlug den „absoluten Legalismus“ vor: „Haltet fest an der Lösung, die wir Euch oft zugerufen: an unserer Gesetzlichkeit müssen unsere Feinde zugrunde gehen“. „Seid ruhig, lasst euch nicht provozieren.“ [20]

Wie Marx und Engels in einem Zirkular 1879 schrieben, war der „vorauseilende Gehorsam“ des Parteivorstands keine Ausnahme. “Die Partei zeigt gerade jetzt unter dem Druck des Sozialistengesetzes, dass sie nicht gewillt ist, den Weg der gewaltsamen, blutigen Revolution zu gehen, sondern entschlossen ist …, den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der Reform zu beschreiben[21] Dem hielten Marx und Engels entgegen: „Um der Bourgeoisie die letzte Spur von Angst zu nehmen, soll ihr klar und bündig bewiesen werden, dass das rote Gespenst wirklich nur ein Gespenst ist, nicht existiert. Was aber ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? (…) Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge „zu weit gehn“. (…) Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Missverständnisse und alle Diskussionen beendigt mit der Beteuerung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig. (…).“[22]

Die sozialdemokratische Partei soll keine Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Haß der Bourgeoisie oder überhaupt jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die Bourgeois abschreckende und doch in unserer Generation  unerreichbare Ziele Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen und dadurch die endliche Katastrophe vielleicht in einen allmählichen, stückweisen und möglichst friedfertigen Auflösungsprozeß verwandeln könnten.[23]

Gleichzeitig artikulierten einige Stimmen in der SAPD die Notwendigkeit gewaltsamer Reaktionen. So trat Johannes Most für den individuellen Terror ein, welcher aber auf dem ersten Kongress der SAPD im schweizerischen Wyden 1880 verworfen wurde.

Kampf gegen Spitzel und Verleumdungen

Auch setzte die Partei die seit dem Bund der Kommunisten entwickelte Tradition fort, sich entschlossen gegen Verleumdungen zu wehren, da sie das Vertrauen innerhalb der Partei untergraben. So wurde in der illegalen Organisation der Berliner Sozialdemokraten in deren Statut 1882 beschlossen:

§ 13: Über alles in der Organisation Erörterte, es mag zum Gegenstand haben, was es will, ist für jeden in der Organisation nicht Tätigen, selbst wenn er bekannter Genosse ist, Verschwiegenheit Pflicht. Erfährt ein Genosse von einem anderen etwas Belastendes, so ist es seine Pflicht, vorerst Stillschweigen zu bewahren und dies auch von dem die Sache Übermittelnden zu verlangen, nach den Gründen und dem Urheber der Verdächtigung sich zu erkundigen und seinem Hauptmann sofort davon Kenntnis zu geben, der das Erforderliche zu veranlassen und in nächster Sitzung im Beisein des Klägers und des Angeschuldigten die Sache zur Regelung zu bringen hat. Ist der Beschuldigte der Hauptmann, so ist dessen Stellvertreter die Meldung zu machen. Jeder andere Weg, besonders das Weiterverbreiten von Verdächtigungen ohne erwiesenen und von der Hauptmannschaft festgestellten Grund ist für uns von den schädlichsten Folgen, und da es notorisch im Interesse der Polizei liegt, durch Verbreitung von Verleumdungen Uneinigkeit unter uns zu bringen, so setzt sich jeder, der bei fraglichen Anlässen nicht den hier vorgeschriebenen Weg innehält, der Gefahr aus, als von der Polizei dazu beauftragt angesehen zu werden.[24]

Auf dem Parteikongress im August 1880 in Wyden wurde eine „Resolution über den Parteiausschluss von Wilhelm Hasselmann“ verabschiedet. „Nachdem der Kongress über die Intrigen und das gewissenlose Gebaren Hasselmanns aufgeklärt ist, billigt er die von den Abgeordneten proklamierte Ausschließung Hasselmanns voll und ganz und warnt alle auswärtigen Genossen, den Vorspiegelungen dieser als notorischer Verleumder entlarvten Persönlichkeit Glauben zu schenken.“ Auf dem gleichen Kongress wurde eine „Resolution über den Parteiausschluss von Johannes Most“ beschlossen.

In Erwägung, dass Johann Most seit längerer Zeit sich in Widerspruch mit den von ihm selbst noch unter dem Sozialistengesetz vertretenen Grundsätzen der Partei gesetzt und nur noch den Einflüssen seiner häufig wechselnden Laune folgt;

in fernerer Erwägung, dass Most sich zum Kolporteur jeder gegen die deutsche Sozialdemokratie erhobenen Verleumdung, komme sie, von welcher Seite sie wollte, gemacht hat und notorischen Polizeiagenten trotz erteilter Warnung Vorschub leistete, nur weil sie auf die sogenannten Parteiführer schimpften;

- in schließlicher Erwägung, dass Most Handlungen begangen hat, die allen Gesetzen der Ehrenhaftigkeit widersprechen,

erklärt der Kongress, dass er jede Solidarität mit Johann Most zurückweist und ihn als aus der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands ausgeschieden betrachtet.“[25]

Dank ihres von den Mitgliedern der Partei errichteten Netzwerks konnte die Partei ein Dutzend Jahre lang ihren Einfluss vor Ort weiter ausbauen und lernte auch, materielle und politische Solidarität für die Verfolgten zu organisieren; d.h. die harten Bedingungen der Illegalität entmutigten die Parteimitglieder nicht, sondern diese stärkten die Solidarität untereinander.

Die Funktionsweise unter dem Sozialistengesetz?

Die noch vorhandenen Parteiinstanzen sprachen sich gegen eine nationale Geheimorganisation aus, da diese zu leicht durch die Polizei ausgehoben werden könnte und die Partei dann völlig handlungsunfähig sei. Tatsächlich ging man mit einer Kombination zwischen illegaler und legaler Arbeit (hauptsächlich im Parlament) vor. In Deutschland selbst organisierte man die „Herausgabe der illegalen Zeitung 'Der Sozialdemokrat', die im Ausland hergestellt und über ein konspiratives Verteilernetz (u.a. Rote Feldpost) im Reich verbreitet wurde. Die legale und illegale Aktivität musste von einem geheimen Funktionärskörper geleitet werden, genannt 'Corpora, Zirkel, Interne oder innere Organisation‘. Er war vom Verteilerapparat des 'Sozialdemokrat' aus Sicherheitsgründen formal getrennt. Mit Hilfe dieser facto illegalen Organisation, bei der J. Motteler eine herausragende Rolle spielte, wurde vor Ort der Zusammenhalt der Partei weiter ermöglicht. Spitzel wurden in der Zeitung ‚Sozialdemokrat‘ entlarvt. Unter dem Tarnnamen ‚Die eiserne Maske‘ warnte der Sicherheitsdienst der Partei vor Spitzeln und Provokateuren“ (Fricke, S. 182).

So konnte zum einen das Abgleiten in eine verschwörerische Gesellschaft verhindert, und zum anderen ein illegal funktionierender Apparat aufgebaut werden. Parteitreffen fanden unter dem Deckmantel von Gesangsvereinen und Raucherclubs statt.[26]

Auf dem ersten Parteikongress 1880 seit der Illegalität im schweizerischen Wyden wurde aus der bisherigen Formulierung, dass die Partei mit "allen gesetzlichen Mitteln" ihre Ziele durchsetzen wolle, das Wort mit allen 'gesetzlichen' (legalen) Mitteln gestrichen, weil man sich nicht darauf beschränken und einengen lassen wollte.

Diese Notwendigkeit, dass die Mitglieder vor Ort über ausreichend Spielraum für Eigeninitiativen verfügen, und gleichzeitig die Partei über ein Netz von Vertrauensleuten untereinander in Kontakt stehen musste, wurde auf dem Wydner Kongress diskutiert.:Wir können nicht nach einer Schablone handeln, nicht in jedem einzelnen Falle die sogenannten „Führer“ befragen, aber ebenso wenig soll und darf ein einzelner auf eigne Faust handeln. Gemeinsame Beratung ist notwendig, einerlei unter welcher Form, und in wichtigen Fragen gemeinsames Handeln mit dem Ganzen. Das muss für all unser Tun und Lassen unsere Richtschnur sein.

Also organisiert Euch, einerlei wie. Die größeren, besser situierten und mehr mit geistigen Kräften versehenen Orte müssen die kleinen ihrer Umgebung unterstützen, und [da] dies die Genossen in größerer Anzahl nicht können, so müssen die Vertreter derselben aus den verschiedenen Orten häufig in mündlichen Verkehr miteinander treten.“[27]

Da die Partei weiterhin für die Reichstagswahlen Kandidaten aufstellen durfte, wurden in jedem Wahlkreis „Wahlvereine“ gegründet, die zur Aufgabe hatten, „die Genossen theoretisch zu schulen und zu durchgebildeten Sozialisten zu machen. Die Verwaltung der Parteigeschäfte und die Erledigung der öffentlichen Agitation sollte nach wie vor die ‚innere Bewegung‘ besorgen.[28] D.h. trotz der legalen Treffen in Wahlvereinen zu Propagandazwecken hielt die Partei die „innere Organisation“, ihr im Untergrund arbeitendes Organisationsgewebe aufrecht. Dies war für ihr Überleben entscheidend.

Jedoch wurde dieses sich ergänzende „Wechselspiel“ zwischen Zentralisierung und ausreichend Initiative vor Ort später theoretisiert und als Grundsatzargument gegen Zentralisierung vorgetragen.

Auf dem Wydner Kongress wurde die „offizielle Parteileitung… den derzeitigen Reichstagsabgeordneten übertragen.[29] Die Übertragung der Parteileitung an die Parlamentsabgeordneten aufgrund deren Immunität sollte sich jedoch als Falle herausstellen, denn eine revolutionäre Partei darf eine Parlamentsfraktion nicht als „natürliche Führung“ betrachten. Lenin warnte später davor, dass Parlamentsfraktionen „gewisse Spuren des Einflusses der allgemeinen bürgerlichen Wahlverhältnisse an[haften]“.[30] Somit trug diese Maßnahme, die Leitung in die Hände der Parlamentarier zu übertragen, weiter dazu bei, die Betonung nicht auf die Initiative an der Parteibasis zu legen, sondern sehr stark den Blick auf die Parlamentstätigkeiten zu richten.

Die eigentliche Parteileitung, die die illegale Arbeit zentralisierte, lag de facto in den Händen eines Subkomitees aus 5 Leuten. Wegen großer geographischer Zerstreuung konnten die Genossen jedoch nur selten zusammenkommen und es gab immer große Kommunikationsprobleme. De facto spielte Bebel (d.h. der prominenteste Führer) die herausragende Rolle bei der Führung der Partei.

Nach dem Kopenhagener Kongress 1883 erklärte das offizielle Zentralorgan der SAPD noch: „Wir sind eine revolutionäre Partei, unser Ziel ist ein revolutionäres, und wir geben uns über seine Durchführung auf parlamentarischem Wege keinen Illusionen hin.[31] Aber opportunistische Regungen waren auf dem Kopenhagener Kongress unverkennbar zu spüren. Über die offensichtlichen Divergenzen auf dem Kongress schrieb der Sozialdemokrat weiter: „Wir haben keinen Grund, es zu verhehlen, dass in manchen Fragen die Meinungen der Genossen auseinandergehen, denn es ist gerade ein Zeichen der Stärke unserer Partei, dass sie trotzdem nach außen hin als ein geschlossenes Ganzes dasteht. So hart auch die Geister aufeinanderplatzten, so offen und rückhaltlos man sich auch gegenseitig die Meinung sagte, so trat doch andererseits deutlich das allgemeine Bestreben hervor: Nicht Majorisierung, sondern Auseinandersetzung und Verständigung. Nichts von Cliquen, die miteinander rivalisierten, sondern Genossen, die in der einen Frage sich gegenüberstanden und in der anderen wiederum zusammenstimmen, unbeeinflusst durch persönliche Beziehungen. Und dieser lebhafte Meinungsaustausch bei den verschiedenen Fragen der Taktik etc. zeigte, dass unsere Partei in keiner Weise der Gefahr der Verknöcherung ausgesetzt ist, dass es in ihr kein Papsttum gibt und keine Orthodoxie, sondern dass sie innerhalb der in unserem Programm niederlegten Grundsätze Raum hat für jede ehrlich verfochtene Überzeugung.“ (ebenda)

Aber die Bereitschaft zur Diskussion über Divergenzen innerhalb des gemeinsam geteilten programmatischen Rahmens wurde schnell infrage gestellt.

Während die Partei sich auf der einen Seite durch die Repression unter dem Sozialistengesetz nicht fesseln ließ, entstand auf der anderen Seite vor allem unter den legal im Reichstag tätigen Reichstagsabgeordneten immer mehr die Angst vor einer fortdauernden Illegalisierung der Partei. Und es setzte die Tendenz zu einer Verselbständigung der Reichstagsfraktion und einer opportunistischen Entwicklung vor allem in deren Reihen ein. Es entstand ein wachsender Graben zwischen Parlamentariern und der „Basis“. Schon 1883, d.h. wenige Jahre nach dem Beginn des Sozialistengesetzes, schrieb dazu Bebel an Engels: „Und da unterliegt es keinem Zweifel, dass es unter unseren Parlamentlern speziell Leute gibt, die weil sie an die Höhe der revolutionären Entwicklung nicht glauben, zum Parlamenteln geneigt sind und jedes scharfe Vorgehen sehr ungern sehen.[32] Wenig später schrieb Bebel an W. Liebknecht: „Mir kommt öfter als je der Gedanke, den Parlamentarismus an den Nagel zu hängen, er ist eine gute Schule der Versumpfung. Das werden wir an den eigenen Freunden noch genugsam erleben.[33] Und auch 1885 warnte Bebel, der am längsten im Parlament tätige und entschlossenste Reichstagsabgeordnete der SAPD: „Das Reichstagsmandat befriedigt ihren Ehrgeiz und ihre Eitelkeit, sie sehen sich mit großer Selbstbefriedigung unter den Auserwählten der“Nation“ und finden an der Parlamentskomödie Geschmack und nehmen sich sehr ernst. Außerdem studieren die meisten nicht mehr oder sie sind mit ihren Studien auf bedenkliche Abwege geraten, dem praktischen Leben sind sie auch entfremdet und wissen nicht, wie es darin aussieht…[34] Engels sprach von einem Versuch der Opportunisten „zur Konstituierung des kleinbürgerlichen Elements als des herrschenden, offiziellen in der Partei und zur Zurückdrängung des proletarischen zu einem nur geduldeten.[35]

Der Opportunismus im parlamentarischen Gewand

Die Sozialdemokratische Reichstagsfraktion publizierte am 20.3.1885 eine Stellungnahme gegen die Kritik der SAPD-Zeitung „Sozialdemokrat“ an der Fraktion: „In der letzten Zeit, namentlich im Monat Januar d J. waren im „Sozialdemokraten“ mehrfach offene und versteckte Angriffe gegen die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstages zu lesen. Sie bezogen sich vorzugsweise auf das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder in der Frage der Dampfersubvention. (….) Nicht das Blatt ist es, welches die Haltung der Fraktion zu bestimmen, sondern die Fraktion ist es, welche die Haltung des Blattes zu kontrollieren hat.[36] [37] Gegen diese Erklärung protestierte Bebel: „Durch diese Erklärung wirft sich die Fraktion zum absoluten Herrscher über die Haltung des Parteiorgans auf. „Der Sozialdemokrat ist danach nicht mehr Parteiorgan, sondern Fraktionsorgan, den Parteigenossen ist jede Meinungsäußerung, die der Fraktion unangenehm oder unbequem ist, untersagt, und die Pressfreiheit, die das Programm für alle fordert, ist für die eignen Parteigenossen eine leere Phrase.[38] Und auch aus verschiedenen Städten in Deutschland wurden weitere Protestschreiben verfasst. So z.B. das Protestschreiben der Sozialdemokraten in Frankfurt/Main Mittel April 1885: „Wir können (…) konstatieren, dass tatsächlich das Sozialistengesetz anfängt, seine erzieherische Wirkung auszuüben; unsere Abgeordneten sind schon sehr zahm geworden. (...) Wir Genossen von Frankfurt (Main) erblicken in dieser Fraktionserklärung den Versuch zu einer diktatorischen Maßregelung, den Versuch der Mehrheit der Fraktion, eine Art Ausnahmegesetz in unser inneres Parteileben einzuführen (…) Wir sehen aus dem Ton dieses Ukases, dass bei der Mehrheit der Fraktion das edle demokratische Selbstbewusstsein einem verwerflichen Dünkel gewichen ist, welcher sich im Begriff „Entrüstungssturm“ (…) äußert. (….) Wir brauchen wohl nicht zu erklären, dass wir den Mitgliedern der Fraktion keine besonderen (aristokratischen) Rechte einräumen,..(…) Wir erklären, dass wir nach wie vor das Verhalten unserer Abgeordneten im Parteitag einer öffentlichen Kontrolle respektive Kritik unterziehen werden, nach wie vor Meinungsverschiedenheiten öffentlich ausfechten werden und uns nicht zu willenlosen Trägern einer Ideen herunterdrücken lassen.[39] Aus Wuppertal Barmen kam ein ähnliches Protestschreiben der Sozialdemokraten am 18.5.1885: „Wir gehören nicht zu denjenigen, welche sich, nachdem wir unsere Vertreter zahlreicher denn je ins Parlament geschickt, Wunderdinge von der parlamentarischen Tätigkeit derselben versprochen haben, wir wissen sehr wohl, dass die Emanzipation der Arbeiter nicht in den Parlamenten ausgefochten wird.[40]

Der Abgeordnete der SAPD Wilhelm Blos verwarf jede revolutionäre Haltung des Sozialdemokraten. Daraufhin verfassten Wahlmänner aus Wuppertal Barmen folgende Stellungnahme: „1. Wenn Herr Blos behauptet, seine Wähler hätten ihn nach Berlin gesandt, um sich an der Gesetzgebung zu beteiligen und im Sinne des sozialdemokratischen Programms auf dieselbe einzuwirken, so können wir diese Auffassung als eine korrekte nicht so sehen. Wir glauben, dass es die Standpunkte der Partei widerstreitet, wenn man das „Parlamenteln“ als Hauptgrund oder gar als die einzige Ursache der Wahltätigkeit bezeichnen will. Wir unsererseits haben gewählt:

a) Aus agitatorischen und propagandistischen Rücksichten;

b) Um durch unsere Stimmen lauten Protest zu erheben gegen die heutige Klassenherrschaft;

c) Um unsere Vertreter eventuell in die Lage zu versetzen, diesem Protest auf der Tribüne entschiedenen Ausdruck zu verleihen.[41]

Die hier aufgezeigten Auseinandersetzungen machten deutlich, dass während dieser Jahre zwei Flügel aufeinanderstießen, die Engels zu der Einsicht führten, dass die Spaltung der Partei aufkommen könne. Im Mai 1882 schrieb Engels an Bebel: “Darüber, dass es eines Tages zu einer Auseinandersetzung mit den bürgerlich gesinnten Elementen der Partei und zu einer Scheidung zwischen rechtem und linkem Flügeln kommen wird, habe ich mir schon längst keine Illusion mehr gemacht und dies auch schon in dem handschriftlichen Aufsatz über den Jahrbuchsartikel geradezu als wünschenswert ausgesprochen. (…) Ich erwähnte den Punkt in meinem letzten Brief nicht ausdrücklich, weil es mir mit dieser Spaltung keine Eile zu haben scheint. (…)

Andrerseits wissen sie, dass wir unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes auch unsere Gründe haben, innere Spaltung zu vermeiden, die wir nicht öffentlich debattieren können.[42] Aber selbst unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes hielt er die Notwendigkeit für nicht ausgeschlossen. Denn nur wenige Monate später griff er die gleiche Frage auf: “Die Streitfrage ist rein prinzipiell: soll der Kampf als Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie geführt werden, oder soll es gestattet sein, auf gut opportunistisch (oder wie das in sozialistischer Übersetzung heißt: possibilistisch) den Klassencharakter der Bewegung und das Programm überall da fallenzulassen, wo man dadurch mehr Stimmen, mehr ‘Anhänger’ bekommen kann? (…) Einigung ist ganz gut, solange sie geht, aber es gibt Dinge, die höher stehn als die Einigung.[43] – “Ich würde jede Spaltung, unter dem Sozialistengestz, für ein Unglück halten, da jedes Mittel der Verständigung mit den Massen abgeschnitten ist. Aber es kann uns aufgezwungen werden, und dann muss man den Tatsachen ins Gesicht sehn.[44] Und die gleiche Betonung auf eine Zuspitzung der Gegensätze, und dass man die Spaltung zum richtigen Zeitpunkt nicht scheuen dürfe: “Die Teilung ins proletarische und ins bürgerliche Lager wird immer ausgesprochener, und wenn die Bürgerlichen sich einmal dazu ermannt haben, die Proletarischen zu überstimmen, kann der Bruch provoziert werden. Diese Möglichkeit muss, glaub’ ich im Auge gehalten werden. Provozieren sie den Bruch – wozu sie sich aber noch etwas Courage antrinken müssten – so ist’s nicht so schlimm. Ich bin stets der Ansicht, dass, solange das Sozialistengesetz besteht, wir ihn nicht provozieren dürften; kommt er aber, nun dann darauf los, und dann geh’ ich mit dir ins Geschirr.[45]

Selbst unter den harten Bedingungen der Illegalität war die Sozialdemokratie damals bestrebt, sich nicht international zu isolieren. Weil während der 1880er Jahre die Neuorganisierung der politischen Organisationen in Europa an Fahrt aufnahm, wurde die deutsche Sozialdemokratie zu einer Vorreiterin der internationalen Kontakte und der Vorbereitung einer neuen Internationale. „Zur Herstellung einer regelmäßigen Verbindung der Sozialisten und Sozialistenvereine des Auslandes unter sich und mit der Partei in Deutschland sowie zur Pflege des Verkehrs zwischen letzterer und den Bruderparteien des Auslandes wird eine Verkehrsstelle außerhalb Deutschlands geschaffen, welche den Verkehr zwischen den einzelnen Vereinen zu vermitteln, alle Beschwerden, Anträge etc. entgegenzunehmen und in geeigneter Weise zu erledigen hat.[46]

Trotz des Sozialistengesetzes gelang es den Herrschenden nicht, die Partei zu zerschlagen oder ihren Einfluss zurückzudrängen. Im Gegenteil: 1878, dem Jahr der Einführung des Sozialistengesetzes, erhielt die SAPD: 437.000 Stimmen (7.6%), 2 Abgeordnete nach der Hauptwahl, 9 nach der Stichwahl; 1890: 1.427.000 Stimmen, d.h. 19,7% der Stimmen, 20 Abgeordnete bei der Hauptwahl und 35 nach der Stichwahl.[47] Die großen Wahlerfolge spiegelten damit den Zulauf zur SAPD wider. Aber gleichzeitig vergrößerten sie nicht nur das Gewicht der Reichstagsabgeordneten innerhalb der Partei, sondern die parlamentarische Ausrichtung insgesamt und die damit verbundene damit die Ideologie.

Kapitel 3: 1890/1891 – Das Ende des Sozialistengesetzes sowie das neue Programm und die Statuten der Parteitage von Halle und Erfurt

Im September 1890 wurde das Sozialistengesetz aufgehoben. Auf dem kurz danach stattfindenden Parteitag in Halle wurde die SAPD in SPD umbenannt.

Die Debatten über das Programm konnten aufgrund der Bedingungen des Sozialistengesetzes nur extrem eingeschränkt stattfinden. Nun wurde nach dem Ende des Gesetzes auf dem Parteitag in Halle 1890 und insbesondere in Erfurt 1891 die Programmfrage als zentraler Punkt auf die Tagesordnung gesetzt. Nach ausführlichen Diskussionen mit mehr als 400 Versammlungen und einer Vielzahl von Artikeln und Diskussionsbeiträgen in der SPD-Presse plante man wichtige Korrekturen gegenüber dem Gothaer-Programm vorzunehmen. Wir sind in unserer Artikelserie in der International Review 84-88 (engl./frz./span. Ausgabe; auch in unserem Buch Communism is not just a „nice idea“ veröffentlicht[48]) ausführlich auf die Debatten und Kritiken an den Positionen des Erfurter Programms eingegangen und konzentrieren uns hier weiterhin auf die Organisationsfrage.[49]

Zum ersten Mal wurde 1891 die Kritik von Marx und Engels am Gothaer Programm veröffentlicht und breit diskutiert. Die zur Zeit von Gotha tätige Parteileitung, die seinerzeit die Kritiken von Marx und Engels der Partei vorenthalten hatten, stimmte 1891 auf dem Erfurter Kongress diesen Kritiken zu. Somit wurden die spezifisch lassalleanischen und vulgär-sozialistischen Auffassungen des Gothaer Programms überwunden.

Auch wurden auf dem Haller und dem Erfurter Kongress die Auffassungen der erstmals in Erscheinung getretenen oppositionellen, anarchistisch geprägten Gruppe „Die Jungen“ diskutiert und abgelehnt.

Die Statuten – Gradmesser der Organisationsprinzipien

In den Statuten wurde Folgendes zur Mitgliedschaft geregelt: „§ 1 Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt“.[50] Die Mitglieder mussten sich somit nur zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennen und nicht zu seinen Einzelheiten selbst. Für Leute wie Ignaz Auer[51] war dies ein Anlass, sich gegen „Engherzigkeit“ auf Programmebene auszusprechen, denn „der eine oder andere [habe] gegen diesen oder jenen speziellen Punkt seine Bedenken und eine kleine Abweichung irgendwelcher Art [spiele] gar keine Rolle“. Damit sollte Auer zufolge den Mitgliedern Spielraum für ihre eigene Interpretation des Parteiprogramms gelassen werden. §1 der Statuten verlangte auch nicht, dass sich jedes Mitglied einer Parteiorganisation anschließen sollte, noch war die Rede von der „Unterstützung der Partei nach Kräften“, dies beinhaltete nicht unbedingt aktive Mitarbeit.

Nach Lage der Vereinsgesetzgebung in sämtlichen größeren deutschen Staaten musste der Parteitag in Halle von der Schaffung einer zentralisierten Organisation absehen. Jeder Versuch, eine über ganz Deutschland ausgebreitete Vereinigung ins Leben zu rufen, mit örtlichen Mitgliedschaften, Bevollmächtigten, ordentlichen regelmäßigen Beiträgen, Mitgliedskarten etc. würde nur zur Folge haben, dass in kürzester Zeit die Auflösung der Partei wegen Übertretung der Bestimmungen irgendeines Paragraphen des Vereinsgesetzes erfolgte. (…) Da nun in dem größten Teile Deutschlands politische Vereine nicht miteinander in Verbindung treten dürfen, so darf auch keine Korrespondenz oder sonstige Verbindung zwischen den Lokalvereinen und der Parteileitung stattfinden. (…) Nun muss aber die Parteileitung (…) überall Verbindungen haben (…). Diese Aufgabe sollen die Vertrauensmänner (…) erfüllen. Diese Vertrauensmänner sollten in erster Linie die Korrespondenten sein, an welche die Parteileitung ihre Mitteilungen richtet, und die ihrerseits die Parteileitung über die Vorgänge in den einzelnen Orten und Wahlkreisen unterrichten“.[52]

Die erstmals in Erscheinung getretene oppositionelle Gruppe der Jungen trat für einen losen Parteimitgliedsbegriff ein. Sie sprachen sich gegen eine festgefügte Parteiorganisation aus und plädierten für eine lose, unverbindliche Organisationsform. Ihnen zufolge sei ein allgemeines Bekenntnis zur SPD oder die Stimmabgabe für einen SPD-Kandidaten ausreichend, um sich als Sozialdemokrat zu bezeichnen.

In Bebels Entwurf zu den Statuten für den Parteitag in Halle bildete der Parteitag die „oberste Vertretung der Partei“. Bebel betonte konkrete, feste, für alle Mitglieder der Partei verbindliche Verhaltensregeln. Diese Betonung auf verbindlichen Verhaltensregeln war wegweisend für die spätere Auseinandersetzung auf dem 2. Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1903 (siehe dazu folgenden Artikel in International Review 116 [engl./frz./span. Ausgabe]  1903-4: the birth of Bolshevism..).

Auf dem Haller Parteitag wurde auch erstmals das Verhältnis zwischen Reichstagsfraktion und Gesamtpartei diskutiert. Während Bebel nach dem Ende der Ausnahmebedingungen des Sozialistengesetzes wieder die Parteileitung von der Reichstagsfraktion auf den Parteitag und den von ihm gewählten Parteivorstand als die entscheidende Instanz übertragen wollte, der Parteivorstand dem Parteitag gegenüber rechenschaftspflichtig sein sollte, und die Reichstagsfraktion somit ihrer Sonderrechte enthoben werden sollte, erhob sich dagegen seitens der Parlamentarier Widerstand. Ebenso war auf dem Kongress in Halle vorgesehen, dass der vom Kongress gewählte Parteivorstand das Parteiorgan Vorwärts kontrollieren sollte. Ignaz Auer pochte weiterhin auf Sonderrechten der Reichstagsfraktion: „Der [parlamentarischen] Fraktion sollte das Aufsichts- und das Kontrollrecht über den Parteivorstand und damit über die gesamte Parteitätigkeit übertragen werden, max. die Fraktion wurde über den vom Parteitag gewählten Parteivorstand gestellt. Die Unterwerfung der Partei unter die Parlamentsabgeordneten sollte somit aus der Sicht Auers statutenmäßig festgelegt werden. Der Abgeordnete Georg v. Vollmar forderte in der Debatte über die Organisationsfrage auf dem Haller Kongress, jeder Ort solle selbstständig über seine Organisationsform entscheiden, eine Zersplitterung der Organisation in autonome Teilorganisationen sei auch ein guter Schutz vor eventueller weiterer Repression.[53]  Gleichzeitig verwarf Auer programmatische Grundsätze der Partei. Hier spürte man die Theoretisierung der Zentralisierungsfeindlichkeit sowie das Bestreben, die Partei und deren Zentralorgan der Parlamentsfraktion unterzuordnen.

Den von Bebel vorgelegten Entwurf bezeichnete Bebel selbst Engels gegenüber als „Kompromisswerk“.[54] Bebel gestand später in Anbetracht des Widerstands der Parlamentarier ein: „Da ließ ich mich breitschlagen und gab des lieben Friedens willen nach.“ Kurze Zeit später bekannte Bebel gegenüber Victor Adler: „Ich habe dabei wieder einmal erkannt, wie es sich rächt, wenn man dem Zuge nach rechts nachgibt.[55] Schließlich verabschiedete die Partei ein Statut, in dem der Parteivorstand die Parteileitung übernahm. Mit der Anerkennung, dass der Parteitag die oberste Vertretung der Partei sei, in der Verbindlichkeit der vom Parteitag beschlossenen Dokumente und Beschlüsse, in der Rechenschaftspflicht des Parteivorstands gegenüber dem Parteitag, der Herausgabe der Zeitung „Vorwärts“ als Zentralorgan wurden die Grundsätze für die Funktionsweise der Partei gemäß dem „Parteigeist“ gelegt. Lenin konnte sich später 1903 auf diese Parteiprinzipien stützen.

In Anbetracht der großen Schwächen des 1875er Gothaer Programms war das Erfurter Programm von 1891 trotz alledem ein Schritt vorwärts. Die im Gothaer Programm noch vorhandenen reformistischen lassalleanischen Ideen waren nicht mehr vorhanden; es wurde eine wissenschaftliche Begründung geliefert, dass der Kapitalismus weiterhin aufgrund seiner Widersprüche dem Untergang geweiht sei, und dass die Arbeiterklasse durch die Eroberung der politischen Macht die einzig mögliche Lösung herbeiführen könne: die Überwindung dieser Gesellschaft. Nichtsdestotrotz gab es Mängel in diesem Programm, so war z.B. nicht die Rede von der notwendigen Diktatur des Proletariats bei der Überwindung des Kapitalismus. Engels hatte bei der Debatte über den Programmentwurf an den politischen Forderungen des Entwurfs Kritik geübt. Er nutzte die Gelegenheit, „auf den friedfertigen Opportunismus … und das frisch-fromm-fröhlich-freie ‚Hineinwachsen‘ der alten Sauerei ‚in die sozialistische Gesellschaft‘ loszuhauen“.[56] In der Endfassung war jedoch an den politischen Forderungen, die Engels kritisiert hatte, nichts Wesentliches geändert worden, tatsächlich wurde seine Kritik zurückgehalten und erst zehn Jahre später veröffentlicht.[57]

Engels Warnung vor reformistischen Illusionen…

Beeinflusst durch die Hoffnung auf ein „repressionsfreies Leben in der Demokratie[58] und einer in einigen Kreisen schon 1890-91 spürbaren Hoffnung auf ein mögliches Hineinwachsen der Gesellschaft in den Sozialismus warnte Engels: “Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, ‚die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein‘, ohne zu fragen, ob sie damit nicht ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftsverfassung hinauswachse...“[59]

Aber während Engels zurecht vor der Gefahr opportunistischer Hoffnungen warnte, verfiel er selbst einer gewissen Euphorie, die Rosa Luxemburg später auf dem Gründungskongress der KPD aufgriff (vgl. Deutsche Revolution VI, Der gescheiterte Organisationsaufbau, Internationale Revue 22).

… vorübergehend durch Euphorie beiseitegedrängt

In den Jahren seit dem Sozialistengesetz hatte die SPD ihren Stimmenanteil auf mehr als 20% gesteigert. Dies rief eine Euphorie sowie Illusionen über einen entsprechenden Machtzuwachs der Arbeiterklasse hervor. Schon 1884, nachdem die SAPD eine halbe Million Stimmen für sich verbucht hatte, meinte Engels gegenüber Kautsky in einem Brief: „Zum ersten Mal in der Geschichte steht eine solid geschlossenen Arbeiterpartei als wirkliche politische Macht da, entwickelt und großgewachsen unter den härtesten Verfolgungen, unaufhaltsam einen Posten nach dem anderen erobernd (…), - eine Macht (…), die aber ebenso sicher und unaufhaltsam sich emporarbeitet (…) dass die Gleichung ihrer wachsenden Geschwindigkeit und damit der Zeitpunkt ihres schließlichen Siegs sich schon jetzt [1884] mathematisch berechnen lässt.“[60] Und im Herbst 1891 schrieb Engels „Elf Jahre Reichsacht und Belagerungszustand haben ihre Stärke vervierfacht und sie zur stärksten Partei Deutschlands gemacht. (…) Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, die Partei, die wie die ansteigende Flut alle Dämme überbraust, die sich über Stand und Land ergießt, bis in die reaktionärsten Ackerbraudistrikte, diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.

Die Zahl der sozialistischen Stimmen war

1871

101.927

1874

351.670

1877

493.447

1884

549.990

1887

763.128

1890

1.427.298

(…) Bei den Wahlen von 1895 dürfen wir also auf mindestens 2.5 Millionen Stimmen rechnen; diese aber würden um 1900 sich auf 3.5 bis 4 Millionen steigern. (…) Die Hauptstärke der deutschen Sozialdemokratie liegt aber keineswegs in der Zahl ihrer Wähler. Bei uns wird man Wähler erst mit 25 Jahren, aber schon mit 20 Soldat. Und da grade die junge Generation es ist, die unserer Partei ihre zahlreichsten Rekruten liefert, so folgt daraus, dass die deutsche Armee mehr und mehr vom Sozialismus angesteckt wird. Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußische Element des Landes in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluss. Die Berliner Regierung sieht es kommen, ebenso gut wie wir, aber sie ist ohnmächtig. Die Armee entschlüpft ihr.[61]Dass die Zeit herannaht, wo wir die Majorität in Deutschland sind, oder doch die einzige Partei, die stark genug, das Ruder zu führen – falls Friede bleibt – das ist doch handgreiflich.[62] Und auch in den letzten Jahren vor seinem Tod meinte er z.B. 1892: „(…) der Sieg der europäischen Arbeiterklasse [hängt] nicht allein von England ab. Er kann nur sichergestellt werden durch das Zusammenwirken von mindestens England, Frankreich und Deutschland. In den letztern Ländern ist die Arbeiterbewegung der englischen ein gut Stück voraus. In Deutschland steht sie sogar innerhalb messbarer Entfernung vom Triumph.[63] 1894 prognostizierte er gar, dass „wir fast den Tag errechnen [können], an dem die Staatsmacht in unsere Hände fallen wird.[64]

Diese Glorifizierung der Wahlergebnisse wird auch anhand der Aussage deutlich, die Bebel auf dem Hamburger Parteitag 1897 machte: „Reichstagswahlen sind für uns als Kampfpartei immer das wichtigste Ereignis gewesen, weil sie uns Gelegenheit geben, für unsere Ideen und Forderungen mit allem Nachdruck einzutreten, weil wir an dem Wahlergebnis konstatieren können, wie die Entwicklung unserer Partei in dem abgelaufenen Zeitraum gewesen ist; sie waren und sind uns der Gradmesser, wie weit die Partei auf ihrem Vormarsch zum Sieg vorgedrungen ist. Von diesem Gesichtspunkt haben wir schon im Jahre 1867 die Wahlen als beste Gelegenheit betrachtet, unsere Kraft zu messen.“[65]

Bevor er dieser vorübergehenden Euphorie verfiel, betonte Engels jedoch vor dem Erfurter Kongress, dass die SPD den revolutionären Weg fortsetzen und keinerlei Festlegungen auf einen ‚gesetzmäßigen‘, ‚friedlichen‘ Entwicklungsweg zum Sozialismus zulassen dürfe.

Die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung und ggf. Spaltung von den Opportunisten

In Anbetracht der großen Divergenzen zwischen Lassalleanern und Eisenachern zu Anfang der 1870er Jahren hatten Marx und Engels – wie oben dargestellt – vor der Gefahr des Verlustes der programmatischen Klarheit gewarnt und auf eine scharfe Abgrenzung bestanden. Immer wieder betonten sie: „(…) In unserer Partei können wir zwar Individuen aus jeder Gesellschaftsklasse, aber durchaus keine kapitalistischen, keine mittelbürgerlichen oder mittelbäuerlichen Interessengruppen gebrauchen.[66] Auch als zur Zeit des Sozialistengesetzes immer neue Kreise – auch aus der herrschenden Klasse – zur Sozialdemokratie stießen, bestand Engels in einer Korrespondenz mit Bebel und Liebknecht darauf: „Wenn solche Leute aus anderen Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, dass sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen.(…) Sind Gründe da, sie [Leute mit bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen] vorderhand [in einer Arbeiterpartei] zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keine Einfluss auf die Parteileitung zu gestatten, sich bewusst zu bleiben, dass der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist.“[67] „(...) das Proletariat [würde] seine leitende geschichtliche Rolle verscherzen (…), wenn es diesen [kleinbürgerlichen und bürgerlichen] Vorstellungen und Wünschen Konzessionen machte“.[68] Deshalb bezog Engels auch die Möglichkeit in Betracht, dass es nach dem Fall des Sozialistengesetzes zur Spaltung zwischen dem proletarischen und kleinbürgerlichen Flügel in der Partei kommen könne. „Diesen ganzen Unrat verdanken wir zum allergrößten Teil Liebknecht mit seiner Vorliebe für gebildete Klugscheißer und Leute in bürgerlichen Stellungen, womit man dem Philister gegenüber dicktun kann. Einem Literaten und einem Kaufmann, die mit dem Sozialismus liebäugeln, kann er nicht widerstehen. Das sind aber gerade in Deutschland die gefährlichsten Leute (…). Die Spaltung kommt so sicher wie etwas, nur bleibe ich dabei, dass wir sie unter dem Sozialistengesetz nicht provozieren dürfen.[69] Es war offensichtlich, dass das staatliche Vorgehen auf eine Zerschlagung und Spaltung der Partei abzielte, und dass das Zusammenrücken der Partei in dieser Phase im Vordergrund stand.  Aber Entschlossenheit gegenüber der Repression stellt keinen Automatismus zur Verhinderung opportunistischer Tendenzen dar. Im Gegenteil, unter Umständen kann der Opportunismus sogar noch ungestörter wuchern.

Engels erkannte 1890 kurz vor dem Fall des Sozialistengesetzes auch: „Die Partei ist so groß, dass absolute Freiheit der Debatte innerhalb ihrer eine Notwendigkeit ist. Anders sind die vielen neuen Elemente, die in den letzten drei Jahren zugekommen und die stellenweise noch recht grün und roh, gar nicht zu assimilieren und auszubilden (…). Die größte Partei im Reich kann nicht bestehen, ohne dass alle Schattierungen in ihr vollauf zu Wort kommen, und selbst der Schein der Diktatur à la Schweitzer muss vermieden werden.[70] Um einen gewissen Schutz gegen nicht hinnehmbare Abweichungen aufzubauen, sollten die führenden Parteiämter mit vollamtlichen, von der Partei besoldeten Funktionären besetzt werden. Dies wiederum bot aber keinen wirklichen Schutz gegen Opportunismus oder gar zensierendes Vorgehen der Parteiführung. Um den Kampf gegen den Opportunismus und deren Vertreter in der Reichstagsfraktion freier führen zu können, meinte Engels gar, die radikalen Kräfte sollten ein unabhängiges Presseorgan haben: „Eure ‚Verstaatlichung‘ der Presse hat ihre großen Übelstände, wenn sie zu weit geht. Ihr müsst absolut eine Presse in der Partei haben, die vom Vorstand und selbst Parteitag nicht direkt abhängig ist, d.h. in die in der Lage ist, innerhalb des Programms und der angenommenen Taktik gegen einzelne Parteischritte ungeniert Opposition zu machen und innerhalb der Grenzen des Parteianstandes auch Programm und Taktik frei der Kritik zu unterwerfen.“[71]

In einem Brief an Bebel warnte Engels diesen nicht nur vor der Vorgehensweise der Rechten und dessen Sprachrohr Vollmar, sondern er sprach auch eine Reihe taktischer Empfehlungen aus.[72]

Die Jungen

Auf dem Haller Parteitag 1890 fand auch zum ersten Mal eine offene Auseinandersetzung mit der von der bürgerlichen Presse so bezeichneten oppositionellen Gruppe die Jungen statt.[73] In der Tat scheint der einzige gemeinsame Nenner ihr geringes Durchschnittsalter gewesen zu sein.[74]

Ihre soziale Zusammensetzung war äußerst heterogen. Politisch verband sie vor allem ihre Warnung vor den Gefahren des Parlamentarismus. „1.) Die Haltung der Sozialdemokratie im Reichstag, welche zuweilen geeignet war, die Hoffnung zu erwecken, als könne bereits auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft die Lage der arbeitenden Klasse nennenswert verbessert werden. 2.) Die Agitation bei den letzten Reichstagswahlen, welche vielfach mehr darauf hinauslief, Sitze im Parlament zu gewinnen als Sozialdemokraten zu machen. 3.) Das Eintreten der Fraktion für bürgerparteiliche Kandidaten bei den letzten Stichwahlen. 4.) Das Vorgehen der Fraktion in der Frage des 1. Mai.[75] […] 6.) Eine gewisse Art der Genossen, sachliche Kritik als persönliche Beleidigungen zu behandeln.[76]

Diese politische Kritik an opportunistischen Tendenzen in der Partei wurde aber dadurch verwischt und verlor an Glaubwürdigkeit, weil Bruno Wille „Korruption“ in den Reihen der SPD-Parlamentarier andeutete und somit dazu neigte, das Problem an Personen festzumachen.

Auf einer Großveranstaltung der SPD Ende August 1890 in Berlin, an der mehr als 10.000 Parteimitglieder teilnahmen, trat Bebel in einer Debatte mit einigen Vertretern der Jungen den Kritiken derselben entgegen. Am Ende der Debatte wurde eine Resolution verabschiedet, bei der von den ca. 4.000 ausgezählten Teilnehmern (von den 10.000 Teilnehmern passte nur die Hälfte in den Saal) ca. 300-400 Stimmen gegen die von Bebel verfasste Resolution stimmten. „Die Versammlung erklärt die von verschiedenen Seiten aufgestellte Behauptung, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sei korrumpiert, sie beabsichtige die Partei zu vergewaltigen, und sei bestrebt, die freie Meinungsäußerung in der Parteipresse zu unterdrücken, für eine durch Nichts bewiesene schwere Beleidigung der Fraktion, beziehentlich der Parteileitung. Die Versammlung erklärt ferner die gegen die bisherige parlamentarische Tätigkeit der Fraktion gerichteten Angriffe für ungerechtfertigt.[77]

Auf dem Erfurter Parteitag stellte eine Untersuchungskommission ihre Untersuchungsergebnisse der Beschuldigungen eines Teils der Jungen vor. Das Mandat dieser Untersuchungskommission hatte aber zwei Aufgaben gleichzeitig behandelt: Hinsichtlich der Beschuldigungen der systematischen Korruption und dass Parteigelder nach Gunst an Schmarotzer vergeben wurden, sprach die Untersuchungskommission die Beschuldigten von dem Vorwurf frei.

Gleichzeitig verwarf sie die politischen Kritiken, die in einem auf dem Haller Parteitag verbreiteten, anonym verfassten Flugblatt geäußert worden waren. In dem Flugblatt hatte es geheißen: „Nicht Unehrlichkeit werfen wir aber deshalb den Führern vor, sondern allzu große Rücksichtnahme auf alle möglichen Machtfaktoren, hervorgegangen von der veränderten Lebensstellung und der zu geringen Fühlung mit dem Proletarierelend, dem Pulsschlag des gequälten Volkes.“[78]

Das Schlimmste, was uns das Sozialistengesetz gebracht hat, ist die Korruption“ (Wille bezog sich vor allem auf politisches Verhalten und richtete diesen Vorwurf vor allem gegen die Parteiführung).[79]

Gleichzeitig warnten die Jungen vor der Gefahr der Versumpfung der Partei.[80]

Dem hielt die Kommission ihren politischen Befund entgegen: „1.) Es ist nicht wahr, dass der revolutionäre Geist seitens einzelner Führer systematisch ertötet wird. 2.) Es ist nicht wahr, dass in der Partei eine Diktatur geübt wird. 3.) Es ist nicht wahr, dass die ganze Bewegung verflacht und die Sozialdemokratie zur puren Reformpartei kleinbürgerlicher Richtung herabgesunken ist. 4) Es ist nicht wahr, dass der Revolution von der Tribüne des Reichstages feierlich abgeschworen wurde. 5.) Es geschah bis heute nichts, um den Vorwurf zu rechtfertigen, dass versucht worden wäre, den Ausgleich zwischen Proletarier und Bourgeois herbeizuführen.[81]

Schließlich wurden einige Mitglieder der Jungen, die den Vorwurf der Korruption weiter aufrechterhielten, auf dem Erfurter Parteitag ausgeschlossen. Zuvor waren andere Mitglieder aus der Partei ausgetreten. Nach einem abgelehnten Widerspruch gegen ihren Ausschluss gründete die Opposition am 8. November 1891 kurz nach dem Erfurter Parteitag den „Verein Unabhängiger Sozialisten“ (ihr Organ wurde Der Sozialist, der von 1891-1899 erschien). Engels meinte, dieser verbreite „nichts als Klatsch und Lügen“.[82]

Diese zu Anfang der 1890er Jahre aufgetauchte Opposition hatte zwar ein Gespür für die sich verstärkende Gefahr der Verflachung der Partei gezeigt. Indem sie aber die Kritiken an der Politik der Partei in den Vorwurf der Bestechlichkeit der Parteiführer packte – ohne irgendwelche konkreten Belege –, sie somit eine Personalisierung vornahm, verpufften ihre begründeten Warnungen vor den Gefahren der Versumpfung. Zuvor hatten einige Vertreter der Jungen (Werner und Wille) gar geltend gemacht, ein Zentralorgan der Partei (d.h. in der Form einer Zeitung) sei überhaupt nicht notwendig. Auch traten einige von ihnen gegen Zentralisierung auf und nur für lose Strukturen ein, und sie sprachen sich gegen verbindliche Mitgliedskriterien aus.

Der Gründungsaufruf der „Unabhängigen Sozialisten“ betonte, die „Organisationsform der heutigen Partei [schränke] die Bewegung der proletarischen Gesellschaftsklassen ein“. Stattdessen trat man für eine „freie Ausgestaltung der Organisation“ ein, und der Zweck der Organisation wurde als „Diskutier- und Bildungsverein“ umrissen[83].

Die „Unabhängigen Sozialisten“ spalteten sich kurz nach ihrer Gründung – ein Teil kehrte wieder zurück zur SPD, davon ein Teil zu den Revisionisten, ein anderer schloss sich den Anarchisten an.

Für die SPD war die Auseinandersetzung mit diesem heterogenen Haufen eine doppelte Herausforderung gewesen: Einerseits durfte man Beschuldigungen auf der Verhaltensebene wie Korruptionsvorwürfe nicht ungeprüft im Raum stehen lassen. Und wer solche Beschuldigungen ohne Beleg weiter aufrechterhielt, durfte zurecht nicht ungestraft in der Partei bleiben.

Aber gleichzeitig wurde die Bereitschaft der Partei getestet, sich mit Warnungen vor dem Opportunismus, die unvermeidlich konfus und zum Teil irreführend, krakeelend – wie Engels meinte – vorgetragen wurden, auseinanderzusetzen. Eine Politik des Ausschlusses aufgrund von politischen Divergenzen stand nicht auf der Tagesordnung. Vor dem Haller Parteitag trat Engels gegen einen Parteiausschluss auf: „Ich werde Bebel und Liebknecht wohl vor dem Kongress hier sehen und das mögliche tun, dass ich sie von der Unklugheit aller Herausschmeißereien überzeuge, die nicht auf schlagende Beweise von der Partei schädigenden Handlungen, sondern bloß auf Anklagen der Oppositionsmacherei gegründet sind.“[84]

Dass ihr auf dem Kongress spielend damit [mit dem Anhang der Jungen] fertig werdet, ist klar. Aber sorgt dafür, dass keine Keime gelegt werden für zukünftige Schwierigkeiten. Macht keine unnötigen Märtyrer, zeigt, dass Freiheit der Kritik herrscht, und wenn herausgeworfen werden muss, dann nur in Fällen, wo ganz eklatante und vollauf erweisbare Tatsachen (…) der Gemeinheit und des Verrats vorliegen.[85]

Nach dem Erfurter Parteitag billigte Engels deren Ausschluss, vor allem weil die Jungen fortgesetzt unbewiesene Verdächtigungen und Anklagen in die Welt gesetzt hatten. Aber schon kurz nach dem von ihm gutgeheißenen Parteiausschluss wurde ihm bewusst, dass Leute wie Vollmar (Vertreter der Rechten) „viel gefährlicher“ waren als die Jungen.[86]  Schon eine kurze Zeit später nahm er eine differenzierte Haltung an. Er bezeichnete deren Angriffe gegen die „Spießer“ in der Partei als „unbezahlbar“.[87]

Selbst Bebel erkannte nach der Veröffentlichung der Schrift des Oppositionellen Hans Müller Der Klassenkampf in der Sozialdemokratie im Sommer 1892 die positive Rolle der Jungen. „An und für sich ist es ganz gut, dass so ein paar Wadenkneifer da sind, die einen daran erinnern aufzupassen, dass man nicht stolpert. Hätten wir diese Opposition nicht, wir müssten uns eine machen. Schimpft man auf dem nächsten Parteitag auf sie, dann singe ich ihr Lob.[88]

Der beschriebene Kampf zwischen den revolutionären und opportunistischen Tendenzen in der deutschen Sozialdemokratie verschärfte sich in der Folgezeit von 1890 bis 1914. Wir werden diesen verschärften Konflikt im zweiten Teil des Artikels beschreiben.  

Januar 2022, Dino

 

[2] In Eisenach fand der Gründungskongress der SDAP statt.

[4] Antwort von Engels im Mai 1873 – in Volksstaat gegen Lassalleaner – MEW, Bd. 18, S. 319-325

[5] Engels an Bebel, 20.6.1873, MEW Bd. 33, S. 590

[6] Die I. Internationale wurde auf der Konferenz von Philadelphia am 15.07.1876 offiziell aufgelöst.

[7] Engels an Conrad Schmidt, 12. April 1890, MEW Bd. 37, S. 384

[8] Marx schrieb am 27.9.1873 an Friedrich A. Sorge, „Nach meiner Ansicht von den europäischen Verhältnissen ist es durchaus nützlich, die formelle Organisation der Internationalen einstweilen in den Hintergrund treten zu lassen und nur, wenn möglich, den Zentralpunkt in New York deswegen nicht aus den Händen zu geben, damit keine Idioten wie Perret oder adventurers wie Cluseret sich der Leitung bemächtigen und die Sache kompromittieren (…) Einstweilen genügt es, die Verbindung mit den Tüchtigsten in den verschiedenen Ländern nicht ganz aus den Händen schlüpfen zu lassen (…)“ (MEW 33, S. 606).

[9]  Österreichische Sozialdemokraten wählten 1873 gar die Redaktion des Volksstaats zum Schiedsrichter für die Entscheidung von Streitfragen in der österreichischen Partei (Quelle: The International Working Class Movement, Progress Publishers, Moscow 1976, Band 2, 1871-1904, S. 261).

[10] In Großbritannien waren die kämpferischsten Arbeiter ausschließlich im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung aktiv, Gründung der Social-Democratic Federation 1884.

Frankreich: Die nach der Pariser Kommune entstandenen Organisationen waren rein berufsständisch und konzentrierten sich auf den wirtschaftlichen Kampf. "Erst 1878, anlässlich der Wahlen in Frankreich, wurde die Parti Ouvrier unter der Führung von Guesde und Lafargue und unter direkter Beteiligung von Marx, der das politische Programm verfasste, gegründet." (aus The International Working Class, ebenda, S. 237). In Frankreich kam es zu einer frühen Spaltung zwischen den "Possibilistes" (reformistischer Flügel) und den Kräften um Guesde – Bildung der französischen Arbeiterpartei, Fédération d‘ouvriers socialistes).

Belgien: Gründung der Sozialistischen Partei 1879 – Belgische Arbeiterpartei 1885

Niederlande: 1882 Sozialdemokratische Union

Schweiz: im Frühjahr 1873 wurde ein allgemeiner nationaler Arbeiterkongress gegründet, 1888 – Gründung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz

Spanien: 1879 - Sozialistische Arbeiterpartei

Portugal: - 1875 Portugiesische Sozialistische Partei

Italien: keine Gründung in den 1870er Jahren, 1881 wurde die "Revolutionäre Sozialistische Partei" gegründet, die sich 1883 mit dem "Partito Operaio" vereinigte. 1892 – Gründung der Sozialistischen Partei in Genua

USA: Workingmen's Party of Illinois (1873) und Social-Democratic Workingmen's Party of North America (1874) (entstanden aus Sektionen der Internationale)

Ungarn: Die Gründung einer Arbeiterpartei wurde im März 1873 angekündigt, aber sofort verboten.

Russland: 1883 gründete Plechanow – aufgrund der Repressionen musste er ins Ausland gehen – die erste russische sozialdemokratische Organisation.

So existierte Mitte der 1870er Jahre eine organisierte Arbeiterbewegung nur in einigen europäischen Ländern und bis zu einem gewissen Grad in den USA und in einigen anderen Ländern (The International Working Class movement, S. 205 ff.). Das Gothaer Programm beeinflusste jedoch die Programme der in der zweiten Hälfte der 1870er und zu Beginn der 1880er Jahre gegründeten Parteien, z.B. das der 1876 gegründeten Sozialdemokratischen Liga Dänemarks sowie der Flämischen Sozialistischen Partei 1877, der Portugiesischen Sozialistischen Partei 1877, der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei 1878, der Sozialdemokratischen Liga der Niederlande 1882, der Allgemeinen Arbeiterpartei Ungarns 1880.

[11] Mehring, Geschichte der Sozialdemokratie, S. 451

[12] Marx an Wilhelm Bracke, 5.5.1875, MEW 19 S. 13,

[13] In seinem Brief vom 12. Oktober 1875 an Bebel unterstrich Engels, dass sich das Gothaer Programm aus folgenden unmarxistischen Hauptgedanken zusammensetzte:

1) „Aus den Lassalleschen Sätzen und Stichwörtern, die aufgenommen zu haben eine Schmach unserer Partei bleibt“, wie den Phrasen von der „einen reaktionären Masse“ außerhalb der Arbeiterklasse, vom „ehernen Lohngesetz“, von der „Staatshilfe für Produktivgenossenschaften“ usw. Laut Engels war dies „das kaudinische Joch, unter dem unsere Partei zum größeren Ruhm des heiligen Lassalle durchgekrochen ist“.

2) aus vulgärdemokratischen Forderungen, wie der Losung vom „freien Staat“, der angeblich über den Klassen stehen würde;

3) aus „Forderungen an den ‚heutigen‘ Staat, die sehr konfus und unlogisch sind“,

4) aus allgemeinen Sätzen, „meist dem Kommunistischen Manifest und den Statuten der Internationale entlehnt, die aber so umredigiert sind, dass sie entweder total Falsches enthalten oder aber reinen Blödsinn. (…) Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel“ (MEW Bd. 34 S. 158).

[14] Engels an Bracke, MEW Bd. 34 S. 155

[15] „Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung praktisch für die Gegenwart vollständig verleugnet, und das von den Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der deutschen Arbeiterbewegung an der Spitze der europäischen Bewegung beruht wesentlich auf ihrer echt internationalen Haltung während des Kriegs.“ Brief Engels an Bebel, 18/28.3.1875, MEW Bd. 19 S. 4

[16] Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2 S. 449-450

[17] Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 2 S. 453

[18] Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 2 S. 419

[19] Das Sozialistengesetz, 1878-1890, Dietz Verlag Berlin 1980

[20] Mehring, ebenda S. 516

[21] Erklärung von Höchberg, Eduard Bernstein und Schramm, sie verfassten „Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland“ und verwarfen den revolutionären Charakter der Partei und forderten die Umwandlung der SAPD in eine kleinbürgerlich-demokratische Reformpartei (Dokumente und Materialien zu Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III S. 119). Aus Furcht vor weiterer Repression sprach sich der Parteiflügel um Eduard Bernstein für die Umwandlung der SAPD in eine legalistische Reformpartei aus, um so das Verbot hinfällig erscheinen zu lassen.

[22] Marx/Engels, Zirkular an Bebel, Liebknecht Bracke u.a., 17./18.9.1879, MEW Bd 34 S. 394-408, https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band34.pdf

[23] http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_150.htm, Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 150-166.

[24] Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869-1917, Illegale Organisation der Sozial Demokratie, Berlin, Dietz Verlag 1887, S. 204

[25] Dokumente und Materialien, a.a.O., Bd. III S. 148

[26] In Anbetracht der Gefahr, dass eine zu stark zentralisierte illegale Organisationsstruktur im Falle eines Zuschlagens durch die Polizei zu schnell außer Gefecht werden könnte, plädierte auch Engels: „Je loser die Organisation dem Anschein nach ist, desto fester ist sie in Wirklichkeit.“ Engels an J. Ph. Becker, 1.4.1880, MEW Bd. 34 S. 441.

[27] „Aufruf der Parteivertretung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vom 18.09.1880 über die Aufgaben nach dem Wydener Kongress“ (Dokumente und Materialien, Bd. III S. 153)

[28] Fricke, ebenda S. 211.

[29] „Resolution über die Organisation der Partei“

 „1. Die offizielle Parteivertretung wird den derzeitigen Reichstagsabgeordneten übertragen.

2. Im Falle, dass die nächstjährigen Reichstagswahlen einen wesentlichen Personenwechsel unter den Abgeordneten zur Folge haben sollten, so haben sich die abgehenden und die neu gewählten Abgeordneten unter Beiziehung von Vertrauenspersonen darüber zu verständigen, wer die Geschäfte weiter zu führen hat. Die Verteilung der Geschäfte ist Sache der Abgeordneten.

5. Die Organisation an den einzelnen Orten bleibt dem Ermessen der dort lebenden Genossen überlassen, doch erklärt es der Kongress als Pflicht der Genossen, allerwärts für möglichst gute Verbindungen zu sorgen.“

[30] Lenin, Über zwei Briefe, Werke Bd 15, S. 291.

[31] Der Sozialdemokrat, 12.4.1883. in Dokumente und Materialien, Bd. III S. 190

[32] Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd 2/2 S. 106; Fricke, a.a.O., S. 193 

[33] Dirk H. Müller, Idealismus und Revolution, Colloquium Verlag, Berlin, 1975, S. 15

[34] Brief Bebels an Liebknecht vom 26.7.1885, Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, Nachlass Liebknecht, Bog. 108/111; Fricke, a.a.O., S. 276

[35] Engels an Bebel, 4.8.1885, MEW Bd. 36, S. 292

[36] Die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstags, Der Sozialdemokrat, Nr. 14, 2.4.1885, in Dokumente und Materialien zu Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III, S. 223

[37] Die Frage der „Dampfersubvention“ brachte den Willen einiger Abgeordneter zum Vorschein, die Subventionen zu unterstützen, die von der Regierung im Wettlauf mit den anderen Staaten um die Eroberung des Planeten für den deutschen Seeverkehr gefordert wurden, um die Dampferlinien zu subventionieren und so dem deutschen Kapital bessere Chancen einzuräumen.

[38] Protestschreiben Bebels vom 5.4.1885 an die sozialdemokratische Reichstagsfraktion gegen deren Erklärung, IISG Amsterdam, NL Bebel, Nr. 42, in Dokumente und Materialien; MEW Bd. 3 S. 226

[39] Dokumente und Materialien, Bd. III S. 229 

[40] Dokumente und Materialien, S. 231, Stellungnahme der Vertrauensmänner in Barmen vom 22. Januar 1882

[41] Dokumente und Materialien zu Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III S. 177, 2. 2. 1892, Der Sozialdemokrat

[42] Engels an Bebel, 21.6.1882, MEW Bd. 35 S. 334 f.

[43] Engels an Bebel, 28.10.1882, MEW Bd. 35 S. 383

[44] Engels an Bebel, 10./11. Mai 1883, MEW Bd. 36 S. 27,

[45] Engels an Bebel, MEW Bd. 36, 11.10.1884, S. 215

[46] „Resolution über die Errichtung einer internationalen Verkehrsstelle unter den Sozialisten“, Dokumente und Materialien, Bd. III S. 149,

[47] Fricke, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1890

[48] en.internationalism.org/internationalreview/199601/1617/1883-95-social-democracy-advances-communist-cause

[49] Karl Kautsky hatte den „allgemeinen“ Teil und Eduard Bernstein den „praktischen“ Teil verfasst.

[50] Der Grundsatz, dass Parteimitglieder Mitgliedsbeiträge zahlen sollte, wurde hier nicht ausdrücklich erwähnt, um Strafmaßnahmen durch das Vereinsgesetz auszuweichen.

[51] Ignaz Auer wurde später dafür bekannt, dass er ein Wesen des Opportunismus auf den Punkt brachte, als er zu Eduard Bernstein bemerkte: "Was du forderst, mein lieber Ede, ist etwas, was man weder offen zugibt noch formell abstimmen lässt; man macht es einfach."

[52] Der Parteivorstand im Zirkular Nr. 1 des Parteivorstandes der SPD vom Okt. 1890 über den Parteiaufbau, Dokumente und Materialien, Bd. III S. 348

[53] Protokoll über die Verhandlungen der Parteitage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Halle 1890 und Erfurt 1891, Leipzig 1983, – Vorwort zum Haller Parteitag, S. 32

[54] Brief Bebels an Engels, 27.8.1890, Bebel a.a.O., S. 365

[55] Aus dem Vorwort über die Protokolle über die Verhandlungen der Parteitage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Halle 1890 und Erfurt 1891, S. 29, Originalzitat Bebel: Brief an Victor Adler, 5.9.1890, in Ausgewählte Reden und Schriften, Band 2/2, S. 371

[56] F. Engels, MEW Bd. 22 S. 594

[57] Wir sind in mehreren Artikeln ausführlich auf diese Schwächen eingegangen, siehe u.a. unseren schon zuvor genannten Artikel in International Review 84 & 85.

[58] Es kam immer wieder zu gezielten Repressionsmaßnahmen. So verbot 1895 der Polizeipräsident von Berlin den Parteivorstand von Berlin, d.h. er wurde aufgelöst, nicht aber die Partei auf örtlicher Ebene oder auf nationaler Ebene. Erneut übertrug er seine Befugnisse/Aufgaben/Leitung der Partei an die Reichstagsfraktion. Solche Schritte der Polizei scheuchten diejenigen auf, die „auf dem Sofa der Demokratie“ sitzend, dabei waren, ihre Kampfbereitschaft zu verlieren.

[59] Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW Bd. 22 S. 234. Engels Kritik wurde von der Führung der SPD erst 10 Jahre später veröffentlicht. Die Umstände sind nicht genau aufgeklärt. In einer Vorbemerkung verwies die SPD-Führung darauf, dass man Engels Manuskript im literarischen Nachlass des 1900 verstorbenen W. Liebknecht gefunden habe (MEW Bd. 22 S. 595).

[60] Engels an Kautsky, 8.11.1884, MEW Bd. 36 S. 230

[61] F. Engels in Der Sozialismus in Deutschland, MEW Bd. 22 S. 250

[62] F. Engels an Bebel, 29.9.1891, MEW Bd. 38 S. 163

[63] Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe der Entwicklung des Sozialismus, 1892, MEW Bd. 22 S. 311

[64] Engels an Pablo Iglesias, 26.3.1894, MEW Bd. 39 S. 229. Auch wenn er diese Art Aussagen durch die Einschränkung relativierte, dass die Entwicklung sehr wohl z.B. durch einen europäischen Krieg mit schrecklichen, weltweiten Folgen alles über den Haufen schmeißen könnte, sieht man den Einfluss des Stimmenzuwachses auch auf Engels. (siehe u.a. Engels an Bebel, 24/26. 10. 1891, MEW 38, S. 189)

[65] Hamburger Parteitag 1897, Protokoll S. 123.

[66] Engels, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, MEW Bd. 22 S. 495

[67] Engels an Bebel, Liebknecht u.a., Mitte September 1879, MEW Bd. 34 S. 394-408

[68] Engels an Bebel, 24.11.1879, MEW Bd. 34 S. 426

[69] Engels an Bebel, 22.-24. Juni 1885, MEW Bd. 36 S. 335

[70] Engels an Sorge, 9.8.1890, MEW Bd. 37 S. 440

[71] Engels an Bebel, 19.11.1892, MEW Bd. 38 S. 517

[72] „Es wird wohl in diesem oder dem nächsten Jahr zum Bruch mit ihm [Vollmar] kommen müssen; er scheint die staatssozialistischen Schnurren der Partei mit Gewalt aufdrängen zu wollen. Da er aber ein abgefeimter Intrigant ist, und da ich in Kämpfen mit dieser Art Leuten allerlei Erfahrung habe – M[arx] und ich haben gegenüber dieser Sorte oft Böcke in der Taktik gemacht und entsprechendes Lehrgeld zahlen müssen -, so bin ich so frei, Dir hier einige Winke zu unterbreiten.

Vor allen Dingen gehen diese Leute darauf hinaus, uns formell ins Unrecht zu setzen, und das muss man vermeiden. Sonst reiten sie auf diesem Nebenpunkt herum, um den Hauptpunkt, dessen Schwäche sie fühlen, zu verdunkeln. Also Vorsicht in den Ausdrücken, öffentlich wie privatim. Du siehst, wie geschickt der Kerl Deine Äußerung über Liebknecht benutzt, um zwischen ihm, Liebknecht und Dir Krakeel zu erzeugen - (…) und so Dich zwischen zwei Stühle zu setzen. Zweitens, da es für sie darauf ankommt, die Hauptfrage zu verdunkeln, muss man jeden Anlass dazu vermeiden; alle Nebenpunkte, die sie aufrühren, so kurz und so schlagend wie möglich erledigen, damit sie ein für allemal aus der Welt kommen, selbst muss man aber jeden sich etwa bietenden Seitenweg oder Nebenpunkt soweit irgend möglich vermeiden, trotz aller Versuchung. Sonst wird das Feld der Debatte immer ausgedehnter, und der ursprüngliche Streitpunkt verschwindet immer mehr aus dem Gesichtsfeld. Und dann ist auch kein entscheidender Sieg mehr möglich, und das ist für den Klüngler schon ein hinreichender Erfolg und für uns wenigstens eine moralische Schlappe.“ Engels an Bebel, 23.7.1892, MEW Bd. 38 S. 407.

[73] Ein Jahr später, auf dem Erfurter Parteitag, gehörten von den 250 Delegierten knapp ein Dutzend dieser Opposition an.

[74] Vier dieser Delegierten waren ca. 30 Jahre, einer 23 Jahre, und sie alle waren erst 2-3 Jahre in der Partei. Einer (Bruno Wille) gehörte ihr nicht einmal an. Sie waren entweder Studenten, lebten freiberuflich oder wie im Falle Willes gewissermaßen als bezahlter Wanderredner.

[75] Der Parteivorstand und die Parlamentsfraktion wandten sich gegen einen für den 1. Mai anberaumten Streik.

[76] Dirk H. Müller, Idealismus und Revolution, Zur Opposition der Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand, S. 60, Beitrag von H. Müller, Der Klassenkampf…, S. 88 und SD, Nr. 35 vom 30. August 1890.

[77] Müller, a.a.O. S. 64

[78] Müller, S. 89

[79] Müller, S. 52

[80] „(…) Die Taktik der Partei ist falsch und verkehrt. 9.) Sozialismus und Demokratie haben nichts gemein mit den Reden unserer Abgeordneten. (…) 12.)  Das Reden vom Hineinwachsen der heutigen Gesellschaft in den sozialistischen Staat sei ein Blödsinn. Die solches sagen, sind selbst weit schlimmeres als politische Kindsköpfe.“ (Die Anschuldigungen der Berliner Opposition, S. 24 im Original, in D. H. Müller, S. 94)

[81] Erfurter Parteitagsprotokoll, S. 318

[82] Engels an Sorge, 21.11.1891, MEW Bd. 38 S. 217

[83] Der Anteil der Arbeiter in dem Vorstand war verschwindend gering, es gab mehr „Literaten“, Kleingewerbetreibende als Arbeiter, Müller, a.a.O. S. 130 u. 133

[84] Engels an F.A. Sorge, 9.8.1890, MEW Bd. 37 S. 440

[85] Engels an Liebknecht, 10.8.1890, MEW Bd. 37 S. 445; siehe auch Engels an Laura Lafargue, 27.10.1890, MEW Bd. 38 S. 193 

[86] Engels an F. A. Sorge, „...Herr Vollmar (…) ist viel gefährlicher als jene, er ist schlauer und ausdauernder (…)“, 24.10.1891, MEW Bd. 38 S. 183  

[87] Engels an Victor Adler, 30.8.1892, MEW Bd. 38 S. 444 – „...aber was sitzen in der Fraktion für Spießer und kommen immer wieder hinein! Eine Arbeiterpartei hat da nur die Wahl zwischen Arbeitern, die sofort gemaßregelt werden und dann leicht als Parteipensionäre verlumpen, oder Spießbürgern, die sich selbst ernähren, aber die Partei blamieren. Und diesen gegenüber sind die Unabhängigen unbezahlbar.“ 

[88] Bebel an Engels, 12.10.1892, Bebel-Engels S. 603 (in D. Müller S. 126).

Rubric: 

Organisationsfrage